Todesherz
Die erfahrene Gerichtsmedizinerin Lucy Trask ist einiges gewohnt. Doch der Anblick dieser verstümmelten Leiche schockiert selbst sie: Finger und Zunge wurden fachmännisch entfernt, das Herz herausgerissen. Nur wenig später findet Lucy in...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Todesherz “
Die erfahrene Gerichtsmedizinerin Lucy Trask ist einiges gewohnt. Doch der Anblick dieser verstümmelten Leiche schockiert selbst sie: Finger und Zunge wurden fachmännisch entfernt, das Herz herausgerissen. Nur wenig später findet Lucy in ihrem Wagen ein grauenvolles Paket, darin: ein blutiges Herz. Detective J. D. Fitzpatrick vermutet einen persönlich motivierten Rachefeldzug. Doch wer könnte solchen Hass auf die attraktive Gerichtsmedizinerin haben?
"Eine gefährlich gute Geschichte, die den Leser stundenlang in atemloser Spannung hält."
Publishers Weekly
Klappentext zu „Todesherz “
Heiß sieht sie aus, in High Heels und kurzem Lederkleid. Ihr rotblondes Haar schimmert, als Lucy mit einem Violinen-Solo den Nachtclub zum Kochen bringt. Detective J. D. Fitzpatrick traut seinen Augen nicht, als er auf der Bühne des Nachtclubs Gerichtsmedizinerin Lucy Trask erkennt. Kühl und rational wirkte sie am Morgen, als er ihr am Fundort einer grausam entstellten Leiche begegnete.Als Detective Fitzpatrick von Lucys perfidem Geschenk erfährt - eine Schachtel, eingewickelt in Glanzpapier mit rosa Herzen, darin das blutige Herz des Unbekannten -, vermutet er einen persönlich motivierten Rachefeldzug. Hat der Killer es jetzt auch auf die talentierte Gerichtsmedizinerin abgesehen, oder spielt er einfach nur ein grausames Spiel? Fitzpatrick ist sich sicher, dass Lucy der Schlüssel zu diesem brisanten Fall ist ...
Lese-Probe zu „Todesherz “
Todesherz von Karen Rose Prolog
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Bayview, Delaware
Sonntag, 7. März, 11.15 Uhr
»Verzeihen Sie, Sir, aber dort haben Unbefugte keinen Zutritt.«
Malcolm Edwards ignorierte die Stimme des Jachthafenmanagers und konzentrierte sich auf das Ziel vor ihm. Sein geschwächter Körper wurde bereits müde. Die Carrie On schaukelte auf den Wellen der aufgewühlten Chesapeake Bay, und in der Ferne zog ein Unwetter auf. Es war ein guter Tag zum Sterben.
Nur noch ein paar Schritte, dann kann ich mich ausruhen. Da fi ng der Steg unter seinen Füßen heftig an zu vibrieren, als Daryl ihm hinterherlief.
»He, Sie da, stehen bleiben! Dies ist Privatbesitz! Hey, Freundchen, ich sagte ...«
Malcolm fuhr zusammen, als eine kräftige Pranke seinen Oberarm packte und ihn herumriss. Stumm blickte er Daryl an und wartete, bis der ihn erkannt hatte. Daryl blieb vor Schreck der Mund offen stehen, und aus seinem sonst stets geröteten Gesicht wich jegliche Farbe. »Mr. Edwards «, stammelte er und wich zurück. »Verzeihen Sie, Sir.«
»Schon gut«, erwiderte Malcolm freundlich. »Ich weiß, dass ich nicht mehr wie ich selbst aussehe.«
Er wusste, welchen Anblick er bot, und war überrascht, dass Daryl ihn überhaupt erkannt hatte. Dass seine sogenannten Freunde ihn noch erkennen würden, bezweifelte er stark - nicht, dass sie sich die Mühe gemacht hätten, ihn zu besuchen. Nur Carrie war bei ihm geblieben, und manchmal hatte sich Malcolm gewünscht, sie hätte es nicht getan. In guten wie in schlechten Zeiten. Dies waren defi nitiv letztere.
Wahrscheinlich glaubte sie, dass er es nicht hörte, wenn sie manchmal unter der Dusche stand und weinte, aber er tat es. Und er hätte alles dafür gegeben, ihr diese Hölle zu ersparen. Aber das konnte der Mensch nicht entscheiden, das war Gottes Wille. Carrie, die Malcolms Verfall hilfl os hatte mit ansehen müssen, hatte Gott verfl ucht, aber Malcolm konnte sich diesen Luxus nicht erlauben. Es lagen schon genug dunkle Flecken auf seiner Seele.
Daryl schluckte sichtlich. »Kann ich etwas für Sie tun? Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein danke, ich habe alles. Ich gehe angeln.« Er hielt den Ködereimer hoch, den er als Tarnung gekauft hatte. »Ich will einfach nur den Wind im Gesicht spüren.« Ein letztes Mal, fügte er in Gedanken hinzu. Er wandte sich zu seinem Boot um und setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen. Wieder vibrierte der Steg unter seinen Füßen, als Daryl unschlüssig neben ihm herging. Der Mann schien nicht zu wissen, wie er aussprechen sollte, was er auf dem Herzen hatte.
»Sir, ein Sturm kommt auf. Sie sollten besser warten.«
»Ich habe keine Zeit zu warten.« Nichts entsprach mehr der Wahrheit. Obwohl es Daryl offensichtlich unangenehm war, versuchte er es weiter. »Ich könnte ein paar Leute zusammentrommeln, die Sie rausbringen. Mein Enkel ist ein guter Bootsmann.«
»Das weiß ich zu schätzen, wirklich, aber manchmal muss man allein sein. Sie sorgen sich um mich, und dafür danke ich Ihnen.«
Endlich war er an Bord, und sein Körper schien in sich zusammenzufallen, als seine Hände sich um das Ruder schlossen. Es war schon viel zu lange her, seit er zuletzt in die Bucht hinausgesegelt war. Aber er war beschäftigt gewesen. Arztbesuche, Therapien und ... Er blickte in den düsteren Himmel hinauf.
Und Wiedergutmachung. Er hatte vieles wiedergutzumachen, besonders diese eine Sache, die seit einundzwanzig Jahren auf seiner Seele lastete.
Er dachte an den Brief, den er abgeschickt hatte. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht zu spät kam. Blieb nur zu hoffen, dass er das Ruder lange genug auf Kurs halten konnte, um das zu tun, was getan werden musste. Blieb zu hoffen, dass Ertrinken wirklich wie Einschlafen war. Die See wurde kabbeliger, der Wind heftiger, je weiter er hinausfuhr. Schließlich stellte er den Motor ab und lauschte mit geschlossenen Augen den Wellen. Tief atmete er die salzige Luft ein und genoss ihn, diesen letzten Tag. Carrie würde traurig, aber insgeheim auch ein wenig erleichtert sein. Sie hatte heute Morgen eine tapfere Miene aufgesetzt, als er ihr einen Abschiedskuss gegeben hatte. Wenn die Polizei an ihre Tür klopfte, um ihr die schlechte Nachricht zu überbringen, würde sie schwören, dass ihr Mann sich niemals selbst das Leben genommen hätte. Aber tief in ihrem Inneren würde sie die Wahrheit kennen.
Er trat an Deck und stellte die Angelausrüstung auf. Er musste den Schein wahren, falls man das Boot intakt fand, nachdem er von einer »Welle über Bord gespült« worden war. Er nahm einen Köder und befestigte ihn am Haken, als eine harsche Stimme ihn in seinen Gedanken unterbrach.
»Wer sind die anderen?«
Malcolm fuhr herum, und der Köder glitt ihm aus den Fingern. Etwa einen Meter hinter ihm stand breitbeinig ein Mann, die Arme vor der Brust gekreuzt. Hass glomm in seinen Augen. Malcolm fuhr ein Angstschauder über den Rücken.
»Wer sind Sie?«
Der Mann trat so sicher einen Schritt vor, als würde das Boot nicht schwanken. »Wer sind die anderen?«
Die anderen. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, log Malcolm.
Der Mann zog einen Umschlag aus der Tasche, und Malcolms Magen verkrampfte sich, als er den Brief und seine eigene Handschrift erkannte. Seine Gedanken rasten einundzwanzig Jahre zurück, und er glaubte nun zu wissen, wer der Mann war. Auf jeden Fall wusste er, was der Mann wollte.
»Wer sind die anderen?«, fragte er erneut und überdeutlich. Malcolm schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde nichts sagen. «
Der Mann griff in die Tasche und zog ein langes Filetiermesser hervor. Er hielt es hoch und betrachtete die scharfe Klinge.
»Dann töte ich dich«, sagte er fast emotionslos.
»Na und? Ich werde ohnehin sterben. Ist Ihnen das etwa noch nicht aufgefallen?«
Das Boot bäumte sich auf, und Malcolm verlor den Halt, während der Mann kaum schwankte. Er hat Seemannsbeine. Wenn er derjenige war, für den Malcolm ihn hielt, konnte das gut sein. Der Vater des Mannes war Fischer gewesen und hatte sein eigenes Boot gehabt, aber auch das hatte er damals verloren.
Im Lauf der letzten Jahre waren Existenzen vernichtet und Menschen ruiniert worden. Und wir sind schuld. Ich bin schuld. Er wird mich umbringen, und ich habe es verdient. Aber Malcolm wollte weder die Identitäten der anderen preisgeben noch schmerzvoll sterben. Er tat einen Sprung zur Seite.
Aber der Mann war schnell. Er packte Malcolm am Arm, stieß ihn in einen Liegestuhl und band ihn an Händen und Füßen mit Stricken fest, die er aus seiner hinteren Hosentasche zog. Der Mann war gut vorbereitet an Bord gegangen.
Jetzt sterbe ich.
Der Mann richtete sich drohend auf.
»Wer sind die anderen?«
Mit hämmerndem Herzen blickte Malcolm zu ihm auf. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Du wirst es mir ohnehin sagen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich all das mit dir machen, was ihr mit ihr gemacht habt.« Er sah Malcolm in die Augen. »Alles.«
Malcolm schluckte, als er daran dachte, was in jener Nacht vor so vielen Jahren geschehen war. »Es tut mir leid. Und das habe ich schon gesagt. Aber ich habe nichts mit ihr angestellt. Das schwöre ich.«
»Ich weiß«, sagte der Mann verbittert. »Das stand so in dem Brief. Obwohl du zu feige gewesen bist, das Geständnis mit deinem Namen zu unterschreiben.«
Er hatte recht. Er war damals feige gewesen, und er war es immer noch. »Woher wussten Sie, dass ich es war?«
»Mir war klar, dass es einer von euch gewesen sein musste. Ihr wart doch damals immer alle zusammen. Und ihr habt alle das Mannschaftsbild signiert.«
Malcolm schloss die Augen und sah es vor sich. Sie waren so jung gewesen, so verdammt arrogant, und sie hatten geglaubt, dass die Welt sich um sie drehte. »Das in der Pokal-Vitrine der Highschool.«
Er grinste höhnisch. »Ebendas. Und deine Handschrift hat sich in den zwanzig Jahren nicht besonders verändert. Das ›M‹ sieht noch immer gleich aus. Man muss kein Genie sein, um auf dich zu kommen. Was mich wieder zu dem Grund zurückführt, warum ich vorbeischaue. Du wirst mir sagen, was ich wissen will.«
»Nein. Wie ich schon im Brief sagte: Das ist eine Sache, die die anderen mit Gott ausmachen müssen. Tut mir leid.« Das höhnische Grinsen wurde zu einem grausamen Lächeln.
»Nun, das werden wir noch sehen.« Er verschwand unter Deck. Sofort zerrte Malcolm an seinen Fesseln, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. In seiner Erinnerung blitzten Bilder auf, kranke, scheußliche Szenen der Dinge, die man dem Mädchen damals angetan hatte, während er danebengestanden und zugesehen hatte. Tatenlos. Ich hätte etwas tun müssen. Ich hätte dem Ganzen ein Ende bereiten müssen. Aber das hatte er nicht, und die anderen auch nicht. Und nun bezahlte er dafür.
Er hörte einen dumpfen Laut, als der Mann etwas aus der Luke zerrte. Eine Frau. Plötzlich brannte Säure in Malcolms Eingeweiden. Den Pullover, den sie trug, kannte er nur allzu gut. Seine Frau hatte ihn getragen, als er sich vor nur wenigen Stunden von ihr verabschiedet hatte.
»Carrie!« Malcolm versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht. Carrie waren die Augen verbunden. Sie war gefesselt und geknebelt, und der Mann zerrte sie am Arm an Deck.
»Lassen Sie sie laufen. Sie hat nichts getan.«
»Du auch nicht«, sagte der Mann spöttisch. »Das hast du selbst gesagt.« Er stieß Carrie auf einen Stuhl und hielt ihr das Messer an den Hals. »Jetzt sag schon, Malcolm. Wer. Sind. Die. Anderen?«
Verzweifelt sah Malcolm in die verengten Augen des Mannes, bevor sein Blick wieder von dem Messer an der Kehle seiner Frau angezogen wurde. Er konnte kaum atmen. Konnte nicht mehr denken. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Ein Tropfen Blut rann über Carries Hals, als das Messer ihre Haut ritzte. »Wag es nicht, mich anzulügen«, sagte der Mann ruhig. »Wenn du weißt, wer ich bin, dann weißt du auch, dass ich nichts zu verlieren habe.«
Malcolm schloss die Augen. Er konnte nicht nachdenken, wenn er sie sah, er hatte zu große Angst. »Okay. Aber bringen Sie sie zuerst zurück an Land. Sonst sage ich kein Wort.«
Carries Schmerzensschrei wurde durch den Knebel gedämpft. Malcolm riss die Augen auf, und das Entsetzen packte ihn. Sein Magen hob sich, und er würgte heftig. Er schlug die Augen nieder, um den Finger nicht sehen zu müssen, den der Mann ihm hinhielt. Ihren Finger. Abgetrennt. Er hat ihr den Finger abgeschnitten.
»Okay, ich sag alles«, brachte er keuchend hervor. »Verdammt, ich rede ja!«
»Dachte mir doch, dass du dich überzeugen lässt.« Der Mann wich von Carrie zurück, die sich wimmernd so klein machte, wie ihre Fesseln es erlaubten. Aus der Brusttasche zog der Mann Notizblock und Stift. »Dann schieß los.«
Hastig spuckte Malcolm die Namen aus und verabscheute sich dafür, verabscheute sich für alles, was geschehen war. Dass er damals geblieben war und zugesehen hatte. Dass er den Brief geschrieben und seine Frau in Gefahr gebracht hatte. Der Mann ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen, während er die Namen aufschrieb und den Block schließlich in seine Tasche zurückschob.
»Ich habe Ihnen alles gesagt«, presste Malcolm hervor. »Jetzt bringen Sie sie an Land. Sie braucht einen Arzt. Und bitte legen Sie den Finger auf Eis. Bitte, ich flehe Sie an!« Der Mann musterte die Messerklinge, die rot von Carries Blut war. »Hat sie das auch gesagt?«
»Wer?«
Der Mann reckte aggressiv das Kinn vor. »Meine Schwester! Hat sie Sie angefl eht?« Er packte Carries Haar, riss ihren Kopf zurück und hielt ihr das Messer an die entblößte Kehle.
»Hat sie gebettelt?«
»Ja.« Malcolms Körper krampfte sich zusammen, als ein Schluchzer aus ihm herausbrach. »Bitte. Ich flehe Sie an. Sie hat nichts getan. Bitte! Ich habe Ihnen gegeben, was Sie wollten. Tun Sie ihr nichts mehr.«
Der Arm des Mannes zuckte, die Klinge durchtrennte Haut und Fleisch, und Malcolm schrie, als das Blut hervorsprudelte. O nein! Bitte, Gott, nein! Carrie war tot. Sie war tot.
Mit kaltem Blick zerschnitt der Mann die Stricke, mit denen er sie gefesselt hatte, und ihre Leiche landete vor Malcolms Füßen.
»Es würde mir gefallen, wenn du zusehen müsstest, wie die Vögel sich über sie hermachen«, sagte der Mann, »aber vielleicht findet dich jemand, bevor du tot bist, und dann würdest du mich verraten. Natürlich könnte ich dir auch die Zunge herausschneiden, aber dir würde schon etwas einfallen. Also musst du sofort sterben.« Er hob Malcolms Kinn an, so dass er zu ihm aufschauen musste. »Aber ich schneide dir die Zunge trotzdem heraus. Irgendwelche letzten Worte?«
Der Mann stand nackt an Deck und sah zu, wie seine Sachen im grauen Wasser versanken und Malcolm und seiner Frau in die Tiefe folgten. Bei Einbruch der Nacht würden sie nur noch Fischfutter sein.
Der Sturm war über sie hinweggezogen und bereits abgeflaut, als er sich der Toten entledigt hatte. Es war ziemlich viel Blut geflossen, aber er hatte zum Glück an Wechselsachen gedacht. Er würde sich das Blut der Edwards' abduschen, bevor er die Carrie On in den kleinen privaten Hafen fahren würde, dessen Besitzer keine dummen Fragen stellte. Dort konnte er auch das Deck abspritzen und alle Hinweise auf den Bootseigner entfernen.
Er ging hinunter und hielt an der Theke der Bordküche an, wo er den Notizblock zur Sicherheit deponiert hatte: Er hatte nicht riskieren wollen, dass er mit Blut beschmiert wurde. Nicht, dass er die Liste noch brauchte. Die Namen hatten sich bereits in sein Hirn gebrannt. Einige hatte er erwartet. Andere waren eine Überraschung. Aber alle würden sich wünschen, sie hätten vor einundzwanzig Jahren das Richtige getan.
Eins
Baltimore, Maryland
Montag, 3. Mai, 5.35 Uhr
»Go get yourself some cheap sunglasses ...«, schnaufte Lucy Trask im Duett mit ZZ Top, während sie den Weg entlangjoggte, der durch den Park hinter ihrem Wohnhaus führte. Dass sie hoffnungslos falsch sang, war ihr vollkommen egal. Gwyn war die Sängerin von ihnen, und niemand kümmerte es, wie Lucys Stimme klang, solange ihre E-Geige den richtigen Ton traf. Im Übrigen waren jetzt höchstens andere Läufer unterwegs, und die hatten genau wie sie Stöpsel in den Ohren.
Zu dieser frühen Stunde war niemand in der Nähe, den sie beeindrucken oder um dessen Meinung sie sich scheren musste. Das war einer von vielen Gründen, warum sie die Zeit vor Tagesanbruch so liebte. Sie folgte der Kurve am Ende des Weges und lief locker aus, als ihre gute Laune plötzlich in sich zusammenfiel. »O nein«, murmelte sie betrübt. »Nicht schon wieder.« Mr. Pugh saß vornübergesunken am Schachtisch. Das Licht der Straßenlaterne fiel von hinten auf seinen Tweedhut.
Sie lief den Pfad zurück bis zu der Rasenfläche mit dem Tisch, an dem ihr alter Freund früher seine Gegner schachmatt gesetzt hatte. Diese Zeiten waren längst vorbei. Nun saß er in den Nächten mit gesenktem Kopf allein hier, den Mantelkragen gegen die Kälte hochgeschlagen.
Sie seufzte. Er war also wieder einmal mitten in der Nacht aus seiner Wohnung spaziert. Sie wurde langsamer, als sie sich ihm näherte. »Mr. Pugh?« Sanft berührte sie ihn an der Schulter, um ihn nicht zu erschrecken. Er hasste nichts mehr, als wenn er erschreckt wurde. »Mr. Pugh? Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen?«
Nichts. Lucy runzelte die Stirn. Normalerweise hätte er nun aufgeschaut und sie verwirrt angesehen, und sie hätte ihn zurück zu Barb bringen können, die mit seiner Rundum-Betreuung nicht mehr fertig wurde. Doch nun hob er den Kopf nicht, er regte sich nicht einmal. Ihr wurde mulmig zumute. O nein. Bitte nicht. Sie legte ihm zwei Finger an den Hals, schlug sich jedoch gleich darauf die Hand vor den Mund, um den aufkommenden Schrei zu ersticken, als sein Körper zur Seite sackte und ihm der Hut vom Kopf fiel. Einen Augenblick lang starrte sie ihn voller Entsetzen an. Sein Kopf war deformiert und mit Blut verklebt, und sein Gesicht ... Sie taumelte zurück, als ihr bittere Galle in die Kehle stieg. O Gott. Oh, mein Gott. Sein Gesicht war fort. Und seine Augen auch. Blind taumelte sie einen Schritt zurück, hörte ein Wimmern und begriff, dass es aus ihrer Kehle kam. Die Luft blieb ihr im Hals stecken, und sie zwang sich zu atmen.
Tu was. Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Handy in ihren Laufshorts, gab 9-1-1 ein und fuhr zusammen, als sich eine forsche Stimme meldete.
»Hier ist die Notrufzentrale. Welchen Notfall möchten Sie melden?«
»Hier spricht ...« Lucys Stimme brach, als sie die Leiche fixierte. Sie schloss die Augen. Leiche? Das ist Mr. Pugh. Und jemand hat ihn umgebracht. O Gott.
»Hier ...« Sie konnte nicht sprechen. Nicht atmen. »Miss?«, fragte der Mann drängend. »Was möchten Sie melden? «
Lucy räusperte sich. Riss sich zusammen. Griff auf viele Jahre Training zurück. Zwang sich zu einer ruhigen Stimme. »Hier spricht Dr. Trask von der Rechtsmedizin. Ich muss einen Mord melden.«
Montag, 3. Mai, 6.00 Uhr
Detective J. D. Fitzpatrick betrachtete die kleine Menschenmenge, die sich hinter dem Absperrband versammelt hatte. Nachbarn, dachte er. Einige in Morgenmänteln und Pantoffeln. Einige waren alt, andere noch nicht so sehr. Manche weinten. Manche fluchten. Manche taten beides. Er trat unauffällig näher. Es war klug zu lauschen, wenn der Schock den Menschen unbedachte Bemerkungen entlockte.
»Was für eine Bestie tut einem alten Mann so etwas Grausames an?« Die Stimme der jungen Frau war wütend. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Er hat doch keiner Fliege etwas zuleide getan«, sagte ein Mann neben ihr.
»Verdammte Gangs«, murmelte ein alter Mann, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Man traut sich kaum noch aus dem Haus.«
J. D. fiel auf, wie gepflegt der Rasen des kleinen Parks aussah. Hier hatten die üblichen Gangs keine Spuren hinterlassen, aber auf der Fahrt waren sie unübersehbar gewesen. Wahrscheinlich war die Grünanlage eine Art unberührter Schutzraum inmitten der hässlichen Umgebung für die Anwohner gewesen. Was für eine Illusion. Das Hässliche war überall. Und das wurde nun auch den Nachbarn des Toten bewusst. Es bedurfte keiner Gang, um einen Mord zu begehen. Ein Verbrecher allein reichte, vor allem wenn das Opfer alt, schwach und verwundbar war.
»Das wird Barb umbringen«, jammerte eine ältere Frau, die sich schwer an einen Mann lehnte. »Wie oft habe ich ihr gesagt, dass sie ihn in ein Heim geben soll? Herrgott, wie oft habe ich es ihr gesagt?«
»Ich weiß, Liebes«, murmelte der Mann. Er zog ihren Kopf an seine Schulter und hielt seine Hand so, dass ihr Blick vom Tatort abgeschirmt wurde. »Aber wenigstens ist Lucy hier.« Die alte Frau nickte schniefend. »Sie weiß, was zu tun ist.«
Barb war vermutlich Frau oder Tochter des Opfers, aber J. D. fragte sich, wer Lucy war und in welcher Hinsicht sie wusste, was zu tun war.
Zwei uniformierte Polizisten standen Schulter an Schulter innerhalb des mit gelbem Band abgesperrten Bereichs. Der eine hatte sich den Nachbarn zugewandt, der andere dem Tatort. Gemeinsam bildeten sie eine Barriere, mit der sie das Opfer so gut wie möglich vor Blicken schützten. Auch das Team der Spurensicherung war bereits anwesend, schoss Fotos und sammelte Beweise. Nun würde es nicht mehr viel zu sehen geben, aber J. D. wusste, dass die gaffende Menge bereits zu viel gesehen hatte, bevor der Tatort gesichert worden war.
Auf J. D.s Frage deuteten zwei Uniformierte auf einen dritten Polizisten, der bei Drew Peterson, dem Leiter der Spurensicherung, stand. Er hieß Hopper, wie man J. D. mitteilte, und war als Erster am Tatort gewesen.
»Danke.« J. D. ging an den Polizisten vorbei und wappnete sich innerlich gegen das Bild, das ihn erwartete. Trotzdem musste er sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Das Opfer saß auf einem im Boden verankerten Stuhl und war über einem steinernen Schachtisch zusammengesunken.
Sein Gesicht war so schlimm zerschlagen worden, dass nicht mehr viel zu erkennen war. Wer hat dem alten Mann das angetan? Und warum?
Übersetzung: Kerstin Winter
© 2012 by Knaur Verlag
Bayview, Delaware
Sonntag, 7. März, 11.15 Uhr
»Verzeihen Sie, Sir, aber dort haben Unbefugte keinen Zutritt.«
Malcolm Edwards ignorierte die Stimme des Jachthafenmanagers und konzentrierte sich auf das Ziel vor ihm. Sein geschwächter Körper wurde bereits müde. Die Carrie On schaukelte auf den Wellen der aufgewühlten Chesapeake Bay, und in der Ferne zog ein Unwetter auf. Es war ein guter Tag zum Sterben.
Nur noch ein paar Schritte, dann kann ich mich ausruhen. Da fi ng der Steg unter seinen Füßen heftig an zu vibrieren, als Daryl ihm hinterherlief.
»He, Sie da, stehen bleiben! Dies ist Privatbesitz! Hey, Freundchen, ich sagte ...«
Malcolm fuhr zusammen, als eine kräftige Pranke seinen Oberarm packte und ihn herumriss. Stumm blickte er Daryl an und wartete, bis der ihn erkannt hatte. Daryl blieb vor Schreck der Mund offen stehen, und aus seinem sonst stets geröteten Gesicht wich jegliche Farbe. »Mr. Edwards «, stammelte er und wich zurück. »Verzeihen Sie, Sir.«
»Schon gut«, erwiderte Malcolm freundlich. »Ich weiß, dass ich nicht mehr wie ich selbst aussehe.«
Er wusste, welchen Anblick er bot, und war überrascht, dass Daryl ihn überhaupt erkannt hatte. Dass seine sogenannten Freunde ihn noch erkennen würden, bezweifelte er stark - nicht, dass sie sich die Mühe gemacht hätten, ihn zu besuchen. Nur Carrie war bei ihm geblieben, und manchmal hatte sich Malcolm gewünscht, sie hätte es nicht getan. In guten wie in schlechten Zeiten. Dies waren defi nitiv letztere.
Wahrscheinlich glaubte sie, dass er es nicht hörte, wenn sie manchmal unter der Dusche stand und weinte, aber er tat es. Und er hätte alles dafür gegeben, ihr diese Hölle zu ersparen. Aber das konnte der Mensch nicht entscheiden, das war Gottes Wille. Carrie, die Malcolms Verfall hilfl os hatte mit ansehen müssen, hatte Gott verfl ucht, aber Malcolm konnte sich diesen Luxus nicht erlauben. Es lagen schon genug dunkle Flecken auf seiner Seele.
Daryl schluckte sichtlich. »Kann ich etwas für Sie tun? Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein danke, ich habe alles. Ich gehe angeln.« Er hielt den Ködereimer hoch, den er als Tarnung gekauft hatte. »Ich will einfach nur den Wind im Gesicht spüren.« Ein letztes Mal, fügte er in Gedanken hinzu. Er wandte sich zu seinem Boot um und setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen. Wieder vibrierte der Steg unter seinen Füßen, als Daryl unschlüssig neben ihm herging. Der Mann schien nicht zu wissen, wie er aussprechen sollte, was er auf dem Herzen hatte.
»Sir, ein Sturm kommt auf. Sie sollten besser warten.«
»Ich habe keine Zeit zu warten.« Nichts entsprach mehr der Wahrheit. Obwohl es Daryl offensichtlich unangenehm war, versuchte er es weiter. »Ich könnte ein paar Leute zusammentrommeln, die Sie rausbringen. Mein Enkel ist ein guter Bootsmann.«
»Das weiß ich zu schätzen, wirklich, aber manchmal muss man allein sein. Sie sorgen sich um mich, und dafür danke ich Ihnen.«
Endlich war er an Bord, und sein Körper schien in sich zusammenzufallen, als seine Hände sich um das Ruder schlossen. Es war schon viel zu lange her, seit er zuletzt in die Bucht hinausgesegelt war. Aber er war beschäftigt gewesen. Arztbesuche, Therapien und ... Er blickte in den düsteren Himmel hinauf.
Und Wiedergutmachung. Er hatte vieles wiedergutzumachen, besonders diese eine Sache, die seit einundzwanzig Jahren auf seiner Seele lastete.
Er dachte an den Brief, den er abgeschickt hatte. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht zu spät kam. Blieb nur zu hoffen, dass er das Ruder lange genug auf Kurs halten konnte, um das zu tun, was getan werden musste. Blieb zu hoffen, dass Ertrinken wirklich wie Einschlafen war. Die See wurde kabbeliger, der Wind heftiger, je weiter er hinausfuhr. Schließlich stellte er den Motor ab und lauschte mit geschlossenen Augen den Wellen. Tief atmete er die salzige Luft ein und genoss ihn, diesen letzten Tag. Carrie würde traurig, aber insgeheim auch ein wenig erleichtert sein. Sie hatte heute Morgen eine tapfere Miene aufgesetzt, als er ihr einen Abschiedskuss gegeben hatte. Wenn die Polizei an ihre Tür klopfte, um ihr die schlechte Nachricht zu überbringen, würde sie schwören, dass ihr Mann sich niemals selbst das Leben genommen hätte. Aber tief in ihrem Inneren würde sie die Wahrheit kennen.
Er trat an Deck und stellte die Angelausrüstung auf. Er musste den Schein wahren, falls man das Boot intakt fand, nachdem er von einer »Welle über Bord gespült« worden war. Er nahm einen Köder und befestigte ihn am Haken, als eine harsche Stimme ihn in seinen Gedanken unterbrach.
»Wer sind die anderen?«
Malcolm fuhr herum, und der Köder glitt ihm aus den Fingern. Etwa einen Meter hinter ihm stand breitbeinig ein Mann, die Arme vor der Brust gekreuzt. Hass glomm in seinen Augen. Malcolm fuhr ein Angstschauder über den Rücken.
»Wer sind Sie?«
Der Mann trat so sicher einen Schritt vor, als würde das Boot nicht schwanken. »Wer sind die anderen?«
Die anderen. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, log Malcolm.
Der Mann zog einen Umschlag aus der Tasche, und Malcolms Magen verkrampfte sich, als er den Brief und seine eigene Handschrift erkannte. Seine Gedanken rasten einundzwanzig Jahre zurück, und er glaubte nun zu wissen, wer der Mann war. Auf jeden Fall wusste er, was der Mann wollte.
»Wer sind die anderen?«, fragte er erneut und überdeutlich. Malcolm schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werde nichts sagen. «
Der Mann griff in die Tasche und zog ein langes Filetiermesser hervor. Er hielt es hoch und betrachtete die scharfe Klinge.
»Dann töte ich dich«, sagte er fast emotionslos.
»Na und? Ich werde ohnehin sterben. Ist Ihnen das etwa noch nicht aufgefallen?«
Das Boot bäumte sich auf, und Malcolm verlor den Halt, während der Mann kaum schwankte. Er hat Seemannsbeine. Wenn er derjenige war, für den Malcolm ihn hielt, konnte das gut sein. Der Vater des Mannes war Fischer gewesen und hatte sein eigenes Boot gehabt, aber auch das hatte er damals verloren.
Im Lauf der letzten Jahre waren Existenzen vernichtet und Menschen ruiniert worden. Und wir sind schuld. Ich bin schuld. Er wird mich umbringen, und ich habe es verdient. Aber Malcolm wollte weder die Identitäten der anderen preisgeben noch schmerzvoll sterben. Er tat einen Sprung zur Seite.
Aber der Mann war schnell. Er packte Malcolm am Arm, stieß ihn in einen Liegestuhl und band ihn an Händen und Füßen mit Stricken fest, die er aus seiner hinteren Hosentasche zog. Der Mann war gut vorbereitet an Bord gegangen.
Jetzt sterbe ich.
Der Mann richtete sich drohend auf.
»Wer sind die anderen?«
Mit hämmerndem Herzen blickte Malcolm zu ihm auf. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Du wirst es mir ohnehin sagen. Wenn ich Zeit hätte, würde ich all das mit dir machen, was ihr mit ihr gemacht habt.« Er sah Malcolm in die Augen. »Alles.«
Malcolm schluckte, als er daran dachte, was in jener Nacht vor so vielen Jahren geschehen war. »Es tut mir leid. Und das habe ich schon gesagt. Aber ich habe nichts mit ihr angestellt. Das schwöre ich.«
»Ich weiß«, sagte der Mann verbittert. »Das stand so in dem Brief. Obwohl du zu feige gewesen bist, das Geständnis mit deinem Namen zu unterschreiben.«
Er hatte recht. Er war damals feige gewesen, und er war es immer noch. »Woher wussten Sie, dass ich es war?«
»Mir war klar, dass es einer von euch gewesen sein musste. Ihr wart doch damals immer alle zusammen. Und ihr habt alle das Mannschaftsbild signiert.«
Malcolm schloss die Augen und sah es vor sich. Sie waren so jung gewesen, so verdammt arrogant, und sie hatten geglaubt, dass die Welt sich um sie drehte. »Das in der Pokal-Vitrine der Highschool.«
Er grinste höhnisch. »Ebendas. Und deine Handschrift hat sich in den zwanzig Jahren nicht besonders verändert. Das ›M‹ sieht noch immer gleich aus. Man muss kein Genie sein, um auf dich zu kommen. Was mich wieder zu dem Grund zurückführt, warum ich vorbeischaue. Du wirst mir sagen, was ich wissen will.«
»Nein. Wie ich schon im Brief sagte: Das ist eine Sache, die die anderen mit Gott ausmachen müssen. Tut mir leid.« Das höhnische Grinsen wurde zu einem grausamen Lächeln.
»Nun, das werden wir noch sehen.« Er verschwand unter Deck. Sofort zerrte Malcolm an seinen Fesseln, obwohl er wusste, dass es keinen Sinn hatte. In seiner Erinnerung blitzten Bilder auf, kranke, scheußliche Szenen der Dinge, die man dem Mädchen damals angetan hatte, während er danebengestanden und zugesehen hatte. Tatenlos. Ich hätte etwas tun müssen. Ich hätte dem Ganzen ein Ende bereiten müssen. Aber das hatte er nicht, und die anderen auch nicht. Und nun bezahlte er dafür.
Er hörte einen dumpfen Laut, als der Mann etwas aus der Luke zerrte. Eine Frau. Plötzlich brannte Säure in Malcolms Eingeweiden. Den Pullover, den sie trug, kannte er nur allzu gut. Seine Frau hatte ihn getragen, als er sich vor nur wenigen Stunden von ihr verabschiedet hatte.
»Carrie!« Malcolm versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht. Carrie waren die Augen verbunden. Sie war gefesselt und geknebelt, und der Mann zerrte sie am Arm an Deck.
»Lassen Sie sie laufen. Sie hat nichts getan.«
»Du auch nicht«, sagte der Mann spöttisch. »Das hast du selbst gesagt.« Er stieß Carrie auf einen Stuhl und hielt ihr das Messer an den Hals. »Jetzt sag schon, Malcolm. Wer. Sind. Die. Anderen?«
Verzweifelt sah Malcolm in die verengten Augen des Mannes, bevor sein Blick wieder von dem Messer an der Kehle seiner Frau angezogen wurde. Er konnte kaum atmen. Konnte nicht mehr denken. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Ein Tropfen Blut rann über Carries Hals, als das Messer ihre Haut ritzte. »Wag es nicht, mich anzulügen«, sagte der Mann ruhig. »Wenn du weißt, wer ich bin, dann weißt du auch, dass ich nichts zu verlieren habe.«
Malcolm schloss die Augen. Er konnte nicht nachdenken, wenn er sie sah, er hatte zu große Angst. »Okay. Aber bringen Sie sie zuerst zurück an Land. Sonst sage ich kein Wort.«
Carries Schmerzensschrei wurde durch den Knebel gedämpft. Malcolm riss die Augen auf, und das Entsetzen packte ihn. Sein Magen hob sich, und er würgte heftig. Er schlug die Augen nieder, um den Finger nicht sehen zu müssen, den der Mann ihm hinhielt. Ihren Finger. Abgetrennt. Er hat ihr den Finger abgeschnitten.
»Okay, ich sag alles«, brachte er keuchend hervor. »Verdammt, ich rede ja!«
»Dachte mir doch, dass du dich überzeugen lässt.« Der Mann wich von Carrie zurück, die sich wimmernd so klein machte, wie ihre Fesseln es erlaubten. Aus der Brusttasche zog der Mann Notizblock und Stift. »Dann schieß los.«
Hastig spuckte Malcolm die Namen aus und verabscheute sich dafür, verabscheute sich für alles, was geschehen war. Dass er damals geblieben war und zugesehen hatte. Dass er den Brief geschrieben und seine Frau in Gefahr gebracht hatte. Der Mann ließ keinerlei Gefühlsregung erkennen, während er die Namen aufschrieb und den Block schließlich in seine Tasche zurückschob.
»Ich habe Ihnen alles gesagt«, presste Malcolm hervor. »Jetzt bringen Sie sie an Land. Sie braucht einen Arzt. Und bitte legen Sie den Finger auf Eis. Bitte, ich flehe Sie an!« Der Mann musterte die Messerklinge, die rot von Carries Blut war. »Hat sie das auch gesagt?«
»Wer?«
Der Mann reckte aggressiv das Kinn vor. »Meine Schwester! Hat sie Sie angefl eht?« Er packte Carries Haar, riss ihren Kopf zurück und hielt ihr das Messer an die entblößte Kehle.
»Hat sie gebettelt?«
»Ja.« Malcolms Körper krampfte sich zusammen, als ein Schluchzer aus ihm herausbrach. »Bitte. Ich flehe Sie an. Sie hat nichts getan. Bitte! Ich habe Ihnen gegeben, was Sie wollten. Tun Sie ihr nichts mehr.«
Der Arm des Mannes zuckte, die Klinge durchtrennte Haut und Fleisch, und Malcolm schrie, als das Blut hervorsprudelte. O nein! Bitte, Gott, nein! Carrie war tot. Sie war tot.
Mit kaltem Blick zerschnitt der Mann die Stricke, mit denen er sie gefesselt hatte, und ihre Leiche landete vor Malcolms Füßen.
»Es würde mir gefallen, wenn du zusehen müsstest, wie die Vögel sich über sie hermachen«, sagte der Mann, »aber vielleicht findet dich jemand, bevor du tot bist, und dann würdest du mich verraten. Natürlich könnte ich dir auch die Zunge herausschneiden, aber dir würde schon etwas einfallen. Also musst du sofort sterben.« Er hob Malcolms Kinn an, so dass er zu ihm aufschauen musste. »Aber ich schneide dir die Zunge trotzdem heraus. Irgendwelche letzten Worte?«
Der Mann stand nackt an Deck und sah zu, wie seine Sachen im grauen Wasser versanken und Malcolm und seiner Frau in die Tiefe folgten. Bei Einbruch der Nacht würden sie nur noch Fischfutter sein.
Der Sturm war über sie hinweggezogen und bereits abgeflaut, als er sich der Toten entledigt hatte. Es war ziemlich viel Blut geflossen, aber er hatte zum Glück an Wechselsachen gedacht. Er würde sich das Blut der Edwards' abduschen, bevor er die Carrie On in den kleinen privaten Hafen fahren würde, dessen Besitzer keine dummen Fragen stellte. Dort konnte er auch das Deck abspritzen und alle Hinweise auf den Bootseigner entfernen.
Er ging hinunter und hielt an der Theke der Bordküche an, wo er den Notizblock zur Sicherheit deponiert hatte: Er hatte nicht riskieren wollen, dass er mit Blut beschmiert wurde. Nicht, dass er die Liste noch brauchte. Die Namen hatten sich bereits in sein Hirn gebrannt. Einige hatte er erwartet. Andere waren eine Überraschung. Aber alle würden sich wünschen, sie hätten vor einundzwanzig Jahren das Richtige getan.
Eins
Baltimore, Maryland
Montag, 3. Mai, 5.35 Uhr
»Go get yourself some cheap sunglasses ...«, schnaufte Lucy Trask im Duett mit ZZ Top, während sie den Weg entlangjoggte, der durch den Park hinter ihrem Wohnhaus führte. Dass sie hoffnungslos falsch sang, war ihr vollkommen egal. Gwyn war die Sängerin von ihnen, und niemand kümmerte es, wie Lucys Stimme klang, solange ihre E-Geige den richtigen Ton traf. Im Übrigen waren jetzt höchstens andere Läufer unterwegs, und die hatten genau wie sie Stöpsel in den Ohren.
Zu dieser frühen Stunde war niemand in der Nähe, den sie beeindrucken oder um dessen Meinung sie sich scheren musste. Das war einer von vielen Gründen, warum sie die Zeit vor Tagesanbruch so liebte. Sie folgte der Kurve am Ende des Weges und lief locker aus, als ihre gute Laune plötzlich in sich zusammenfiel. »O nein«, murmelte sie betrübt. »Nicht schon wieder.« Mr. Pugh saß vornübergesunken am Schachtisch. Das Licht der Straßenlaterne fiel von hinten auf seinen Tweedhut.
Sie lief den Pfad zurück bis zu der Rasenfläche mit dem Tisch, an dem ihr alter Freund früher seine Gegner schachmatt gesetzt hatte. Diese Zeiten waren längst vorbei. Nun saß er in den Nächten mit gesenktem Kopf allein hier, den Mantelkragen gegen die Kälte hochgeschlagen.
Sie seufzte. Er war also wieder einmal mitten in der Nacht aus seiner Wohnung spaziert. Sie wurde langsamer, als sie sich ihm näherte. »Mr. Pugh?« Sanft berührte sie ihn an der Schulter, um ihn nicht zu erschrecken. Er hasste nichts mehr, als wenn er erschreckt wurde. »Mr. Pugh? Wollen Sie nicht lieber nach Hause gehen?«
Nichts. Lucy runzelte die Stirn. Normalerweise hätte er nun aufgeschaut und sie verwirrt angesehen, und sie hätte ihn zurück zu Barb bringen können, die mit seiner Rundum-Betreuung nicht mehr fertig wurde. Doch nun hob er den Kopf nicht, er regte sich nicht einmal. Ihr wurde mulmig zumute. O nein. Bitte nicht. Sie legte ihm zwei Finger an den Hals, schlug sich jedoch gleich darauf die Hand vor den Mund, um den aufkommenden Schrei zu ersticken, als sein Körper zur Seite sackte und ihm der Hut vom Kopf fiel. Einen Augenblick lang starrte sie ihn voller Entsetzen an. Sein Kopf war deformiert und mit Blut verklebt, und sein Gesicht ... Sie taumelte zurück, als ihr bittere Galle in die Kehle stieg. O Gott. Oh, mein Gott. Sein Gesicht war fort. Und seine Augen auch. Blind taumelte sie einen Schritt zurück, hörte ein Wimmern und begriff, dass es aus ihrer Kehle kam. Die Luft blieb ihr im Hals stecken, und sie zwang sich zu atmen.
Tu was. Mit zitternden Händen tastete sie nach dem Handy in ihren Laufshorts, gab 9-1-1 ein und fuhr zusammen, als sich eine forsche Stimme meldete.
»Hier ist die Notrufzentrale. Welchen Notfall möchten Sie melden?«
»Hier spricht ...« Lucys Stimme brach, als sie die Leiche fixierte. Sie schloss die Augen. Leiche? Das ist Mr. Pugh. Und jemand hat ihn umgebracht. O Gott.
»Hier ...« Sie konnte nicht sprechen. Nicht atmen. »Miss?«, fragte der Mann drängend. »Was möchten Sie melden? «
Lucy räusperte sich. Riss sich zusammen. Griff auf viele Jahre Training zurück. Zwang sich zu einer ruhigen Stimme. »Hier spricht Dr. Trask von der Rechtsmedizin. Ich muss einen Mord melden.«
Montag, 3. Mai, 6.00 Uhr
Detective J. D. Fitzpatrick betrachtete die kleine Menschenmenge, die sich hinter dem Absperrband versammelt hatte. Nachbarn, dachte er. Einige in Morgenmänteln und Pantoffeln. Einige waren alt, andere noch nicht so sehr. Manche weinten. Manche fluchten. Manche taten beides. Er trat unauffällig näher. Es war klug zu lauschen, wenn der Schock den Menschen unbedachte Bemerkungen entlockte.
»Was für eine Bestie tut einem alten Mann so etwas Grausames an?« Die Stimme der jungen Frau war wütend. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Er hat doch keiner Fliege etwas zuleide getan«, sagte ein Mann neben ihr.
»Verdammte Gangs«, murmelte ein alter Mann, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Man traut sich kaum noch aus dem Haus.«
J. D. fiel auf, wie gepflegt der Rasen des kleinen Parks aussah. Hier hatten die üblichen Gangs keine Spuren hinterlassen, aber auf der Fahrt waren sie unübersehbar gewesen. Wahrscheinlich war die Grünanlage eine Art unberührter Schutzraum inmitten der hässlichen Umgebung für die Anwohner gewesen. Was für eine Illusion. Das Hässliche war überall. Und das wurde nun auch den Nachbarn des Toten bewusst. Es bedurfte keiner Gang, um einen Mord zu begehen. Ein Verbrecher allein reichte, vor allem wenn das Opfer alt, schwach und verwundbar war.
»Das wird Barb umbringen«, jammerte eine ältere Frau, die sich schwer an einen Mann lehnte. »Wie oft habe ich ihr gesagt, dass sie ihn in ein Heim geben soll? Herrgott, wie oft habe ich es ihr gesagt?«
»Ich weiß, Liebes«, murmelte der Mann. Er zog ihren Kopf an seine Schulter und hielt seine Hand so, dass ihr Blick vom Tatort abgeschirmt wurde. »Aber wenigstens ist Lucy hier.« Die alte Frau nickte schniefend. »Sie weiß, was zu tun ist.«
Barb war vermutlich Frau oder Tochter des Opfers, aber J. D. fragte sich, wer Lucy war und in welcher Hinsicht sie wusste, was zu tun war.
Zwei uniformierte Polizisten standen Schulter an Schulter innerhalb des mit gelbem Band abgesperrten Bereichs. Der eine hatte sich den Nachbarn zugewandt, der andere dem Tatort. Gemeinsam bildeten sie eine Barriere, mit der sie das Opfer so gut wie möglich vor Blicken schützten. Auch das Team der Spurensicherung war bereits anwesend, schoss Fotos und sammelte Beweise. Nun würde es nicht mehr viel zu sehen geben, aber J. D. wusste, dass die gaffende Menge bereits zu viel gesehen hatte, bevor der Tatort gesichert worden war.
Auf J. D.s Frage deuteten zwei Uniformierte auf einen dritten Polizisten, der bei Drew Peterson, dem Leiter der Spurensicherung, stand. Er hieß Hopper, wie man J. D. mitteilte, und war als Erster am Tatort gewesen.
»Danke.« J. D. ging an den Polizisten vorbei und wappnete sich innerlich gegen das Bild, das ihn erwartete. Trotzdem musste er sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Das Opfer saß auf einem im Boden verankerten Stuhl und war über einem steinernen Schachtisch zusammengesunken.
Sein Gesicht war so schlimm zerschlagen worden, dass nicht mehr viel zu erkennen war. Wer hat dem alten Mann das angetan? Und warum?
Übersetzung: Kerstin Winter
© 2012 by Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Karen Rose
Karen Rose studierte an der Universität von Maryland. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt worden sind. Auch in Deutschland feierte die Autorin große Erfolge. "Todesstoß" stand auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Karen Rose lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida.Mehr Informationen über die Autorin unter:
www.karenrosebooks.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Rose
- 2012, 1, 624 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652134
- ISBN-13: 9783863652135
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