Traue deinen Augen nicht
Tess war neun Jahre alt, als ihre Schwester entführt und ermordet wurde. Wegen ihrer Zeugenaussage wurde der Täter damals verurteilt und hingerichtet. 20 Jahre später beweist eine DNA-Probe: Er war es nicht. Tess will das Rätsel...
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Produktinformationen zu „Traue deinen Augen nicht “
Tess war neun Jahre alt, als ihre Schwester entführt und ermordet wurde. Wegen ihrer Zeugenaussage wurde der Täter damals verurteilt und hingerichtet. 20 Jahre später beweist eine DNA-Probe: Er war es nicht. Tess will das Rätsel lösen - und gerät in tödliche Gefahr.
Lese-Probe zu „Traue deinen Augen nicht “
Traue deinen Augen nicht von Patricia MacDonalds1
Die neunjährige Tess DeGraff hielt den Atem an und sah zu
dem schimmernden grünen Licht und den glitzernden Luftbläschen,
die über ihr schwebten, hinauf. Dann durchstieß sie
mit einem halb schmerzvollen, halb jubelnden Schrei die Wasseroberfl
äche.
»Tess, Phoebe, bitte schwimmt nicht so weit hinaus«, rief
Dawn DeGraff, die am grasigen Ufer auf einer Decke saß, ihren
Töchtern zu.
Dawn hielt ihren Jüngsten, den drei Monate alten Sean, im
Arm und unterhielt sich nebenbei mit einem anderen Pärchen,
das mit seinem Kleinkind ebenfalls an den See gekommen war.
Dennoch ließ sie ihre Töchter keine Sekunde lang aus den
Augen.
Tess sah sich um und entdeckte ihre dreizehnjährige Schwester
Phoebe. Phoebes nasses blondes Haar klebte an ihrem Kopf.
Ihre Augen strahlten vor Glück, genau wie die von Tess. Sie
warfen einander verschwörerische Blicke zu und fi ngen dann
wie Welpen zu paddeln an.
Plötzlich spürte Tess, dass etwas sie am Knöchel festhielt und
nach unten zog. Sie schrie auf. Das Ziehen ließ nach und ihr
Vater tauchte mit einem breiten Grinsen im Gesicht neben ihr
auf.
»Dad, du hast mich erschreckt !«, schrie Tess und trommelte
mit ihren kleinen Fäusten gegen seine Brust. Rob DeGraff
lachte und nahm seine beiden pudelnassen Töchter in die Arme.
Für einen Augenblick hielten sie einander im kalten Wasser des
friedlichen Sees fest umschlungen. Dabei bemerkte Tess, dass
ihre Schwester Gänsehaut auf ihren weichen Armen und den
Beginn eines Sonnenbrandes auf der Nase hatte. Phoebe lächelte
mit zusammengepressten Lippen, um ihre Zahnspange zu ver-
bergen. Doch ihre Augen strahlten und tanzten.
... mehr
»Meine wunderschönen Fischchen«, sagte Rob.
Phoebe, die mit ihren dreizehn schon zu alt war, um sich
länger als notwendig einer elterlichen Umarmung hinzugeben,
strampelte sich frei und begann, in Rückenlage durch den
dunklen See zu schwimmen. Ihr langes blondes Haar trieb wie
goldene Fangarme auf dem Wasser.
Tess hingegen umklammerte weiter den Hals ihres Vaters
und betrachtete das eisige Wasser, in dem sich die dunkelgrünen
Bäume des Waldes auf dem Berghang spiegelten. Über ihnen
strahlte die Augustsonne, und die Luft war so warm, wie
sie in den White Mountains von New Hampshire nur werden
konnte. Tess' Blick glitt am Ufer entlang und blieb an einer
Gruppe Teenager hängen, Mädchen in Bikinis und Jungs in
Schwimmshorts oder kurzen Jeans, die in Grüppchen auf den
Felsen am Wasser saßen. Sie schienen sich alle zu kennen - bis
auf einen gut aussehenden jungen, muskulösen Mann, Tess'
sechzehnjährigen Bruder Jake. Eine hübsche Blondine aus der
Gruppe schnappte vor Entzücken nach Luft, und ein übergewichtiger
rothaariger Junge spottete über Jake, als der sich
tarzanmäßig über den See schwang, dann mit einem Freuden-
schrei das Seil losließ, einen Purzelbaum in der Luft schlug und
sich ins glitzernde Wasser fallen ließ. Auf der anderen Seite des
Sees glitten ein paar Fischerboote dahin. Ansonsten schien der
gesamte Lake Winnisquam Tess zu gehören.
»Ich liebe diesen Ort«, flüsterte sie ihrem Vater ins Ohr.
»Ich auch, Tess«, sagte Rob glücklich, während sie aneinandergedrückt
mit den Füßen paddelten.
Sie hatten an diesem Morgen in aller Früh und voller Vorfreude
ihre Wohnung in Boston verlassen. Die Familie verfügte
über mehr Vitalität und Neugierde als Geld, darum gingen sie
auch immer campen. Rob und Dawn hatten geheiratet, als sie
beide noch Studenten an der Boston University waren. Rob
war jetzt Privatdozent für Physik am Massachusetts Institute of
Technology. Die Familie wohnte noch immer in der sonnigen,
mit Büchern vollgestopften, verwinkelten Wohnung in der
Commonwealth Avenue, die das Paar sich einst mit ein paar
Kommilitonen geteilt hatte. Dawn hatte ihr eigenes Geschäft,
sie stellte Vollkornbackwaren für einen Uni-Coop her, die Kinder
waren zwar an das Stadtleben gewöhnt, mittlerweile aber
auch erfahrene Zelter.
Sie waren kurz nach Mittag auf dem Campingplatz des National
Forest eingetroffen und hatten mit geübten Handgriffen
im Nu ihre Zelte aufgebaut. Dieses Jahr war Dawn mit dem
Säugling beschäftigt, doch Tess und Phoebe waren groß genug,
um mit anzupacken. Während die beiden die Matratzen aufpumpten
und Holz für das Lagerfeuer sammelten, nahm Rob
seinen murrenden sechzehnjährigen Sohn in die Pfl icht, was
Zelteaufbauen hieß. Jake war in einem schwierigen Alter. Fürs
Lernen zeigte er keinerlei Interesse, obwohl Schule und Studium
seinem Vater wichtig waren, und es war äußerst schwierig
gewesen, Jake davon zu überzeugen, auf den Ausfl ug mitzukommen.
Er hatte über den Sommer einen Job bei einer Baufirma
gefunden und steif und fest behauptet, dass sein Chef
nicht ohne ihn auskäme. Nur weil Dawn ihn inständig darum
gebeten hatte, doch auf den letzten gemeinsamen Campingausflug
mitzukommen, hatte er schließlich widerwillig zugestimmt.
Rob und Jake hatten zwei Zelte nebeneinander aufgebaut.
»Warum muss ich bei den Mädchen schlafen ?«, hatte Jake
gemault.
»Damit Sean euch nachts nicht weckt und die Mädchen jemanden
haben, der auf sie aufpasst.«
Doch Jake hatte weiter gemault, und sein Vater hatte sein
Murren weiter ignoriert.
Als Dawn endlich mit der Gestaltung ihres Zeltplatzes zufrieden
war und auf dem roten Zederntisch das Mittagessen
servierte, waren alle müde und verschwitzt gewesen und hatten
es kaum erwarten können, sich in den kühlen See zu stürzen.
Sie waren gemeinsam durch den Wald zum See gestapft, doch
sobald sie dort angekommen waren, hatte Jake die Teenager
entdeckt und war einfach zu ihnen gelaufen.
Tess blickte wieder zu dem Felsen hinüber, auf den Jake gerade
erneut kletterte und einem blassen Jungen mit schwarzem
Haar das Seil entriss. »Wieso ist Jake bei den Kids da ?«, fragte
Tess. »Er kennt sie doch gar nicht.«
»Er will eben einfach mit Gleichaltrigen zusammen sein«,
antwortete Rob.
»Und wieso schreit er dann so ?«, fragte Tess.
»Cherchez la femme«, sagte Rob lächelnd.
»Und was heißt das ?«
»Er will vermutlich die Mädchen beeindrucken«, sagte Rob.
Tess musterte missbilligend die kreischenden Teenager.
Dann blickte sie zu ihrer Mutter, die ihre braun gebrannten
Beine ausstreckte und mit der Frau plauderte, die neben ihr auf
einer Decke saß, während deren Mann, der mit seinem langen
schwarzen Haar wie ein Pirat aussah, neben der Decke stand
und ihr Kleinkind bewachte, das am Ufer spielte. »Wer sind
diese Leute, mit denen Mom redet ?«, fragte Tess.
»Keine Ahnung. Vermutlich auch Camper. Hey, was meinst
du, sollen wir Mom auch die Chance geben, mal baden zu gehen
?«, schlug Rob vor.
Tess nickte, glitt ins Wasser, und beide schwammen an
Land.
Sean lag auf einer Decke unter einem Ahornbaum und döste,
während Dawn und die andere junge Frau, eine hellhäutige
Blondine, sich unterhielten. Tess und Rob liefen zu ihnen hinauf.
»Hey, ihr zwei«, sagte Dawn, und ein Lächeln huschte über
ihr Gesicht. »Annette, darf ich vorstellen, mein Mann Rob und
meine Tochter Tess. Annette und ihrem Mann Kenneth gehört
das Gasthaus unten vor dem Eingang zum Campingplatz.«
»Oh«, sagte Rob und schüttelte Annette die Hand. »Führen
Sie den Betrieb selbst ?«
»Ich führe ihn - überwiegend«, sagte Annette. »Ken versucht
sich als Autor. Als meine Eltern uns das Gasthaus hinterließen,
beschlossen wir hierherzuziehen, damit Kenneth mehr Zeit für
seine Arbeit hat.«
»Ich denke, jeder träumt davon, so ein Gasthaus zu besitzen
«, sagte Dawn.
»Ist aber viel Arbeit«, seufzte Annette.
Der schwarzhaarige Mann ging zum Wasser hinunter, nahm
sein protestierendes Kind auf den Arm und kam wieder rauf.
»Kenneth Phalen«, sagte er, stellte das Kind auf den Boden
und reichte Rob die Hand.
»Und Lisa«, erinnerte seine Frau ihn und zeigte auf das kleine
Mädchen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Rob. »Ihre Frau sagte,
Sie seien Schriftsteller. Was schreiben Sie ?«
Ken warf sein Haar zurück. »Na ja, Geschichten. Ein paar
meiner Kurzgeschichten habe ich in Zeitschriften untergebracht.
Zurzeit arbeite ich an einem Roman.«
Er wollte sich gerade in einer langatmigen Erklärung ergehen,
da unterbrach Annette ihn und drehte sich Rob zu. »Dawn
hat erzählt, dass Sie Professor am MIT sind. Beeindruckend.«
»Nur Privatdozent«, sagte Rob zögerlich.
»Immerhin«, sagte sie.
Tess fing die Unterhaltung zu langweilen an. Sie beobachtete
die kleine Lisa, die mit geröteten Wangen über die Wiese zu
wackeln begann. Tess wünschte, sie hätte ihre Kamera jetzt dabei.
Lisa war süß wie eine Puppe, und ihre Löckchen glänzten
in der heißen Nachmittagssonne. Bald würde der herrliche Tag
zu Ende gehen. Flehend sah sie zu ihrer Mutter hinüber und
versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Tess, was ist denn ?«
»Mom, kommst du ins Wasser ?«, bettelte sie.
Dawn lächelte. »Ist es denn kalt ?«
Tess schüttelte den Kopf und riss die Augen auf. »Nein,
überhaupt nicht.«
»Geh nur, Schatz«, sagte Rob. »Ich passe auf Sean auf.«
Dawn ließ sich nicht lange bitten. Als Rob sich abgetrocknet
und neben seinen kleinen Sohn auf die Decke gesetzt hatte,
griff sie nach Tess' Hand. »Okay, komm«, sagte sie, strich sich
das dunkelbraune Haar hinter die Ohren und lächelte. »Entschuldigt
uns.«
Tess watete vor ihrer Mutter ins Wasser, während Phoebe bis
zu den Hüften im See stand und herumplanschte.
»Schätzchen, nicht mich anspritzen«, sagte Dawn. »Ich muss
mich kurz an die Wassertemperatur gewöhnen.«
Phoebe zuckte die Achseln und hörte mit der Spritzerei auf.
Tess glitt wie ein Seehund ins kühle Nass zurück; ihre Mutter
ging es hingegen vorsichtiger an, rieb sich Arme und Beine,
pustete, holte dann plötzlich tief Luft, breitete die Arme aus,
tauchte ein und kurz darauf lachend neben Phoebe wieder auf.
Dawn winkte Rob zu, das Pärchen am Strand und alle anderen
winkten zurück.
Tess schwamm ihrer Mutter in die Arme. Dawn sah zu den
Teenagern hinüber. Jake saß nun mitten unter ihnen auf den
Felsen und beteiligte sich eifrig am Gespräch. Die hübsche
Blondine saß direkt neben ihm.
»Dad hat gesagt, dass er versucht, die Mädchen zu beeindrucken.
« Tess sah ihre Mutter fragend an.
Dawn lächelte ein wenig wehmütig. »Er ist groß geworden.«
»Also, ich finde, er sollte bei seiner Familie bleiben«, sagte
Tess.
»Ach, es dauert nicht mehr lange, dann sitzt du auch da drüben
«, sagte Dawn.
»Ich nicht«, entgegnete Tess. »Ich bleibe lieber bei dir.«
Dawn küsste sie auf die Stirn. »Komm, wir holen Phoebe
ein. Pheebs«, rief sie. »Wir kriegen dich.«
Phoebe schwamm auf dem Rücken, blickte in den klaren
blauen Himmel und zu den Schäfchenwolken hinauf und richtete
sich plötzlich auf. Die Sonne spiegelte sich in ihrem rechteckigen
silbernen Anhänger, den sie immer an einer Silberkette
um den Hals trug. Sie hatte das Schmuckstück von ihrer Patentante
zum Geburtstag bekommen, Tess hatte genau das gleiche.
Sie legte es zum Schwimmen aber immer ab, aus Angst, es zu
verlieren. »Was ?«, sagte Phoebe.
»Wir kriegen dich«, drohte Tess.
Phoebe riss lachend die Augen auf, fing dann an zu kreischen
und paddelte wie wild davon.
Bei Sonnenuntergang kehrte Jake am ganzen Körper frierend
zum Campingplatz zurück und zog sich trockene Sachen an,
während Rob das Lagerfeuer schürte und Dawn für jeden einen
Stock besorgte, der lang genug war, um Marshmallows zu
rösten, sobald ihr Pfannengericht, das auf dem Campingkocher
brutzelte, fertig wäre. Bei Laternenlicht aßen sie mit einem
Riesenappetit und waren sich einig, dass es zu Hause nie
so gut schmeckte - das sagten sie bei jedem Campingausfl ug.
Danach saßen sie eng zusammengedrängt um das Lagerfeuer,
während die Funken aufflogen wie ein orangefarbener Bienenschwarm
und es langsam kühler wurde. Die drei Kids saßen auf
Holzklötzen und Baumstümpfen, Dawn und Rob auf Campingstühlen,
und alle rösteten Marshmallows.
Rob erzählte ein paar altbekannte Gruselgeschichten, bei denen
die Mädchen schon im Voraus kreischten. Als das Feuer
langsam erlosch, sagten sie einander Gute Nacht. Die Luft war
kühl, und Phoebe und Tess trugen ihre Socken, Jogginghosen
und Fleecepullis auch zum Schlafen. Sie verschwanden in ihrem
Zelt, krabbelten in ihre Schlafsäcke und stellten die Stablampe
zwischen ihre Schlafplätze.
Tess griff in ihren Rucksack und kramte, bis sie den Fotoapparat
gefunden hatte, den sie sich so gewünscht und dann endlich
zu ihrem neunten Geburtstag bekommen hatte. Sie richtete
das Objektiv auf Phoebe, die sich ihr wirres blondes Haar
kämmte.
»Pheebs«, sagte sie.
Phoebe sah zu ihrer Schwester auf, und Tess knipste sie.
»Tu das Ding weg«, befahl Phoebe. »Ich hasse es, fotografi ert
zu werden.«
»Aber mit dem großen Schatten hinter dir siehst du echt
cool aus«, sagte Tess und starrte auf die Silhouette ihrer Schwester,
die sich groß und dunkel wie eine Gewitterwolke auf der
Zeltbahn abzeichnete.
»Ist mir doch egal. Hör sofort auf damit.«
Als Antwort knipste Tess noch ein weiteres Bild, worauf
Phoebe die Bürste nach ihrer Schwester warf und sie an der
Stirn traf.
»Autsch«, jaulte Tess und senkte die Kamera.
»Tu die Kamera weg«, sagte Phoebe.
Tess streckte die Zunge heraus, legte dann aber den Fotoapparat
vorsichtig in den Rucksack zurück, gerade als Jake ins
Zelt kam. Jake hatte breite Schultern, ebenmäßige Gesichtszüge
und wunderschönes, goldbraunes Haar, das jetzt, nachdem
es getrocknet war, in Locken um sein Gesicht fiel. Er trug
Boots, Jeans und ein MIT-Sweatshirt und hockte sich in den
Zelteingang.
»Beeil dich, zieh die Boots aus und leg dich in deinen Schlafsack
«, sagte Phoebe. »Dann können wir endlich das Licht ausmachen.
«
Jake schlug die Zeltklappe zurück und blickte auf den stillen
Campingplatz und die noch immer glühende Asche ihres Lagerfeuers
hinaus. Geistesabwesend kaute er an seinem Daumennagel.
»Ich gehe noch ein bisschen weg«, sagte er.
Tess starrte ihn ungläubig an, Phoebe setzte sich auf und
protestierte. »Du gehst weg ? Wohin denn ?«
»Ich gehe noch in den Ort. Nach Stone Hill. Da gibt's heute
Tanz«, sagte Jake.
»Du kannst doch nicht einfach weggehen. Weiß Dad davon
?«, protestierte Phoebe.
Jake sah sie an. »Nein. Und du wirst es ihm auch nicht sagen.
Ich bin in ein paar Stunden wieder da. Das ist keine große
Sache.«
»Wenn es keine große Sache ist, warum fragst du dann nicht
einfach Dad ?«, beharrte Phoebe.
»Ich brauche nicht für alles, was ich tue, seine Erlaubnis«,
sagte Jake verärgert.
»Er wird stinksauer, wenn er das rauskriegt«, warnte Phoebe
ihn.
»Wenn ihr beiden euren Mund haltet, wird er es nicht erfahren,
oder ?«
Tess und Phoebe sahen einander an. Tess sah verängstigt aus,
Phoebe eher wütend. »Du solltest bei uns bleiben«, sagte Phoebe.
»Seid nicht so kindisch. Ihr seid doch nur ein paar Meter von
Mom und Dad entfernt. Ich bleibe ohnehin nicht so lange
weg.«
Phoebe schüttelte ihren blonden Kopf.
»Und ihr bekommt beide fünf Dollar, wenn ihr den Mund
haltet«, sagte er.
Tess' Augen fingen zu leuchten an, denn sie musste an den
Film denken, den sie sich davon kaufen konnte. Sie war schon
fast überredet. Sie fand, dass das ein ziemlich guter Deal war.
Phoebe sah ihren Bruder an. »Wenn du nicht zahlst, sag ich es.
Dann kriegst du Ärger.«
»Ich zahle bestimmt. Schlaft jetzt«, sagte Jake beleidigt,
wandte ihnen den Rücken zu und verließ das Zelt.
Tess kuschelte sich mit ihrem Plüschhund in den Schlafsack.
Sie fragte sich, ob sie ohne Jake als Wache würde einschlafen
können. Doch noch bevor sie den Gedanken zu Ende denken
konnte, war sie bereits eingeschlafen.
Ein reißendes Geräusch und ein kalter Luftzug, der ihr direkt
ins Gesicht wehte, weckten Tess. Sie öffnete schlaftrunken die
Augen. Die Taschenlampe war noch immer an, und auch Phoebe
saß noch aufrecht da. Plötzlich begriff Tess, was sie sah, und
ihr blieb fast das Herz stehen.
Phoebes blaue Augen waren vor Schreck geweitet, eine
schmutzige Hand mit dreckigen Fingernägeln lag über ihrem
Mund. An Phoebes Hals lag ein Messer, das in ihre Haut
drückte. In der Zeltplane neben Phoebes Tasche klaffte ein riesiger
Schlitz, ein großer, hässlicher Mann in einer schmuddeligen
grünen Militärjacke hockte hinter ihr, füllte die gesamte
Lücke aus und hielt Phoebe fest an sich gepresst. Er hatte
schwarzes Haar, das er zu einem unordentlichen Pferdeschwanz
zusammengebunden hatte, und trug eine Brille mit dicken
Gläsern und schwarzem Gestell.
Tess' Herz klopfte wie wild, und sie rieb sich die Augen und
überlegte, ob sie wach war oder ob das ein Albtraum war. Phoebe
stöhnte erbärmlich und warf Tess über die Hände, die sie
umfasst hielten, einen flehenden Blick zu.
Tess sah dem Mann, der ihre Schwester festhielt, direkt ins
Gesicht. »Hey ...«, protestierte sie.
»Halt die Klappe«, knurrte er. »Und keinen Mucks.«
Tess zitterte am ganzen Körper.
»Hör mir gut zu, Mädchen. Wenn du auch nur einen Piep
von dir gibst oder irgendwem auch nur ein Wort sagst, bring
ich deine Schwester um. Verstanden ?«
Tess hatte das Gefühl, ein Vogel säße zwischen ihren Rippen,
der wie wild mit den Flügeln schlug und sich zu befreien versuchte.
»Und ?«, fragte er und verstärkte den Druck des Messers an
Phoebes Hals. Phoebe stieß einen Klagelaut aus.
»Ja ...«, fl üsterte Tess.
»Keinen Ton. Und kein Wort - zu niemandem. Sonst bring
ich sie um.«
Tränen stiegen Tess in die Augen, und ihr Kinn fing zu zittern
an. »Tu ich nicht«, sagte sie.
Auf das, was als Nächstes passierte, war sie nicht vorbereitet.
Der Mann zerrte Phoebe aus dem Schlafsack und durch den
Schlitz in der Zeltwand hinaus. Eben noch war ihre Schwester
da gewesen ... jetzt war sie fort.
Tess blieb der Mund offen stehen, und sie legte ihre kleinen
Hände darüber. Alles, was sie durch die Öffnung im Zelt sehen
konnte, war Schwärze und Dunkelheit. Sie hörte raschelnde Geräusche
draußen im Wald, als wären Monster zwischen den Bäumen
unterwegs und könnten jedes noch so winzige Geräusch
vernehmen, das sie verursachte. Sie wagte es nicht, sich zu rühren
oder irgendwas zu sagen, sondern dachte immerfort nur an
Phoebe. Sie sah den Schrecken in den Augen ihrer Schwester und
das Messer des Mannes, das an ihrem Hals blitzte.
Tess musste dringend Pipi machen, wagte aber nicht, sich
vom Fleck zu rühren. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie
ohne Phoebe den Weg zur schlecht beleuchteten Toilette in der
Dunkelheit nicht gefunden. Außerdem gingen sie nie allein,
sondern immer zu zweit. Das war die Regel : entweder beide
oder keine von beiden. Tränen rollten Tess über die Wangen,
als sie an ihre Schwester dachte, die nun mit dem Mann mit
dem Messer allein im Wald war. Sie weinte und wartete, dann
spürte sie, wie ihr das Pipi die Beine hinunterlief und ihre Jogginghose
durchnässte, doch sie rührte sich immer noch nicht
vom Fleck. Vor Schreck erstarrt, saß sie da.
»Herrgott, was zum Teufel ... ?«
Jake steckte den Kopf durch den Schlitz in der Zeltbahn.
»Tess. Was zum Teufel ist passiert ?« Er sah sich um. »Alles in
Ordnung ? Wo ist Phoebe ?«
Tess starrte ihn an und fragte sich, ob sie es ihm erzählen
sollte. »Wo ist Phoebe ?«, schrie Jake sie an.
Bevor Tess sich entschließen konnte, ihm zu antworten, war
Jake schon wieder durch den Schlitz in der Plane verschwunden.
»Dad !«, schrie er. »Mom, Dad, Hilfe !«
Augenblicklich beherrschten der Schein von Taschenlampen
und Laternen und das Geschrei des Babys den Campingplatz.
Ihr Vater kroch durch den Riss in der Plane, nahm Tess in den
Arm, drückte sie einen Moment an seine Brust, packte dann
ihre Oberarme und suchte ihren Blick.
»Tess, was ist ihr passiert ? Sag es mir. Was ist mit Phoebe
passiert ?«
Draußen vor dem Zelt hörte sie ihre Mutter leise weinen
und Jake leise flehen. »Es tut mir leid, Mom. Es tut mir so
leid.«
Tess fing an zu schluchzen. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Er
hat es mir verboten. Er hat gesagt, dass ich es nicht sagen darf.«
»Wer hat das gesagt ?«, stieß Rob DeGraff mit zitternder
Stimme und schreckgeweiteten Augen hervor. »Sag es mir, Tess.
Sofort.«
Tess begann, am ganzen Körper zu zittern. Sie fl üsterte und
nuschelte unter Tränen. »Der Mann, der mit seinem Messer die
Plane zerschnitten hat. Der Mann, der Phoebe mitgenommen
hat.«
»Was ? Rob, was ist passiert? Ist mit Tess alles in Ordnung ?
Wo ist Phoebe ?«, schrie Dawn draußen vor dem Zelt.
Rob rang nach Luft und krümmte sich, als hätte das Messer
des Mannes ihn erwischt, dann stöhnte er auf. »Oh, mein Gott !
Oh, nein.«
Das Stöhnen ihres Vaters verursachte Tess Übelkeit und
Gänsehaut am ganzen Körper. Noch nie zuvor hatte sie ihren
Vater derartige Laute von sich geben hören. Sonst lachte er immer
und sagte, dass alles in Ordnung kommen würde. Doch
diesmal nicht. Diesmal klang er wie ein Tier, das sich vor
Schmerz wand. Sie fragte sich, ob er wütend auf sie war. Sie
musste alles tun, damit er sie verstand. Sie bettelte. »Dad, ich
musste tun, was er von mir verlangt hat. Er hat gesagt, ich dürfe
nichts sagen, sonst ...«
»Was, Tess ?«, schrie er. »Was ?«
Tess senkte den Kopf. Ihre Stimme war jetzt nur noch ein
Flüstern. »Sonst würde er sie umbringen.«
2
Zwanzig Jahre später
»Erny«, rief Tess, die Hände in die Hüften gestemmt, in der
Tür zum Zimmer ihres Sohnes, das aussah, als hätte eine Bombe
eingeschlagen. »Antworte mir, wenn ich dich was frage.«
Erny, ein drahtiger zehnjähriger Junge mit glänzenden blauen
Augen, brauner Haut und wirrem, lockigem schwarzem
Haar kam die Treppe des Reihenhauses in Georgetown herauf.
»Das Taxi ist da«, kündigte er an.
»Was ist mit deinem Zimmer passiert ?«, fragte Tess.
»Ich habe gepackt«, erklärte er. »Komm schon, Mom, wir
müssen los.«
Tess schüttelte den Kopf und schloss die Tür zu Ernys Verhau.
»Sobald wir zurück sind, wirst du dieses Chaos aufräumen.
«
Erny zappelte vor aufgestauter Ungeduld. »Mach ich, mach
ich. Komm schon, wir verpassen sonst noch den Flieger.«
»Den verpassen wir schon nicht«, sagte Tess gelassen, obwohl
ihr schlecht war und ihr Magen sich zusammenkrampfte. »Wo
ist deine Tasche ?«
»Unten.«
»Okay, zieh dein Sweatshirt an und sag dem Taxifahrer, dass
er warten soll. Ich komme gleich.«
Erny hüpfte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal
nehmend. Tess' Blick fiel auf das gerahmte Foto, das auf der
Kommode in ihrem Schlafzimmer stand. Es war der Schnappschuss
eines blonden Mädchens mit Zahnspange und süßen
verträumten blauen Augen, das sich eifrig die langen Haare
kämmte. Ihr Schatten zeichnete sich auf der Zeltbahn ab. Tess
küsste ihre Fingerspitze und legte sie zärtlich auf die Wange des
Mädchens auf dem Foto. Dann drehte sie sich um, zog den
Griff aus ihrem Koffer, rollte ihn zum Treppenabsatz, hob das
Gepäckstück dann hoch und trug es hinunter. Erny stand an
der Eingangstür und bat den Taxifahrer um Geduld.
Sosa, der Kater, benannt nach einem Baseballspieler, den
Erny vergötterte, spähte unter dem Wohnzimmersofa zu ihnen
rauf. »Verabschiede dich von Sosa«, sagte Tess. Er sitzt unter der
Couch.«
Tess nahm ihre Jacke von der Garberobe und hörte, wie Erny
sich auf den Wohnzimmerteppich fallen ließ, Sosa liebkoste
und ihm versprach, dass sein bester Freund Jonah sich gut um
ihn kümmern werde. Jonah war der Sohn von Tess' bester
Freundin Becca und ihrem Mann Wade Maitland. Die
Maitlands wohnten nur drei Häuserblocks entfernt. Wade war
der Executive Producer ihres Dokumentarfi lm-Teams, und
Tess hatte ihm ihre Jugendfreundin Rebecca vorgestellt. Es war
Liebe auf den ersten Blick gewesen, darum galt Tess fortan als
Heiratsvermittlerin. Die beiden Frauen waren froh, dass auch
ihre Söhne gut miteinander auskamen, denn das verlieh ihrer
alten Freundschaft eine völlig neue Dimension. Wie gut, dachte
Tess, dass es Freunde gab, auf die man sich verlassen konnte.
Vor allem bei dieser Reise, vor der sie sich ungewöhnlich labil
und besorgt fühlte.
»Wird schon schiefgehen«, rief Tess Erny zu. Und diese Worte
sagte sie sich vor wie ein Mantra, als wollte sie sich auf diese
Weise selbst davon überzeugen, dass es sich um einen ganz normalen
Familienbesuch handelte.
Tess sah in den Spiegel, der im Flur hing. Ihr glänzendes
braunes Haar fiel um ihr ovales Gesicht auf die Schultern. Sie
hatte dunkelbraune Augen, einen hellen, gesunden Teint und
tiefe Grübchen in den Wangen, die beim leisesten Lächeln zum
Vorschein kamen. Ein Freund hatte mal zu ihr gesagt, dass
Männer sich zum Affen machten, nur um sie zum Lachen zu
bringen und diese Grübchen sehen zu können. Tess hatte das
weggewischt, heimlich aber vermutet, dass wohl etwas dran
sein musste. Heute hatte sie wie immer einen Hauch Make-up
aufgelegt. Sie begutachtete ihre Kleidung und fragte sich, ob
Seidenbluse und Tweedblazer warm genug für das Oktober-
ende in New England waren.
Normalerweise hätte sie auf einer Reise nach New Hampshire
ihre Arbeitskleidung getragen - einen weiten Leinenmantel
mit vielen Taschen, Jeans und Gummistiefel. Für Dreharbeiten
zog sie sich so an, damit es schnell ging und weil es bequem
war. Sie war Kamerafrau bei einem Filmteam, zu dem sie schon
gehörte, als sie noch an der Filmhochschule war. Sie drehten
Dokumentarfi lme für Kabelsender und das öffentliche Fernsehen.
Sie liebte alles an ihrem Team und ihrer Arbeit, vor allem
die Tatsache, dass sie den Großteil ihrer lässigen Arbeitskleidung
bei Eddie Bauer kaufen konnte. Doch was diese Reise
anging, hatte sie das Gefühl, dass sie doch ein wenig geschäftsmäßiger
aussehen sollte.
Aus dem Wohnzimmer ertönte ein Knall. Tess' Herz machte
einen Satz.
»Was war denn das ?«, rief sie und rannte zur Tür.
Erny hielt zwei Porzellandreiecke in der Hand, die einmal
ein viereckiger Teller mit der Darstellung einer alten Weltkarte
gewesen waren. Tess hatte den Teller vor langer Zeit auf einem
Flohmarkt in Paris gekauft und ihn seither wie ihren Augapfel
gehütet. Doch das Leben mit einem Kind hatte sie gelehrt, dass
Unfälle an der Tagesordnung waren und es ein Fehler war, sein
Herz zu sehr an zerbrechliche Gegenstände zu hängen. »Was ist
passiert ?«, fragte sie.
»Ich habe Sosa geknuddelt, da hat er sich plötzlich von mir
losgerissen und ist auf den Tisch gesprungen«, sagte Erny. »Er
wollte den Teller bestimmt nicht kaputt machen, Mom.«
»Ich weiß«, sagte Tess und seufzte. Sie legte die Stücke vorsichtig
auf den Kaminsims. »Vielleicht können wir ihn wieder
kleben.«
»Ich hole den Kleber«, rief Erny hoffnungsvoll.
»Jetzt nicht. Wir müssen los. Das machen wir, wenn wir wieder
zurück sind.«
»Sosa hat einfach nur Angst vor dem Alleinsein. Jonah wird
sich hoffentlich gut um ihn kümmern«, murmelte Erny und
schlug sich mit der Faust in die fl ache Hand.
»Das wird er. Seine Mom sorgt schon dafür. Komm jetzt.
Nimm deine Tasche.« Sie zwang sich Erny zuliebe zu einem
fröhlichen Ton. »Wir werden uns viel ansehen und Leute treffen.
«
Erny, der nur selten lange niedergeschlagen war, hängte sich
den Rucksack über die Schulter und griff nach seinem Koffer.
»Ich bin fertig.«
Tess lächelte ihn an. »Vámonos !«
Der Taxifahrer half ihnen, das Gepäck im Kofferraum zu
verstauen. Sie nahmen auf dem Rücksitz Platz. »Dulles Airport,
bitte«, sagte Tess.
Erny drückte seine Nase an die Fensterscheibe und starrte
auf die vertraute Straße. Als das Taxi abfuhr, sah Tess sich noch
einmal nach ihrem Zuhause um. Sie wohnte in einem richtigen
Stadthaus - einem zweigeschossigen Ziegelbau im neokolonialen
Stil, in der Mitte einer in Reihenbauweise angelegten Häuserreihe,
mit Sprossenfenstern mit cremefarbenen Rahmen und
Blumenkästen vor den Fenstern, gusseisernen Treppengeländern
und Marmorstufen. Vor dem Haus stand ein Baum, Ernys
Schule war nur zwei Häuserblocks entfernt. Tess hatte das
Haus mit ihrem Anteil an dem Honorar erworben, das das
Dokumentarfilm-Team durch seinen ersten Verkauf an den Bezahlsender
HBO erhalten hatte. Sie war damals Single und
gerade mal dreiundzwanzig gewesen, wollte aber einfach ihre
Privatsphäre und ein eigenes Zuhause haben. Das Haus bot
beides, es war eine gute Investition und erwies sich später, als
Erny in ihr Leben kam, als unverzichtbare Wertanlage.
Sie war Erny begegnet, als das Team eine Dokumentation
über Großeltern drehte, die ihren Enkelkindern gezwungenermaßen
die Eltern ersetzten. Ernys Großmutter Inez hatte ihre
einzige Tochter an Drogen und die Straße verloren. Ernys Vater
war unbekannt. Schon am ersten Drehtag zeigte der damals
fünfjährige Erny eine unbändige Neugierde gegenüber allem,
was das Team tat. Er heftete sich an Tess' Fersen und stellte ihr
unzählige Fragen zur Filmkamera. Ernys Großmutter war arm,
vergötterte ihren Enkel aber und beschützte ihn. Der Abschnitt
über die beiden gehörte zu den berührendsten Teilen des Films.
Einige Monate später, als der Film geschnitten war und fertig
zum Senden, hatte Tess Inez angerufen, um sie und Erny zu
einer Vorführung einzuladen, musste aber erfahren, dass Inez
plötzlich verstorben und Erny bei einer Pfl egefamilie untergebracht
war. Tess hatte sogleich einen Besuch bei Erny in dem
heruntergekommenen und chaotischen Haus seiner Pfl egeeltern
organisiert. Sie war davon ausgegangen, dass es für einen
Fünfjährigen traumatisierend wäre, so kurz nach dem Tod seiner
Großmutter den Film zu sehen, doch Erny wollte unbedingt
zur Vorführung kommen. Seinen Pflegeeltern, die damals
sechs Kinder zu versorgen hatten, schien das egal zu sein.
Trotz ihrer Bedenken hatte Tess schließlich eingewilligt und
ihn mitgenommen.
Erny war bereits fertig gewesen, als sie ihn abholen kam, er
hatte sich das Haar gekämmt und seine beste Kleidung angezogen.
Ohne zu zappeln, saß er da, sah den Film aufmerksam an
und drückte dabei unablässig ihre Hand. Als sie ihn zurück zu
seinen Pflegeeltern brachte, hatte er sich stumm an sie gedrückt
und sie nicht mehr gehen lassen wollen. Tess versprach, ihn
wieder zu besuchen, als er ihr mit Hoffnungslosigkeit in den
Augen nachsah. Tess hingegen kehrte in ihr hübsches, ruhiges
Zuhause zurück.
In den folgenden sechs Tagen hatte sie sich ständig gesagt,
dass Ernys Lage zwar traurig war, man aber nun mal nichts
daran ändern konnte. Sie selbst war jung, Single und konnte
sich nicht mit einem Kind belasten, egal, wie sehr der Junge
jammerte. Sie würde nie wieder einen Freund oder ein soziales
Leben haben können. Sie hatte sich nachts im Bett gewälzt, bis
ihr schließlich klar geworden war, dass ihre Gefühle sich nicht
einfach beiseiteschieben ließen. Sechs Monate später war die
Adoption durchgestanden, und seither war Tess eine alleinerziehende
Mutter. Natürlich nahmen ihre sozialen Kontakte ab,
sie verbrachte viel Zeit zu Hause, und falls sie doch mal mit
jemandem ausging, entwickelte sie die Tendenz, jeden Mann
nach seiner Reaktion auf Erny zu beurteilen. Doch die meisten
ihrer Dates wollten ihr Leben nicht nach den Bedürfnissen eines
Kindes ausrichten. Zu ihrer Überraschung merkte Tess,
dass es ihr nichts ausmachte, Männer mit solch einer Einstellung
zu verlieren. Als ihre Freunde die Köpfe schüttelten und
sie davor warnten, dass sie am Ende alleine bleiben würde, tat
sie, als interessiere sie das nicht. Doch in ihrem Herzen teilte sie
diese Befürchtung. Die Adoption war weder für Erny noch für
sie ein leichter Weg gewesen. Dennoch hatten beide diese Entscheidung
nie bereut.
»Meinst du, dass Dawn mir diesmal erlaubt, mit Seans Fahrrad
zu fahren ?«, fragte Erny.
Er konnte es immer noch nicht über sich bringen, Tess' Mutter
»Grandma« zu nennen. Tess verstand das, und sie wusste
auch, dass Erny ihre Familie immer gern besuchte. Doch das
konnte diesmal anders sein. Für beide. »Bestimmt«, sagte Tess.
»Vielleicht fahre ich diesmal in die Berge«, verkündete Erny.
»Das werden wir sehen«, sagte Tess.
Am Flughafen gingen Tess und Erny nach dem Check-in und
der Sicherheitskontrolle zu ihrem Gate. Tess blieb bei einem
Zeitungsladen stehen, kaufte sich eine Tageszeitung und ein
Heft mit Sudokus, die sie im Flugzeug gemeinsam lösen konnten.
Erny war in diesem Zahlenspiel besser als sie und wurde es
nie müde, ihre Reaktion zu beobachten, wenn er sie bei einer
Lösung schlug. Dann gingen sie zum überfüllten Wartebereich
am Flugsteig und ergatterten zwei Stühle. Tess ging zum Schalter
und fragte die Angestellte, an welchem Gate ihr Anschlussflug
in Boston abging.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel
Stolen in the Night bei Atria, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Patricia Bourgeau
Published by Arrangement with Patricia Bourgeau
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Christiane Winkler
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Gerhild Gerlich, München
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Euro Color Creative;
© R. Gino Santa Maria; © f11photo; © Delmas Lehmann)
Satz: a v a k Publikationsdesign, München
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-605-6
»Meine wunderschönen Fischchen«, sagte Rob.
Phoebe, die mit ihren dreizehn schon zu alt war, um sich
länger als notwendig einer elterlichen Umarmung hinzugeben,
strampelte sich frei und begann, in Rückenlage durch den
dunklen See zu schwimmen. Ihr langes blondes Haar trieb wie
goldene Fangarme auf dem Wasser.
Tess hingegen umklammerte weiter den Hals ihres Vaters
und betrachtete das eisige Wasser, in dem sich die dunkelgrünen
Bäume des Waldes auf dem Berghang spiegelten. Über ihnen
strahlte die Augustsonne, und die Luft war so warm, wie
sie in den White Mountains von New Hampshire nur werden
konnte. Tess' Blick glitt am Ufer entlang und blieb an einer
Gruppe Teenager hängen, Mädchen in Bikinis und Jungs in
Schwimmshorts oder kurzen Jeans, die in Grüppchen auf den
Felsen am Wasser saßen. Sie schienen sich alle zu kennen - bis
auf einen gut aussehenden jungen, muskulösen Mann, Tess'
sechzehnjährigen Bruder Jake. Eine hübsche Blondine aus der
Gruppe schnappte vor Entzücken nach Luft, und ein übergewichtiger
rothaariger Junge spottete über Jake, als der sich
tarzanmäßig über den See schwang, dann mit einem Freuden-
schrei das Seil losließ, einen Purzelbaum in der Luft schlug und
sich ins glitzernde Wasser fallen ließ. Auf der anderen Seite des
Sees glitten ein paar Fischerboote dahin. Ansonsten schien der
gesamte Lake Winnisquam Tess zu gehören.
»Ich liebe diesen Ort«, flüsterte sie ihrem Vater ins Ohr.
»Ich auch, Tess«, sagte Rob glücklich, während sie aneinandergedrückt
mit den Füßen paddelten.
Sie hatten an diesem Morgen in aller Früh und voller Vorfreude
ihre Wohnung in Boston verlassen. Die Familie verfügte
über mehr Vitalität und Neugierde als Geld, darum gingen sie
auch immer campen. Rob und Dawn hatten geheiratet, als sie
beide noch Studenten an der Boston University waren. Rob
war jetzt Privatdozent für Physik am Massachusetts Institute of
Technology. Die Familie wohnte noch immer in der sonnigen,
mit Büchern vollgestopften, verwinkelten Wohnung in der
Commonwealth Avenue, die das Paar sich einst mit ein paar
Kommilitonen geteilt hatte. Dawn hatte ihr eigenes Geschäft,
sie stellte Vollkornbackwaren für einen Uni-Coop her, die Kinder
waren zwar an das Stadtleben gewöhnt, mittlerweile aber
auch erfahrene Zelter.
Sie waren kurz nach Mittag auf dem Campingplatz des National
Forest eingetroffen und hatten mit geübten Handgriffen
im Nu ihre Zelte aufgebaut. Dieses Jahr war Dawn mit dem
Säugling beschäftigt, doch Tess und Phoebe waren groß genug,
um mit anzupacken. Während die beiden die Matratzen aufpumpten
und Holz für das Lagerfeuer sammelten, nahm Rob
seinen murrenden sechzehnjährigen Sohn in die Pfl icht, was
Zelteaufbauen hieß. Jake war in einem schwierigen Alter. Fürs
Lernen zeigte er keinerlei Interesse, obwohl Schule und Studium
seinem Vater wichtig waren, und es war äußerst schwierig
gewesen, Jake davon zu überzeugen, auf den Ausfl ug mitzukommen.
Er hatte über den Sommer einen Job bei einer Baufirma
gefunden und steif und fest behauptet, dass sein Chef
nicht ohne ihn auskäme. Nur weil Dawn ihn inständig darum
gebeten hatte, doch auf den letzten gemeinsamen Campingausflug
mitzukommen, hatte er schließlich widerwillig zugestimmt.
Rob und Jake hatten zwei Zelte nebeneinander aufgebaut.
»Warum muss ich bei den Mädchen schlafen ?«, hatte Jake
gemault.
»Damit Sean euch nachts nicht weckt und die Mädchen jemanden
haben, der auf sie aufpasst.«
Doch Jake hatte weiter gemault, und sein Vater hatte sein
Murren weiter ignoriert.
Als Dawn endlich mit der Gestaltung ihres Zeltplatzes zufrieden
war und auf dem roten Zederntisch das Mittagessen
servierte, waren alle müde und verschwitzt gewesen und hatten
es kaum erwarten können, sich in den kühlen See zu stürzen.
Sie waren gemeinsam durch den Wald zum See gestapft, doch
sobald sie dort angekommen waren, hatte Jake die Teenager
entdeckt und war einfach zu ihnen gelaufen.
Tess blickte wieder zu dem Felsen hinüber, auf den Jake gerade
erneut kletterte und einem blassen Jungen mit schwarzem
Haar das Seil entriss. »Wieso ist Jake bei den Kids da ?«, fragte
Tess. »Er kennt sie doch gar nicht.«
»Er will eben einfach mit Gleichaltrigen zusammen sein«,
antwortete Rob.
»Und wieso schreit er dann so ?«, fragte Tess.
»Cherchez la femme«, sagte Rob lächelnd.
»Und was heißt das ?«
»Er will vermutlich die Mädchen beeindrucken«, sagte Rob.
Tess musterte missbilligend die kreischenden Teenager.
Dann blickte sie zu ihrer Mutter, die ihre braun gebrannten
Beine ausstreckte und mit der Frau plauderte, die neben ihr auf
einer Decke saß, während deren Mann, der mit seinem langen
schwarzen Haar wie ein Pirat aussah, neben der Decke stand
und ihr Kleinkind bewachte, das am Ufer spielte. »Wer sind
diese Leute, mit denen Mom redet ?«, fragte Tess.
»Keine Ahnung. Vermutlich auch Camper. Hey, was meinst
du, sollen wir Mom auch die Chance geben, mal baden zu gehen
?«, schlug Rob vor.
Tess nickte, glitt ins Wasser, und beide schwammen an
Land.
Sean lag auf einer Decke unter einem Ahornbaum und döste,
während Dawn und die andere junge Frau, eine hellhäutige
Blondine, sich unterhielten. Tess und Rob liefen zu ihnen hinauf.
»Hey, ihr zwei«, sagte Dawn, und ein Lächeln huschte über
ihr Gesicht. »Annette, darf ich vorstellen, mein Mann Rob und
meine Tochter Tess. Annette und ihrem Mann Kenneth gehört
das Gasthaus unten vor dem Eingang zum Campingplatz.«
»Oh«, sagte Rob und schüttelte Annette die Hand. »Führen
Sie den Betrieb selbst ?«
»Ich führe ihn - überwiegend«, sagte Annette. »Ken versucht
sich als Autor. Als meine Eltern uns das Gasthaus hinterließen,
beschlossen wir hierherzuziehen, damit Kenneth mehr Zeit für
seine Arbeit hat.«
»Ich denke, jeder träumt davon, so ein Gasthaus zu besitzen
«, sagte Dawn.
»Ist aber viel Arbeit«, seufzte Annette.
Der schwarzhaarige Mann ging zum Wasser hinunter, nahm
sein protestierendes Kind auf den Arm und kam wieder rauf.
»Kenneth Phalen«, sagte er, stellte das Kind auf den Boden
und reichte Rob die Hand.
»Und Lisa«, erinnerte seine Frau ihn und zeigte auf das kleine
Mädchen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Rob. »Ihre Frau sagte,
Sie seien Schriftsteller. Was schreiben Sie ?«
Ken warf sein Haar zurück. »Na ja, Geschichten. Ein paar
meiner Kurzgeschichten habe ich in Zeitschriften untergebracht.
Zurzeit arbeite ich an einem Roman.«
Er wollte sich gerade in einer langatmigen Erklärung ergehen,
da unterbrach Annette ihn und drehte sich Rob zu. »Dawn
hat erzählt, dass Sie Professor am MIT sind. Beeindruckend.«
»Nur Privatdozent«, sagte Rob zögerlich.
»Immerhin«, sagte sie.
Tess fing die Unterhaltung zu langweilen an. Sie beobachtete
die kleine Lisa, die mit geröteten Wangen über die Wiese zu
wackeln begann. Tess wünschte, sie hätte ihre Kamera jetzt dabei.
Lisa war süß wie eine Puppe, und ihre Löckchen glänzten
in der heißen Nachmittagssonne. Bald würde der herrliche Tag
zu Ende gehen. Flehend sah sie zu ihrer Mutter hinüber und
versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
»Tess, was ist denn ?«
»Mom, kommst du ins Wasser ?«, bettelte sie.
Dawn lächelte. »Ist es denn kalt ?«
Tess schüttelte den Kopf und riss die Augen auf. »Nein,
überhaupt nicht.«
»Geh nur, Schatz«, sagte Rob. »Ich passe auf Sean auf.«
Dawn ließ sich nicht lange bitten. Als Rob sich abgetrocknet
und neben seinen kleinen Sohn auf die Decke gesetzt hatte,
griff sie nach Tess' Hand. »Okay, komm«, sagte sie, strich sich
das dunkelbraune Haar hinter die Ohren und lächelte. »Entschuldigt
uns.«
Tess watete vor ihrer Mutter ins Wasser, während Phoebe bis
zu den Hüften im See stand und herumplanschte.
»Schätzchen, nicht mich anspritzen«, sagte Dawn. »Ich muss
mich kurz an die Wassertemperatur gewöhnen.«
Phoebe zuckte die Achseln und hörte mit der Spritzerei auf.
Tess glitt wie ein Seehund ins kühle Nass zurück; ihre Mutter
ging es hingegen vorsichtiger an, rieb sich Arme und Beine,
pustete, holte dann plötzlich tief Luft, breitete die Arme aus,
tauchte ein und kurz darauf lachend neben Phoebe wieder auf.
Dawn winkte Rob zu, das Pärchen am Strand und alle anderen
winkten zurück.
Tess schwamm ihrer Mutter in die Arme. Dawn sah zu den
Teenagern hinüber. Jake saß nun mitten unter ihnen auf den
Felsen und beteiligte sich eifrig am Gespräch. Die hübsche
Blondine saß direkt neben ihm.
»Dad hat gesagt, dass er versucht, die Mädchen zu beeindrucken.
« Tess sah ihre Mutter fragend an.
Dawn lächelte ein wenig wehmütig. »Er ist groß geworden.«
»Also, ich finde, er sollte bei seiner Familie bleiben«, sagte
Tess.
»Ach, es dauert nicht mehr lange, dann sitzt du auch da drüben
«, sagte Dawn.
»Ich nicht«, entgegnete Tess. »Ich bleibe lieber bei dir.«
Dawn küsste sie auf die Stirn. »Komm, wir holen Phoebe
ein. Pheebs«, rief sie. »Wir kriegen dich.«
Phoebe schwamm auf dem Rücken, blickte in den klaren
blauen Himmel und zu den Schäfchenwolken hinauf und richtete
sich plötzlich auf. Die Sonne spiegelte sich in ihrem rechteckigen
silbernen Anhänger, den sie immer an einer Silberkette
um den Hals trug. Sie hatte das Schmuckstück von ihrer Patentante
zum Geburtstag bekommen, Tess hatte genau das gleiche.
Sie legte es zum Schwimmen aber immer ab, aus Angst, es zu
verlieren. »Was ?«, sagte Phoebe.
»Wir kriegen dich«, drohte Tess.
Phoebe riss lachend die Augen auf, fing dann an zu kreischen
und paddelte wie wild davon.
Bei Sonnenuntergang kehrte Jake am ganzen Körper frierend
zum Campingplatz zurück und zog sich trockene Sachen an,
während Rob das Lagerfeuer schürte und Dawn für jeden einen
Stock besorgte, der lang genug war, um Marshmallows zu
rösten, sobald ihr Pfannengericht, das auf dem Campingkocher
brutzelte, fertig wäre. Bei Laternenlicht aßen sie mit einem
Riesenappetit und waren sich einig, dass es zu Hause nie
so gut schmeckte - das sagten sie bei jedem Campingausfl ug.
Danach saßen sie eng zusammengedrängt um das Lagerfeuer,
während die Funken aufflogen wie ein orangefarbener Bienenschwarm
und es langsam kühler wurde. Die drei Kids saßen auf
Holzklötzen und Baumstümpfen, Dawn und Rob auf Campingstühlen,
und alle rösteten Marshmallows.
Rob erzählte ein paar altbekannte Gruselgeschichten, bei denen
die Mädchen schon im Voraus kreischten. Als das Feuer
langsam erlosch, sagten sie einander Gute Nacht. Die Luft war
kühl, und Phoebe und Tess trugen ihre Socken, Jogginghosen
und Fleecepullis auch zum Schlafen. Sie verschwanden in ihrem
Zelt, krabbelten in ihre Schlafsäcke und stellten die Stablampe
zwischen ihre Schlafplätze.
Tess griff in ihren Rucksack und kramte, bis sie den Fotoapparat
gefunden hatte, den sie sich so gewünscht und dann endlich
zu ihrem neunten Geburtstag bekommen hatte. Sie richtete
das Objektiv auf Phoebe, die sich ihr wirres blondes Haar
kämmte.
»Pheebs«, sagte sie.
Phoebe sah zu ihrer Schwester auf, und Tess knipste sie.
»Tu das Ding weg«, befahl Phoebe. »Ich hasse es, fotografi ert
zu werden.«
»Aber mit dem großen Schatten hinter dir siehst du echt
cool aus«, sagte Tess und starrte auf die Silhouette ihrer Schwester,
die sich groß und dunkel wie eine Gewitterwolke auf der
Zeltbahn abzeichnete.
»Ist mir doch egal. Hör sofort auf damit.«
Als Antwort knipste Tess noch ein weiteres Bild, worauf
Phoebe die Bürste nach ihrer Schwester warf und sie an der
Stirn traf.
»Autsch«, jaulte Tess und senkte die Kamera.
»Tu die Kamera weg«, sagte Phoebe.
Tess streckte die Zunge heraus, legte dann aber den Fotoapparat
vorsichtig in den Rucksack zurück, gerade als Jake ins
Zelt kam. Jake hatte breite Schultern, ebenmäßige Gesichtszüge
und wunderschönes, goldbraunes Haar, das jetzt, nachdem
es getrocknet war, in Locken um sein Gesicht fiel. Er trug
Boots, Jeans und ein MIT-Sweatshirt und hockte sich in den
Zelteingang.
»Beeil dich, zieh die Boots aus und leg dich in deinen Schlafsack
«, sagte Phoebe. »Dann können wir endlich das Licht ausmachen.
«
Jake schlug die Zeltklappe zurück und blickte auf den stillen
Campingplatz und die noch immer glühende Asche ihres Lagerfeuers
hinaus. Geistesabwesend kaute er an seinem Daumennagel.
»Ich gehe noch ein bisschen weg«, sagte er.
Tess starrte ihn ungläubig an, Phoebe setzte sich auf und
protestierte. »Du gehst weg ? Wohin denn ?«
»Ich gehe noch in den Ort. Nach Stone Hill. Da gibt's heute
Tanz«, sagte Jake.
»Du kannst doch nicht einfach weggehen. Weiß Dad davon
?«, protestierte Phoebe.
Jake sah sie an. »Nein. Und du wirst es ihm auch nicht sagen.
Ich bin in ein paar Stunden wieder da. Das ist keine große
Sache.«
»Wenn es keine große Sache ist, warum fragst du dann nicht
einfach Dad ?«, beharrte Phoebe.
»Ich brauche nicht für alles, was ich tue, seine Erlaubnis«,
sagte Jake verärgert.
»Er wird stinksauer, wenn er das rauskriegt«, warnte Phoebe
ihn.
»Wenn ihr beiden euren Mund haltet, wird er es nicht erfahren,
oder ?«
Tess und Phoebe sahen einander an. Tess sah verängstigt aus,
Phoebe eher wütend. »Du solltest bei uns bleiben«, sagte Phoebe.
»Seid nicht so kindisch. Ihr seid doch nur ein paar Meter von
Mom und Dad entfernt. Ich bleibe ohnehin nicht so lange
weg.«
Phoebe schüttelte ihren blonden Kopf.
»Und ihr bekommt beide fünf Dollar, wenn ihr den Mund
haltet«, sagte er.
Tess' Augen fingen zu leuchten an, denn sie musste an den
Film denken, den sie sich davon kaufen konnte. Sie war schon
fast überredet. Sie fand, dass das ein ziemlich guter Deal war.
Phoebe sah ihren Bruder an. »Wenn du nicht zahlst, sag ich es.
Dann kriegst du Ärger.«
»Ich zahle bestimmt. Schlaft jetzt«, sagte Jake beleidigt,
wandte ihnen den Rücken zu und verließ das Zelt.
Tess kuschelte sich mit ihrem Plüschhund in den Schlafsack.
Sie fragte sich, ob sie ohne Jake als Wache würde einschlafen
können. Doch noch bevor sie den Gedanken zu Ende denken
konnte, war sie bereits eingeschlafen.
Ein reißendes Geräusch und ein kalter Luftzug, der ihr direkt
ins Gesicht wehte, weckten Tess. Sie öffnete schlaftrunken die
Augen. Die Taschenlampe war noch immer an, und auch Phoebe
saß noch aufrecht da. Plötzlich begriff Tess, was sie sah, und
ihr blieb fast das Herz stehen.
Phoebes blaue Augen waren vor Schreck geweitet, eine
schmutzige Hand mit dreckigen Fingernägeln lag über ihrem
Mund. An Phoebes Hals lag ein Messer, das in ihre Haut
drückte. In der Zeltplane neben Phoebes Tasche klaffte ein riesiger
Schlitz, ein großer, hässlicher Mann in einer schmuddeligen
grünen Militärjacke hockte hinter ihr, füllte die gesamte
Lücke aus und hielt Phoebe fest an sich gepresst. Er hatte
schwarzes Haar, das er zu einem unordentlichen Pferdeschwanz
zusammengebunden hatte, und trug eine Brille mit dicken
Gläsern und schwarzem Gestell.
Tess' Herz klopfte wie wild, und sie rieb sich die Augen und
überlegte, ob sie wach war oder ob das ein Albtraum war. Phoebe
stöhnte erbärmlich und warf Tess über die Hände, die sie
umfasst hielten, einen flehenden Blick zu.
Tess sah dem Mann, der ihre Schwester festhielt, direkt ins
Gesicht. »Hey ...«, protestierte sie.
»Halt die Klappe«, knurrte er. »Und keinen Mucks.«
Tess zitterte am ganzen Körper.
»Hör mir gut zu, Mädchen. Wenn du auch nur einen Piep
von dir gibst oder irgendwem auch nur ein Wort sagst, bring
ich deine Schwester um. Verstanden ?«
Tess hatte das Gefühl, ein Vogel säße zwischen ihren Rippen,
der wie wild mit den Flügeln schlug und sich zu befreien versuchte.
»Und ?«, fragte er und verstärkte den Druck des Messers an
Phoebes Hals. Phoebe stieß einen Klagelaut aus.
»Ja ...«, fl üsterte Tess.
»Keinen Ton. Und kein Wort - zu niemandem. Sonst bring
ich sie um.«
Tränen stiegen Tess in die Augen, und ihr Kinn fing zu zittern
an. »Tu ich nicht«, sagte sie.
Auf das, was als Nächstes passierte, war sie nicht vorbereitet.
Der Mann zerrte Phoebe aus dem Schlafsack und durch den
Schlitz in der Zeltwand hinaus. Eben noch war ihre Schwester
da gewesen ... jetzt war sie fort.
Tess blieb der Mund offen stehen, und sie legte ihre kleinen
Hände darüber. Alles, was sie durch die Öffnung im Zelt sehen
konnte, war Schwärze und Dunkelheit. Sie hörte raschelnde Geräusche
draußen im Wald, als wären Monster zwischen den Bäumen
unterwegs und könnten jedes noch so winzige Geräusch
vernehmen, das sie verursachte. Sie wagte es nicht, sich zu rühren
oder irgendwas zu sagen, sondern dachte immerfort nur an
Phoebe. Sie sah den Schrecken in den Augen ihrer Schwester und
das Messer des Mannes, das an ihrem Hals blitzte.
Tess musste dringend Pipi machen, wagte aber nicht, sich
vom Fleck zu rühren. Selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie
ohne Phoebe den Weg zur schlecht beleuchteten Toilette in der
Dunkelheit nicht gefunden. Außerdem gingen sie nie allein,
sondern immer zu zweit. Das war die Regel : entweder beide
oder keine von beiden. Tränen rollten Tess über die Wangen,
als sie an ihre Schwester dachte, die nun mit dem Mann mit
dem Messer allein im Wald war. Sie weinte und wartete, dann
spürte sie, wie ihr das Pipi die Beine hinunterlief und ihre Jogginghose
durchnässte, doch sie rührte sich immer noch nicht
vom Fleck. Vor Schreck erstarrt, saß sie da.
»Herrgott, was zum Teufel ... ?«
Jake steckte den Kopf durch den Schlitz in der Zeltbahn.
»Tess. Was zum Teufel ist passiert ?« Er sah sich um. »Alles in
Ordnung ? Wo ist Phoebe ?«
Tess starrte ihn an und fragte sich, ob sie es ihm erzählen
sollte. »Wo ist Phoebe ?«, schrie Jake sie an.
Bevor Tess sich entschließen konnte, ihm zu antworten, war
Jake schon wieder durch den Schlitz in der Plane verschwunden.
»Dad !«, schrie er. »Mom, Dad, Hilfe !«
Augenblicklich beherrschten der Schein von Taschenlampen
und Laternen und das Geschrei des Babys den Campingplatz.
Ihr Vater kroch durch den Riss in der Plane, nahm Tess in den
Arm, drückte sie einen Moment an seine Brust, packte dann
ihre Oberarme und suchte ihren Blick.
»Tess, was ist ihr passiert ? Sag es mir. Was ist mit Phoebe
passiert ?«
Draußen vor dem Zelt hörte sie ihre Mutter leise weinen
und Jake leise flehen. »Es tut mir leid, Mom. Es tut mir so
leid.«
Tess fing an zu schluchzen. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Er
hat es mir verboten. Er hat gesagt, dass ich es nicht sagen darf.«
»Wer hat das gesagt ?«, stieß Rob DeGraff mit zitternder
Stimme und schreckgeweiteten Augen hervor. »Sag es mir, Tess.
Sofort.«
Tess begann, am ganzen Körper zu zittern. Sie fl üsterte und
nuschelte unter Tränen. »Der Mann, der mit seinem Messer die
Plane zerschnitten hat. Der Mann, der Phoebe mitgenommen
hat.«
»Was ? Rob, was ist passiert? Ist mit Tess alles in Ordnung ?
Wo ist Phoebe ?«, schrie Dawn draußen vor dem Zelt.
Rob rang nach Luft und krümmte sich, als hätte das Messer
des Mannes ihn erwischt, dann stöhnte er auf. »Oh, mein Gott !
Oh, nein.«
Das Stöhnen ihres Vaters verursachte Tess Übelkeit und
Gänsehaut am ganzen Körper. Noch nie zuvor hatte sie ihren
Vater derartige Laute von sich geben hören. Sonst lachte er immer
und sagte, dass alles in Ordnung kommen würde. Doch
diesmal nicht. Diesmal klang er wie ein Tier, das sich vor
Schmerz wand. Sie fragte sich, ob er wütend auf sie war. Sie
musste alles tun, damit er sie verstand. Sie bettelte. »Dad, ich
musste tun, was er von mir verlangt hat. Er hat gesagt, ich dürfe
nichts sagen, sonst ...«
»Was, Tess ?«, schrie er. »Was ?«
Tess senkte den Kopf. Ihre Stimme war jetzt nur noch ein
Flüstern. »Sonst würde er sie umbringen.«
2
Zwanzig Jahre später
»Erny«, rief Tess, die Hände in die Hüften gestemmt, in der
Tür zum Zimmer ihres Sohnes, das aussah, als hätte eine Bombe
eingeschlagen. »Antworte mir, wenn ich dich was frage.«
Erny, ein drahtiger zehnjähriger Junge mit glänzenden blauen
Augen, brauner Haut und wirrem, lockigem schwarzem
Haar kam die Treppe des Reihenhauses in Georgetown herauf.
»Das Taxi ist da«, kündigte er an.
»Was ist mit deinem Zimmer passiert ?«, fragte Tess.
»Ich habe gepackt«, erklärte er. »Komm schon, Mom, wir
müssen los.«
Tess schüttelte den Kopf und schloss die Tür zu Ernys Verhau.
»Sobald wir zurück sind, wirst du dieses Chaos aufräumen.
«
Erny zappelte vor aufgestauter Ungeduld. »Mach ich, mach
ich. Komm schon, wir verpassen sonst noch den Flieger.«
»Den verpassen wir schon nicht«, sagte Tess gelassen, obwohl
ihr schlecht war und ihr Magen sich zusammenkrampfte. »Wo
ist deine Tasche ?«
»Unten.«
»Okay, zieh dein Sweatshirt an und sag dem Taxifahrer, dass
er warten soll. Ich komme gleich.«
Erny hüpfte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal
nehmend. Tess' Blick fiel auf das gerahmte Foto, das auf der
Kommode in ihrem Schlafzimmer stand. Es war der Schnappschuss
eines blonden Mädchens mit Zahnspange und süßen
verträumten blauen Augen, das sich eifrig die langen Haare
kämmte. Ihr Schatten zeichnete sich auf der Zeltbahn ab. Tess
küsste ihre Fingerspitze und legte sie zärtlich auf die Wange des
Mädchens auf dem Foto. Dann drehte sie sich um, zog den
Griff aus ihrem Koffer, rollte ihn zum Treppenabsatz, hob das
Gepäckstück dann hoch und trug es hinunter. Erny stand an
der Eingangstür und bat den Taxifahrer um Geduld.
Sosa, der Kater, benannt nach einem Baseballspieler, den
Erny vergötterte, spähte unter dem Wohnzimmersofa zu ihnen
rauf. »Verabschiede dich von Sosa«, sagte Tess. Er sitzt unter der
Couch.«
Tess nahm ihre Jacke von der Garberobe und hörte, wie Erny
sich auf den Wohnzimmerteppich fallen ließ, Sosa liebkoste
und ihm versprach, dass sein bester Freund Jonah sich gut um
ihn kümmern werde. Jonah war der Sohn von Tess' bester
Freundin Becca und ihrem Mann Wade Maitland. Die
Maitlands wohnten nur drei Häuserblocks entfernt. Wade war
der Executive Producer ihres Dokumentarfi lm-Teams, und
Tess hatte ihm ihre Jugendfreundin Rebecca vorgestellt. Es war
Liebe auf den ersten Blick gewesen, darum galt Tess fortan als
Heiratsvermittlerin. Die beiden Frauen waren froh, dass auch
ihre Söhne gut miteinander auskamen, denn das verlieh ihrer
alten Freundschaft eine völlig neue Dimension. Wie gut, dachte
Tess, dass es Freunde gab, auf die man sich verlassen konnte.
Vor allem bei dieser Reise, vor der sie sich ungewöhnlich labil
und besorgt fühlte.
»Wird schon schiefgehen«, rief Tess Erny zu. Und diese Worte
sagte sie sich vor wie ein Mantra, als wollte sie sich auf diese
Weise selbst davon überzeugen, dass es sich um einen ganz normalen
Familienbesuch handelte.
Tess sah in den Spiegel, der im Flur hing. Ihr glänzendes
braunes Haar fiel um ihr ovales Gesicht auf die Schultern. Sie
hatte dunkelbraune Augen, einen hellen, gesunden Teint und
tiefe Grübchen in den Wangen, die beim leisesten Lächeln zum
Vorschein kamen. Ein Freund hatte mal zu ihr gesagt, dass
Männer sich zum Affen machten, nur um sie zum Lachen zu
bringen und diese Grübchen sehen zu können. Tess hatte das
weggewischt, heimlich aber vermutet, dass wohl etwas dran
sein musste. Heute hatte sie wie immer einen Hauch Make-up
aufgelegt. Sie begutachtete ihre Kleidung und fragte sich, ob
Seidenbluse und Tweedblazer warm genug für das Oktober-
ende in New England waren.
Normalerweise hätte sie auf einer Reise nach New Hampshire
ihre Arbeitskleidung getragen - einen weiten Leinenmantel
mit vielen Taschen, Jeans und Gummistiefel. Für Dreharbeiten
zog sie sich so an, damit es schnell ging und weil es bequem
war. Sie war Kamerafrau bei einem Filmteam, zu dem sie schon
gehörte, als sie noch an der Filmhochschule war. Sie drehten
Dokumentarfi lme für Kabelsender und das öffentliche Fernsehen.
Sie liebte alles an ihrem Team und ihrer Arbeit, vor allem
die Tatsache, dass sie den Großteil ihrer lässigen Arbeitskleidung
bei Eddie Bauer kaufen konnte. Doch was diese Reise
anging, hatte sie das Gefühl, dass sie doch ein wenig geschäftsmäßiger
aussehen sollte.
Aus dem Wohnzimmer ertönte ein Knall. Tess' Herz machte
einen Satz.
»Was war denn das ?«, rief sie und rannte zur Tür.
Erny hielt zwei Porzellandreiecke in der Hand, die einmal
ein viereckiger Teller mit der Darstellung einer alten Weltkarte
gewesen waren. Tess hatte den Teller vor langer Zeit auf einem
Flohmarkt in Paris gekauft und ihn seither wie ihren Augapfel
gehütet. Doch das Leben mit einem Kind hatte sie gelehrt, dass
Unfälle an der Tagesordnung waren und es ein Fehler war, sein
Herz zu sehr an zerbrechliche Gegenstände zu hängen. »Was ist
passiert ?«, fragte sie.
»Ich habe Sosa geknuddelt, da hat er sich plötzlich von mir
losgerissen und ist auf den Tisch gesprungen«, sagte Erny. »Er
wollte den Teller bestimmt nicht kaputt machen, Mom.«
»Ich weiß«, sagte Tess und seufzte. Sie legte die Stücke vorsichtig
auf den Kaminsims. »Vielleicht können wir ihn wieder
kleben.«
»Ich hole den Kleber«, rief Erny hoffnungsvoll.
»Jetzt nicht. Wir müssen los. Das machen wir, wenn wir wieder
zurück sind.«
»Sosa hat einfach nur Angst vor dem Alleinsein. Jonah wird
sich hoffentlich gut um ihn kümmern«, murmelte Erny und
schlug sich mit der Faust in die fl ache Hand.
»Das wird er. Seine Mom sorgt schon dafür. Komm jetzt.
Nimm deine Tasche.« Sie zwang sich Erny zuliebe zu einem
fröhlichen Ton. »Wir werden uns viel ansehen und Leute treffen.
«
Erny, der nur selten lange niedergeschlagen war, hängte sich
den Rucksack über die Schulter und griff nach seinem Koffer.
»Ich bin fertig.«
Tess lächelte ihn an. »Vámonos !«
Der Taxifahrer half ihnen, das Gepäck im Kofferraum zu
verstauen. Sie nahmen auf dem Rücksitz Platz. »Dulles Airport,
bitte«, sagte Tess.
Erny drückte seine Nase an die Fensterscheibe und starrte
auf die vertraute Straße. Als das Taxi abfuhr, sah Tess sich noch
einmal nach ihrem Zuhause um. Sie wohnte in einem richtigen
Stadthaus - einem zweigeschossigen Ziegelbau im neokolonialen
Stil, in der Mitte einer in Reihenbauweise angelegten Häuserreihe,
mit Sprossenfenstern mit cremefarbenen Rahmen und
Blumenkästen vor den Fenstern, gusseisernen Treppengeländern
und Marmorstufen. Vor dem Haus stand ein Baum, Ernys
Schule war nur zwei Häuserblocks entfernt. Tess hatte das
Haus mit ihrem Anteil an dem Honorar erworben, das das
Dokumentarfilm-Team durch seinen ersten Verkauf an den Bezahlsender
HBO erhalten hatte. Sie war damals Single und
gerade mal dreiundzwanzig gewesen, wollte aber einfach ihre
Privatsphäre und ein eigenes Zuhause haben. Das Haus bot
beides, es war eine gute Investition und erwies sich später, als
Erny in ihr Leben kam, als unverzichtbare Wertanlage.
Sie war Erny begegnet, als das Team eine Dokumentation
über Großeltern drehte, die ihren Enkelkindern gezwungenermaßen
die Eltern ersetzten. Ernys Großmutter Inez hatte ihre
einzige Tochter an Drogen und die Straße verloren. Ernys Vater
war unbekannt. Schon am ersten Drehtag zeigte der damals
fünfjährige Erny eine unbändige Neugierde gegenüber allem,
was das Team tat. Er heftete sich an Tess' Fersen und stellte ihr
unzählige Fragen zur Filmkamera. Ernys Großmutter war arm,
vergötterte ihren Enkel aber und beschützte ihn. Der Abschnitt
über die beiden gehörte zu den berührendsten Teilen des Films.
Einige Monate später, als der Film geschnitten war und fertig
zum Senden, hatte Tess Inez angerufen, um sie und Erny zu
einer Vorführung einzuladen, musste aber erfahren, dass Inez
plötzlich verstorben und Erny bei einer Pfl egefamilie untergebracht
war. Tess hatte sogleich einen Besuch bei Erny in dem
heruntergekommenen und chaotischen Haus seiner Pfl egeeltern
organisiert. Sie war davon ausgegangen, dass es für einen
Fünfjährigen traumatisierend wäre, so kurz nach dem Tod seiner
Großmutter den Film zu sehen, doch Erny wollte unbedingt
zur Vorführung kommen. Seinen Pflegeeltern, die damals
sechs Kinder zu versorgen hatten, schien das egal zu sein.
Trotz ihrer Bedenken hatte Tess schließlich eingewilligt und
ihn mitgenommen.
Erny war bereits fertig gewesen, als sie ihn abholen kam, er
hatte sich das Haar gekämmt und seine beste Kleidung angezogen.
Ohne zu zappeln, saß er da, sah den Film aufmerksam an
und drückte dabei unablässig ihre Hand. Als sie ihn zurück zu
seinen Pflegeeltern brachte, hatte er sich stumm an sie gedrückt
und sie nicht mehr gehen lassen wollen. Tess versprach, ihn
wieder zu besuchen, als er ihr mit Hoffnungslosigkeit in den
Augen nachsah. Tess hingegen kehrte in ihr hübsches, ruhiges
Zuhause zurück.
In den folgenden sechs Tagen hatte sie sich ständig gesagt,
dass Ernys Lage zwar traurig war, man aber nun mal nichts
daran ändern konnte. Sie selbst war jung, Single und konnte
sich nicht mit einem Kind belasten, egal, wie sehr der Junge
jammerte. Sie würde nie wieder einen Freund oder ein soziales
Leben haben können. Sie hatte sich nachts im Bett gewälzt, bis
ihr schließlich klar geworden war, dass ihre Gefühle sich nicht
einfach beiseiteschieben ließen. Sechs Monate später war die
Adoption durchgestanden, und seither war Tess eine alleinerziehende
Mutter. Natürlich nahmen ihre sozialen Kontakte ab,
sie verbrachte viel Zeit zu Hause, und falls sie doch mal mit
jemandem ausging, entwickelte sie die Tendenz, jeden Mann
nach seiner Reaktion auf Erny zu beurteilen. Doch die meisten
ihrer Dates wollten ihr Leben nicht nach den Bedürfnissen eines
Kindes ausrichten. Zu ihrer Überraschung merkte Tess,
dass es ihr nichts ausmachte, Männer mit solch einer Einstellung
zu verlieren. Als ihre Freunde die Köpfe schüttelten und
sie davor warnten, dass sie am Ende alleine bleiben würde, tat
sie, als interessiere sie das nicht. Doch in ihrem Herzen teilte sie
diese Befürchtung. Die Adoption war weder für Erny noch für
sie ein leichter Weg gewesen. Dennoch hatten beide diese Entscheidung
nie bereut.
»Meinst du, dass Dawn mir diesmal erlaubt, mit Seans Fahrrad
zu fahren ?«, fragte Erny.
Er konnte es immer noch nicht über sich bringen, Tess' Mutter
»Grandma« zu nennen. Tess verstand das, und sie wusste
auch, dass Erny ihre Familie immer gern besuchte. Doch das
konnte diesmal anders sein. Für beide. »Bestimmt«, sagte Tess.
»Vielleicht fahre ich diesmal in die Berge«, verkündete Erny.
»Das werden wir sehen«, sagte Tess.
Am Flughafen gingen Tess und Erny nach dem Check-in und
der Sicherheitskontrolle zu ihrem Gate. Tess blieb bei einem
Zeitungsladen stehen, kaufte sich eine Tageszeitung und ein
Heft mit Sudokus, die sie im Flugzeug gemeinsam lösen konnten.
Erny war in diesem Zahlenspiel besser als sie und wurde es
nie müde, ihre Reaktion zu beobachten, wenn er sie bei einer
Lösung schlug. Dann gingen sie zum überfüllten Wartebereich
am Flugsteig und ergatterten zwei Stühle. Tess ging zum Schalter
und fragte die Angestellte, an welchem Gate ihr Anschlussflug
in Boston abging.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel
Stolen in the Night bei Atria, New York.
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www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Patricia Bourgeau
Published by Arrangement with Patricia Bourgeau
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Christiane Winkler
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Gerhild Gerlich, München
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Euro Color Creative;
© R. Gino Santa Maria; © f11photo; © Delmas Lehmann)
Satz: a v a k Publikationsdesign, München
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-605-6
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Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia MacDonald
- 2011, 1, 334 Seiten, Maße: 12,4 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006052
- ISBN-13: 9783868006056
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