Toter geht's nicht / Henning Bröhmann Bd.1
Fasching am Vogelsberg: ein Mann, der als Tod verkleidet ist, wird getötet. Hauptkommissar Bröhmann soll den Täter finden. Immer tiefer taucht er ein in die Schattenwelt der hessischen Faschingskultur, in vertuschte Schweinereien und andere üble Geheimnisse.
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Fasching am Vogelsberg: ein Mann, der als Tod verkleidet ist, wird getötet. Hauptkommissar Bröhmann soll den Täter finden. Immer tiefer taucht er ein in die Schattenwelt der hessischen Faschingskultur, in vertuschte Schweinereien und andere üble Geheimnisse.
Faschingsumzug im Vogelsberg: Jubel, Trubel, Heiterkeit, und am Ende wird ein Mann erschlagen. Der Tote war verkleidet: als Tod.
Kriminalhauptkommissar Henning Bröhmann passt das überhaupt nicht. Er ist nämlich am selben Tag von seiner Frau verlassen worden und muss nun nicht nur einen Mord aufklären, sondern sich auch um Kinder, Haus und Hund Berlusconi kümmern. Wobei nicht ganz klar ist, was mehr schlaucht: die Suche nach dem Täter, der Alltagskampf mit einer schwer pubertierenden Tochter oder die Frondienste in der Kindertagesstätte «Schlumpfloch».
Die Ermittlungen in Sachen Sensenmann führen direkt in die Schattenwelt der mittelhessischen Faschingskultur, zum Stimmungsmusiker Herr Bärt, der mit dem Schlager «Lass uns fummeln, Pummel» zu zweifelhaftem Ruhm gelangt ist. Sie führen außerdem zum depressiven Sohn des Toten, zu schrecklichen Comedy-Galas, jahrzehntelang totgeschwiegenen Schweinereien, mancherlei Liebeswirrungen, einem Verhör in einer finnischen Feng-Shui-Sauna und am Ende zu einem so dramatischen wie überraschenden Finale.
1. KAPITEL
Natürlich wäre es viel cooler, wenn ich nicht ich wäre. Dann würde ich in Berlin-Mitte leben. Vielleicht aber auch in Hamburg, «in der Schanze» oder « auf Pauli».
Jedenfalls nicht im Vogelsberg. Und schon gar nicht in Bad Salzhausen. In einer Doppelhaushälfte. Ich würde urban im Altbau wohnen, mit wenig Möbeln und hohen Wänden.
Ich würde in der Mittagssonne mit übergeschlagenen Beinen an einem Bistrotisch im Freien sitzen, filterlose Selbst-gedrehte rauchen, schönen Frauen nachblicken, einen Latte trinken und auf meinem iPad herumspielen.
Ich würde nicht in der Bäckerei Wurstmann einen abgepackten Salat essen und im «Oberhessischen Anzeiger» verwackelte Fotos der Jahreshauptversammlung des Männergesangvereins betrachten.
Ich wäre auch nicht verheiratet. Ich hätte nicht zwei Kinder von einer Frau.
Ich hätte vier Kinder von fünf Frauen. Und diese wären auch nicht Lehrerinnen, sondern nach Neuseeland ausgewandert, würden dort Schafe züchten und Bestsellerromane schreiben. Manchmal käme ich sie besuchen. Dann wären wir alle ausgesprochen heiter, ausgelassen, braun gebrannt und austrainiert, würden guten Wein trinken, Gitarre spielen und uns keine Vorwürfe machen.
Auch beruflich wären die Schwerpunkte anders gelagert. Ich wäre dann irgendwo da draußen, wo es wirklich wehtut. Ich würde behinderte osteuropäische aidskranke Kinder vor der Zwangsprostitution retten und dabei ganz beiläufig aufdecken, dass der vom schwulen Oberstaatsanwalt gedeckte Innenminister mit Drogen handelt und früher vom zukünftigen Papst in einer Jesuitenschule sexuell missbraucht wurde.
Ich würde mich jedenfalls nicht im Polizeirevier Alsfeld mit der Überarbeitung der Broschüre «Verkehrssicherheit im Vogelsberg- was können auch Sie tun?» befassen.
Das aber tue ich, denn ich bin nun mal ich.
Mein Name ist Henning Bröhmann. Dafür kann ich nichts.
Für vieles andere, vermutlich sogar für das meiste in meinem Leben, kann ich etwas. Einiges hätte ich gern ein wenig anders. Doch dies zu ändern erscheint mir oft eine Spur zu anstrengend.
Ich lebe mitten in Hessen in einem sehr undicht besiedelten Mittelgebirge namens Vogelsberg, nahe an der Grenze zur Wetterau. Objektiv gesehen ist es hier recht schön, zumindest landschaftlich. Subjektiv gesehen auch. Und doch finde ich immer wieder Anlass zur Klage, da ich seit meiner Kindheit nahezu durchgängig hier lebe und vielleicht auch gerne einmal etwas anderes gesehen hätte. Dazu kam es aber nicht, wofür ich den Vogelsberg nicht verantwortlich machen darf. Manchmal tue ich es aber doch.
Und so wachsen nach dem einen oder anderen Jahr, das ins Vogelsberger Land gegangen ist, inzwischen auch meine Kinder hier auf, die vierzehnjährige Melina und der fünfjährige Laurin.
Im Kurort Bad Salzhausen leben wir. Bad Salzhausen gehört inzwischen zur Stadt Nidda, die genauso heißen darf oder muss wie ihr Fluss. Nidda bezichtigt sich selbst als «das Herz zwischen Wetterau und Vogelsberg», was bedeutet, dass es sich nicht entscheiden kann, zu welchem Landstrich es denn nun geographisch, politisch oder emotional gehören möchte. Für mich ist der Fall klar, ich bin Vogelsberger und kein Wetterauer.
Ich habe mich niemals für und niemals gegen meine Heimat als Wohnort entschieden. Ich war und bin einfach dort. Und das inzwischen völlig zu Recht und verdientermaßen. Immer häufiger stelle ich fest, dass ich den Vogelsberg verteidige, wenn dessen Bewohner einmal wieder als rückständig oder hinterwäldlerisch bezeichnet werden. Oft fallen mir zwar keine Gegenargumente ein, doch es geht mir hier ums Prinzip. Ich bin auch jemand, der Politiker klasse findet.
Und dann bin ich noch ein Arsch. Sagt jedenfalls meine Tochter.
Ich finde das nicht, und wenn es so wäre, dann könnte sie, wenn sie es mir schon unbedingt ins Gesicht sagen muss, eine andere, eine nettere, eine höflichere Umschreibung finden. Doch das tut sie derzeit sehr selten, denn mit dem Nettsein ist das gerade so eine Sache. Melina ist vierzehn, und das mag vieles entschuldigen, aber eben nicht alles.
Meine leibliche Tochter Melina Bröhmann steht an diesem kalten Faschingssonntag in unserem Wohnzimmer halb-, was sage ich: dreiviertelnackt vor mir und teilt mit, dass sie nun los wolle.
«Los?», frage ich, während ich auf einem übriggebliebenen Weihnachtsplätzchen kaue. «Wohin?»
«Na, auf diesen fuck Faschingsumzug, wohin sonst, ist ja sonst nix los in diesem Scheißkaff! », antwortet sie und blickt konsequent an mir vorbei oder durch mich hindurch, so genau kann ich das nicht erkennen bei der vielen Schminke.
«Ja, aber du hast doch gar nichts an! », entgegne ich zaghaft.
«Hohhhh, Mannnn, das ist mein Kostüm.»
«Aha, und als was gehst du?»
«Als Nutte.»
Ich erhebe mich vom Sofa, um Zeit zu gewinnen, und schaue rat-, sprach- und fassungslos durch die Wohnung, suche den Blickkontakt zu der Mutter dieses Mädchens, finde ihn aber nicht und bleibe somit auf mich allein gestellt.
Ich baue mich vor meiner Tochter auf, als würde meine körperliche Überlegenheit irgendeinen Nutzen bringen, und frage so väterlich wie möglich:
«Weißt du denn überhaupt schon, was das ist, eine ... äh ... Nutte?»
Wieder die falsche Frage.
«Haha, sehr witzig, keiner lacht. Kann ich jetzt gehen!»
Eigentlich ergeben diese vier Worte eine Frage. Doch Melinas Betonung macht deutlich: Am Ende dieser Frage stehen vier Ausrufezeichen.
«Kann ich jetzt gehen!!!!»
Wenn mir in solchen Situationen gar nichts mehr einfallen möchte und ich damit beginne, mit dem Denken aufzuhören, dann rede ich manchmal ganz plötzlich so wie mein Vater. Dann spuckt mein Mund Sätze wie den folgenden aus:
«Ich glaube, dir geht's zu gut, Junge ... äh, Mädchen, das kommt gar nicht in die Tüte. So was zu fragen, das hätten wir uns früher gar nicht getraut. Bei uns gab es gar keine, also, gab's so ein Wort überhaupt nicht.»
«Hohhhhrrrr, du bist voll Scheiße», schreit sie dann. Und darauf folgt: «Du Arsch!», und wumms, die Zimmertür und krrrk, der Schlüssel.
In Momenten wie diesem dürfte mein Polizeibereitschaftshandy ruhig öfter einmal klingeln. Tut es aber nie.
Franziska, meine Frau, wirft einen fragenden Blick ins Wohnzimmer.
«War was?»
«Nö, eigentlich nichts», antworte ich. «Ich bin ein Arsch, und meine Tochter ist eine Nutte, also alles ganz normal.»
2. KAPITEL
Ach, übrigens, Henning», beginnt Franziska einen Satz, in einem Tonfall, der mir sagt, dass sie etwas von mir
will. Vor 25 Jahren, als wir uns bepickelt pubertierend auf Klassenfahrt befanden und es plötzlich hieß, Franziska wolle etwas von mir, da fühlte sich das äußerst gut an. Wenn sie heute, nach fünfzehn Ehejahren, etwas von mir will, dann geht das oft in eine Richtung, die nicht mehr ganz so sexy ist.
Franziska will wissen, ob das Rote in der Steckdose Blut, Wasserfarbe oder Tomatensoße sei. Ich muss passen, und Franziska klärt mich auf, dass Laurin Spaghetti in der Steckdose versteckt habe. Ich hätte es sehen müssen, meint Franziska, und vermutlich hat sie recht.
Dann möchte sie wissen, ob ich mit Berlusconi draußen gewesen wäre. Sie formuliert dies als Frage, obwohl sie die Antwort kennt. Nein, lautet sie.
Das hundebedingt regelmäßige Gassigehen tut mir selbst eigentlich auch echt gut. Es würde vermutlich sogar Spaß machen, wenn Berlusconi nicht ständig, seinem ausgeprägten Jagdtrieb folgend, jungen Häschen nachsteigen und sich nicht permanent so territorial und sexualisiert verhalten würde. Vielleicht hätte man Berlusconi doch kastrieren sollen. Es wäre uns einiges erspart geblieben.
Ich stelle immer wieder fest, dass ich grundsätzlich nicht mit einer Ehefrau streiten kann. Ich habe zwar nur diese eine und hatte auch bisher noch keine andere, aber bei allen anderen Ehefrauen wäre es, muss man annehmen, genauso.
Wie geht das, streiten, und muss man das überhaupt? Ich halte Konflikte für überbewertet und versuche, ihnen wenn irgend möglich, aus dem Weg zu gehen. Franziska sagt, sie würde sich wünschen, dass ich auch einmal einen Standpunkt hätte, diesen formulieren und am Ende dann sogar noch für ihn einstehen könnte. Meistens aber kenne ich ihn gar nicht, diesen sogenannten Standpunkt. Jedenfalls nicht in Beziehungsgesprächen. Franziska aber will ihn hören. Sie ist Lehrerin.
Wenn wir so etwas Ähnliches wie einen Streit haben, würde ich immer dreinblicken wie Berlusconi, wenn er kackt, sagt sie. So auch jetzt. Ich hätte das Wochenende frei, sagt Franziska, also könnte ich doch einmal mitkommen zum Faschingsumzug, wenigstens meinem Sohn zuliebe. Das mit Laurin ist emotionale Erpressung, denke ich, und außerdem habe ich nicht frei, sondern Bereitschaft und kein Kostüm. Sage es aber nicht, sondern gucke wie ein scheißender Köter und sehe diesen unschönen Anflug von Resignation in Franziskas blauen Augen. Dann wird es schwer und still um uns. Wie so oft in letzter Zeit.
Irgendwann sage ich: «Geh du doch mit Laurin zum Umzug. Ich bleibe mit dem Biest hier.»
«Das ist ja wohl logisch, dass ich Berlusconi nicht auch noch mitnehme», sagt Franziska.
«Ich meine unsere Tochter», sage ich.
Urplötzlich merke ich, wie müde ich bin. Ich schlafe immer schlecht, wenn ich Bereitschaftsdienst habe und mein Diensthandy neben mir liegt. Es braucht nur irgendein Küchengerät, Hund oder Kind zu fiepen, dann zucke ich zusammen, bekomme schwitzige Hände und fürchte, dass ich los muss. Ich, der Kriminalhauptkommissar Henning Bröhmann, der hoffentlich bald die Dienststellenleitung anden wesentlich begabteren Markus Meirich abgeben wird.
Während sich Franziska nun mit dem als Avatar verkleideten Laurin in den Straßenfasching der sechs Kilometer von Bad Salzhausen entfernten Niddaer Innenstadt stürzt, meine Tochter in ihrem Zimmer am Telefon ihre Eltern verflucht und Berlusconi die Steckdose ableckt, sitze ich vor dem Laptop und schieße Moorhühner tot. So hat jeder was zu tun.
Faschingsumzügen beizuwohnen ist meine Sache nicht.
Mein Vater war achtzehn Jahre lang Sitzungspräsident und Vorsitzender des Faschingsvereins Rudingshain e. V. In meiner Kindheit und Jugend habe ich im Musikcorps Rudingshain e. V. im Harlekinkostüm auf Faschingsumzügen die Trompete geblasen. Ich bin da so reingerutscht. Wie andere in Drogenszenen abgleiten und dann nicht mehr rauskommen, so bin ich im Musikcorps versackt. Väterliche Prägung und kindliche Neugier haben mich im Alter von zehn Jahren da hineingetrieben. Als ich merkte, dass ich auf Übungsstunden im Musikcorps noch weniger Vorfreude empfand als auf Mathematikarbeiten, war es zu spät. Es war Pflicht. Schließlich war mein Vater auch nie gerne der Sitzungspräsident. Er war es einfach. Er war der Meinung, dass man sich in einem Dorf in die Gemeinschaft integrieren müsse. Und das tue man am besten im Vereinswesen. Und als Präsident des Polizeipräsidiums Osthessens müsse man im Faschingsverein eben auch ein Präsident sein.
Erst ein chronischer hartnäckiger psychosomatischer Lippenherpes ließ mich im Alter von sechzehn Jahren den Schritt wagen, nicht mehr Trompete spielend neben dem dicken Waldemar im Gleichschritt durch den Vogelsberg zu marschieren.
Und dann ist es plötzlich doch weg, das Töchterchen. Schneller als der Wind aus dem Haus gehuscht. Unfassbar. Ich habe nur noch die Tür zuschlagen hören und sie bei knapp null Grad im Dirnenkostüm abziehen sehen.
Nun ja, man muss auch mal loslassen können.
3. KAPITEL
So war das nicht gemeint. Natürlich gibt es da irgendwo auch bei mir den Wunsch
nach Veränderung. Natürlich sollte es so nicht ewig weitergehen, und natürlich war vieles auch in gewisser Weise festgefahren.
Aber dass innerhalb weniger Minuten mein Leben ein so derart ungemütliches Tempo aufnimmt, das kann ich nicht gewollt haben.
Natürlich ist auch mir nicht entgangen, dass Franziska in letzter Zeit ein wenig müde wirkte. Natürlich habe ich auch einige Male ihre Unzufriedenheit wahrgenommen, und es war natürlich auffallend, dass sie in den letzten Wochen nicht einmal mehr den Versuch unternahm, mit mir zu streiten.
Natürlich, natürlich, natürlich, aber das ist doch alles nur eine Phase und vor allem noch lange kein Grund, unsere Ehe und alles in Frage zu stellen.
Doch so wirklich gefragt hatte sie eigentlich gar nicht mehr.
Doch der Reihe nach:
Ungefähr zwei Stunden nachdem Melina gegen fünf aus ihrem häuslichen Gefängnis ausbrach, bin ich allein gewesen. Jetzt steht Franziska urplötzlich in unserem Wohnzimmer. Viel früher als erwartet ist sie vom Faschingsumzug zurückgekehrt. Ich hatte mich gerade mental auf die Live-Übertragung des Spiels Eintracht Frankfurt gegen 1. FC Nürnberg im Bezahlfernsehen vorbereitet und seit
fast einer Stunde die nichtige Vorberichterstattung verfolgt.
Franziska starrt mich an. Eigentlich dachte ich alles an ihr zu kennen, doch dieser Blick, der ist neu. Ich versuche meine Irritation über ihr frühes Heimkehren zu verbergen und begrüße sie in betont freudigem Tonfall:
«Oh, hi ... wo ist denn Laurin?»
«Bei Calvin-Manuel.»
Das ist ein Kind, das auch nichts für seinen Namen kann. Laurin kennt ihn aus dem Kindergarten. Kindergarten ist untertrieben, Laurin geht in die reformpädagogische elternselbstorganisierteundverwaltete Kindertagesstätte Schlumpfloch e. V. Richtig ... nicht Schlupfloch, sondern Schlumpfloch.
Calvin-Manuels Eltern sind Wolle und Molli und sehen aus, wie sie heißen.
Wolle schreibt seit vierzehn Jahren an einer Philosophie-Doktorarbeit. Er hat somit genügend Zeit, sich als Vorsitzender des Elternvereins wichtig zu machen. Er mag mich nicht. Und das wiederum mag ich nicht. Ich konnte noch nie damit umgehen, dass mich jemand nicht mag, selbst wenn ich diesen Jemand selber gar nicht ausstehen kann. Und das ist bei Wolle der Fall. Wolle ist 44 Jahre alt, hört am liebsten Franz-Josef Degenhardt auf Vinyl und ist der unumstrittene Diktator unseres basisdemokratischen Kindergartens. Wolle gehört zu der bärtigen Spezies Mann, von der man glaubt, dass es sie nicht mehr gäbe.
Und Molli ist mollig.
Franziska sieht blass aus. Sie steht nun direkt vor der Fernsehhälfte, in der Oka Nikolov das Tor hütet. Ich entscheide mich dafür, die Liegeposition auf dem Sofa zu verlassen, und setze mich auf. Ich blicke sie an. Sie sagt:
«Wir haben Molle und Wolli ...»
«Wolle und Molli», korrigiere ich.
«Jaaah, mein Gott, wir haben sie beim Umzug getroffen. Laurin wollte mit Manuel-Calvin ...»
« Calvin-Manuel! », korrigiere ich sie wieder und komme mir dabei noch nicht einmal originell vor.
«FRESSE!!», schreit sie plötzlich. «Henning, es reicht!» Ich zucke zusammen, schaffe es aber nicht, den Freistoß von Caio komplett zu ignorieren. Weniger aus Ignoranz, mehr aus Unsicherheit. Er landet in der Mauer.
«Kannst du vielleicht einmal diese Scheißkiste ausmachen!»
Auch eine Frage, die keine ist. Kurz bevor ich den Ausschalter drücken will, fällt gerade das 1:0 für Nürnberg. Auch das noch. Nikolov läuft mal wieder bei einer Ecke unter dem Ball durch.
«Mach die Glotze aus!»
So laut habe ich sie in all den Jahren niemanden anschreien gehört. Nicht einmal Melina.
«Na ja, jetzt reg dich doch mal nicht gleich so auf», versuche ich etwas hilflos zu beschwichtigen.
«Gleich? Ich soll mich nicht gleich so aufregen? Seit Monaten reiße ich mich am Riemen, um nicht völlig auszurasten, und du sagst, ich soll mich nicht gleich aufregen?»
Nun gucke ich vermutlich wieder wie Berlusconi.
«Was ist das denn hier bitte?», schreit sie weiter. «Von dir kommt nichts. Du ziehst dich nur noch zurück. Die ganze Scheiße bleibt an mir hängen. Ach, ich hab keinen Bock mehr, das immer wieder durchzukauen. Ich gehe morgens in die Schule, habe Hunderte von Schülern am Hals, hol dann Laurin aus dem Kindergarten, koche Essen, lass mich von Melina beschimpfen, bereite den Unterricht für den
nächsten Tag vor, bis irgendwann mein Mann zwar physisch eintrifft, aber doch nicht vorhanden ist. Da ist kein Interesse an den Kindern, an mir, an nichts, was hier ist. Da seh ich nur Selbstmitleid und Zynismus.»
«Na ja, also, äh, so würde ich das jetzt nicht ...», versuche ich sie erneut zu besänftigen.
«Henning, ich kann nicht mehr, ich bin fertig. Ich habe die Nase voll. Verstehst du? Ich will das so nicht mehr. Ich gehe auf dem Zahnfleisch, verstehst du?»
«Hmm», mümmele ich.
«Ich bin ausgebrannt.»
«Na ja, das ist ja jetzt so 'ne Art Mode ...»
«Sag jetzt nichts Falsches!», schreit sie. Noch lauter als zuvor.
«Hmm ...»
«Ich kann so nicht mehr ... so ... ich dreh durch, so geht es nicht.»
«Hmm ...»
Stille.
«Hmm», mache ich dann noch ein weiteres Mal, um die Stille zu beenden.
Franziska zittert. Auf ihrer Stirn sehe ich kleine Schweißperlen. Ihre Hände hat sie zu Fäusten geballt.
Das hier ist kein normaler Streit. Das hier ist etwas anderes. Das geht weiter. Das ist etwas, das ich nicht kenne. Da ist irgendein ungutes Gemenge aus Wut, Panik und Trauer zu spüren. Es macht mir Angst. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
Franziska atmet dreimal durch, dann sagt sie:
«Ich muss weggehen ... in eine Klinik oder so. Abstand brauch ich, irgendwie.»
Sie beginnt zu weinen. Noch immer zittert sie.
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Ihr Kommissar heißt „Henning Bröhmann" - wie fanden Sie zu dem Namen und welche Namen waren noch im Rennen?
Dietrich Faber: Wie ich auf den Namen Bröhmann kam? Weiß ich gar nicht mehr. Irgendwann fiel er mir ein, und ich fand einfach, dass er passt und schön klingt. Vorher war im Rennen „Memminger", der von Familie und Freunden nur kurz „Memme" genannt wird. Das war mir aber sehr schnell zu dick aufgetragen und unsubtil. Bröhmann soll gerne eine Memme sein, aber nicht so heißen...
Das beschauliche Leben von Kommissar Bröhmann ändert sich an einem Tag. Während ihm seine Frau Franziska erzählt, dass sie Abstand braucht, raus muss und gleich danach für unbestimmte Zeit angeblich Richtung Borkum verschwindet klingelt auch noch sein Diensthandy. Ein Toter auf dem Faschingsumzug. Nun steht Henning Bröhmann mit seiner pubertierenden Tochter Melina, dem kleinen Laurin und Hund Berlusconi allein da und hat auch noch einen Mord aufzuklären. Was für ein Tag! Es macht Ihnen Spaß, jemanden so in die Grütze fahren zu lassen oder?
Dietrich Faber: Aber nicht doch, Henning tat mir von Anfang an leid...Im Ernst: Es war weniger der Spaß, jemanden in die Grütze fahren zu lassen, sondern die einzige Möglichkeit, Bröhmann den Arsch hoch kriegen zu lassen, ihn sich verändern und entwickeln zu lassen. Er muss nun als Vater viel mehr seinen Mann stehen und eben auch als Hauptkommissar. Er wächst an seinen Aufgaben, weil ihm nichts anderes übrig bleibt...
Sie treten mit ihrem Kollegen Martin Guth als „Faberhaftguth" auf und machen Kabarett. Sicher schreiben Sie die Texte Ihrer Auftritte selbst. Wie schwer war es für Sie, die höchst unterschiedlichen Arten des Schreibens zu vereinbaren, bzw. zu trennen?
Dietrich
Ihr „Held" Bröhmann fühlt sich nicht wirklich wohl in seinem Job. Am liebsten überarbeitet er Broschüren wie „Verkehrserziehung im Vogelsberg" und ist mit dem Mord etwas überfordert, hat Minderwertigkeitskomplexe. Leidet er unter seinem Vater, dem pensionierten Polizeipräsidenten?
Dietrich Faber: Tja, das muss man wohl so sagen. Allerdings tut er zunächst auch nichts, um dies zu ändern. Ohne seinen Vater hätte er seinen Job nicht. Er ist in diese Kommissarsrolle eben so „reingerutscht", weil ihm damals nichts Besseres einfiel. Doch er ist nicht glücklich damit, hat aber zu wenig Antrieb, etwas zu ändern. Allerdings wächst er dann ja an seinen Aufgaben, weil er muss und ihm eben nichts anderes übrig bleibt. Ein dauerhaft und nur herum memmender Protagonist würde vermutlich etwas zu sehr nerven....
Bröhmanns Kollege Teichner nervt alle mit Sprüchen wie „gewuppdiduppt", „nullinger", „okeydokey" oder „schankedöhn". Hört sich nach dem nächsten Mordopfer an - und wir plädieren auf Notwehr. Warum merken solche Typen eigentlich nie, wie doof sie rüberkommen, was meinen Sie?
Dietrich Faber: Weil sie, wenn sie es merken würden, sich eben nicht so verhalten würden. Aber das ist ja auch alles subjektiv. Bröhmann hasst Teichner. Sie wollen ihn auch umbringen? Vielleicht aber kommt er bei anderen Lesern super an...? Wer weiß? Aber unter uns: ich hoffe es auch nicht.
Familienalltag kann echt hart sein. Das merkt Bröhmann spätestens, seit seine Frau Franziska sie hat sitzen lassen. Tochter Melina lässt sich nur durch knallhartes Verhandeln, sprich Bezahlung, zur Hausarbeit oder Gassi gehen mit Berlusconi „überreden". Das Argument „wir müssen jetzt zusammenhalten und jeder muss mithelfen" löst bei ihr akute Müdigkeit aus. Bringt Eltern die Pubertät eigentlich immer an den Rand des Wahnsinns?
Dietrich Faber: Melina ist schon eine sehr radikal Pubertierende. Sie ist sehr direkt, hat aber auch ein großes Herz. Henning hat harte Kämpfe mit ihr zu führen, aber er liebt sie auch sehr stark und spürt eine große Nähe und Verbundenheit zu ihr. Ich glaube schon, dass die Pubertät Eltern an einen gewissen Rand bringt. Aber nicht nur negativ, es ist eine große Chance, in dieser Zeit auch viel über sich selbst zu lernen.
Unser Kommissar Bröhmann schlägt sich wacker - sowohl als zeitweise alleinerziehender Vater als auch als Kommissar. Aber die Aufklärung des Mordes scheint immer schwieriger, Spuren verlieren sich oder führen zu anderen Delikten. Wollen Sie den Menschen, die Ihren Krimi noch nicht gelesen haben verraten, ob es ein Happy End gibt?
Dietrich Faber: Oh, natürlich nicht. Ich kann aber so viel verraten, dass das Ende es in sich hat. Von vielen Lesern habe ich schon das Feedback bekommen, dass sie damit mal so gar nicht gerechnet haben.
Wie genau haben Sie das Buch, den Plot, vorab durchgeplant?
Dietrich Faber: Der Grundplot und die Hauptfiguren waren vorab entwickelt und entworfen, als ich mit dem eigentlichen Schreiben begann. Dann habe ich aber während des Schreibens immer wieder neue Nebenstränge erfunden oder verworfen. Auch neue Figuren, die ich erst gar nicht auf der Pfanne hatte, sind entstanden.
Sie leben mit Frau und Sohn. Wie konnten Sie das Schreiben - die Ruhe, die man dafür braucht - mit dem Familientrubel verbinden?
Dietrich Faber: Das war kein großes Problem. Ich schreibe gerne sehr früh morgens, da ist mein Sohn in der Schule und meine Frau bei der Arbeit. Da ist also völlige Ruhe zuhause. Ich fahre aber auch gerne ein paar Tage weg in ein Wochenendhaus zum Schreiben.
Wie sieht ihr Schreibtisch/Arbeitsplatz aus und worauf/womit schreiben Sie?
Dietrich Faber: Zuhause leider oft viel zu unordentlich. Ich weiche dann oft ins Esszimmer aus. Wenn ich im Vogelsberger Wochenendhaus schreibe, sitze ich an einem rustikalen Holztisch oder manchmal auf einer Terrasse mit freiem Blick ins Grüne. Es gibt schlimmere Arbeitsplätze, denke ich dann oft...Ich schreibe meist auf einem Notebook.
Drei Bücher, die Sie auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würden?
Dietrich Faber: „Zwei an einem Tag", „Toter geht's nicht" natürlich und einen Ratgeber, wie ich mit Einsamkeit am besten klarkomme.
Was erwartet Kommissar Bröhmann in seinem zweiten Fall?
Dietrich Faber: Da kann und möchte ich natürlich noch nichts verraten. Geplant ist, dass das nächste Buch Ende 2012 erscheint.
Interview: Literaturtest
- Autor: Dietrich Faber
- 2011, 3. Aufl., 288 Seiten, Maße: 13,6 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt Polaris
- ISBN-10: 3862520242
- ISBN-13: 9783862520244
- Erscheinungsdatum: 25.10.2011
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