TotenEngel
Roman
Bei einem nächtlichen Kontrollgang durch das Rotlichtviertel von Amsterdam entdeckt Commissaris Bruno van Leeuwen die Leiche eines jungen Mannes. Obwohl nichts auf einen gewaltsamen Tod hindeutet, ordnet der Commissaris...
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Produktinformationen zu „TotenEngel “
Bei einem nächtlichen Kontrollgang durch das Rotlichtviertel von Amsterdam entdeckt Commissaris Bruno van Leeuwen die Leiche eines jungen Mannes. Obwohl nichts auf einen gewaltsamen Tod hindeutet, ordnet der Commissaris eine Autopsie an. Die Obduktion bestätigt seinen Verdacht: Der Tote wurde ermordet, erstickt mit einer Plastiktüte. Eine Woche später wird in Haarlem eine Frau leblos aufgefunden. Auch in diesem Fall ergibt die Autopsie Tod durch Ersticken. Die Ermittlungen führen Van Leeuwen zu einer ganzen Serie von unentdeckten Todesfällen, die vor einem halben Jahrhundert begann, als in einem kleinen Dorf im Norden Hollands ein grauenhaftes Verbrechen verübt wurde. Doch in der Sterbeklinik des zwielichtigen Arztes Klaas van der Meer nimmt die Untersuchung eine überraschende Wendung ...
Klappentext zu „TotenEngel “
Mitten in der Nacht von Amsterdam stößt Commissaris Bruno van Leeuwen im Rotlichtviertel auf die Leiche eines jungen Mannes. Nichts deutet auf einen gewaltsamen Tod hin - nur Van Leeuwen spürt noch die Nähe des Mörders. Die Autopsie bestätigt seinen Verdacht. Wenig später wird in Haarlem eine Frau leblos aufgefunden. In beiden Fällen sahen die Opfer keinen Sinn mehr im Leben; der Tod kam als Erlösung zu ihnen. Die Ermittlungen führen Van Leeuwen zu einer ganzen Serie von Todesfällen, die in einem kleinen Dorf im Norden Hollands begann. Dort, wo vor fast fünfzig Jahren ein schreckliches Verbrechen begangen wurde, steht der Commissaris plötzlich am Rand eines Abgrunds ...
Bei einem nächtlichen Kontrollgang durch das Rotlichtviertel von Amsterdam entdeckt Commissaris Bruno van Leeuwen die Leiche eines jungen Mannes. Obwohl nichts auf einen gewaltsamen Tod hindeutet, ordnet der Commissaris eine Autopsie an. Die Obduktion bestätigt seinen Verdacht: Der Tote wurde ermordet, erstickt mit einer Plastiktüte. Eine Woche später wird in Haarlem eine Frau leblos aufgefunden. Auch in diesem Fall ergibt die Autopsie Tod durch Ersticken. Die Ermittlungen führen Van Leeuwen zu einer ganzen Serie von unentdeckten Todesfällen, die vor einem halben Jahrhundert begann, als in einem kleinen Dorf im Norden Hollands ein grauenhaftes Verbrechen verübt wurde. Doch in der Sterbeklinik des zwielichtigen Arztes Klaas van der Meer nimmt die Untersuchung eine überraschende Wendung ...
Lese-Probe zu „TotenEngel “
Totenengel von Claus C. Fischer1
Der Mann mit dem geflickten Brillengestell blieb stehen, wenn der Junge stehen blieb, und wenn der Junge weiterging, ging er auch weiter. Die ganze Zeit spürte der Mann den Druck der Pistole in der Ledertasche, die er mit beiden Armen gegen die Brust presste. Er achtete darauf, dass immer genügend andere Fußgänger vor ihm waren, Köpfe und Schultern, damit der Junge ihn nicht entdeckte. Er dachte, dass der Junge sich anders verhalten würde, wenn er ihn bemerkt hätte; wenn er wüsste, dass ihm jemand folgte, mit einer geladenen Pistole.
Ich werde sie ihm nur zeigen, dachte der Mann. Ich werde sie ihm zeigen und ihm sagen, dass es genug ist, dass er sich in Acht nehmen muss.
Es war eine schwüle Nacht für September. In der warmen Luft tanzten Mücken über den Ufermauern, und sie tanzten auch unter den Ästen der Ulmen und zwischen den Laternen. Die Glühbirnenketten über der Gracht spiegelten sich rot auf dem träge dahinfließenden Wasser. Aus den Pubs und Live-Sex-Lokalen schlug Musik auf die Gehwege, Gitarren und Bässe und Trommeln, begleitet von Gläserklirren und lauten Stimmen. Auf den Gesichtern der Passanten lag der Widerschein des bunten Lichts, ein violetter Schimmer, der aus den Fenstern der halbnackten Frauen in ihren kleinen Kabinen rechts und links der Gasse fiel.
Der Mann mit der Pistole in der abgewetzten Ledertasche sah alles durch ein Spinnennetz feiner Sprünge, denn als der Junge ihm ins Gesicht geschlagen hatte, war seine Brille zu Boden gefallen, und das Gestell war zerbrochen und eins der Gläser gesplittert. Erst hatte der Mann versucht, den Schlag einfach so wegzustecken.
Aber dann hatte er angefangen zu zittern, und er wollte nicht zittern, schon gar nicht vor dem Jungen, und als er gemerkt hatte, dass es trotzdem anfing, war er vom Hof gelaufen, und die ganze Zeit hatte
... mehr
er nur einen Gedanken gehabt: Er hatte an die Pistole in seiner Aktentasche gedacht und daran, dass es nun genug war; dass er es einfach nicht mehr ertragen konnte.
Er ging schneller. Seine Bauchmuskeln verkrampften sich, und die durchgeschwitzte Hose scheuerte an seinen Beinen. Ihm war so heiß, dass er glaubte, Fieber zu haben. Die Haut auf seiner Stirn und den Wangen glühte. Immer wieder verlor er den Jungen für kurze Zeit aus den Augen, und dann spürte er sein Herz hämmern. Er spürte es am heftigsten in der Brust, aber auch am Hals und in den Ohren.
Der Junge trug ein Skateboard unter dem Arm. Jetzt warf er es auf das Pflaster und rollte ein paar Schritte. Mit seinen ausgebreiteten Armen wirkte er, als flöge er über das Pflaster, eine anmutige, schlanke Gestalt, die federnd vom Bordstein auf die Straße und wieder auf den Fußweg sprang. Durch die Risse in seiner Jeans konnte man seine nackten Beine sehen. Das Scheppern der Rollen ging unter in dem Gelächter und Geschrei, der stampfenden Musik. An der nächsten Ecke sprang der Junge wieder ab und stoppte das Board mit einem Fuß, bevor er es mit dem anderen in die Luft wirbelte und mit der Hand auffing.
Ich könnte ihm die Pistole erst zeigen, dachte der Mann, und dann könnte ich sie mir in den Mund schieben und abdrücken, vor seinen Augen.
Er wollte, dass der Junge begriff. Er sollte begreifen, was er getan hatte, er und all die anderen; dass er ihretwegen nicht mehr leben konnte. Er wollte, dass der Junge seine Verzweiflung sah und aus seinem Tod etwas lernte. Ja, vielleicht war sein Tod eine gute Lektion.
Es begann zu regnen. Der Regen war nicht sehr stark, aber einige Passanten gingen schneller, und es wurde noch schwieriger, den Jungen im Auge zu behalten. Nach ein paar Schritten lief ihm das Wasser in kleinen Rinnsalen über die Brillengläser, sodass der Mann immer weniger sehen konnte. Der Sprung im rechten Glas teilte das Wasser und den Neonglanz, und er teilte auch den Jungen in zwei glitzernde, zerlaufende Hälften.
Der Junge war stehen geblieben und starrte in eines der Fenster. Mit der freien Hand wischte er sich die Feuchtigkeit aus den Augen. Der Regen rann ihm in rot und blau schimmernden Bächen über das Gesicht. Er stand da und zog die Kapuze seiner dunkelroten Blousonjacke über den Kopf, und dann lachte er plötzlich auf und lief weiter.
Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?, dachte der Mann. Warum hört ihr nicht auf, mich zu quälen? Er liebte sie doch, jeden Einzelnen; nicht alle gleich, aber es gab keinen, der ihm gleichgültig war, dem er nicht helfen wollte. Warum wollten sie seine Hilfe nicht? Warum stießen sie ihn immer wieder zurück? Er verstand einfach nicht, warum.
Sie waren so zynisch, so höhnisch, schon in ihrem Alter. Sie verachteten ihn, wie Margriet ihn verachtete, und Pieter. Ganz bestimmt verachtete sogar Pieter ihn, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Es war immer dasselbe: Am Anfang mochten die Menschen ihn, weil er sanft war oder klug oder hilfsbereit oder weil er so viel wusste. Und dann, irgendwann, fingen sie an, ihn zu verachten, ihn auszulachen. Aber geschlagen hatte ihn bisher noch niemand, außer dem Jungen.
Der Mann blinzelte hinter dem gesprungenen Brillenglas. Er spürte den Schlag noch immer auf seiner Wange – nicht mehr scharf wie im ersten Moment, eher wie einen tauben Druck. Er wünschte, er wäre tot. Es war ein Wunsch, den er jeden Morgen hatte, gleich nach dem Aufwachen, noch bevor er richtig wach war. Ich wünschte, ich wäre tot. Trotzdem musste er leben, er zwang sich dazu, und in Margriets Gesicht sah er, dass sie ihn auch deswegen verachtete. Er stellte sich vor, sie könnte ihn jetzt sehen, hier in diesem Moment. Er stellte sich ihr Gesicht vor, die Verachtung darin.
Ich ersticke, dachte er. Er sah sie vor sich auf dem Boden liegen, umgeben von den Splittern, den spitzen Scherben; er sah das Blut. Ich ersticke!
Der Mann stolperte. Seine Füße fingen an wehzutun. Auch seine Arme schmerzten, von der Tasche, die er so fest gegen die Brust presste, und von dem Gewicht der Pistole. Das Gedränge um ihn wurde dichter. Immer mehr Menschen bevölkerten die schmale Straße zwischen dem Wasser und den Eingängen der Sexclubs: Japaner mit Schirmkappen und Windjacken, ein schnatternder Pulk, der dem hochgereckten weißen Schirm in der Faust einer Reiseführerin folgte. Amerikanische Ehepaare mit luftgepolsterten Laufschuhen und diebstahlsicheren Gürteln von Abercrombie & Fitch. Junge Engländer mit geröteten Augen und Bierflaschen in den Händen. Bärtige Rucksacktouristen aus Frankreich und Deutschland mit Zottelhaaren. Afrikaner. Missmutige Surinamer in Jogginganzügen. Aber auch elegante Inder, Chinesen in schwarzen Anzügen, weißen Seidenhemden und auf Hochglanz polierten Schuhen.
Über die Gesichter huschte das Echo der flackernden Neonsilben an den Backsteinfassaden. In der Luft schwebte der Geruch von frittierten Muscheln, gebratenen Hamburgern, verschüttetem Bier und brennendem Hasch. Hinter den Fenstern standen die grell geschminkten, fast nackten Frauen zum Greifen nah an den Scheiben, die Hände auf den Hüften oder an den Brüsten. Sie warfen die Lippen auf, befeuchteten sie mit der Zungenspitze, winkten den vorbeistreifenden Männern. Manche Frauen lächelten, andere küssten die violette Luft, aber die Augen blieben teilnahmslos, schauten ins Nichts.
Der Junge blieb wieder stehen, und der Mann mit der Pistole in der Aktentasche verharrte ebenfalls. Schwer atmend lehnte er sich gegen eine Hausmauer. Er stellte die Tasche zwischen die Beine, bevor er die Brille abnahm und die Gläser mit dem Hemdzipfel abwischte. Das Leukoplastband, mit dem er den linken Bügel geflickt hatte, war nass geworden, aber noch hielt das Flickwerk. Ich muss es bald tun, dachte er; wenn ich es nicht bald tue, werde ich den Mut nicht noch einmal aufbringen. Als er die Brille wieder aufsetzte, sah er den Fischreiher.
Der große grau-weiße Vogel kauerte in der Krone einer Ulme auf einem dicken Ast. Reglos saß er da vor dem blauen Himmel. Die großen Flügel waren dicht an den Leib gelegt, der lange Schnabel ruhte am Brustgefieder, die Augen bewegten sich nicht, auch nicht, wenn der aufkommende Wind in das Laub der Ulme fuhr. Nichts schien ihn zu kümmern – die flackernden Lichter, die lauten Stimmen der Anreißer, die dröhnende Musik, Rock, Reggae, Salsa, nichts davon –, er blieb unberührt.
Der Mann dachte an den Vorfall – so nannte er es bei sich, den Vorfall – auf dem Schulhof heute Nachmittag, die Hand des Jungen, die hochflog, ein Blitzen vor seinen Augen, er glaubte, es sei eine Messerklinge, aber es war nur das Metallgehäuse einer Armbanduhr. Trotzdem, er hatte den Kopf zurückgerissen, hatte ausweichen wollen, und plötzlich hörte er das Gelächter überall auf dem Hof, und als er merkte, dass er gemeint war, dass das Lachen ihm galt, da wusste er, dass er es heute tun musste.
Jetzt fand er den Jungen wieder, fast an der Brücke, am Rand seines Blickfelds. Er drängte sich durch die Menge, um ihn im Gewühl nicht zu verlieren. Er spürte die Tasche in seinen Armen nicht mehr und auch nicht die Pistole darin. Er folgte dem Jungen über den Oude Voorburgwal, (…).
Der Mann widerstand den Lockungen der Casa Rosso und des Sex Palace. Er ließ auch De Kooning of Siam und das Moulin Rouge links liegen. Hinter offenen Ladentüren stapelten sich Magazine und DVDs für Männer, die Männer begehrten, und Frauen, die Frauen begehrten, und Männer und Frauen, die alles begehrten, aber niemand liebten. Die Magazine, Videos und DVDs interessierten den Mann nicht. Er wusste, dass der Junge den Vorfall herumerzählen würde, und auch Pieter würde Margriet davon erzählen, und den Gedanken an ihr Gesicht, den Blick in ihren Augen, konnte er einfach nicht ertragen.
Ich wünschte, ich wäre tot.
Im Gehen öffnete er seine Aktentasche, schob die Hand hinein und tastete nach dem Griff der Pistole.
An der nächsten Ecke blieb das Licht der Uferstraßen zurück. Nach einem Stück fast vollkommener Finsternis stand der Mann in der Mitte einer kurzen Gasse aus graffitibeschmierten Mauern vor einem schwach beleuchteten Hintereingang. Als seine Augen sich an die Beleuchtung gewöhnt hatten, sah er plötzlich den Jungen direkt vor sich. Er blieb abrupt stehen und packte den Pistolengriff, zog die Waffe aber noch nicht hervor. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, damit das, was jetzt geschah, nicht so unvorbereitet passierte.
Er sah den Jungen an, und der Junge erwiderte den Blick mit seinen großen dunklen Augen. Sein nasses Gesicht veränderte sich, als wieder die Verachtung darüberflackerte. Was willst du jetzt noch?, sagten die Augen, es war ein Fehler, du bist kein Mann, du verdienst deine Frau nicht, und du verdienst mich nicht. Und da, ohne nachzudenken und ohne noch etwas zu sagen und sogar ohne es zu wollen, zog der Mann die Hand aus der Aktentasche – leer, keine Pistole darin – und schlug zu, so heftig, dass es ihn selbst überraschte.
© Ehrenwirth Verlag
Er ging schneller. Seine Bauchmuskeln verkrampften sich, und die durchgeschwitzte Hose scheuerte an seinen Beinen. Ihm war so heiß, dass er glaubte, Fieber zu haben. Die Haut auf seiner Stirn und den Wangen glühte. Immer wieder verlor er den Jungen für kurze Zeit aus den Augen, und dann spürte er sein Herz hämmern. Er spürte es am heftigsten in der Brust, aber auch am Hals und in den Ohren.
Der Junge trug ein Skateboard unter dem Arm. Jetzt warf er es auf das Pflaster und rollte ein paar Schritte. Mit seinen ausgebreiteten Armen wirkte er, als flöge er über das Pflaster, eine anmutige, schlanke Gestalt, die federnd vom Bordstein auf die Straße und wieder auf den Fußweg sprang. Durch die Risse in seiner Jeans konnte man seine nackten Beine sehen. Das Scheppern der Rollen ging unter in dem Gelächter und Geschrei, der stampfenden Musik. An der nächsten Ecke sprang der Junge wieder ab und stoppte das Board mit einem Fuß, bevor er es mit dem anderen in die Luft wirbelte und mit der Hand auffing.
Ich könnte ihm die Pistole erst zeigen, dachte der Mann, und dann könnte ich sie mir in den Mund schieben und abdrücken, vor seinen Augen.
Er wollte, dass der Junge begriff. Er sollte begreifen, was er getan hatte, er und all die anderen; dass er ihretwegen nicht mehr leben konnte. Er wollte, dass der Junge seine Verzweiflung sah und aus seinem Tod etwas lernte. Ja, vielleicht war sein Tod eine gute Lektion.
Es begann zu regnen. Der Regen war nicht sehr stark, aber einige Passanten gingen schneller, und es wurde noch schwieriger, den Jungen im Auge zu behalten. Nach ein paar Schritten lief ihm das Wasser in kleinen Rinnsalen über die Brillengläser, sodass der Mann immer weniger sehen konnte. Der Sprung im rechten Glas teilte das Wasser und den Neonglanz, und er teilte auch den Jungen in zwei glitzernde, zerlaufende Hälften.
Der Junge war stehen geblieben und starrte in eines der Fenster. Mit der freien Hand wischte er sich die Feuchtigkeit aus den Augen. Der Regen rann ihm in rot und blau schimmernden Bächen über das Gesicht. Er stand da und zog die Kapuze seiner dunkelroten Blousonjacke über den Kopf, und dann lachte er plötzlich auf und lief weiter.
Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?, dachte der Mann. Warum hört ihr nicht auf, mich zu quälen? Er liebte sie doch, jeden Einzelnen; nicht alle gleich, aber es gab keinen, der ihm gleichgültig war, dem er nicht helfen wollte. Warum wollten sie seine Hilfe nicht? Warum stießen sie ihn immer wieder zurück? Er verstand einfach nicht, warum.
Sie waren so zynisch, so höhnisch, schon in ihrem Alter. Sie verachteten ihn, wie Margriet ihn verachtete, und Pieter. Ganz bestimmt verachtete sogar Pieter ihn, auch wenn er sich bemühte, es nicht zu zeigen. Es war immer dasselbe: Am Anfang mochten die Menschen ihn, weil er sanft war oder klug oder hilfsbereit oder weil er so viel wusste. Und dann, irgendwann, fingen sie an, ihn zu verachten, ihn auszulachen. Aber geschlagen hatte ihn bisher noch niemand, außer dem Jungen.
Der Mann blinzelte hinter dem gesprungenen Brillenglas. Er spürte den Schlag noch immer auf seiner Wange – nicht mehr scharf wie im ersten Moment, eher wie einen tauben Druck. Er wünschte, er wäre tot. Es war ein Wunsch, den er jeden Morgen hatte, gleich nach dem Aufwachen, noch bevor er richtig wach war. Ich wünschte, ich wäre tot. Trotzdem musste er leben, er zwang sich dazu, und in Margriets Gesicht sah er, dass sie ihn auch deswegen verachtete. Er stellte sich vor, sie könnte ihn jetzt sehen, hier in diesem Moment. Er stellte sich ihr Gesicht vor, die Verachtung darin.
Ich ersticke, dachte er. Er sah sie vor sich auf dem Boden liegen, umgeben von den Splittern, den spitzen Scherben; er sah das Blut. Ich ersticke!
Der Mann stolperte. Seine Füße fingen an wehzutun. Auch seine Arme schmerzten, von der Tasche, die er so fest gegen die Brust presste, und von dem Gewicht der Pistole. Das Gedränge um ihn wurde dichter. Immer mehr Menschen bevölkerten die schmale Straße zwischen dem Wasser und den Eingängen der Sexclubs: Japaner mit Schirmkappen und Windjacken, ein schnatternder Pulk, der dem hochgereckten weißen Schirm in der Faust einer Reiseführerin folgte. Amerikanische Ehepaare mit luftgepolsterten Laufschuhen und diebstahlsicheren Gürteln von Abercrombie & Fitch. Junge Engländer mit geröteten Augen und Bierflaschen in den Händen. Bärtige Rucksacktouristen aus Frankreich und Deutschland mit Zottelhaaren. Afrikaner. Missmutige Surinamer in Jogginganzügen. Aber auch elegante Inder, Chinesen in schwarzen Anzügen, weißen Seidenhemden und auf Hochglanz polierten Schuhen.
Über die Gesichter huschte das Echo der flackernden Neonsilben an den Backsteinfassaden. In der Luft schwebte der Geruch von frittierten Muscheln, gebratenen Hamburgern, verschüttetem Bier und brennendem Hasch. Hinter den Fenstern standen die grell geschminkten, fast nackten Frauen zum Greifen nah an den Scheiben, die Hände auf den Hüften oder an den Brüsten. Sie warfen die Lippen auf, befeuchteten sie mit der Zungenspitze, winkten den vorbeistreifenden Männern. Manche Frauen lächelten, andere küssten die violette Luft, aber die Augen blieben teilnahmslos, schauten ins Nichts.
Der Junge blieb wieder stehen, und der Mann mit der Pistole in der Aktentasche verharrte ebenfalls. Schwer atmend lehnte er sich gegen eine Hausmauer. Er stellte die Tasche zwischen die Beine, bevor er die Brille abnahm und die Gläser mit dem Hemdzipfel abwischte. Das Leukoplastband, mit dem er den linken Bügel geflickt hatte, war nass geworden, aber noch hielt das Flickwerk. Ich muss es bald tun, dachte er; wenn ich es nicht bald tue, werde ich den Mut nicht noch einmal aufbringen. Als er die Brille wieder aufsetzte, sah er den Fischreiher.
Der große grau-weiße Vogel kauerte in der Krone einer Ulme auf einem dicken Ast. Reglos saß er da vor dem blauen Himmel. Die großen Flügel waren dicht an den Leib gelegt, der lange Schnabel ruhte am Brustgefieder, die Augen bewegten sich nicht, auch nicht, wenn der aufkommende Wind in das Laub der Ulme fuhr. Nichts schien ihn zu kümmern – die flackernden Lichter, die lauten Stimmen der Anreißer, die dröhnende Musik, Rock, Reggae, Salsa, nichts davon –, er blieb unberührt.
Der Mann dachte an den Vorfall – so nannte er es bei sich, den Vorfall – auf dem Schulhof heute Nachmittag, die Hand des Jungen, die hochflog, ein Blitzen vor seinen Augen, er glaubte, es sei eine Messerklinge, aber es war nur das Metallgehäuse einer Armbanduhr. Trotzdem, er hatte den Kopf zurückgerissen, hatte ausweichen wollen, und plötzlich hörte er das Gelächter überall auf dem Hof, und als er merkte, dass er gemeint war, dass das Lachen ihm galt, da wusste er, dass er es heute tun musste.
Jetzt fand er den Jungen wieder, fast an der Brücke, am Rand seines Blickfelds. Er drängte sich durch die Menge, um ihn im Gewühl nicht zu verlieren. Er spürte die Tasche in seinen Armen nicht mehr und auch nicht die Pistole darin. Er folgte dem Jungen über den Oude Voorburgwal, (…).
Der Mann widerstand den Lockungen der Casa Rosso und des Sex Palace. Er ließ auch De Kooning of Siam und das Moulin Rouge links liegen. Hinter offenen Ladentüren stapelten sich Magazine und DVDs für Männer, die Männer begehrten, und Frauen, die Frauen begehrten, und Männer und Frauen, die alles begehrten, aber niemand liebten. Die Magazine, Videos und DVDs interessierten den Mann nicht. Er wusste, dass der Junge den Vorfall herumerzählen würde, und auch Pieter würde Margriet davon erzählen, und den Gedanken an ihr Gesicht, den Blick in ihren Augen, konnte er einfach nicht ertragen.
Ich wünschte, ich wäre tot.
Im Gehen öffnete er seine Aktentasche, schob die Hand hinein und tastete nach dem Griff der Pistole.
An der nächsten Ecke blieb das Licht der Uferstraßen zurück. Nach einem Stück fast vollkommener Finsternis stand der Mann in der Mitte einer kurzen Gasse aus graffitibeschmierten Mauern vor einem schwach beleuchteten Hintereingang. Als seine Augen sich an die Beleuchtung gewöhnt hatten, sah er plötzlich den Jungen direkt vor sich. Er blieb abrupt stehen und packte den Pistolengriff, zog die Waffe aber noch nicht hervor. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, damit das, was jetzt geschah, nicht so unvorbereitet passierte.
Er sah den Jungen an, und der Junge erwiderte den Blick mit seinen großen dunklen Augen. Sein nasses Gesicht veränderte sich, als wieder die Verachtung darüberflackerte. Was willst du jetzt noch?, sagten die Augen, es war ein Fehler, du bist kein Mann, du verdienst deine Frau nicht, und du verdienst mich nicht. Und da, ohne nachzudenken und ohne noch etwas zu sagen und sogar ohne es zu wollen, zog der Mann die Hand aus der Aktentasche – leer, keine Pistole darin – und schlug zu, so heftig, dass es ihn selbst überraschte.
© Ehrenwirth Verlag
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Autoren-Porträt von Claus C. Fischer
Claus Cornelius Fischer wurde 1951 in Berlin geboren und lebt heute in München. Er schrieb unter anderem für "Die Welt" und "Die Zeit" und ist seit 1976 freier Schriftsteller, Übersetzer und Drehbuchautor. Seit 1989 hat er zahlreiche Romane und Drehbücher für Film ("Blueprint" mit Franka Potente) und TV ("Tatort") geschrieben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claus C. Fischer
- 2009, 400 Seiten, 1 farbige Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431037771
- ISBN-13: 9783431037777
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