Todesopfer
Die Thriller-Welt hat einen neuen Star! Machen Sie sich gefasst auf Sharon Bolton - ihr Debütroman wird Sie einige Stunden Schlaf kosten!
Tora Hamilton ist noch neu auf den Shetlandinseln, als sie in ihrem Garten eine grausige...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Todesopfer “
Die Thriller-Welt hat einen neuen Star! Machen Sie sich gefasst auf Sharon Bolton - ihr Debütroman wird Sie einige Stunden Schlaf kosten!
Tora Hamilton ist noch neu auf den Shetlandinseln, als sie in ihrem Garten eine grausige Entdeckung macht: eine weibliche Leiche, die offenbar einem Mord zum Opfer gefallen ist. Wer ist die Tote? Und was hat es mit den Runen auf ihrem Rücken auf sich? Zusammen mit der Polizistin Dana forscht Tora nach. Dabei kommen sie einem dunklen Geheimnis um mysteriöse Todesfälle auf die Spur, die mit der mythischen Sagenwelt der Shetlands in Verbindung stehen.
"'Todesopfer' ist eine mitreißende Lektüre, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt!"
Tess Gerritsen
Lese-Probe zu „Todesopfer “
1Mit der Leiche konnte ich mich abfinden. Es waren die Begleitumstände, die mich aus dem Gleichgewicht brachten.
Wir, die wir mit den Gebrechlichkeiten des menschlichen Körpers unseren Lebensunterhalt verdienen, nehmen - beinahe als Teil unserer Arbeitsbedingungen - eine zunehmende Vertrautheit mit dem Tod hin. Für die meisten Menschen verhüllt ein Element des Geheimnisvollen das Dahinscheiden der Seele aus ihrer irdischen Heimstatt aus Knochen, Muskeln, Fett und Sehnen. Für uns werden Tod und Verwesung allmählich, aber erbarmungslos bloßgelegt, angefangen von den ersten Anatomievorlesungen und den ersten Blicken, die wir auf mit weißen Laken bedeckte menschliche Gestalten werfen, in einem vor Edelstahl blinkenden Raum.
Im Laufe der Jahre hatte ich den Tod gesehen, den Tod seziert, den Tod gerochen, hatte im Tod herumgestochert, ihn gewogen und sondiert, und zwar öfter, als ich es zu zählen vermochte. Manchmal hatte ich den Tod sogar gehört (jenes leise, wispernde Geräusch, das ein Leichnam machen kann, wenn die Körperflüssigkeiten sich setzen). Und ich hatte mich bestens an den Tod gewöhnt. Ich hatte nur niemals damit gerechnet, dass er aus dem Nichts hervorspringt und "Buh!" ruft.
Irgendjemand hat mich einmal in einem Pub bei einer Lunch-Debatte über die Vorzüge diverser Kriminalfilme gefragt, wie ich reagieren würde, wenn ich auf eine echte, lebendige Leiche stoßen würde. Ich wusste genau, was er meinte, und er lächelte, noch während diese idiotischen Worte aus seinem Mund kamen. Ich hatte geantwortet, ich wüsste es nicht. Doch von Zeit zu Zeit hatte ich darüber nachgedacht. Was würde ich tun, wenn eine Leiche mich kalt erwischen sollte? Würde sich sofort professionelle Distanziertheit einstellen und mich veranlassen, nach Vitalzeichen zu suchen, mir innerlich Notizen zu Zustand und Umgebung zu machen; oder
... mehr
würde ich schreien und davonlaufen?
Und dann kam der Tag, an dem ich es herausfand.
Es fing gerade an zu regnen, als ich in den Minibagger kletterte, den ich am Vormittag gemietet hatte. Die Tropfen waren sanft, beinahe angenehm, doch eine dunkle Wolke über mir ließ mich wissen, dass ich nicht mit einem leichten Frühlingsschauer rechnen sollte. Wir mochten ja Mitte Mai haben, so weit im Norden jedoch waren heftige Regenfälle noch immer an der Tagesordnung. Mir kam der Gedanke, dass es möglicherweise gefährlich sei, bei nassem Wetter zu graben, doch ich ließ trotzdem den Motor an.
Jamie lag ungefähr zwanzig Meter weiter oben am Hang auf der Seite. Zwei Beine, das rechte Hinter- und Vorderbein, lagen auf dem Boden. Das linke Beinpaar ragte von seinem Körper weg; beide Hufe hingen dreißig Zentimeter über dem Boden. Hätte er geschlafen, wäre seine Haltung komisch gewesen, tot war sie grotesk. Schwärme von Fliegen umschwirrten seinen Kopf und After. Die Verwesung beginnt im Augenblick des Todes, und ich wusste, dass sie in Jamies Innerem bereits Fahrt aufnahm. Unsichtbare Bakterien würden seine inneren Organe zerfressen. Bestimmt hatten Fliegen ihre Eier abgelegt, und binnen Stunden würden die Maden ausschlüpfen und anfangen, sich durch sein Fleisch zu wühlen. Und zu allem Überfluss hockte auch noch eine Elster ganz in seiner Nähe auf dem Zaun; ihr Blick huschte von Jamie zu mir.
Das verdammte Vieh ist scharf auf seine Augen, dachte ich, auf seine wunderschönen, sanften braunen Augen. Ich wusste nicht genau, ob ich es schaffen würde, Jamie allein zu begraben, doch ich konnte nicht einfach danebensitzen und zusehen, wie Elstern und Maden meinen besten Freund in ein kaltes Buffet verwandelten.
Entschlossen legte ich die rechte Hand um den Gashebel und zog ihn zurück, um die Drehzahl zu erhöhen. Ich fühlte, wie die Hydraulik einsetzte, und drückte beide Steuerknüppel nach vorn.
Der Bagger machte einen Hopser vorwärts und begann, bergauf zu rollen.
Als ich den steileren Teil des Hügels erreichte, stellte ich ein paar rasche Kalkulationen an. Ich würde ein großes Loch brauchen, mindestens zwei Meter tief, vielleicht sogar zweieinhalb. Jamie war ein ziemlich großes Pferd, mit einem Stockmaß von eins siebzig und langem Rücken. Ich würde ein quadratisches Loch von zweieinhalb Metern Seitenlänge graben müssen, auf abfallendem Gelände. Das bedeutete eine Menge Erde, die Bedingungen waren alles andere als ideal, und ich war keine Baggerführerin; eine Einweisung von zwanzig Minuten auf dem Hof des Baumaschinenverleihs, und ich war auf mich allein gestellt. Ich erwartete Duncan in vierundzwanzig Stunden zurück und überlegte, ob es nicht doch besser sei, auf ihn zu warten. Auf dem Zaunpfosten feixte die Elster und vollführte einen angeberischen kleinen Tanzschritt zur Seite. Ich biss die Zähne zusammen und schob den Hebel abermals nach vorn.
Auf dem Paddock zu meiner Rechten sahen Charles und Henry mir zu und ließen ihre hübschen, traurigen Gesichter über den Zaun hängen. Manche Leute werden Ihnen erzählen, Pferde seien dumme Geschöpfe. Glauben Sie das bloß nicht! Diese edlen Tiere haben Seelen, und die beiden teilten meinen Schmerz, als der Bagger und ich auf Jamie zurollten.
Zwei Meter entfernt hielt ich an und sprang vom Fahrersitz.
Ein paar von den Fliegen besaßen den Anstand, sich in respektvolle Entfernung zurückzuziehen, als ich neben Jamie niederkniete und seine schwarze Mähne streichelte. Vor zehn Jahren, als er ein junges Pferd gewesen war und ich gerade mein medizinisches Praktikum im St. Mary's machte, hatte meine große Liebe - oder jedenfalls dachte ich das damals - mir den Laufpass gegeben. Mit gebrochenem Herzen war ich zum Hof meiner Eltern in Wiltshire gefahren, wo Jamie damals stand. Er hatte den Kopf aus seiner Box gestreckt, als er mein Auto hörte. Ich ging hinüber und strich ihm sanft über die Nüstern, ehe ich meinen Kopf gegen seinen fallen ließ. Eine halbe Stunde später war seine Nase
klatschnass von meinen Tränen, und er hatte sich keinen Zentimeter gerührt. Wäre es ihm möglich gewesen, mich in die Arme zu nehmen, er hätte es getan.
Jamie, mein wunderschöner Jamie, so schnell wie der Wind und so stark wie ein Tiger. Sein großes, gutes Herz hatte endlich aufgegeben, und das Letzte, was ich jemals für ihn würde tun können, war, ein verdammtes Riesenloch zu buddeln.
Ich kletterte wieder in den Bagger, hob den Lastarm und senkte die Schaufel. Halb mit Erde gefüllt, kam sie wieder hoch. Gar nicht schlecht. Ich schwenkte den Bagger herum, ließ den Aushub fallen, schwenkte zurück und wiederholte das Ganze. Diesmal war die Schaufel bis oben hin voll mit schwerem, dunkelbraunem Mutterboden. Als wir hier hergezogen waren, hatte Duncan im Scherz gesagt, wenn seine neue Firma Pleite machen sollte, könne er ja Torfbauer werden. Der Torf bedeckt unser Land mit einer ein bis drei Meter dicken Schicht, und selbst mit dem Bagger machte er dieses Unterfangen zu Schwerarbeit.
Ich grub weiter.
Eine Stunde später hatten die Regenwolken ihr Versprechen wahrgemacht, die Elster hatte das Handtuch geworfen, und mein Loch war ungefähr zwei Meter tief. Ich hatte gerade die Schaufel gesenkt und vorwärts in den Boden gekrallt, als ich spürte, wie sie an irgendetwas hängen blieb. Ich blickte hinab und versuchte, um den Lastarm herumzuspähen. Einfach ging das nicht - inzwischen war überall Matsch. Also hob ich den Arm ein kleines Stück an und schaute von Neuem hin. Da unten lag irgendetwas im Weg. Ich leerte die Schaufel aus und hob den Lastarm. Dann stieg ich aus der Fahrerkabine und trat an den Rand des Lochs. Ein großer Gegenstand, in vom Torf braun verfärbten Stoff gewickelt, war von dem Bagger halb aus der Erde gezerrt worden. Ich erwog bereits hinunterzuspringen, als mir klar wurde, dass ich sehr dicht am Rand geparkt hatte und Torf - mittlerweile sehr nass - von den Kanten des Lochs bröckelte.
Keine gute Idee. Ich hatte keine Lust, in einem Loch im Boden festzustecken, unter einem anderthalb Tonnen schweren Minibagger, der auf mich draufgekippt war. Also stieg ich wieder ein, setzte den Bagger fünf Meter zurück, kletterte hinaus und kehrte zu dem Loch zurück, um mir das Ganze noch einmal anzusehen.
Und ich sprang hinein.
Plötzlich wurde der Tag stiller und dunkler. Ich konnte den Wind nicht mehr fühlen, und sogar der Regen schien nachgelassen zu haben - viel davon war wohl vom Wind davongetrieben worden. Ebenso wenig konnte ich das Rauschen der Wellen deutlich hören, die sich in der nahen Bucht brachen, oder das gelegentliche Brummen eines Autos. Ich befand mich in einem Loch in der Erde, abgeschnitten von der Welt, und das gefiel mir nicht sonderlich.
Der Stoff war Leinen. Dessen rau-glattes Gewebe ist unverwechselbar. Es hatte die satte, tiefbraune Farbe der Erde angenommen, doch ich konnte die Fäden erkennen. An den ausgefransten Rändern, die in Abständen zu sehen waren, konnte ich erkennen, dass es in ungefähr dreißig Zentimeter breite Streifen geschnitten und wie ein übergroßer Verband um den Gegenstand gewickelt worden war. Das eine Ende des Bündels wirkte relativ breit, dann jedoch wurde es schmaler, ehe es sich gleich darauf wieder verbreiterte. Ich hatte einen guten Meter freigelegt, doch in der Erde steckte noch mehr.
Der Schauplatz eines Verbrechens, sagte eine Stimme in meinem Kopf; eine Stimme, die ich nicht kannte, da ich sie noch nie gehört hatte. Fass nichts an, ruf die Polizei.
Spinn doch nicht, erwiderte ich. Man ruft doch nicht die Polizei, damit sie ein Bündel alten Ramsch oder die Überreste eines toten Hundes untersucht.
Ich hockte in zehn Zentimeter tiefem Schlamm, der sehr schnell fünfzehn Zentimeter Tiefe anstrebte. Regentropfen rannen mir aus dem Haar und in die Augen. Als ich zum Himmel hinaufschaute, sah ich, dass die graue Wolke über mir dichter geworden war. Um diese Jahreszeit würde die Sonne frühestens um zehn Uhr abends untergehen, doch ich glaubte nicht, dass wir sie heute noch einmal zu Gesicht bekommen würden. Ich schaute wieder nach unten. Wenn das ein Hund war, dann war er groß. Ich versuchte, nicht an ägyptische Mumien zu denken, doch was ich bis jetzt ausgegraben hatte, war entschieden von menschlicher Gestalt, und irgendjemand hatte es sehr sorgsam eingewickelt. Würde sich jemand wegen eines Bündels alten Gerümpels so viel Mühe machen? Für einen geliebten Hund vielleicht. Nur dass das hier nicht die Form eines Hundes zu haben schien. Ich versuchte, den Finger zwischen die Binden zu schieben. Sie gaben nicht nach, und ich wusste, dass ich sie ohne Messer nicht lösen konnte. Das bedeutete einen Marsch zurück zum Haus.
Aus dem Loch hinauszuklettern, erwies sich als sehr viel schwieriger, als hineinzuspringen, und ich verspürte ein jähes Aufwallen von Panik, als mein dritter Versuch damit endete, dass ich wieder hinunterkugelte. Der Gedanke, dass ich mein eigenes Grab geschaufelt und es besetzt vorgefunden hatte, blitzte in meinem Kopf auf wie eine Pointe ohne Witz. Beim vierten Versuch schaffte ich es über die Kante und trabte hügelabwärts zum Haus. An der Hintertür ging mir auf, dass meine Gummistiefel voll schwarzem, nassem Torf waren, und ich wusste, dass ich später nicht in Stimmung sein würde, den Küchenboden zu wischen. Im hinteren Teil unseres Grundstücks steht ein kleiner Schuppen. Ich ging hinein, zog die Stiefel aus, schlüpfte in ein paar alte Laufschuhe, fand eine kleine Gartenschaufel und kehrte ins Haus zurück.
Das Telefon in der Küche starrte mich an. Ich drehte ihm den Rücken zu und nahm ein gezacktes Gemüsemesser aus der Besteckschublade. Dann ging ich zurück zu dem ... mein Verstand sagte andauernd Grab.
Loch, verbesserte ich mich entschieden. Es ist nur ein Loch.
Wieder in besagtem Loch, hockte ich mich hin und starrte meinen ungewöhnlichen Fund eine Weile an, die mir sehr lange erschien. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass ich im Begriff sei, mich auf einen Pfad zu begeben, der bisher noch niemals beschritten worden war, und dass sich, hatte ich erst einmal den ersten Schritt gemacht, mein Leben vollkommen verändern würde, und zwar nicht unbedingt zum Besseren.
Ich erwog sogar hinauszuklettern und das Loch wieder zuzuschütten, ein anderes Grab für Jamie auszuheben und niemandem jemals zu erzählen, was ich gesehen hatte. Ich hockte da und dachte nach, bis ich so durchgefroren und steif war, dass ich mich einfach bewegen musste. Dann griff ich nach der kleinen Schaufel.
Die Erde war weich, und ich musste nicht lange graben, bis ich einen weiteren Viertelmeter des Bündels freigelegt hatte. Ich packte es an der breitesten Stelle und zog vorsichtig. Mit einem leisen, schmatzenden Geräusch löste sich der Rest aus dem Boden.
Ich streckte die Hand nach jenem Ende des Bündels aus, das ich zuerst entdeckt hatte, und zerrte an den Leinenstreifen, um sie zu lockern. Dann schob ich die Messerspitze darunter und zog das Messer aufwärts, während ich das Bündel mit der Linken festhielt.
Vor mir sah ich den Fuß eines Menschen.
Ich schrie nicht. Tatsächlich lächelte ich, denn meine erste Empfindung, als das Leinen aufklaffte, war ungeheure Erleichterung: Ich musste so etwas Ähnliches wie eine Schneiderpuppe ausgegraben haben, denn menschliche Haut hat niemals die Farbe des Fußes, den ich hier vor mir hatte. Ich stieß heftig die Luft aus und fing an zu lachen.
Dann verstummte ich.
Weil die Haut genau die gleiche Farbe hatte wie das Leinen, das sie bedeckt, und der Torf, in dem sie gelegen hatte. Ich streckte die Hand aus. Unbeschreiblich kalt, ohne Zweifel organisch. Als ich behutsam die Finger bewegte, konnte ich die Knochenstruktur unter der Haut ertasten, eine Schwiele am kleinen Zeh und eine raue Hautstelle unter der Ferse. Doch echt, aber vom Torf tiefbraun verfärbt.
Der Fuß war ein wenig kleiner als meiner, und die Nägel waren säuberlich geschnitten. Der Knöchel wirkte zierlich. Ich hatte eine Frau gefunden. Meiner Schätzung nach war sie jung gewesen, vielleicht Mitte zwanzig oder Anfang dreißig.
Ich blickte zu dem Rest des in Leinen gehüllten Leichnams empor. An der Stelle, wo, wie ich wusste, die Brust sein würde, befand sich ein großer Fleck, annähernd kreisförmig und von ungefähr fünfunddreißig Zentimetern Durchmesser, wo der Stoff anders gefärbt war, dunkler, fast schwarz. Entweder hatte irgendetwas Sonderbares im Boden sich auf diesen Teil der Leinenhülle ausgewirkt, oder der Fleck war entstanden, ehe sie begraben wurde.
Ich wollte wirklich nicht noch mehr sehen; mir war klar, dass ich die Polizei rufen musste; sollten die sich damit befassen. Doch irgendwie konnte ich nicht anders, als das befleckte Leinen zu packen und noch einen Schnitt zu machen. Zehn Zentimeter, fünfzehn, zwanzig. Ich zog den Stoff auseinander, um zu sehen, was darunter lag.
Nicht einmal dann schrie ich. Auf Beinen, die sich nicht wie meine anfühlten, erhob ich mich und wich zurück, bis ich an die Wand des Lochs stieß. Dann drehte ich mich um und sprang hoch, als ginge es um mein Leben. Als ich aus dem Loch krabbelte, war ich völlig verblüfft, das tote Pferd nur wenige Meter entfernt liegen zu sehen. Ich hatte Jamie vergessen. Nicht so jedoch die Elster. Sie hockte auf Jamies Kopf und stocherte aus Leibeskräften. Schuldbewusst blickte sie auf, und dann, ich schwöre es, grinste sie mich an. Ein glänzender Gewebeklumpen, von dem Blut tropfte, steckte in ihrem Schnabel: Jamies Auge. Jetzt schrie ich.
Ich saß neben Jamie und wartete. Es regnete noch immer, und ich war nass bis auf die Haut, doch inzwischen war mir das egal. In einem unserer Schuppen hatte ich eine alte grüne Zeltplane gefunden und sie über Jamie gelegt, so dass nur der Kopf frei blieb. Mein armes altes Pferd würde heute nicht begraben werden. Ich streichelte sein schönes rotbraunes Fell und flocht seine Mähne zu Turnierzöpfen, während ich stumm bei meinen beiden toten Freunden Wache hielt.
Als ich es nicht mehr ertragen konnte, Jamie anzusehen, hob ich den Kopf und blickte über den als Tresta Voe bekannten Meeresarm hinweg. Voes - überflutete Täler - sind in diesen Gegenden häufig; Dutzende von ihnen säumen die Küste wie ausgefranste, zarte Seide. Es ist unmöglich, die gewundenen, durchbrochenen Umrisse zu beschreiben, die sie bilden, doch von dem Hügel über unserem Haus aus konnte ich Land sehen, dann das Wasser des Voe, das eine schmale, sandgesäumte Bucht bildete, dahinter einen schmalen Hügelstreifen und dann wieder Wasser. Wäre ich groß genug und meine Sehkraft hinlänglich gut, so könnte ich sehen, wie dies immer weiterging, abwechselnd Streifen aus Land und Meer, Land und Meer, bis mein Blick den Atlantik erreichte und der Fels schließlich den Kampf aufgab.
Ich befand mich auf den Shetlandinseln, wahrscheinlich der entlegenste und am wenigsten bekannte Teil der Britischen Inseln. Ungefähr hundertsechzig Kilometer vor der Nordostspitze Schottlands gelegen, bestehen die Shetlands aus einer Ansammlung von ungefähr hundert Inseln. Auf fünfzehn davon leben Menschen, und auf allen hausen Papageientaucher, Dreizehen-und Raubmöwen sowie andere Wildtiere.
In sozialer, ökonomischer und historischer Hinsicht sind die Inseln ungewöhnlich; was die Geographie betrifft, grenzen sie ans Bizarre. Als wir das erste Mal zusammen hier standen, hatte Duncan die Arme um mich geschlungen und geflüstert, dass vor langer, langer Zeit eine furchtbare Schlacht zwischen gewaltigen Eisbergen und uralten Granitfelsen getobt habe. Die Shetlands, ein Land der Meereshöhlen, Voes und sturmumtosten Klippen
waren das Ergebnis dieses Kampfes. Damals gefiel mir die Geschichte, jetzt aber glaube ich, dass er sich geirrt hatte; ich glaube, die Schlacht ist noch immer in vollem Gange. Tatsächlich denke ich manchmal, dass die Shetlandinseln und ihre Bewohner Jahrhunderte damit zugebracht haben, gegen den Wind und die See anzukämpfen ... und dass sie verlieren.
Sie brauchten zwanzig Minuten. Das weiße Auto mit dem weithin sichtbaren blauen Streifen und dem keltischen Symbol auf der vorderen Tür kam zuerst in unseren Hof gerollt. Dion is Cuidich, Schützen und Dienen lautete das Motto. Ein großer schwarzer Geländewagen und ein neuer, sehr sauberer Mercedes folgten dem Polizeiauto. Zwei Polizisten in Uniform stiegen aus dem Streifenwagen, doch es waren die Insassen der beiden anderen Autos, die ich betrachtete, als die Gruppe auf mich zukam.Die Mercedesfahrerin schien viel zu winzig, um Polizistin zu sein. Ihr Haar war sehr dunkel, es reichte knapp bis zu den Schultern und umrahmte stufig geschnitten ihr Gesicht. Als sie näher kam, sah ich, dass sie fein geschnittene, zarte Züge und braungrüne Augen hatte. Ihre Haut war makellos, milchkaffeefarben mit ein paar Sommersprossen auf der Nase. Sie trug neue grüne Gummistiefel, eine fleckenlose Barbour-Wachsjacke und Hosen aus rotem Wollstoff. An ihren Ohren blitzten Goldknöpfe und an ihrer rechten Hand etliche Ringe.
Und dann kam der Tag, an dem ich es herausfand.
Es fing gerade an zu regnen, als ich in den Minibagger kletterte, den ich am Vormittag gemietet hatte. Die Tropfen waren sanft, beinahe angenehm, doch eine dunkle Wolke über mir ließ mich wissen, dass ich nicht mit einem leichten Frühlingsschauer rechnen sollte. Wir mochten ja Mitte Mai haben, so weit im Norden jedoch waren heftige Regenfälle noch immer an der Tagesordnung. Mir kam der Gedanke, dass es möglicherweise gefährlich sei, bei nassem Wetter zu graben, doch ich ließ trotzdem den Motor an.
Jamie lag ungefähr zwanzig Meter weiter oben am Hang auf der Seite. Zwei Beine, das rechte Hinter- und Vorderbein, lagen auf dem Boden. Das linke Beinpaar ragte von seinem Körper weg; beide Hufe hingen dreißig Zentimeter über dem Boden. Hätte er geschlafen, wäre seine Haltung komisch gewesen, tot war sie grotesk. Schwärme von Fliegen umschwirrten seinen Kopf und After. Die Verwesung beginnt im Augenblick des Todes, und ich wusste, dass sie in Jamies Innerem bereits Fahrt aufnahm. Unsichtbare Bakterien würden seine inneren Organe zerfressen. Bestimmt hatten Fliegen ihre Eier abgelegt, und binnen Stunden würden die Maden ausschlüpfen und anfangen, sich durch sein Fleisch zu wühlen. Und zu allem Überfluss hockte auch noch eine Elster ganz in seiner Nähe auf dem Zaun; ihr Blick huschte von Jamie zu mir.
Das verdammte Vieh ist scharf auf seine Augen, dachte ich, auf seine wunderschönen, sanften braunen Augen. Ich wusste nicht genau, ob ich es schaffen würde, Jamie allein zu begraben, doch ich konnte nicht einfach danebensitzen und zusehen, wie Elstern und Maden meinen besten Freund in ein kaltes Buffet verwandelten.
Entschlossen legte ich die rechte Hand um den Gashebel und zog ihn zurück, um die Drehzahl zu erhöhen. Ich fühlte, wie die Hydraulik einsetzte, und drückte beide Steuerknüppel nach vorn.
Der Bagger machte einen Hopser vorwärts und begann, bergauf zu rollen.
Als ich den steileren Teil des Hügels erreichte, stellte ich ein paar rasche Kalkulationen an. Ich würde ein großes Loch brauchen, mindestens zwei Meter tief, vielleicht sogar zweieinhalb. Jamie war ein ziemlich großes Pferd, mit einem Stockmaß von eins siebzig und langem Rücken. Ich würde ein quadratisches Loch von zweieinhalb Metern Seitenlänge graben müssen, auf abfallendem Gelände. Das bedeutete eine Menge Erde, die Bedingungen waren alles andere als ideal, und ich war keine Baggerführerin; eine Einweisung von zwanzig Minuten auf dem Hof des Baumaschinenverleihs, und ich war auf mich allein gestellt. Ich erwartete Duncan in vierundzwanzig Stunden zurück und überlegte, ob es nicht doch besser sei, auf ihn zu warten. Auf dem Zaunpfosten feixte die Elster und vollführte einen angeberischen kleinen Tanzschritt zur Seite. Ich biss die Zähne zusammen und schob den Hebel abermals nach vorn.
Auf dem Paddock zu meiner Rechten sahen Charles und Henry mir zu und ließen ihre hübschen, traurigen Gesichter über den Zaun hängen. Manche Leute werden Ihnen erzählen, Pferde seien dumme Geschöpfe. Glauben Sie das bloß nicht! Diese edlen Tiere haben Seelen, und die beiden teilten meinen Schmerz, als der Bagger und ich auf Jamie zurollten.
Zwei Meter entfernt hielt ich an und sprang vom Fahrersitz.
Ein paar von den Fliegen besaßen den Anstand, sich in respektvolle Entfernung zurückzuziehen, als ich neben Jamie niederkniete und seine schwarze Mähne streichelte. Vor zehn Jahren, als er ein junges Pferd gewesen war und ich gerade mein medizinisches Praktikum im St. Mary's machte, hatte meine große Liebe - oder jedenfalls dachte ich das damals - mir den Laufpass gegeben. Mit gebrochenem Herzen war ich zum Hof meiner Eltern in Wiltshire gefahren, wo Jamie damals stand. Er hatte den Kopf aus seiner Box gestreckt, als er mein Auto hörte. Ich ging hinüber und strich ihm sanft über die Nüstern, ehe ich meinen Kopf gegen seinen fallen ließ. Eine halbe Stunde später war seine Nase
klatschnass von meinen Tränen, und er hatte sich keinen Zentimeter gerührt. Wäre es ihm möglich gewesen, mich in die Arme zu nehmen, er hätte es getan.
Jamie, mein wunderschöner Jamie, so schnell wie der Wind und so stark wie ein Tiger. Sein großes, gutes Herz hatte endlich aufgegeben, und das Letzte, was ich jemals für ihn würde tun können, war, ein verdammtes Riesenloch zu buddeln.
Ich kletterte wieder in den Bagger, hob den Lastarm und senkte die Schaufel. Halb mit Erde gefüllt, kam sie wieder hoch. Gar nicht schlecht. Ich schwenkte den Bagger herum, ließ den Aushub fallen, schwenkte zurück und wiederholte das Ganze. Diesmal war die Schaufel bis oben hin voll mit schwerem, dunkelbraunem Mutterboden. Als wir hier hergezogen waren, hatte Duncan im Scherz gesagt, wenn seine neue Firma Pleite machen sollte, könne er ja Torfbauer werden. Der Torf bedeckt unser Land mit einer ein bis drei Meter dicken Schicht, und selbst mit dem Bagger machte er dieses Unterfangen zu Schwerarbeit.
Ich grub weiter.
Eine Stunde später hatten die Regenwolken ihr Versprechen wahrgemacht, die Elster hatte das Handtuch geworfen, und mein Loch war ungefähr zwei Meter tief. Ich hatte gerade die Schaufel gesenkt und vorwärts in den Boden gekrallt, als ich spürte, wie sie an irgendetwas hängen blieb. Ich blickte hinab und versuchte, um den Lastarm herumzuspähen. Einfach ging das nicht - inzwischen war überall Matsch. Also hob ich den Arm ein kleines Stück an und schaute von Neuem hin. Da unten lag irgendetwas im Weg. Ich leerte die Schaufel aus und hob den Lastarm. Dann stieg ich aus der Fahrerkabine und trat an den Rand des Lochs. Ein großer Gegenstand, in vom Torf braun verfärbten Stoff gewickelt, war von dem Bagger halb aus der Erde gezerrt worden. Ich erwog bereits hinunterzuspringen, als mir klar wurde, dass ich sehr dicht am Rand geparkt hatte und Torf - mittlerweile sehr nass - von den Kanten des Lochs bröckelte.
Keine gute Idee. Ich hatte keine Lust, in einem Loch im Boden festzustecken, unter einem anderthalb Tonnen schweren Minibagger, der auf mich draufgekippt war. Also stieg ich wieder ein, setzte den Bagger fünf Meter zurück, kletterte hinaus und kehrte zu dem Loch zurück, um mir das Ganze noch einmal anzusehen.
Und ich sprang hinein.
Plötzlich wurde der Tag stiller und dunkler. Ich konnte den Wind nicht mehr fühlen, und sogar der Regen schien nachgelassen zu haben - viel davon war wohl vom Wind davongetrieben worden. Ebenso wenig konnte ich das Rauschen der Wellen deutlich hören, die sich in der nahen Bucht brachen, oder das gelegentliche Brummen eines Autos. Ich befand mich in einem Loch in der Erde, abgeschnitten von der Welt, und das gefiel mir nicht sonderlich.
Der Stoff war Leinen. Dessen rau-glattes Gewebe ist unverwechselbar. Es hatte die satte, tiefbraune Farbe der Erde angenommen, doch ich konnte die Fäden erkennen. An den ausgefransten Rändern, die in Abständen zu sehen waren, konnte ich erkennen, dass es in ungefähr dreißig Zentimeter breite Streifen geschnitten und wie ein übergroßer Verband um den Gegenstand gewickelt worden war. Das eine Ende des Bündels wirkte relativ breit, dann jedoch wurde es schmaler, ehe es sich gleich darauf wieder verbreiterte. Ich hatte einen guten Meter freigelegt, doch in der Erde steckte noch mehr.
Der Schauplatz eines Verbrechens, sagte eine Stimme in meinem Kopf; eine Stimme, die ich nicht kannte, da ich sie noch nie gehört hatte. Fass nichts an, ruf die Polizei.
Spinn doch nicht, erwiderte ich. Man ruft doch nicht die Polizei, damit sie ein Bündel alten Ramsch oder die Überreste eines toten Hundes untersucht.
Ich hockte in zehn Zentimeter tiefem Schlamm, der sehr schnell fünfzehn Zentimeter Tiefe anstrebte. Regentropfen rannen mir aus dem Haar und in die Augen. Als ich zum Himmel hinaufschaute, sah ich, dass die graue Wolke über mir dichter geworden war. Um diese Jahreszeit würde die Sonne frühestens um zehn Uhr abends untergehen, doch ich glaubte nicht, dass wir sie heute noch einmal zu Gesicht bekommen würden. Ich schaute wieder nach unten. Wenn das ein Hund war, dann war er groß. Ich versuchte, nicht an ägyptische Mumien zu denken, doch was ich bis jetzt ausgegraben hatte, war entschieden von menschlicher Gestalt, und irgendjemand hatte es sehr sorgsam eingewickelt. Würde sich jemand wegen eines Bündels alten Gerümpels so viel Mühe machen? Für einen geliebten Hund vielleicht. Nur dass das hier nicht die Form eines Hundes zu haben schien. Ich versuchte, den Finger zwischen die Binden zu schieben. Sie gaben nicht nach, und ich wusste, dass ich sie ohne Messer nicht lösen konnte. Das bedeutete einen Marsch zurück zum Haus.
Aus dem Loch hinauszuklettern, erwies sich als sehr viel schwieriger, als hineinzuspringen, und ich verspürte ein jähes Aufwallen von Panik, als mein dritter Versuch damit endete, dass ich wieder hinunterkugelte. Der Gedanke, dass ich mein eigenes Grab geschaufelt und es besetzt vorgefunden hatte, blitzte in meinem Kopf auf wie eine Pointe ohne Witz. Beim vierten Versuch schaffte ich es über die Kante und trabte hügelabwärts zum Haus. An der Hintertür ging mir auf, dass meine Gummistiefel voll schwarzem, nassem Torf waren, und ich wusste, dass ich später nicht in Stimmung sein würde, den Küchenboden zu wischen. Im hinteren Teil unseres Grundstücks steht ein kleiner Schuppen. Ich ging hinein, zog die Stiefel aus, schlüpfte in ein paar alte Laufschuhe, fand eine kleine Gartenschaufel und kehrte ins Haus zurück.
Das Telefon in der Küche starrte mich an. Ich drehte ihm den Rücken zu und nahm ein gezacktes Gemüsemesser aus der Besteckschublade. Dann ging ich zurück zu dem ... mein Verstand sagte andauernd Grab.
Loch, verbesserte ich mich entschieden. Es ist nur ein Loch.
Wieder in besagtem Loch, hockte ich mich hin und starrte meinen ungewöhnlichen Fund eine Weile an, die mir sehr lange erschien. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass ich im Begriff sei, mich auf einen Pfad zu begeben, der bisher noch niemals beschritten worden war, und dass sich, hatte ich erst einmal den ersten Schritt gemacht, mein Leben vollkommen verändern würde, und zwar nicht unbedingt zum Besseren.
Ich erwog sogar hinauszuklettern und das Loch wieder zuzuschütten, ein anderes Grab für Jamie auszuheben und niemandem jemals zu erzählen, was ich gesehen hatte. Ich hockte da und dachte nach, bis ich so durchgefroren und steif war, dass ich mich einfach bewegen musste. Dann griff ich nach der kleinen Schaufel.
Die Erde war weich, und ich musste nicht lange graben, bis ich einen weiteren Viertelmeter des Bündels freigelegt hatte. Ich packte es an der breitesten Stelle und zog vorsichtig. Mit einem leisen, schmatzenden Geräusch löste sich der Rest aus dem Boden.
Ich streckte die Hand nach jenem Ende des Bündels aus, das ich zuerst entdeckt hatte, und zerrte an den Leinenstreifen, um sie zu lockern. Dann schob ich die Messerspitze darunter und zog das Messer aufwärts, während ich das Bündel mit der Linken festhielt.
Vor mir sah ich den Fuß eines Menschen.
Ich schrie nicht. Tatsächlich lächelte ich, denn meine erste Empfindung, als das Leinen aufklaffte, war ungeheure Erleichterung: Ich musste so etwas Ähnliches wie eine Schneiderpuppe ausgegraben haben, denn menschliche Haut hat niemals die Farbe des Fußes, den ich hier vor mir hatte. Ich stieß heftig die Luft aus und fing an zu lachen.
Dann verstummte ich.
Weil die Haut genau die gleiche Farbe hatte wie das Leinen, das sie bedeckt, und der Torf, in dem sie gelegen hatte. Ich streckte die Hand aus. Unbeschreiblich kalt, ohne Zweifel organisch. Als ich behutsam die Finger bewegte, konnte ich die Knochenstruktur unter der Haut ertasten, eine Schwiele am kleinen Zeh und eine raue Hautstelle unter der Ferse. Doch echt, aber vom Torf tiefbraun verfärbt.
Der Fuß war ein wenig kleiner als meiner, und die Nägel waren säuberlich geschnitten. Der Knöchel wirkte zierlich. Ich hatte eine Frau gefunden. Meiner Schätzung nach war sie jung gewesen, vielleicht Mitte zwanzig oder Anfang dreißig.
Ich blickte zu dem Rest des in Leinen gehüllten Leichnams empor. An der Stelle, wo, wie ich wusste, die Brust sein würde, befand sich ein großer Fleck, annähernd kreisförmig und von ungefähr fünfunddreißig Zentimetern Durchmesser, wo der Stoff anders gefärbt war, dunkler, fast schwarz. Entweder hatte irgendetwas Sonderbares im Boden sich auf diesen Teil der Leinenhülle ausgewirkt, oder der Fleck war entstanden, ehe sie begraben wurde.
Ich wollte wirklich nicht noch mehr sehen; mir war klar, dass ich die Polizei rufen musste; sollten die sich damit befassen. Doch irgendwie konnte ich nicht anders, als das befleckte Leinen zu packen und noch einen Schnitt zu machen. Zehn Zentimeter, fünfzehn, zwanzig. Ich zog den Stoff auseinander, um zu sehen, was darunter lag.
Nicht einmal dann schrie ich. Auf Beinen, die sich nicht wie meine anfühlten, erhob ich mich und wich zurück, bis ich an die Wand des Lochs stieß. Dann drehte ich mich um und sprang hoch, als ginge es um mein Leben. Als ich aus dem Loch krabbelte, war ich völlig verblüfft, das tote Pferd nur wenige Meter entfernt liegen zu sehen. Ich hatte Jamie vergessen. Nicht so jedoch die Elster. Sie hockte auf Jamies Kopf und stocherte aus Leibeskräften. Schuldbewusst blickte sie auf, und dann, ich schwöre es, grinste sie mich an. Ein glänzender Gewebeklumpen, von dem Blut tropfte, steckte in ihrem Schnabel: Jamies Auge. Jetzt schrie ich.
Ich saß neben Jamie und wartete. Es regnete noch immer, und ich war nass bis auf die Haut, doch inzwischen war mir das egal. In einem unserer Schuppen hatte ich eine alte grüne Zeltplane gefunden und sie über Jamie gelegt, so dass nur der Kopf frei blieb. Mein armes altes Pferd würde heute nicht begraben werden. Ich streichelte sein schönes rotbraunes Fell und flocht seine Mähne zu Turnierzöpfen, während ich stumm bei meinen beiden toten Freunden Wache hielt.
Als ich es nicht mehr ertragen konnte, Jamie anzusehen, hob ich den Kopf und blickte über den als Tresta Voe bekannten Meeresarm hinweg. Voes - überflutete Täler - sind in diesen Gegenden häufig; Dutzende von ihnen säumen die Küste wie ausgefranste, zarte Seide. Es ist unmöglich, die gewundenen, durchbrochenen Umrisse zu beschreiben, die sie bilden, doch von dem Hügel über unserem Haus aus konnte ich Land sehen, dann das Wasser des Voe, das eine schmale, sandgesäumte Bucht bildete, dahinter einen schmalen Hügelstreifen und dann wieder Wasser. Wäre ich groß genug und meine Sehkraft hinlänglich gut, so könnte ich sehen, wie dies immer weiterging, abwechselnd Streifen aus Land und Meer, Land und Meer, bis mein Blick den Atlantik erreichte und der Fels schließlich den Kampf aufgab.
Ich befand mich auf den Shetlandinseln, wahrscheinlich der entlegenste und am wenigsten bekannte Teil der Britischen Inseln. Ungefähr hundertsechzig Kilometer vor der Nordostspitze Schottlands gelegen, bestehen die Shetlands aus einer Ansammlung von ungefähr hundert Inseln. Auf fünfzehn davon leben Menschen, und auf allen hausen Papageientaucher, Dreizehen-und Raubmöwen sowie andere Wildtiere.
In sozialer, ökonomischer und historischer Hinsicht sind die Inseln ungewöhnlich; was die Geographie betrifft, grenzen sie ans Bizarre. Als wir das erste Mal zusammen hier standen, hatte Duncan die Arme um mich geschlungen und geflüstert, dass vor langer, langer Zeit eine furchtbare Schlacht zwischen gewaltigen Eisbergen und uralten Granitfelsen getobt habe. Die Shetlands, ein Land der Meereshöhlen, Voes und sturmumtosten Klippen
waren das Ergebnis dieses Kampfes. Damals gefiel mir die Geschichte, jetzt aber glaube ich, dass er sich geirrt hatte; ich glaube, die Schlacht ist noch immer in vollem Gange. Tatsächlich denke ich manchmal, dass die Shetlandinseln und ihre Bewohner Jahrhunderte damit zugebracht haben, gegen den Wind und die See anzukämpfen ... und dass sie verlieren.
Sie brauchten zwanzig Minuten. Das weiße Auto mit dem weithin sichtbaren blauen Streifen und dem keltischen Symbol auf der vorderen Tür kam zuerst in unseren Hof gerollt. Dion is Cuidich, Schützen und Dienen lautete das Motto. Ein großer schwarzer Geländewagen und ein neuer, sehr sauberer Mercedes folgten dem Polizeiauto. Zwei Polizisten in Uniform stiegen aus dem Streifenwagen, doch es waren die Insassen der beiden anderen Autos, die ich betrachtete, als die Gruppe auf mich zukam.Die Mercedesfahrerin schien viel zu winzig, um Polizistin zu sein. Ihr Haar war sehr dunkel, es reichte knapp bis zu den Schultern und umrahmte stufig geschnitten ihr Gesicht. Als sie näher kam, sah ich, dass sie fein geschnittene, zarte Züge und braungrüne Augen hatte. Ihre Haut war makellos, milchkaffeefarben mit ein paar Sommersprossen auf der Nase. Sie trug neue grüne Gummistiefel, eine fleckenlose Barbour-Wachsjacke und Hosen aus rotem Wollstoff. An ihren Ohren blitzten Goldknöpfe und an ihrer rechten Hand etliche Ringe.
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Autoren-Porträt von Sharon Bolton
Bibliographische Angaben
- Autor: Sharon Bolton
- 2009, 1, 479 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828994679
- ISBN-13: 9783828994676
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