Traumfrau mit Lackschäden
Roman
Traumfrau Cora Schiller wird fünfzig - und gerät in die Krise. Ihr Sohn ist weg, ihr Mann ist weg, dafür taucht ein ehemaliger Liebhaber auf, und in ihrer Wohnung drängeln sich ihre Freundinnen, die es noch mal wissen wollen. Sie...
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Produktinformationen zu „Traumfrau mit Lackschäden “
Traumfrau Cora Schiller wird fünfzig - und gerät in die Krise. Ihr Sohn ist weg, ihr Mann ist weg, dafür taucht ein ehemaliger Liebhaber auf, und in ihrer Wohnung drängeln sich ihre Freundinnen, die es noch mal wissen wollen. Sie wünschen sich neue Männer, neue Jobs, neue Abenteuer - nur Cora wäre es am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es ist. Erst als ihre Ehe mit Ivan vor dem Aus steht, begreift sie, dass vieles sich ändern muss. Und überrascht stellt sie fest, dass auch Frauen über fünfzig noch ein aufregendes Leben haben.
Graue Strähnen im Haar, über Nacht entstandene Fältchen, unerklärliche Gewichtszunahme - als »Traumfrau« älter zu werden ist eine echte Herausforderung. Cora Schiller ist entschlossen, ihr mit Würde zu begegnen, aber mit ihrem fünfzigsten Geburtstag wird alles anders. Sohn Paul zieht in eine WG, Ehemann Ivan braucht für sein Kunstprojekt eine Auszeit, und in ihrem Freundeskreis herrscht Gefühls-Chaos: Hella verlässt ihren Mann, Katja hat sich in eine Frau verliebt, Uli will endlich das große erotische Abenteuer erleben, und dann taucht auch noch Coras ehemaliger Lover auf und sorgt für Verwicklungen. Coras Zweifel am Ideal der monogamen Zweierbeziehung werden immer größer, während sie als Paarvermittlerin ihren Kunden zum ersehnten Traumpartner verhelfen soll. Als es zur Krise mit Ivan kommt, fragt Cora sich besorgt: Haben alleinstehende Frauen über fünfzig noch ein Leben? Haben sie noch Sex? Und wie lange können sie Reizwäsche tragen, ohne sich zu blamieren?
Graue Strähnen im Haar, über Nacht entstandene Fältchen, unerklärliche Gewichtszunahme - als »Traumfrau« älter zu werden ist eine echte Herausforderung. Cora Schiller ist entschlossen, ihr mit Würde zu begegnen, aber mit ihrem fünfzigsten Geburtstag wird alles anders. Sohn Paul zieht in eine WG, Ehemann Ivan braucht für sein Kunstprojekt eine Auszeit, und in ihrem Freundeskreis herrscht Gefühls-Chaos: Hella verlässt ihren Mann, Katja hat sich in eine Frau verliebt, Uli will endlich das große erotische Abenteuer erleben, und dann taucht auch noch Coras ehemaliger Lover auf und sorgt für Verwicklungen. Coras Zweifel am Ideal der monogamen Zweierbeziehung werden immer größer, während sie als Paarvermittlerin ihren Kunden zum ersehnten Traumpartner verhelfen soll. Als es zur Krise mit Ivan kommt, fragt Cora sich besorgt: Haben alleinstehende Frauen über fünfzig noch ein Leben? Haben sie noch Sex? Und wie lange können sie Reizwäsche tragen, ohne sich zu blamieren?
Klappentext zu „Traumfrau mit Lackschäden “
Die Traumfrau kehrt zurück!Traumfrau Cora Schiller wird fünfzig - und gerät in die Krise. Ihr Sohn ist weg, ihr Mann ist weg, dafür taucht ein ehemaliger Liebhaber auf, und bei ihr zu Hause drängeln sich ihre Freundinnen, die es noch mal wissen wollen. Sie wünschen sich neue Männer, neue Jobs, neue Abenteuer - nur Cora wäre es am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es ist.
Graue Strähnen im Haar, Fältchen, die über Nacht entstehen, unerklärliche Gewichtszunahme - als "Traumfrau" älter zu werden ist eine echte Herausforderung. Cora Schiller ist entschlossen, ihr mit Würde zu begegnen. An ihrem fünfzigsten Geburtstag aber wird plötzlich alles anders. Sohn Paul zieht in eine WG, Ehemann Ivan braucht für sein Kunstprojekt eine Auszeit, und in ihrem Freundeskreis herrscht Gefühlschaos: die eine verlässt ihren Mann, eine andere verliebt sich in eine Frau, die dritte will endlich das große, erotische Abenteuer erleben, und dann taucht auch noch Coras ehemaliger Lover auf und sorgt für Verwicklungen. Zweifel am Ideal der monogamen Zweierbeziehung werden für Cora, die als Paarvermittlerin ihren Kunden zum ersehnten Traumpartner zu verhelfen versucht, immer größer. Als es zur Krise kommt, fragt Cora sich besorgt: Haben Frauen ihres Alters noch ein Leben? Haben sie noch Sex? Oder müssen sie statt erotischer Dessous jetzt Stützstrümpfe tragen? Schließlich stellt sie fest, dass das Leben noch jede Menge Überraschungen für sie bereithält.
Lese-Probe zu „Traumfrau mit Lackschäden “
Traumfrau mit Lackschäden von Amelie FriedEINS
Es war mein fünfzigster Geburtstag. Ich stand an der Tür unserer Wohnung und lauschte ins dunkle Treppenhaus. Vier Stockwerke unter mir ließ jemand die Haustür ins Schloss fallen. Dieser Jemand war Ivan, mein Mann. Gerade hatte er mir erklärt, dass er für eine Weile ausziehe. Dass er eine »Überdosis« habe. Dass er Abstand brauche und Zeit für sich selbst. Unsere Ehe war nach fast zwanzig Jahren nicht besser oder schlechter als die meisten Ehen nach so langer Zeit, fand ich. Natürlich hatten wir Probleme, wer hatte die nicht? Aber alles in allem hatten wir es gut hinbekommen. Das hatte ich jedenfalls bis zu diesem Tag gedacht. Benommen stand ich da und versuchte zu begreifen, was passiert war. Ich fühlte mich, als hätte mich eine riesige Hand gepackt und einmal kräftig durchgeschüttelt. Ungläubig lachte ich auf. Da behaupte noch mal einer, das Leben jenseits der fünfzig halte keine Überraschungen mehr bereit!
Dabei war wenige Stunden zuvor noch alles in bester Ordnung gewesen.
... mehr
Ich hatte meine engsten Freunde eingeladen und den ganzen Tag gekocht, freute mich auf einen gemütlichen Abend mit gutem Essen und reichlich Alkohol. Ivan hatte versprochen, pünktlich aus dem Atelier zurück zu sein, und sogar Paul, unser achtzehnjähriger Sohn, der vor Kurzem ausgezogen war, hatte gnädig sein Kommen angekündigt.
Ich stand im Bad und versuchte, mich dem Anlass entsprechend zu stylen. Beim Blick in den Spiegel verspürte ich einen kurzen Anfall von Mutlosigkeit. Ich hätte meinen Haaransatz nachfärben sollen, das Grau wurde immer stärker. Seit wann hatte ich solche Tränensäcke? Diese Falten über den Augenbrauen? Und hängende Lider? Bei Charlotte Rampling hieß das Schlafzimmerblick. Bei mir war es nur eine Hauterschlaffung, die mich müde und angestrengt aussehen ließ.
Plötzlich hatte ich eine seltsame Wahrnehmung. Wie im Zeitraffer veränderte sich mein Gesicht, und ich sah mich am Abend meines dreißigsten Geburtstages. Damals hatte ich genau so vor dem Spiegel gestanden und mich selbstkritisch begutachtet - allerdings war ich da jung und schön gewesen. Zweihundert Leute hatten in einer aufwendig dekorierten Fabrikhalle gewartet, um mit mir zu feiern - und ich wollte das Fest schwänzen, um zu meiner großen Liebe nach Rom abzuhauen. Nur weil ich keinen Platz im Flugzeug bekommen hatte, war ich doch noch bei meiner eigenen Geburtstagsparty erschienen.
Und was für eine Party das gewesen war! Wehmütig dachte ich an die Videoskulptur, die roten Samtvorhänge, die Fackeln, den Auftritt des New Yorker Rappers und die Musikeinlage der Drei Tournedos zurück. Der Abend hatte mich ein Vermögen gekostet, aber als erfolgreiche PR-Frau mit eigener Firma hatte ich mir das damals leisten können.
Sollte ich es diesmal tun? Einfach zum Flughafen fahren und nachsehen, wohin das nächste Flugzeug ging? Meinen Gästen würde ich eine Nachricht hinterlassen: »Ich bin dann mal weg, macht euch keine Sorgen!« Und dann würde ich allein in ... ja, wo? Ich hatte keine Ahnung, wohin heute Abend noch Flüge gehen würden. Istanbul, Kopenhagen, Warschau? An irgendeinem dieser Orte würde ich allein in meinen fünfzigsten Geburtstag hineinfeiern und mich super spontan und jugendlich fühlen. Ich würde durch die Straßen einer fremden Stadt schlendern, allein in einem Restaurant sitzen, interessierte Blicke der Kellner ernten, mich an der Hotelbar von furchtbar lustigen Vertretertypen anbaggern lassen und irgendwann betrunken ins Bett fallen.
Ernüchtert gab ich den Plan auf. Dann lieber im Kreis meiner Lieben, die sicher eine Menge Sprüche à la »Das Leben geht weiter «, »Besser fünfzig werden als nicht fünfzig werden«, »Du siehst keinen Tag älter aus als neunundvierzigeinhalb« und dergleichen mehr auf Lager haben würden. Was sollte schon schlimm daran sein, fünfzig zu werden? Die Alternative wäre gewesen, jung zu sterben, aber die Chance hatte ich verpasst. Wir selbst waren es doch, die in einem Datum unbedingt etwas Besonderes sehen oder ihm eine symbolhafte Bedeutung geben wollten. Sonst war so ein fünfzigster Geburtstag doch nur »ein Furz im Universum«, wie meine Tante Elsie gesagt hätte, Gott hab sie selig.
Tante Elsie war meine Familie gewesen, bei ihr war ich aufgewachsen, nachdem meine Eltern sich getrennt hatten und mein Vater verschwunden war. Er hatte nicht gewusst, dass er nicht mein richtiger Vater war, und diese Kränkung nie verwunden. Mein leiblicher Vater war Spanier, meine Mutter und er hatten nur eine Affäre gehabt, und ich war zu klein gewesen, um mich an ihn erinnern zu können. Tante Elsie hatte mich über die Zeit hinweggerettet, in der meine Mutter krank geworden und gestorben war, und vielleicht hatte ich sie über den Verlust ihres Sohnes hinweggerettet, der aus Liebeskummer gegen einen Baum gefahren war. Seit ihrem Tod hatte ich außer Ivan und Paul keine Familie mehr. Meine Freunde waren meine Familie geworden.
Die junge Cora im Spiegel war verschwunden, ich war wieder die alte.
Ich versuchte mittels einer raffinierten Drehung aus einer Handvoll schwarz-grauer Haarsträhnen eine lässige Hochfrisur zu zaubern.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. »Alte, du siehst zum Kotzen aus.«
Überrascht sah ich mich um. Dann begriff ich. Sie war wieder da. Meine innere Stimme, meine »bessere Hälfte«, die mich vor zwanzig Jahren verlassen hatte.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich überrascht.
»Ich glaube, du brauchst mich wieder.«
»Ich, wieso? Ich bin die letzten Jahre bestens ohne dich zurechtgekommen. «
»Findest du?« Die Stimme klang spöttisch. »Schau dich doch mal an. Dein Sohn ist von zu Hause abgehauen, so schnell er konnte, deine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie mal war, du haderst mit dem Älterwerden und spielst mit dem Gedanken an Botox und Faltenunterspritzung - wenn du mich fragst, hast du eine satte Midlife-Crisis.«
»Ich frage dich aber nicht«, knurrte ich. »Und jetzt verpiss dich!«
Sie lachte spöttisch. »Hey, Traumfrau, sei nicht so empfindlich! «
Ich warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Traumfrau mit Lackschäden wäre wohl passender.
Ich ging ins Schlafzimmer und vermied den Blick in den Ganzkörperspiegel. Seit Kurzem konnte ich einen Teil meiner Hinterbacken sehen, ohne mich umzudrehen. Dafür brauchte ich keine Gürtel mehr, mein Rettungsring würde jeden Hosenbund festhalten. Und unter meinen Busen könnte ich nicht nur einen Bleistift, sondern den Inhalt eines kompletten Federmäppchens klemmen, ohne dass etwas runterfallen würde.
Ich zog ein schwarzes Kleid an, das mit etwas gutem Willen als festlich-elegant durchgehen könnte, band mein Haar im Nacken zusammen und legte imposante Ohrringe an. Die würden vom Rest ablenken. Ich blickte auf die Uhr. Schon kurz vor sieben. Um halb acht sollten meine Gäste kommen.
Auch so eine Alterserscheinung, dachte ich. Die Fete zu meinem Dreißigsten hatte erst um neun begonnen, dafür aber bis fünf Uhr morgens gedauert. Heute war ich froh, wenn Einladungen früh begannen, damit ich möglichst um Mitternacht im Bett sein konnte. Wurde es später, konnte ich nicht mehr schlafen.
Ich ging in die Küche und kontrollierte die Töpfe. In einem schmorte ein Ossobuco, im nächsten Ratatouille. Ich schaltete den Ofen ein, damit die Kartoffeln rechtzeitig fertig und schön goldbraun werden konnten, bereitete Vorspeisenplatten mit Avocado, Shrimps, Serranoschinken und Tomaten mit Mozzarella vor, schnitt knuspriges Baguette in Scheiben und kippte das Balsamicodressing über den vorbereiteten Salat. Im Kühlschrank schlummerten eine Zitronencreme und eine Mousse au Chocolat, garniert mit exotischen Früchten. Der Weißwein war kalt gestellt, den Rotwein hatte ich bereits geöffnet, damit er atmen konnte. Zur Sicherheit hatte ich auch Champagner aufs Eis gelegt, obwohl ich wusste, dass die meisten ihn nicht mehr mochten oder vertrugen. Champagner war was Tolles gewesen, als wir jung waren und ihn uns nicht leisten konnten. Heute tranken die meisten meiner Freunde lieber Wein. Auf jeden Fall tranken wir alle deutlich weniger. Mit Grausen dachte ich an die Zeit zurück, als ich mehrere Cocktails hintereinander wegkippen und zum Durstlöschen ein, zwei Biere hinterhertrinken konnte. Oft folgte dann noch ein Absacker in Gestalt eines Cognacs oder Calvados. Nach diesem Quantum müsste man mich heute in die Notaufnahme einliefern.
Gab es eigentlich irgendetwas, das mit dem Alter besser wurde?
Sex war es jedenfalls nicht. Ich hatte seltener Lust und kam schwerer in Fahrt. Sex konnte immer noch Spaß machen und mir Befriedigung verschaffen, aber ich spürte auch immer wieder eine Art Ernüchterung. Die Erinnerung an Momente großer Leidenschaft in der Vergangenheit konnte nicht mehr übertroffen werden. Die Gegenwart war immer ein bisschen weniger großartig, weniger befriedigend, irgendwie ... banaler. Wenn es ganz schlecht lief, blickte ich mitten im Liebesakt plötzlich von außen auf die Situation. Der Anblick zweier ineinander verkeilter Leiber, die sich begrapschten, ableckten, besabberten und dabei ekstatisch stöhnten, kam mir dann nur noch lächerlich vor.
Aber ich wollte nicht aufgeben. Mochten andere mit fünfzig das Thema Erotik abhaken, weil sie sich zu alt fühlten - ich fühlte mich nicht zu alt. Oder besser: Ich hatte beschlossen, mich nicht zu alt zu fühlen. Ich legte Wert auf mein Aussehen und kleidete mich so weiblich, wie ich es immer getan hatte. Aber die Blicke der Männer wurden seltener. Es war, als würde ich allmählich unsichtbar werden.
Als ich kürzlich im Aufzug gefahren war, hatte hinter mir ein Mann gestanden. Plötzlich hörte ich ihn murmeln: »Sie haben wunderschönes Haar! Kann ich Ihre Telefonnummer haben?«
Ich war so geschmeichelt gewesen, dass ich sie ihm sofort gegeben hatte. Leider habe ich nie mehr etwas von ihm gehört.
Als ich einer Freundin davon erzählte, sagte sie: »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum. Hättest dich halt nicht umdrehen dürfen.«
Zugegeben, ich liebte den Flirt. Trotzdem hatte ich Ivan in zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal betrogen. Jedenfalls nicht, wenn man unter Betrug den vollzogenen Geschlechtsakt verstand. Ich gebe zu, hie und da von anderen Männern geträumt zu haben, von der Aufregung und Verwirrung des Verliebtseins, von Begegnungen, die meiner erotischen Fantasie entsprangen oder sie anregten. Aber nie hatte ich diese Fantasien in die Tat umgesetzt.
Schon fünf vor halb acht! Ich öffnete eine Flasche Champagner (ich mochte ihn immer noch), schenkte mir ein Glas ein und kippte es hinunter. Und gleich noch ein zweites. Sofort spürte ich, wie meine Wangen sich röteten und sich in meinem Kopf eine angenehme Leichtigkeit ausbreitete.
Ich warf einen letzten Kontrollblick in den Spiegel vor dem Gästeklo. Eigentlich gar nicht so übel. Für fünfzig.
»Na los, Alte, amüsier dich!«, hörte ich meine innere Stimme. »Wer weiß, wie viel Gelegenheit du noch dazu hast.«
Im letzten Jahr waren zwei Frauen aus unserem Bekanntenkreis an Krebs gestorben - mit noch nicht einmal fünfzig. Aber solche Gedanken wollte ich heute nicht mal in die Nähe meines Bewusstseins kommen lassen. Ich scheuchte sie weg wie schmutzige, verflohte Straßenköter.
Da klingelte es auch schon. Ich riss die Tür auf und blickte in einen riesigen, dunkelroten Rosenstrauß. Dahinter kamen die Köpfe von Arne und Hubert zum Vorschein.
»O mein Gott, ihr seid verrückt!«, stammelte ich.
»Fünfzig Rosen für die ersten fünfzig Jahre«, erklärte Arne lachend. »Lass dich drücken, schöne Frau!«
Beide umarmten und beglückwünschten mich, und schon spürte ich Tränen der Rührung aufsteigen. Das konnte ja was werden, wenn ich schon bei den ersten Gästen heulte!
Arne war vor zwanzig Jahren Mitarbeiter in meiner PR- Agentur gewesen und hatte die Irrungen und Wirrungen dieser Zeit miterlebt. Stoisch hatte er immer zu uns Frauen gehalten, auch wenn wir über die Männer geschimpft hatten. Und das hatten wir ständig getan.
»Ich bin nicht wie andere Männer«, pflegte Arne zu sagen. Als ich ihn mit einem meiner Freunde im Bett erwischte, begriff ich, was er meinte. Kurz danach hatte er Hubert kennengelernt und war mit ihm zusammengeblieben. Vor ein paar Jahren hatten die beiden ihre Partnerschaft eintragen lassen und ein Kind adoptiert. (Das hieß, Hubert musste es allein adoptieren, weil homosexuelle Paare in Deutschland nicht gemeinsam adoptieren durften. Tolle Logik.)
»Kommt rein, ihr Lieben!«
Ich komplimentierte die beiden ins Wohnzimmer und drückte ihnen Gläser in die Hand.
Es klingelte wieder. Meine älteste Freundin Uli und ihr Mann Thomas. Er war es gewesen, mit dem ich Arne im Bett erwischt hatte. In meinem Bett übrigens. Thomas hatte nur mal ausprobieren wollen, ob er auch auf Männer stand.
»Meine Güte! Fünfzig! Was soll ich sagen?« Uli warf theatralisch die Arme um mich.
»Am besten nichts«, sagte ich grinsend. »Du machst es in jedem Fall schlimmer.«
»Alles Gute, meine Süße! Ich hoffe, du bleibst von der obligatorischen mediae-vitalen Crisis verschont.«
»Von was?« Uli hatte ihre Leidenschaft für Fremdwörter und Fachbegriffe nicht verloren.
»Na, die Krise in der Mitte des Lebens.«
»So was kriege ich nicht«, sagte ich.
»Kriegen die nicht eh nur Männer?«, sagte Thomas und umarmte mich. »Alles Gute, Cora!«
Thomas war damals mein »Hintergründler« gewesen, schwer in mich verliebt und allzeit für mich da. In einem schwachen Moment hatte ich ihn erhört - ein großer Fehler. Gute Freunde waren schlechte Liebhaber. Wir hatten es geschafft, unsere Freundschaft zu retten, und bald darauf verliebte er sich in die schwangere Uli, die gerade ihren untreuen Freund verlassen hatte. Clara kam zur Welt, und Thomas erwies sich als perfekter Ersatzvater. Zwei Jahre später bekamen die beiden noch eine gemeinsame Tochter, Laura.
»Was wollt ihr trinken?«
Uli wollte Weißwein, Thomas ein Bier. Sie stellten sich zu Arne und Hubert, während ich schon die Tür für die nächsten Gäste öffnete. Ein blonder Pagenkopf erschien im Treppenhaus, und im nächsten Moment hielt ich eine kleine, dralle Person im Arm, die begeistert kreischte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Chefin!«
»Hella! Ich freue mich so!«
»Und ich mich erst! Alles Gute, Cora!«
Wir lachten und umarmten uns noch einmal. Hella hatte zur gleichen Zeit für mich gearbeitet wie Arne. Leider hatte sie sich in einen meiner größten Kunden verknallt, den Schokoladenfabrikanten Herbert Hennemann. Sie heiratete ihn, zog mit ihm in die schwäbische Provinz und bekam Zwillinge. Wir waren all die Jahre in Kontakt geblieben, hatten uns aber selten gesehen. Und nun stand sie leibhaftig vor mir!
»Wo hast du den guten alten Hennemann gelassen?«
Das Lächeln verschwand kurz aus ihrem Gesicht. »Er ist auf Geschäftsreise, lässt dich aber herzlich grüßen.«
Ich zeigte ihr Pauls Zimmer, in dem sie übernachten würde, drückte ihr ein Glas Wein in die Hand und flitzte in die Küche, um nach den Ofenkartoffeln zu sehen.
Ivan und Paul trafen gemeinsam zu Hause ein, ihrer aufgekratzten Stimmung nach hatten sie schon »vorgeglüht«, wie Pauls Freunde das Trinken vor der eigentlichen Party zu nennen pflegten.
»Wo kommt ihr denn her?«, fragte ich lächelnd.
»Papa hat mir geholfen, Regale anzuschrauben«, gab Paul zurück und umarmte mich. »Happy Birthday, Mom.«
Ich spürte einen Stich. Mich hatte er noch nicht in sein neues WG-Zimmer eingeladen. Mir fiel es immer noch schwer zu akzeptieren, dass er ausgezogen war. Natürlich wusste ich, dass man einen Achtzehnjährigen nicht davon abhalten durfte, selbständig zu werden, aber im Grunde hatte ich mir gewünscht, er würde einfach bei uns bleiben. Deshalb hatte ich mich auch geweigert, Miete für ein Zimmer zu bezahlen - schließlich war unsere Wohnung groß genug. Leider verdiente Paul inzwischen durch die Auftritte mit seiner Band genügend, sich das Zimmer selbst leisten zu können.
Ivan, der meinen Blick bemerkt hatte, legte den Arm um mich. »Sei nicht traurig. Er will erst alles schön machen und es dir dann vorführen.« Ich lehnte kurz den Kopf an seine Schulter. »So lange war ich das Wichtigste in seinem Leben. Und dann steht er eines Tages einfach auf und verlässt mich.«
Ivan verzog das Gesicht. »Er hat dich doch nicht verlassen! Sei froh, dass er kein neurotisches Muttersöhnchen geworden ist.«
Sofort fühlte ich mich angegriffen. »Klar, bei dieser Mutter muss man ja dankbar sein, wenn das Kind nicht verkorkst ist!«
Einer unserer ständigen Konflikte war, dass ich Paul angeblich mit meiner übergroßen Fürsorge und meinen Ängsten erdrückte. In manchen Momenten sah ich es ein, meist aber kränkte mich dieser Vorwurf zutiefst. Ivan und ich stritten oft darüber. Heute ließ mein Mann sich auf keinen Streit ein. Er küsste mich auf die Wange und ging weg.
Warum begriff er nicht, wie wichtig dieses Kind für mich war? Früher war ich eine totale Egozentrikerin gewesen, oberflächlich, auf mein Vergnügen bedacht, ohne viel Verantwortungsgefühl. Als Paul geboren wurde, veränderte sich alles. Ich, die Mütter immer grässlich gefunden und Babys für lästige Quälgeister gehalten hatte, die einen davon abhielten, auszugehen und Spaß zu haben, wollte plötzlich die beste Mutter der Welt sein. Ich wollte diesem Kind geben, so viel ich konnte. Und obwohl ich wusste, dass es blödsinnig war, erwartete ich so etwas wie ... Dankbarkeit?
Eigentlich waren Ivan und ich als Eltern ein gutes Team. Wir ergänzten uns, jeder glich die Schwächen des anderen aus. Nur bei den Sorgen lag ich weit vorn, ich war ganz groß darin, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen, wenn Paul krank war oder eine halbe Stunde länger wegblieb als ausgemacht. Dabei hätte eigentlich Ivan der Ängstlichere sein müssen. Mit seiner ersten Frau Katja hatte er einen Sohn gehabt, der mit fünf Jahren gestorben war.
Als Paul fünf geworden war, hatte er bemerkt, dass es ein Nachteil war, ungetauft zu sein. Er bekam weniger Geschenke als andere Kinder. Eines Tages sagte er: »Ich wünsche mir eine Patentante.« Wir fragten überrascht, wen er sich vorstelle, und er sagte, ohne zu zögern: »Katja.«
Ivan und ich überlegten lange, ob wir sie fragen sollten. Schließlich wagten wir es, und sie hatte voller Rührung zugestimmt. Noch heute hatte Paul eine enge Beziehung zu ihr.
Natürlich hatte ich Katja auch heute eingeladen. Als ich beim nächsten Klingeln die Tür öffnete, stand sie vor mir, blond, schlank und schön wie die italienische Schauspielerin Greta Scacchi, an die sie mich vom ersten Moment an erinnert hatte. Als Mann würde ich vor ihr auf den Knien liegen.
Trotz der schwierigen Umstände war Katja meine Freundin geworden. Anfangs hatte ich befürchtet, sie könnte mir Ivan wieder wegnehmen, aber bald hatte ich begriffen, dass von ihr keine Gefahr ausging. In langen Gesprächen waren wir uns nähergekommen. Ich bewunderte sie dafür, wie sie mit dem Verlust ihres einzigen Kindes fertiggeworden war. Und damit, dass Ivan einen weiteren Sohn bekommen hatte - mit mir. Nie hatte sie mir das Gefühl gegeben, ich müsste mich deshalb schlecht fühlen.
Sie drückte mich an sich. »Ich wünsche dir alles Schöne und Gute«, sagte sie. »Du hast es verdient. Unsere Freundschaft ist ein großes Geschenk für mich, das wollte ich dir immer schon mal sagen.« Sie küsste mich auf die Wange.
»Bring mich bloß nicht zum Heulen!«, befahl ich, und wir lachten. Ich versorgte auch sie mit einem Getränk, und sie ging zu den anderen ins Wohnzimmer. Dann wollte ich in die Küche, um die Vorspeisen zu holen. Es klingelte wieder. Ich kehrte um. Wer konnte das sein, wir waren doch komplett?
Ich öffnete und traute meinen Augen nicht. Obwohl ich ihn viele Jahre nicht gesehen hatte, erkannte ich ihn sofort. Vor mir stand ein unverschämt gut aussehender Typ mit kastanienbraunen Augen. Tim Knopf, natürlich »Jim Knopf« genannt. Vor zwanzig Jahren, ungefähr zu der Zeit, als ich Ivan kennengelernt hatte, war er mein Lover gewesen. Nie hatte ich besseren Sex gehabt.
»Jim ... äh ... Tim«, stotterte ich. »Was ... was machst du denn hier?«
Er grinste mich an, mit diesem fröhlichen Jungengrinsen, das ich schon damals unwiderstehlich gefunden hatte. »Ich bin deine Geburtstagsüberraschung! Darf ich reinkommen?«
»Aber ... ich verstehe nicht ...«
In diesem Moment kam Uli aus dem Wohnzimmer geschossen. »Ah, Tim, da bist du ja!« Sie strahlte mich an. »Na, was sagst du? Wir haben uns neulich zufällig getroffen, und da hatte ich die Idee, ihn für heute Abend einzuladen. Ich wusste, dass du dich freust!«
Das wusste ich zwar noch nicht, aber ich hatte ja ohnehin keine Wahl. Also küsste ich meinen ehemaligen Liebhaber auf beide Wangen und sagte: »Na klar freue ich mich. Wie geht's dir? Komm doch rein!«
Zu dritt gingen wir ins Wohnzimmer, und ich stellte den anderen meinen Überraschungsgast vor: »Das ist Jim, äh, ich meine Tim, wir kennen uns schon ewig ... haben mal zusammen gearbeitet ... und jetzt ist er hier.«
Es gab ein großes Hallo, denn Hella, Arne und Thomas kannten Tim von früher. Natürlich wussten alle, dass wir was miteinander gehabt hatten, und so mischte sich ein leicht hysterischer Unterton in die allgemeine Wiedersehensfreude. Ich spürte Ivans fragenden Blick auf mir und lächelte ihm beruhigend zu.
Nach der Vorspeise wurde Paul nervös und fing an, auf seinem Handy herumzutippen.
»Was ist los? Hast du noch was vor?«
Zerstreut sah er mich an. »Nein, alles klar.«
Zehn Minuten später klingelte es, er sprang auf und ging hinaus. Gleich darauf kehrte er mit zwei Freunden zurück. Der eine trug eine kleine Trommel, der andere ein Saxofon, Paul hielt seine Gitarre in der Hand. Die beiden Jungs gratulierten mir und grüßten in die Runde.
»Was habt ihr denn vor?«, fragte ich überrascht.
Statt zu antworten, stellten sie sich auf und begannen zu spielen. Es war eine Walzermelodie, die mir bekannt vorkam. Paul gab den Leadsänger:
Bist du mal achtzig und verwittert,
verlebt, vertrocknet und verbittert,
dann freu dich: Endlich hast du Ruh'
vor deinen Trieben, schubidu!
Das gab's doch nicht! Das hatten Rudi und die Drei Tournedos auf meinem dreißigsten Geburtstag gespielt! Es gab eine Videoaufnahme davon, die musste Paul gefunden haben. Schon ging es weiter:
Aber noch bist du jung und knackig,
noch voll dabei und ganz schön zackig,
deshalb freu dich mal nicht zu früh:
noch ist der Trieb da, schubidü!
Der Text wurde mit jeder Strophe unanständiger, und meine Gäste amüsierten sich königlich. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits war ich gerührt, andererseits war mir die Darbietung ein bisschen peinlich.
Jim lächelte mir aus der anderen Ecke des Zimmers ungeniert zu. Ich fühlte, wie ich rot wurde, und drehte mich schnell weg. Verdammt. Ich war fünfzig, nicht fünfzehn. Warum konnte der Typ mich zum Erröten bringen?
Als die Darbietung vorbei war, wurden die Musiker mit begeistertem Applaus gefeiert. Ich umarmte Pauls Freunde und bedankte mich bei ihnen für die Überraschung.
Meinem Sohn flüsterte ich ins Ohr: »Und du wirst enterbt!«
Er grinste mich nur frech an.
ZWEI
Der Abend wurde genau so, wie ich ihn mir erträumt hatte. Mit wohligem Gefühl saß ich zwischen meinen Freunden, die nicht müde wurden, mein gutes Aussehen und mein fantastisches Essen zu loben. Wir schwelgten in Erinnerungen und überraschten uns gegenseitig mit immer neuen Anekdoten, die alle mit »Wisst ihr noch« oder »Könnt ihr euch eigentlich noch erinnern« begannen. Wir lachten uns kaputt, und zwischendurch zerdrückte ich heimlich ein paar Tränen der Rührung. »Wisst ihr noch, als Hella plötzlich weg war?«, fragte Arne.
»Da war ich sauer auf Cora«, sagte Hella. »Die meinte, ich solle nicht so viele Schokoriegel essen, weil die für die PR-Aktionen gebraucht würden.«
»Das war eine Ausrede«, kicherte Arne. »Sie wollte nicht, dass du fett wirst!«
»Noch fetter, meinst du wohl«, gab Hella grinsend zurück. »Viel schlimmer fand ich, dass Hella mit meinem wichtigsten Kunden durchgebrannt ist!«, schaltete ich mich ein. »Weißt du noch, was du bei meiner Party zu Hennemann gesagt hast? ›Sie sind genau wie Ihre Kinderpralinen: total süß.‹ Ich wollte dir den Hals umdrehen.«
Alle prusteten los, Hella errötete. »So kann man sich irren.«
»Ach komm«, sagte ich. »Mit Herbert hast du doch einen tollen Fang gemacht!«
Insgeheim hatte ich sie manchmal beneidet, besonders wenn Ansichtskarten aus Mexiko, Thailand oder von den Malediven eintrafen, wo Hella mit Mann und Kindern sorglose Ferien verlebte. Geld spielte offenbar keine Rolle, Hennemann war wohlhabend und konnte - obwohl Schwabe - durchaus großzügig sein. Natürlich hätte ich trotzdem nicht mit Hella tauschen wollen, ihr Mann war das, was die Schwaben einen Gschaftlhuber nannten - er hätte mir den letzten Nerv geraubt. Aber Hella hatte ihn unbedingt haben wollen.
Arne verdrehte die Augen. »Ach Gottchen, die Schokoriegel! Wir standen auf Schulhöfen herum und sollten die Kinder dazu bringen, Fragebögen auszufüllen. Die haben uns einfach die Riegel geklaut und sind abgehauen.«
»Das war die Idee von Macke, diesem Idioten«, ergänzte ich. »Aber dem haben wir's gezeigt!«
Macke war unser schärfster Konkurrent gewesen, mit dem wir auf Wunsch von Hennemann eine Zeit lang zusammen arbeiten mussten. Er hatte die Angewohnheit, seine Mitarbeiterinnen zu betatschen. Eines Tages hatte ich ihn mithilfe zweier junger Frauen, bei denen er es probiert hatte, fürchterlich blamiert. Mit einem gut gespielten Verführungsversuch hatte ich es geschafft, ihn in der Garderobe eines marokkanischen Restaurants halb zu entkleiden. Dann hatten meine Helferinnen einen Vorhang beiseitegezogen - und Jens Macke stand mit heruntergelassener Hose da. Wenn ich heute daran dachte, schämte ich mich ein bisschen für diesen kindischen Streich. Obwohl er es verdient hatte.
»Hab ich zu der Zeit nicht bei dir gewohnt?«, fragte Uli, und ich nickte. Nachdem ihr Freund sie mit irgendeinem Busen- wunder betrogen hatte, war sie Knall auf Fall bei mir eingezogen. Und bis nach der Geburt ihrer Tochter geblieben.
»Ich hab noch das erste Ultraschallbild von Clara!«, sagte ich und sprang auf.
»Du warst sogar mit mir in der Schwangerschaftsgymnastik«, erinnerte sich Uli, als ich zurückkam.
»Stimmt, da haben wir alle zusammen in die Gebärmutter geatmet. Mit den Männern!« Ich reichte ihr die Ultraschallaufnahme, die schon ganz vergilbt war. Gerührt betrachtete Uli die grauen Umrisse. »Schaut nur, man kann Clara schon erkennen!« Sie zeigte das Bild herum, und schon drehte sich das Gespräch um die Kinder, die so schnell groß geworden waren.
Es klingelte wieder. Ich sah auf die Uhr: genau zehn, wie vereinbart. Ich öffnete und führte einen Mann ins Wohnzimmer.
»Liebe Freunde!«, sagte ich. »Ihr habt mir mit eurem Kommen und euren Geschenken so viel Freude gemacht, deshalb möchte ich euch jetzt auch etwas schenken. Das ist Juan, der beste Tangogitarrist Münchens!«
»Deutschlands«, korrigierte Juan. »Oder vielleicht sollten wir einfach sagen: außerhalb von Argentinien.« Er grinste.
Alle lachten und klatschten. »Na, dann los!«, rief Hella.
Juan begann mit einer Intensität zu spielen, die fast körperlich zu spüren war und alle in den Bann zog. Besonders Paul schien ganz gefesselt zu sein und beobachtete jeden Handgriff des Musikers. Ivan lächelte mir kurz zu.
Als das Lied vorbei war, sah Juan auf, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Dann löste sich die Anspannung in seinem Gesicht, und er grinste wieder.
Als er weiterspielte, nahm Paul seine Gitarre und warf ihm einen fragenden Blick zu. Juan lächelte, die beiden tauschten ein paar Worte auf spanisch - Paul hatte die Sprache seit der fünften Klasse in der Schule gelernt. Dann zupfte er behutsam einige Töne und stieg auf die Melodie ein, die Juan vorgegeben hatte. Nach wenigen Sekunden klang das Spiel der beiden so harmonisch, als würden sie sich schon länger kennen. Nach dem Stück applaudierten alle begeistert. Juan reichte Paul die Hand und sagte anerkennend: »Sehr gut! Du bist begabt für Tango!«
Paul errötete vor Stolz.
Die dritte Nummer war schneller und mit Gesang, und im nächsten Moment hatte Thomas seine Uli gepackt und schob sie über unseren Parkettboden. Die beiden hatten vor Jahren einen Tangokurs gemacht. Sie waren gut, und so galt der Beifall am Ende des Stückes nicht nur dem Gitarristen, sondern auch den beiden Tänzern.
Ich hätte damals auch gern Tango tanzen gelernt, aber Ivan hatte auf diesen »folkloristischen Volkshochschulmist« keine Lust gehabt. Ich hatte dann allein ein paar Stunden genommen, aber ohne festen Partner machte es nicht so viel Spaß, deshalb hatte ich es wieder aufgegeben.
Beim nächsten Lied forderte Thomas mich auf. Ich zierte mich ein bisschen, dann gab ich nach. Ich war lange nicht so gut wie Uli, aber besser, als ich gedacht hatte. Meine Gäste johlten alle. Plötzlich stand Tim vor mir und bat mich um den Tanz.
»Du kannst Tango?«, fragte ich überrascht.
Er lächelte. »Ich hoffe es.«
Wir nahmen die Ausgangsposition ein. Die Musik begann.
Ich spürte seine Wärme, roch die Mischung aus Haut, Eau de Toilette und seinem frisch gewaschenen Hemd. Es fühlte sich an, als explodierte etwas in meinem Kopf, meine Synapsen tanzten auch Tango, und alles in mir erinnerte sich plötzlich an seinen Geruch, seinen Körper, seinen Sex. Ich fühlte mich schwindelig, aber Tim führte mich energisch, und so musste ich mich einfach nur fallen lassen. Ich hatte das Gefühl, von allen beobachtet zu werden, und spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Als das Stück vorbei war, lächelte ich ihm zu und setzte mich schnell wieder hin.
Nach seinem Auftritt nahm Juan die Ovationen meiner Gäste entgegen. Ich begleitete ihn zur Tür und drückte ihm die vereinbarten hundertfünfzig Euro in die Hand. »Danke, das war wirklich toll!«
Er küsste mich nach argentinischer Art, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten, und wünschte mir zum Abschied feliz cumple.
Ich ging in die Küche, um weiteren Wein zu holen. Tim kam aus der Gästetoilette, an der Küchentür stießen wir fast zusammen.
»Tolle Musik, was?«, sagte ich und ging an ihm vorbei. Er folgte mir bis zum Kühlschrank, wo er sich mir in den Weg stellte.
»Du siehst übrigens immer noch super aus, Cora.«
Ich lächelte. »Danke, Tim. Du übrigens auch.«
Er stand vor mir und sah mich unverwandt an. »Ich würde gern öfter mit dir tanzen!«
Ich lachte verlegen. »Geh mal aus dem Weg!«
Er bewegte sich keinen Millimeter, sah mich nur an. Schlagartig war dieselbe erotische Spannung zwischen uns, die ich von früher kannte. Ich sah sein vertrautes Gesicht vor mir, die braunen Augen, in denen ein Funke tanzte, das leicht spöttische Lächeln, seine fast mädchenhaft geschwungenen Lippen - und auf einmal konnte ich nicht anders: Ich schloss die Augen, beugte mich vor und küsste ihn auf den Mund.
Im nächsten Moment wich ich zurück. »Entschuldige«, murmelte ich verlegen. »Ich weiß auch nicht ... Tut mir leid.« Ich schob mich an ihm vorbei und öffnete den Kühlschrank. Himmel, was war bloß in mich gefahren? Ich musste ja völlig betrunken sein.
Als ich mich umdrehte, stand Tim immer noch da. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Ivan, der an der Küchentür lehnte und zu uns herübersah. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut Tango tanzen kannst!«, sagte er.
»Ich auch nicht«, erwiderte ich und ging mit einer Flasche Weißwein in der Hand auf ihn zu. Wie lange hatte er da schon gestanden?
Tim war mir gefolgt und blieb jetzt vor Ivan stehen. »Ich muss gehen«, sagte er, reichte ihm die Hand und küsste mich auf die Wangen.
»War schön, dich zu sehen, und danke für die Überraschung«, sagte ich so förmlich wie möglich und sah ihm nach, als er die Wohnung verließ.
Dann drehte ich mich zu Ivan.
»Ich hätte lieber mit dir getanzt«, sagte ich lächelnd, »aber du wolltest es ja nicht lernen.«
Ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, aber er zeigte keine Regung, dann hakte ich mich bei ihm ein, er ließ es zu. Gemeinsam kehrten wir ins Wohnzimmer zurück.
Dort war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Hella und Arne lagen sich kreischend in den Armen und erzählten sich gegenseitig, von Lachanfällen unterbrochen, dieselbe Anekdote, die sie offenbar völlig unterschiedlich in Erinnerung hatten.
»Nein!«, protestierte Hella. »Das war doch nicht Herbert! Das war dieser dicke Privatbanker, der ...«
»Das war Herbert! Ganz sicher! Der wollte doch immer, dass alles zeitgeischtig sein sollte. Zeitgeischtig, man stelle sich das vor ...« Arne brach erneut in wieherndes Gelächter aus, während Hubert, Thomas und Katja amüsierte Blicke tauschten.
Ich schwenkte die Flasche. »Wer will noch Wein?«
Mehrere Hände gingen hoch, ich schenkte nach.
Es wurde ein langer Abend. Viel länger, als ich geplant hatte, aber das war mir egal. Schließlich wurde ich nur einmal fünfzig. Um Mitternacht stießen wir an, und meine Gäste sangen »Happy Birthday« für mich. Gleich darauf blickte Paul treuherzig zu mir und fragte: »Mom, ist es okay, wenn ich jetzt abhaue? Ich hab noch 'ne Verabredung.«
Ich wuschelte ihm durch die Haare. »Natürlich ist es okay. Ich fand's so schön, dass du hier warst. Und noch mal danke für das Ständchen!«
Er küsste mich und verabschiedete sich von unseren Gästen. Als er schon an der Tür war, rief ich: »Mit wem bist du denn verabredet? «
Er drehte sich um und warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Uli beugte sich zu mir und sagte tadelnd: »So was fragt man doch nicht! Clara würde mich umbringen!«
»Aber vorher würde sie dir erzählen, mit wem sie sich trifft«, sagte ich. »Paul erzählt nie was.«
»Recht hat er.«
»Pfff.«
Gegen eins brachen Arne und Hubert auf. »Unser Babysitter ist bestimmt sauer«, sagte Arne. »Wir wollten viel früher zu Hause sein.«
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Die freuen sich doch, wenn man länger wegbleibt, dann verdienen sie mehr!«
»Woddu recht hast, hassu recht«, sagte Hubert mit schwerer Zunge. Wir hatten zu neunt zwei Flaschen Champagner, acht Flaschen Wein und eine halbe Flasche Grappa geleert. Fast wie in alten Zeiten ...
Ich umarmte die beiden, bedankte mich für die Rosen und das Geschenk, das ich - wie die anderen Geschenke - am nächsten Tag in Ruhe auspacken wollte.
Wenig später verabschiedeten sich Katja, dann Uli und Thomas. Schließlich verkündete auch die beschwipste Hella, es sei ein großartiger Abend gewesen, aber nun gehe sie schlafen. Sie verschwand in Pauls ehemaligem Zimmer.
Jetzt waren Ivan und ich allein. Wir räumten gemeinsam auf, wie so oft, wenn unsere Gäste nach fröhlichen Abenden gegangen waren. Wir waren ein eingespieltes Team, jeder wusste, was er zu tun hatte. Ich schaltete die Spülmaschine ein, Ivan wischte den Küchenblock ab. Mit einem letzten Grappa landeten wir schließlich am Küchentisch.
»Auf uns, die Liebe und viel gutes Essen!«, sagte ich und prostete ihm zu. »Ich finde es plötzlich gar nicht mehr schlimm, dass ich fünfzig geworden bin.«
»Freut mich«, sagte Ivan trocken. »Du hast mich ja auch nur ein halbes Jahr mit dem Thema in Atem gehalten.«
»Jetzt übertreibst du aber!«
Natürlich hatte ich manchmal darüber gesprochen, was es für mich bedeute, älter zu werden. Ich hatte überlegt, ob ich überhaupt feiern wollte, und wenn ja, in welchem Rahmen. Ich hatte nach einer Party-Location gesucht und keine gefunden. Ich hatte Gästelisten geschrieben und wieder verworfen. Ich hatte Reiseziele gesucht, an die ich mich flüchten wollte. Ich hatte überlegt, das Datum einfach zu ignorieren. Ich hatte Heulanfälle bekommen und vorgegeben, das Ganze gehe mich nichts an. Kurz: Ich hatte mich wie eine Frau verhalten, die demnächst fünfzig wurde. Völlig normal.
»Das ist jetzt vorbei«, verkündete ich großspurig.
»Das Geburtstagsthema, vielleicht. Aber wenn die Erfahrung mich nicht täuscht, bahnt sich schon das nächste Drama an.«
»Was meinst du?«
»Paul. Dass er ausgezogen ist, warum er ausgezogen ist, wie viel Geld er sinnlos für das Zimmer verpulvert, dass er dir fehlt, dass er sich nicht oft genug meldet, dass er dich noch nicht eingeladen hat ...«
»Jetzt hör aber auf!«, unterbrach ich ihn. »Darf ich nicht mehr über meine Gefühle sprechen? Das ist eben schwierig für mich, ich muss es erst verarbeiten.«
»Das Problem ist, du verarbeitest dialogisch.« Ivan schenkte sich Grappa nach.
»Natürlich will ich mit dir über so was reden«, sagte ich empört. »Wozu bin ich denn verheiratet?«
Ivan hob eine Augenbraue. »Da würden mir noch ein paar andere Dinge einfallen, aber okay. Und jetzt muss ich mal mit dir reden.«
Solche Ankündigungen war ich von ihm nicht gewohnt. »Was ist denn los?«, fragte ich alarmiert.
Ivan suchte nach Worten. »Ich habe eine Art ... Überdosis. Von dir, vom Familienleben, von allem. Ich brauche ein bisschen Abstand. Zeit für mich und für meine Arbeit.«
Schlagartig war ich völlig nüchtern. »Aber, warum denn plötzlich? Was hab ich dir getan? Bist du ... sauer wegen Tim?«
Ivan sah mich verblüfft an. »Nein, wieso sollte ich sauer sein?«
»Ich dachte nur«, sagte ich ausweichend. »Was ist es sonst?«
»Nichts Besonderes«, sagte Ivan. »Außer dass es immer nur um dich geht. Was sagt Cora, was will Cora, was schlägt Cora vor, wie fühlt sich Cora, welche Pläne hat Cora ...«
»Das ist nicht wahr!«, rief ich. »Du bist doch die sensible Künstlerseele, auf die wir alle Rücksicht nehmen müssen!«
»Außer wenn es ein Problem mit Paul gibt, die Heizung ausfällt, eine Spinne im Schlafzimmer sitzt, dein Fahrrad einen Platten hat, der Vermieter einen blöden Brief schreibt ... kurz: wenn das Leben die Unverschämtheit besitzt stattzufinden. Dann bin leider immer ich zuständig.«
Ich schwieg beleidigt. Sollte ich ihm mal aufzählen, was ich den ganzen Tag für die Familie tat und wofür ich zuständig war, obwohl ich auch einen Job hatte, der mich forderte? Dann hätten wir innerhalb kürzester Zeit den schönsten Ehestreit, und ich wusste genau, wie der verlaufen würde. Ivan würde mir erklären, dass seine Arbeit Kunst sei und meine nur schnöde Erwerbsarbeit. Ich würde sagen, dass ich meinen Beruf ebenso liebte wie er seinen und wer überhaupt darüber entscheide, ob es wertvoller sei, Leinwände mit Farbe zu bedecken oder Menschen zusammenzubringen. Er würde verächtlich schnauben, und ich würde vor Zorn laut werden. Er würde türenknallend den Raum verlassen, wir würden drei Tage lang nicht miteinander sprechen und drei Wochen keinen Sex haben, worauf er mir vorwerfen würde, dass ich ihn emotional aushungern ließe und mich nicht wundern solle, wenn er mich demnächst betrüge. Ich würde verächtlich schnauben, und er würde vor Zorn ganz leise werden. Irgendwann würden wir dann doch miteinander ins Bett gehen und danach beide das Gefühl haben, es sei alles wieder in Ordnung. Und wenig später würde es von vorn losgehen. Es war unser Ehe-Theater, das wir unzählige Male aufgeführt hatten und dessen Text wir auswendig konnten.
»Also, was schlägst du vor?«, fragte ich und versuchte, meiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben.
»Ich würde gern eine Weile allein sein«, sagte Ivan. »Ich muss eine große Ausstellung vorbereiten, und ich kann mich hier nicht konzentrieren.«
»Aber ich störe dich doch nicht! Und zum Malen gehst du doch sowieso ins Atelier!« Nach unserer Hochzeit hatte Ivan seine Wohnung behalten, er nutzte sie seither zum Arbeiten.
Ivan seufzte. »Es ist schwer zu erklären, Cora. Es geht um eine Konzentration, die nicht jeden Abend abreißt, wenn ich nach Hause komme. Ich würde mich gern für eine Weile völlig in mein Projekt versenken.«
»Dieses Projekt ist aber nicht zufällig weiblich, jung und attraktiv?«, fragte ich misstrauisch.
»Nein, zufällig nicht«, erwiderte er, eher gelangweilt als empört. »Wie kommst du darauf?«
»Ich nehme an, die meisten Ehefrauen würden das denken.«
»Schon möglich, aber ich bin nicht wie die meisten Ehemänner. «
Da musste ich ihm recht geben, tatsächlich erfüllte Ivan viele der üblichen Männerklischees nicht. Er war mit den Jahren nicht unaufmerksam geworden. Es genügte ihm nicht, dass alles irgendwie lief, er hatte Ansprüche an mich und unsere Beziehung. Er suchte die Auseinandersetzung - und er begehrte mich noch. All das waren gute Gründe für mich, mit ihm zusammenbleiben zu wollen, deshalb war ich von seiner Eröffnung alles andere als begeistert.
»Was heißt das jetzt?«, fragte ich. »Willst du ausziehen?«
»Nur für eine Weile, ins Atelier.«
Alles in mir wehrte sich dagegen. Es war schwer genug, dass Paul weg war, da konnte Ivan mich doch nicht allein lassen!
»Ich versteh dich ja, ich kann manchmal ziemlich ... intensiv sein«, sagte ich. »Aber deshalb musst du doch nicht gleich die Flucht ergreifen. Ich verspreche dir, dass ich rücksichtsvoller sein werde!«
»Mach es mir nicht so schwer, Cora!«, sagte er bittend. »Ich habe das letzte halbe Jahr mit dir durchlitten und versucht, dir in deiner Krise beizustehen. Das war wirklich nicht einfach, glaub mir. Jetzt bin ich mal wieder dran.«
Betroffen sah ich vor mich hin. War ich wirklich so eine Nervensäge? Belegte ich Ivan so mit Beschlag, dass er nicht mehr arbeiten konnte? Ich hasste Frauen, die ständig an ihren Männern herumzerrten. So wollte ich nicht sein.
»Okay«, sagte ich. »Dann tu, was du für richtig hältst. Ich werde versuchen, es zu akzeptieren. Und ich hoffe, dass ich dir vertrauen kann.«
Er nahm meine Hand. »Nur Arbeit, keine Weiber«, sagte er mit jungenhaftem Grinsen, stand auf, streckte sich und ging in den Flur. Ich hörte, wie er seine Jacke vom Garderobenständer nahm, folgte ihm und stieß polternd gegen den Tisch mit den Geschenken.
»Pst«, machte Ivan. »Du weckst Hella auf.«
An der Wohnungstür holte ich ihn ein. »Du willst jetzt noch gehen?«
»Dann kann ich gleich morgen loslegen.« Er zog mich an sich und küsste mich auf die Lippen. »Bis bald. Happy birthday, Traumfrau.«
Damit verließ er die Wohnung und ging - leise, um niemanden zu wecken - die Treppe hinunter. Benommen stand ich da und versuchte zu begreifen, was passiert war.
Als ich die Wohnungstür geschlossen hatte, blieb ich einen Moment im Flur stehen. Dann begann ich mechanisch, die Geschenke auszupacken, die vor mir lagen. Ich sah sie an, ohne sie richtig wahrzunehmen, faltete das Geschenkpapier und legte es ordentlich auf einen Stapel. In meinem Kopf rotierten unaufhörlich Ivans Worte. Ich würde gern eine Weile allein sein.
Eine Tür ging, Hella kam aus ihrem Zimmer. »Wieso bist du noch wach? Es ist fast halb drei.«
»Ich hab noch ein bisschen aufgeräumt«, sagte ich gespielt munter. »Und du? Wieso schläfst du nicht?«
Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht.«
»Wollen wir noch was trinken?«, schlug ich vor, und sie folgte mir in die Küche. Ich nahm frisches Mineralwasser aus dem Kühlschrank, schenkte uns beiden ein und sah sie auffordernd an. »Also, was ist los?«
Sie blickte mich stumm an, und zu meinem Erstaunen füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich eingefallen, und mit einem Mal nahm ich auch bei ihr die Spuren des Alters wahr, die ich zuvor nicht gesehen hatte.
»Ist es okay für dich, wenn ich hierbleibe?«, fragte sie.
»Na klar, Pauls Zimmer steht doch eh leer.«
»Ich meine, nicht nur für heute Nacht«, sagte Hella, »sondern ... für länger.«
Ich starrte sie an. »Du meinst ...«
»Ich habe Herbert verlassen.«
»Ach du Scheiße«, rutschte es mir heraus. »Aber ... ihr zwei wart doch immer so glücklich! Ich war mir sicher, du hättest das große Los gezogen!«
»Und ich dachte immer, das hättest du gezogen«, sagte Hella mit schiefem Lächeln.
»Na ja, kommt drauf an, welche Lotterie du meinst«, sagte ich. »Bei der Verlosung interessanter Künstlertypen habe ich Glück gehabt. Aber als die Jungs mit Kohle dran waren, habe ich leider eine Niete gezogen.«
»Als würde das heute noch eine Rolle spielen«, sagte Hella wegwerfend. »Ich hätte lieber mein eigenes Geld verdient. Aber Herbert wollte das nicht. ›Meine Frau muss nicht arbeiten‹, hat er immer gesagt.«
Ich kicherte ungläubig. Den Spruch hatte ich zuletzt in einem Film aus den Fünfzigerjahren gehört. So was sagte doch heute niemand mehr.
»Du lachst«, sagte Hella vorwurfsvoll. »Aber Herbert denkt wirklich so. Meine Ideen hat er schon gerne angenommen, aber nur für sein eigenes Unternehmen. Er hat es kategorisch abgelehnt, dass ich für jemand anderes arbeite. Jetzt, wo die Zwillinge groß sind, wollte ich endlich wieder loslegen, unter Leute kommen, was Sinnvolles tun. Aber Herbert will sich demnächst zur Ruhe setzen und nur noch ›das Leben genießen‹, wie er es nennt.«
»Und was versteht er darunter?«
»Golf spielen, Reisen, auf Kreuzfahrtschiffen und in teuren Hotels rumhängen, edel essen und trinken.«
»Was soll daran schlecht sein?«, fragte ich. »Das könnte ich mir auch vorstellen.«
Jetzt war es Hella, die lachte. »Dann nimm du ihn doch! Ich will so nicht leben. Bei der schieren Vorstellung packt mich das Grauen.«
Sie beschrieb mir, wie sie in den Jahren ihrer Ehe versucht hatte, die Frau zu werden, die ihr Mann sich wünschte. Eine Partnerin, die ihm »den Rücken frei hält« und »ein Haus führt«, obwohl sie für häusliche Tätigkeiten alles andere als begabt war.
Die - trotz gegenteiliger Überzeugung - akzeptierte, dass in seiner Welt Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben hatten und es nur zu Problemen führte, diese Rollenverteilung infrage zu stellen.
»Besonders schlimm war es an meinen Geburtstagen«, erzählte Hella. »Da hat er jedes Mal eine Rede auf mich gehalten. ›Was wäre ich bloß ohne dich, Hella? Du bist immer für mich da. Du ermöglichst mir, erfolgreich mein Unternehmen zu führen. Du machst mich zu dem, der ich bin! Danke für alles, ich liebe dich.‹ Und dann hat er immer vor Rührung über sich selbst geweint.«
Ich hielt mühsam das Lachen zurück.
»Noch schlimmer waren die Auftritte der Kinder«, fuhr Hella fort, die sich in Fahrt geredet hatte. »Sie sind beide völlig unmusikalisch, Herbert bestand aber darauf, dass sie Geige und Querflöte lernen. Also haben sie ihre Instrumente gequält, bis die Gäste kurz vor dem Weglaufen waren. Und dann haben sie ihr auswendig gelerntes Sprüchlein aufgesagt: ›Danke-für alles- was-du-für-uns-tust-du-bist-die-allerbeste-Mami-von der- Welt!‹« Sie stöhnte. »Wenn ich das noch ein Mal hören muss, begehe ich einen Mord!«
Wie gut ich sie verstand! Auch ich verabscheute diese verlogenen Inszenierungen bei Familienfesten, die so wirkten, als wären sie einem Werbespot für Frühstücksflocken nachempfunden. Zum Glück kannte ich nur wenige Familien, in denen sie stattfanden.
Hella erzählte, wie sie gelernt hatte, schwäbische Hausmannskost zu kochen und die Geschäftspartner ihres Mannes mit selbst gemachten Maultaschen und Schupfnudeln zu verköstigten. Wie sie Spielnachmittage mit Kaffeetrinken für die Mütter und Kinder der Nachbarschaft organisiert hatte, bei denen sie aus Langeweile die Hosenbeine der Krabbelkinder zusammengeknotet und aus der Entfernung schadenfroh zugesehen hatte, wie deren größere Geschwister dafür ausgeschimpft wurden. Kurz: wie sie immer mehr zu einer jener desperate housewives geworden war, deren aufregendstes Erlebnis der tägliche Klatsch mit anderen Hausfrauen war, bei dem es darum ging, herauszufinden, wer noch frustrierter war als man selbst.
Sie griff nach meiner Hand. »Weißt du, Cora, ich hab es wirklich versucht! Ich dachte, wenn man jemanden liebt, dann muss man Kompromisse machen. Und Herbert ist ein lieber Kerl, er ist halt nur schrecklich konservativ. Aber am Ende wusste ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin.«
Sie schniefte und wischte sich die Augen.
»Dann wurde ich krank«, fuhr sie fort. »Magengeschwür, der Klassiker. Hatte wohl zu viel in mich reingefressen. Da hab ich die Notbremse gezogen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich hab ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. ›Jetzt musst du mir mal zuhören‹, hab ich gesagt. ›Ich will wieder arbeiten, ich will nie wieder einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff setzen, ich will Sprachen lernen, ich will was vom kulturellen Leben außerhalb unseres schwäbischen Kaffs mitkriegen.‹«
»Und? Wie hat er reagiert?«
Bei der Erinnerung daran schüttelte Hella den Kopf. »Er hat gar nicht verstanden, wovon ich spreche! ›Du hasch doch alles‹, hat er immer wieder gesagt. ›Ich tu doch alles für dich! Wieso bisch denn so unzufrieden?‹«
So sei es eine ganze Weile hin und her gegangen. Sie habe immer wieder versucht, ihm begreiflich zu machen, was ihr fehle, aber es habe nichts genutzt. Sie habe vorgeschlagen, eine Therapie zu machen oder zur Eheberatung zu gehen, aber das habe er vehement abgelehnt.
»Was sollet denn die Leut denka?«, habe er gepoltert. »I brauch koin Seelaklempner, i bin doch net verrückt!«
Sie stand auf und ging in der Küche auf und ab. Ich folgte ihr mit den Blicken.
Schließlich blieb sie stehen. »Und dann habe ich begriffen, dass es vorbei ist und ich mir ein eigenes Leben aufbauen muss. Weil ich sonst ... kaputtgehe.« Bei diesen Worten begann sie erneut zu weinen. Ich reichte ihr die Küchenrolle.
Sieh mal einer an. Ich hätte mein (zugegeben geringes) Vermögen darauf verwettet, dass Hella mit ihrem Rundum-sorglos- Paket Herbert Hennemann zufrieden war. Aber auch auf Ivan und mich hätten wohl die meisten Leute Wetten abgeschlossen.
Ich nahm sie in den Arm. »Klar kannst du erst mal hierbleiben. Da trifft es sich ja gut, dass nach Paul auch Ivan gerade ausgezogen ist.«
»Waaas?« Hella hob den Kopf und blickte mich ungläubig an.
»Er meint, ein bisschen Abstand und Zeit zum Arbeiten zu brauchen«, erklärte ich.
»Aber, dann kommt er bald zurück?«
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hoffe.«
»Vielleicht war er sauer wegen Tim«, überlegte Hella laut. »Der hat dich ja ganz schön angemacht.«
»Ivan ist nicht eifersüchtig«, sagte ich. »Leider.«
»Wahrscheinlich zeigt er es dir bloß nicht.«
Tatsächlich hatte ich bis heute nicht herausgefunden, ob Ivan so cool war, wie er tat. In zwanzig Jahren hatte er sich jedenfalls nicht die Blöße gegeben, jemals Eifersucht zu zeigen.
»Ist Herbert denn eifersüchtig?«, fragte ich.
Hella lachte spöttisch auf. »Herbert kommt nicht mal auf den Gedanken, dass mir jemand anderes besser gefallen könnte. Deshalb versteht er auch nicht, dass ich gegangen bin. Er denkt, ich kriege mich schon wieder ein und komme bald zurück.«
»So wie Ivan?«
»Ivan kommt zurück«, sagte Hella. »Ich nicht.«
Plötzlich wurde mir die Absurdität der Situation bewusst. Mein Mann war weg, mein Sohn war weg, und Hella und ich waren im Begriff, eine WG vorklimakterischer Exehefrauen in spe zu gründen. Das war doch mal ein gelungener fünfzigster Geburtstag!
»Ich glaube, ich brauche jetzt doch einen Grappa«, sagte ich seufzend und holte die Flasche.
»Ich auch«, sagte Hella. »Einen doppelten.«
Wir stießen an.
»Auf ein Neues«, sagte Hella. Sie ließ offen, ob sie damit ein neues Leben, ein neues Lebensjahr oder nur den Auftakt zu einem weiteren Trinkgelage meinte.
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Ich hatte meine engsten Freunde eingeladen und den ganzen Tag gekocht, freute mich auf einen gemütlichen Abend mit gutem Essen und reichlich Alkohol. Ivan hatte versprochen, pünktlich aus dem Atelier zurück zu sein, und sogar Paul, unser achtzehnjähriger Sohn, der vor Kurzem ausgezogen war, hatte gnädig sein Kommen angekündigt.
Ich stand im Bad und versuchte, mich dem Anlass entsprechend zu stylen. Beim Blick in den Spiegel verspürte ich einen kurzen Anfall von Mutlosigkeit. Ich hätte meinen Haaransatz nachfärben sollen, das Grau wurde immer stärker. Seit wann hatte ich solche Tränensäcke? Diese Falten über den Augenbrauen? Und hängende Lider? Bei Charlotte Rampling hieß das Schlafzimmerblick. Bei mir war es nur eine Hauterschlaffung, die mich müde und angestrengt aussehen ließ.
Plötzlich hatte ich eine seltsame Wahrnehmung. Wie im Zeitraffer veränderte sich mein Gesicht, und ich sah mich am Abend meines dreißigsten Geburtstages. Damals hatte ich genau so vor dem Spiegel gestanden und mich selbstkritisch begutachtet - allerdings war ich da jung und schön gewesen. Zweihundert Leute hatten in einer aufwendig dekorierten Fabrikhalle gewartet, um mit mir zu feiern - und ich wollte das Fest schwänzen, um zu meiner großen Liebe nach Rom abzuhauen. Nur weil ich keinen Platz im Flugzeug bekommen hatte, war ich doch noch bei meiner eigenen Geburtstagsparty erschienen.
Und was für eine Party das gewesen war! Wehmütig dachte ich an die Videoskulptur, die roten Samtvorhänge, die Fackeln, den Auftritt des New Yorker Rappers und die Musikeinlage der Drei Tournedos zurück. Der Abend hatte mich ein Vermögen gekostet, aber als erfolgreiche PR-Frau mit eigener Firma hatte ich mir das damals leisten können.
Sollte ich es diesmal tun? Einfach zum Flughafen fahren und nachsehen, wohin das nächste Flugzeug ging? Meinen Gästen würde ich eine Nachricht hinterlassen: »Ich bin dann mal weg, macht euch keine Sorgen!« Und dann würde ich allein in ... ja, wo? Ich hatte keine Ahnung, wohin heute Abend noch Flüge gehen würden. Istanbul, Kopenhagen, Warschau? An irgendeinem dieser Orte würde ich allein in meinen fünfzigsten Geburtstag hineinfeiern und mich super spontan und jugendlich fühlen. Ich würde durch die Straßen einer fremden Stadt schlendern, allein in einem Restaurant sitzen, interessierte Blicke der Kellner ernten, mich an der Hotelbar von furchtbar lustigen Vertretertypen anbaggern lassen und irgendwann betrunken ins Bett fallen.
Ernüchtert gab ich den Plan auf. Dann lieber im Kreis meiner Lieben, die sicher eine Menge Sprüche à la »Das Leben geht weiter «, »Besser fünfzig werden als nicht fünfzig werden«, »Du siehst keinen Tag älter aus als neunundvierzigeinhalb« und dergleichen mehr auf Lager haben würden. Was sollte schon schlimm daran sein, fünfzig zu werden? Die Alternative wäre gewesen, jung zu sterben, aber die Chance hatte ich verpasst. Wir selbst waren es doch, die in einem Datum unbedingt etwas Besonderes sehen oder ihm eine symbolhafte Bedeutung geben wollten. Sonst war so ein fünfzigster Geburtstag doch nur »ein Furz im Universum«, wie meine Tante Elsie gesagt hätte, Gott hab sie selig.
Tante Elsie war meine Familie gewesen, bei ihr war ich aufgewachsen, nachdem meine Eltern sich getrennt hatten und mein Vater verschwunden war. Er hatte nicht gewusst, dass er nicht mein richtiger Vater war, und diese Kränkung nie verwunden. Mein leiblicher Vater war Spanier, meine Mutter und er hatten nur eine Affäre gehabt, und ich war zu klein gewesen, um mich an ihn erinnern zu können. Tante Elsie hatte mich über die Zeit hinweggerettet, in der meine Mutter krank geworden und gestorben war, und vielleicht hatte ich sie über den Verlust ihres Sohnes hinweggerettet, der aus Liebeskummer gegen einen Baum gefahren war. Seit ihrem Tod hatte ich außer Ivan und Paul keine Familie mehr. Meine Freunde waren meine Familie geworden.
Die junge Cora im Spiegel war verschwunden, ich war wieder die alte.
Ich versuchte mittels einer raffinierten Drehung aus einer Handvoll schwarz-grauer Haarsträhnen eine lässige Hochfrisur zu zaubern.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. »Alte, du siehst zum Kotzen aus.«
Überrascht sah ich mich um. Dann begriff ich. Sie war wieder da. Meine innere Stimme, meine »bessere Hälfte«, die mich vor zwanzig Jahren verlassen hatte.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich überrascht.
»Ich glaube, du brauchst mich wieder.«
»Ich, wieso? Ich bin die letzten Jahre bestens ohne dich zurechtgekommen. «
»Findest du?« Die Stimme klang spöttisch. »Schau dich doch mal an. Dein Sohn ist von zu Hause abgehauen, so schnell er konnte, deine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie mal war, du haderst mit dem Älterwerden und spielst mit dem Gedanken an Botox und Faltenunterspritzung - wenn du mich fragst, hast du eine satte Midlife-Crisis.«
»Ich frage dich aber nicht«, knurrte ich. »Und jetzt verpiss dich!«
Sie lachte spöttisch. »Hey, Traumfrau, sei nicht so empfindlich! «
Ich warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Traumfrau mit Lackschäden wäre wohl passender.
Ich ging ins Schlafzimmer und vermied den Blick in den Ganzkörperspiegel. Seit Kurzem konnte ich einen Teil meiner Hinterbacken sehen, ohne mich umzudrehen. Dafür brauchte ich keine Gürtel mehr, mein Rettungsring würde jeden Hosenbund festhalten. Und unter meinen Busen könnte ich nicht nur einen Bleistift, sondern den Inhalt eines kompletten Federmäppchens klemmen, ohne dass etwas runterfallen würde.
Ich zog ein schwarzes Kleid an, das mit etwas gutem Willen als festlich-elegant durchgehen könnte, band mein Haar im Nacken zusammen und legte imposante Ohrringe an. Die würden vom Rest ablenken. Ich blickte auf die Uhr. Schon kurz vor sieben. Um halb acht sollten meine Gäste kommen.
Auch so eine Alterserscheinung, dachte ich. Die Fete zu meinem Dreißigsten hatte erst um neun begonnen, dafür aber bis fünf Uhr morgens gedauert. Heute war ich froh, wenn Einladungen früh begannen, damit ich möglichst um Mitternacht im Bett sein konnte. Wurde es später, konnte ich nicht mehr schlafen.
Ich ging in die Küche und kontrollierte die Töpfe. In einem schmorte ein Ossobuco, im nächsten Ratatouille. Ich schaltete den Ofen ein, damit die Kartoffeln rechtzeitig fertig und schön goldbraun werden konnten, bereitete Vorspeisenplatten mit Avocado, Shrimps, Serranoschinken und Tomaten mit Mozzarella vor, schnitt knuspriges Baguette in Scheiben und kippte das Balsamicodressing über den vorbereiteten Salat. Im Kühlschrank schlummerten eine Zitronencreme und eine Mousse au Chocolat, garniert mit exotischen Früchten. Der Weißwein war kalt gestellt, den Rotwein hatte ich bereits geöffnet, damit er atmen konnte. Zur Sicherheit hatte ich auch Champagner aufs Eis gelegt, obwohl ich wusste, dass die meisten ihn nicht mehr mochten oder vertrugen. Champagner war was Tolles gewesen, als wir jung waren und ihn uns nicht leisten konnten. Heute tranken die meisten meiner Freunde lieber Wein. Auf jeden Fall tranken wir alle deutlich weniger. Mit Grausen dachte ich an die Zeit zurück, als ich mehrere Cocktails hintereinander wegkippen und zum Durstlöschen ein, zwei Biere hinterhertrinken konnte. Oft folgte dann noch ein Absacker in Gestalt eines Cognacs oder Calvados. Nach diesem Quantum müsste man mich heute in die Notaufnahme einliefern.
Gab es eigentlich irgendetwas, das mit dem Alter besser wurde?
Sex war es jedenfalls nicht. Ich hatte seltener Lust und kam schwerer in Fahrt. Sex konnte immer noch Spaß machen und mir Befriedigung verschaffen, aber ich spürte auch immer wieder eine Art Ernüchterung. Die Erinnerung an Momente großer Leidenschaft in der Vergangenheit konnte nicht mehr übertroffen werden. Die Gegenwart war immer ein bisschen weniger großartig, weniger befriedigend, irgendwie ... banaler. Wenn es ganz schlecht lief, blickte ich mitten im Liebesakt plötzlich von außen auf die Situation. Der Anblick zweier ineinander verkeilter Leiber, die sich begrapschten, ableckten, besabberten und dabei ekstatisch stöhnten, kam mir dann nur noch lächerlich vor.
Aber ich wollte nicht aufgeben. Mochten andere mit fünfzig das Thema Erotik abhaken, weil sie sich zu alt fühlten - ich fühlte mich nicht zu alt. Oder besser: Ich hatte beschlossen, mich nicht zu alt zu fühlen. Ich legte Wert auf mein Aussehen und kleidete mich so weiblich, wie ich es immer getan hatte. Aber die Blicke der Männer wurden seltener. Es war, als würde ich allmählich unsichtbar werden.
Als ich kürzlich im Aufzug gefahren war, hatte hinter mir ein Mann gestanden. Plötzlich hörte ich ihn murmeln: »Sie haben wunderschönes Haar! Kann ich Ihre Telefonnummer haben?«
Ich war so geschmeichelt gewesen, dass ich sie ihm sofort gegeben hatte. Leider habe ich nie mehr etwas von ihm gehört.
Als ich einer Freundin davon erzählte, sagte sie: »Von hinten Lyzeum, von vorne Museum. Hättest dich halt nicht umdrehen dürfen.«
Zugegeben, ich liebte den Flirt. Trotzdem hatte ich Ivan in zwanzig Jahren nicht ein einziges Mal betrogen. Jedenfalls nicht, wenn man unter Betrug den vollzogenen Geschlechtsakt verstand. Ich gebe zu, hie und da von anderen Männern geträumt zu haben, von der Aufregung und Verwirrung des Verliebtseins, von Begegnungen, die meiner erotischen Fantasie entsprangen oder sie anregten. Aber nie hatte ich diese Fantasien in die Tat umgesetzt.
Schon fünf vor halb acht! Ich öffnete eine Flasche Champagner (ich mochte ihn immer noch), schenkte mir ein Glas ein und kippte es hinunter. Und gleich noch ein zweites. Sofort spürte ich, wie meine Wangen sich röteten und sich in meinem Kopf eine angenehme Leichtigkeit ausbreitete.
Ich warf einen letzten Kontrollblick in den Spiegel vor dem Gästeklo. Eigentlich gar nicht so übel. Für fünfzig.
»Na los, Alte, amüsier dich!«, hörte ich meine innere Stimme. »Wer weiß, wie viel Gelegenheit du noch dazu hast.«
Im letzten Jahr waren zwei Frauen aus unserem Bekanntenkreis an Krebs gestorben - mit noch nicht einmal fünfzig. Aber solche Gedanken wollte ich heute nicht mal in die Nähe meines Bewusstseins kommen lassen. Ich scheuchte sie weg wie schmutzige, verflohte Straßenköter.
Da klingelte es auch schon. Ich riss die Tür auf und blickte in einen riesigen, dunkelroten Rosenstrauß. Dahinter kamen die Köpfe von Arne und Hubert zum Vorschein.
»O mein Gott, ihr seid verrückt!«, stammelte ich.
»Fünfzig Rosen für die ersten fünfzig Jahre«, erklärte Arne lachend. »Lass dich drücken, schöne Frau!«
Beide umarmten und beglückwünschten mich, und schon spürte ich Tränen der Rührung aufsteigen. Das konnte ja was werden, wenn ich schon bei den ersten Gästen heulte!
Arne war vor zwanzig Jahren Mitarbeiter in meiner PR- Agentur gewesen und hatte die Irrungen und Wirrungen dieser Zeit miterlebt. Stoisch hatte er immer zu uns Frauen gehalten, auch wenn wir über die Männer geschimpft hatten. Und das hatten wir ständig getan.
»Ich bin nicht wie andere Männer«, pflegte Arne zu sagen. Als ich ihn mit einem meiner Freunde im Bett erwischte, begriff ich, was er meinte. Kurz danach hatte er Hubert kennengelernt und war mit ihm zusammengeblieben. Vor ein paar Jahren hatten die beiden ihre Partnerschaft eintragen lassen und ein Kind adoptiert. (Das hieß, Hubert musste es allein adoptieren, weil homosexuelle Paare in Deutschland nicht gemeinsam adoptieren durften. Tolle Logik.)
»Kommt rein, ihr Lieben!«
Ich komplimentierte die beiden ins Wohnzimmer und drückte ihnen Gläser in die Hand.
Es klingelte wieder. Meine älteste Freundin Uli und ihr Mann Thomas. Er war es gewesen, mit dem ich Arne im Bett erwischt hatte. In meinem Bett übrigens. Thomas hatte nur mal ausprobieren wollen, ob er auch auf Männer stand.
»Meine Güte! Fünfzig! Was soll ich sagen?« Uli warf theatralisch die Arme um mich.
»Am besten nichts«, sagte ich grinsend. »Du machst es in jedem Fall schlimmer.«
»Alles Gute, meine Süße! Ich hoffe, du bleibst von der obligatorischen mediae-vitalen Crisis verschont.«
»Von was?« Uli hatte ihre Leidenschaft für Fremdwörter und Fachbegriffe nicht verloren.
»Na, die Krise in der Mitte des Lebens.«
»So was kriege ich nicht«, sagte ich.
»Kriegen die nicht eh nur Männer?«, sagte Thomas und umarmte mich. »Alles Gute, Cora!«
Thomas war damals mein »Hintergründler« gewesen, schwer in mich verliebt und allzeit für mich da. In einem schwachen Moment hatte ich ihn erhört - ein großer Fehler. Gute Freunde waren schlechte Liebhaber. Wir hatten es geschafft, unsere Freundschaft zu retten, und bald darauf verliebte er sich in die schwangere Uli, die gerade ihren untreuen Freund verlassen hatte. Clara kam zur Welt, und Thomas erwies sich als perfekter Ersatzvater. Zwei Jahre später bekamen die beiden noch eine gemeinsame Tochter, Laura.
»Was wollt ihr trinken?«
Uli wollte Weißwein, Thomas ein Bier. Sie stellten sich zu Arne und Hubert, während ich schon die Tür für die nächsten Gäste öffnete. Ein blonder Pagenkopf erschien im Treppenhaus, und im nächsten Moment hielt ich eine kleine, dralle Person im Arm, die begeistert kreischte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Chefin!«
»Hella! Ich freue mich so!«
»Und ich mich erst! Alles Gute, Cora!«
Wir lachten und umarmten uns noch einmal. Hella hatte zur gleichen Zeit für mich gearbeitet wie Arne. Leider hatte sie sich in einen meiner größten Kunden verknallt, den Schokoladenfabrikanten Herbert Hennemann. Sie heiratete ihn, zog mit ihm in die schwäbische Provinz und bekam Zwillinge. Wir waren all die Jahre in Kontakt geblieben, hatten uns aber selten gesehen. Und nun stand sie leibhaftig vor mir!
»Wo hast du den guten alten Hennemann gelassen?«
Das Lächeln verschwand kurz aus ihrem Gesicht. »Er ist auf Geschäftsreise, lässt dich aber herzlich grüßen.«
Ich zeigte ihr Pauls Zimmer, in dem sie übernachten würde, drückte ihr ein Glas Wein in die Hand und flitzte in die Küche, um nach den Ofenkartoffeln zu sehen.
Ivan und Paul trafen gemeinsam zu Hause ein, ihrer aufgekratzten Stimmung nach hatten sie schon »vorgeglüht«, wie Pauls Freunde das Trinken vor der eigentlichen Party zu nennen pflegten.
»Wo kommt ihr denn her?«, fragte ich lächelnd.
»Papa hat mir geholfen, Regale anzuschrauben«, gab Paul zurück und umarmte mich. »Happy Birthday, Mom.«
Ich spürte einen Stich. Mich hatte er noch nicht in sein neues WG-Zimmer eingeladen. Mir fiel es immer noch schwer zu akzeptieren, dass er ausgezogen war. Natürlich wusste ich, dass man einen Achtzehnjährigen nicht davon abhalten durfte, selbständig zu werden, aber im Grunde hatte ich mir gewünscht, er würde einfach bei uns bleiben. Deshalb hatte ich mich auch geweigert, Miete für ein Zimmer zu bezahlen - schließlich war unsere Wohnung groß genug. Leider verdiente Paul inzwischen durch die Auftritte mit seiner Band genügend, sich das Zimmer selbst leisten zu können.
Ivan, der meinen Blick bemerkt hatte, legte den Arm um mich. »Sei nicht traurig. Er will erst alles schön machen und es dir dann vorführen.« Ich lehnte kurz den Kopf an seine Schulter. »So lange war ich das Wichtigste in seinem Leben. Und dann steht er eines Tages einfach auf und verlässt mich.«
Ivan verzog das Gesicht. »Er hat dich doch nicht verlassen! Sei froh, dass er kein neurotisches Muttersöhnchen geworden ist.«
Sofort fühlte ich mich angegriffen. »Klar, bei dieser Mutter muss man ja dankbar sein, wenn das Kind nicht verkorkst ist!«
Einer unserer ständigen Konflikte war, dass ich Paul angeblich mit meiner übergroßen Fürsorge und meinen Ängsten erdrückte. In manchen Momenten sah ich es ein, meist aber kränkte mich dieser Vorwurf zutiefst. Ivan und ich stritten oft darüber. Heute ließ mein Mann sich auf keinen Streit ein. Er küsste mich auf die Wange und ging weg.
Warum begriff er nicht, wie wichtig dieses Kind für mich war? Früher war ich eine totale Egozentrikerin gewesen, oberflächlich, auf mein Vergnügen bedacht, ohne viel Verantwortungsgefühl. Als Paul geboren wurde, veränderte sich alles. Ich, die Mütter immer grässlich gefunden und Babys für lästige Quälgeister gehalten hatte, die einen davon abhielten, auszugehen und Spaß zu haben, wollte plötzlich die beste Mutter der Welt sein. Ich wollte diesem Kind geben, so viel ich konnte. Und obwohl ich wusste, dass es blödsinnig war, erwartete ich so etwas wie ... Dankbarkeit?
Eigentlich waren Ivan und ich als Eltern ein gutes Team. Wir ergänzten uns, jeder glich die Schwächen des anderen aus. Nur bei den Sorgen lag ich weit vorn, ich war ganz groß darin, mir die schlimmsten Szenarien auszumalen, wenn Paul krank war oder eine halbe Stunde länger wegblieb als ausgemacht. Dabei hätte eigentlich Ivan der Ängstlichere sein müssen. Mit seiner ersten Frau Katja hatte er einen Sohn gehabt, der mit fünf Jahren gestorben war.
Als Paul fünf geworden war, hatte er bemerkt, dass es ein Nachteil war, ungetauft zu sein. Er bekam weniger Geschenke als andere Kinder. Eines Tages sagte er: »Ich wünsche mir eine Patentante.« Wir fragten überrascht, wen er sich vorstelle, und er sagte, ohne zu zögern: »Katja.«
Ivan und ich überlegten lange, ob wir sie fragen sollten. Schließlich wagten wir es, und sie hatte voller Rührung zugestimmt. Noch heute hatte Paul eine enge Beziehung zu ihr.
Natürlich hatte ich Katja auch heute eingeladen. Als ich beim nächsten Klingeln die Tür öffnete, stand sie vor mir, blond, schlank und schön wie die italienische Schauspielerin Greta Scacchi, an die sie mich vom ersten Moment an erinnert hatte. Als Mann würde ich vor ihr auf den Knien liegen.
Trotz der schwierigen Umstände war Katja meine Freundin geworden. Anfangs hatte ich befürchtet, sie könnte mir Ivan wieder wegnehmen, aber bald hatte ich begriffen, dass von ihr keine Gefahr ausging. In langen Gesprächen waren wir uns nähergekommen. Ich bewunderte sie dafür, wie sie mit dem Verlust ihres einzigen Kindes fertiggeworden war. Und damit, dass Ivan einen weiteren Sohn bekommen hatte - mit mir. Nie hatte sie mir das Gefühl gegeben, ich müsste mich deshalb schlecht fühlen.
Sie drückte mich an sich. »Ich wünsche dir alles Schöne und Gute«, sagte sie. »Du hast es verdient. Unsere Freundschaft ist ein großes Geschenk für mich, das wollte ich dir immer schon mal sagen.« Sie küsste mich auf die Wange.
»Bring mich bloß nicht zum Heulen!«, befahl ich, und wir lachten. Ich versorgte auch sie mit einem Getränk, und sie ging zu den anderen ins Wohnzimmer. Dann wollte ich in die Küche, um die Vorspeisen zu holen. Es klingelte wieder. Ich kehrte um. Wer konnte das sein, wir waren doch komplett?
Ich öffnete und traute meinen Augen nicht. Obwohl ich ihn viele Jahre nicht gesehen hatte, erkannte ich ihn sofort. Vor mir stand ein unverschämt gut aussehender Typ mit kastanienbraunen Augen. Tim Knopf, natürlich »Jim Knopf« genannt. Vor zwanzig Jahren, ungefähr zu der Zeit, als ich Ivan kennengelernt hatte, war er mein Lover gewesen. Nie hatte ich besseren Sex gehabt.
»Jim ... äh ... Tim«, stotterte ich. »Was ... was machst du denn hier?«
Er grinste mich an, mit diesem fröhlichen Jungengrinsen, das ich schon damals unwiderstehlich gefunden hatte. »Ich bin deine Geburtstagsüberraschung! Darf ich reinkommen?«
»Aber ... ich verstehe nicht ...«
In diesem Moment kam Uli aus dem Wohnzimmer geschossen. »Ah, Tim, da bist du ja!« Sie strahlte mich an. »Na, was sagst du? Wir haben uns neulich zufällig getroffen, und da hatte ich die Idee, ihn für heute Abend einzuladen. Ich wusste, dass du dich freust!«
Das wusste ich zwar noch nicht, aber ich hatte ja ohnehin keine Wahl. Also küsste ich meinen ehemaligen Liebhaber auf beide Wangen und sagte: »Na klar freue ich mich. Wie geht's dir? Komm doch rein!«
Zu dritt gingen wir ins Wohnzimmer, und ich stellte den anderen meinen Überraschungsgast vor: »Das ist Jim, äh, ich meine Tim, wir kennen uns schon ewig ... haben mal zusammen gearbeitet ... und jetzt ist er hier.«
Es gab ein großes Hallo, denn Hella, Arne und Thomas kannten Tim von früher. Natürlich wussten alle, dass wir was miteinander gehabt hatten, und so mischte sich ein leicht hysterischer Unterton in die allgemeine Wiedersehensfreude. Ich spürte Ivans fragenden Blick auf mir und lächelte ihm beruhigend zu.
Nach der Vorspeise wurde Paul nervös und fing an, auf seinem Handy herumzutippen.
»Was ist los? Hast du noch was vor?«
Zerstreut sah er mich an. »Nein, alles klar.«
Zehn Minuten später klingelte es, er sprang auf und ging hinaus. Gleich darauf kehrte er mit zwei Freunden zurück. Der eine trug eine kleine Trommel, der andere ein Saxofon, Paul hielt seine Gitarre in der Hand. Die beiden Jungs gratulierten mir und grüßten in die Runde.
»Was habt ihr denn vor?«, fragte ich überrascht.
Statt zu antworten, stellten sie sich auf und begannen zu spielen. Es war eine Walzermelodie, die mir bekannt vorkam. Paul gab den Leadsänger:
Bist du mal achtzig und verwittert,
verlebt, vertrocknet und verbittert,
dann freu dich: Endlich hast du Ruh'
vor deinen Trieben, schubidu!
Das gab's doch nicht! Das hatten Rudi und die Drei Tournedos auf meinem dreißigsten Geburtstag gespielt! Es gab eine Videoaufnahme davon, die musste Paul gefunden haben. Schon ging es weiter:
Aber noch bist du jung und knackig,
noch voll dabei und ganz schön zackig,
deshalb freu dich mal nicht zu früh:
noch ist der Trieb da, schubidü!
Der Text wurde mit jeder Strophe unanständiger, und meine Gäste amüsierten sich königlich. Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits war ich gerührt, andererseits war mir die Darbietung ein bisschen peinlich.
Jim lächelte mir aus der anderen Ecke des Zimmers ungeniert zu. Ich fühlte, wie ich rot wurde, und drehte mich schnell weg. Verdammt. Ich war fünfzig, nicht fünfzehn. Warum konnte der Typ mich zum Erröten bringen?
Als die Darbietung vorbei war, wurden die Musiker mit begeistertem Applaus gefeiert. Ich umarmte Pauls Freunde und bedankte mich bei ihnen für die Überraschung.
Meinem Sohn flüsterte ich ins Ohr: »Und du wirst enterbt!«
Er grinste mich nur frech an.
ZWEI
Der Abend wurde genau so, wie ich ihn mir erträumt hatte. Mit wohligem Gefühl saß ich zwischen meinen Freunden, die nicht müde wurden, mein gutes Aussehen und mein fantastisches Essen zu loben. Wir schwelgten in Erinnerungen und überraschten uns gegenseitig mit immer neuen Anekdoten, die alle mit »Wisst ihr noch« oder »Könnt ihr euch eigentlich noch erinnern« begannen. Wir lachten uns kaputt, und zwischendurch zerdrückte ich heimlich ein paar Tränen der Rührung. »Wisst ihr noch, als Hella plötzlich weg war?«, fragte Arne.
»Da war ich sauer auf Cora«, sagte Hella. »Die meinte, ich solle nicht so viele Schokoriegel essen, weil die für die PR-Aktionen gebraucht würden.«
»Das war eine Ausrede«, kicherte Arne. »Sie wollte nicht, dass du fett wirst!«
»Noch fetter, meinst du wohl«, gab Hella grinsend zurück. »Viel schlimmer fand ich, dass Hella mit meinem wichtigsten Kunden durchgebrannt ist!«, schaltete ich mich ein. »Weißt du noch, was du bei meiner Party zu Hennemann gesagt hast? ›Sie sind genau wie Ihre Kinderpralinen: total süß.‹ Ich wollte dir den Hals umdrehen.«
Alle prusteten los, Hella errötete. »So kann man sich irren.«
»Ach komm«, sagte ich. »Mit Herbert hast du doch einen tollen Fang gemacht!«
Insgeheim hatte ich sie manchmal beneidet, besonders wenn Ansichtskarten aus Mexiko, Thailand oder von den Malediven eintrafen, wo Hella mit Mann und Kindern sorglose Ferien verlebte. Geld spielte offenbar keine Rolle, Hennemann war wohlhabend und konnte - obwohl Schwabe - durchaus großzügig sein. Natürlich hätte ich trotzdem nicht mit Hella tauschen wollen, ihr Mann war das, was die Schwaben einen Gschaftlhuber nannten - er hätte mir den letzten Nerv geraubt. Aber Hella hatte ihn unbedingt haben wollen.
Arne verdrehte die Augen. »Ach Gottchen, die Schokoriegel! Wir standen auf Schulhöfen herum und sollten die Kinder dazu bringen, Fragebögen auszufüllen. Die haben uns einfach die Riegel geklaut und sind abgehauen.«
»Das war die Idee von Macke, diesem Idioten«, ergänzte ich. »Aber dem haben wir's gezeigt!«
Macke war unser schärfster Konkurrent gewesen, mit dem wir auf Wunsch von Hennemann eine Zeit lang zusammen arbeiten mussten. Er hatte die Angewohnheit, seine Mitarbeiterinnen zu betatschen. Eines Tages hatte ich ihn mithilfe zweier junger Frauen, bei denen er es probiert hatte, fürchterlich blamiert. Mit einem gut gespielten Verführungsversuch hatte ich es geschafft, ihn in der Garderobe eines marokkanischen Restaurants halb zu entkleiden. Dann hatten meine Helferinnen einen Vorhang beiseitegezogen - und Jens Macke stand mit heruntergelassener Hose da. Wenn ich heute daran dachte, schämte ich mich ein bisschen für diesen kindischen Streich. Obwohl er es verdient hatte.
»Hab ich zu der Zeit nicht bei dir gewohnt?«, fragte Uli, und ich nickte. Nachdem ihr Freund sie mit irgendeinem Busen- wunder betrogen hatte, war sie Knall auf Fall bei mir eingezogen. Und bis nach der Geburt ihrer Tochter geblieben.
»Ich hab noch das erste Ultraschallbild von Clara!«, sagte ich und sprang auf.
»Du warst sogar mit mir in der Schwangerschaftsgymnastik«, erinnerte sich Uli, als ich zurückkam.
»Stimmt, da haben wir alle zusammen in die Gebärmutter geatmet. Mit den Männern!« Ich reichte ihr die Ultraschallaufnahme, die schon ganz vergilbt war. Gerührt betrachtete Uli die grauen Umrisse. »Schaut nur, man kann Clara schon erkennen!« Sie zeigte das Bild herum, und schon drehte sich das Gespräch um die Kinder, die so schnell groß geworden waren.
Es klingelte wieder. Ich sah auf die Uhr: genau zehn, wie vereinbart. Ich öffnete und führte einen Mann ins Wohnzimmer.
»Liebe Freunde!«, sagte ich. »Ihr habt mir mit eurem Kommen und euren Geschenken so viel Freude gemacht, deshalb möchte ich euch jetzt auch etwas schenken. Das ist Juan, der beste Tangogitarrist Münchens!«
»Deutschlands«, korrigierte Juan. »Oder vielleicht sollten wir einfach sagen: außerhalb von Argentinien.« Er grinste.
Alle lachten und klatschten. »Na, dann los!«, rief Hella.
Juan begann mit einer Intensität zu spielen, die fast körperlich zu spüren war und alle in den Bann zog. Besonders Paul schien ganz gefesselt zu sein und beobachtete jeden Handgriff des Musikers. Ivan lächelte mir kurz zu.
Als das Lied vorbei war, sah Juan auf, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. Dann löste sich die Anspannung in seinem Gesicht, und er grinste wieder.
Als er weiterspielte, nahm Paul seine Gitarre und warf ihm einen fragenden Blick zu. Juan lächelte, die beiden tauschten ein paar Worte auf spanisch - Paul hatte die Sprache seit der fünften Klasse in der Schule gelernt. Dann zupfte er behutsam einige Töne und stieg auf die Melodie ein, die Juan vorgegeben hatte. Nach wenigen Sekunden klang das Spiel der beiden so harmonisch, als würden sie sich schon länger kennen. Nach dem Stück applaudierten alle begeistert. Juan reichte Paul die Hand und sagte anerkennend: »Sehr gut! Du bist begabt für Tango!«
Paul errötete vor Stolz.
Die dritte Nummer war schneller und mit Gesang, und im nächsten Moment hatte Thomas seine Uli gepackt und schob sie über unseren Parkettboden. Die beiden hatten vor Jahren einen Tangokurs gemacht. Sie waren gut, und so galt der Beifall am Ende des Stückes nicht nur dem Gitarristen, sondern auch den beiden Tänzern.
Ich hätte damals auch gern Tango tanzen gelernt, aber Ivan hatte auf diesen »folkloristischen Volkshochschulmist« keine Lust gehabt. Ich hatte dann allein ein paar Stunden genommen, aber ohne festen Partner machte es nicht so viel Spaß, deshalb hatte ich es wieder aufgegeben.
Beim nächsten Lied forderte Thomas mich auf. Ich zierte mich ein bisschen, dann gab ich nach. Ich war lange nicht so gut wie Uli, aber besser, als ich gedacht hatte. Meine Gäste johlten alle. Plötzlich stand Tim vor mir und bat mich um den Tanz.
»Du kannst Tango?«, fragte ich überrascht.
Er lächelte. »Ich hoffe es.«
Wir nahmen die Ausgangsposition ein. Die Musik begann.
Ich spürte seine Wärme, roch die Mischung aus Haut, Eau de Toilette und seinem frisch gewaschenen Hemd. Es fühlte sich an, als explodierte etwas in meinem Kopf, meine Synapsen tanzten auch Tango, und alles in mir erinnerte sich plötzlich an seinen Geruch, seinen Körper, seinen Sex. Ich fühlte mich schwindelig, aber Tim führte mich energisch, und so musste ich mich einfach nur fallen lassen. Ich hatte das Gefühl, von allen beobachtet zu werden, und spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Als das Stück vorbei war, lächelte ich ihm zu und setzte mich schnell wieder hin.
Nach seinem Auftritt nahm Juan die Ovationen meiner Gäste entgegen. Ich begleitete ihn zur Tür und drückte ihm die vereinbarten hundertfünfzig Euro in die Hand. »Danke, das war wirklich toll!«
Er küsste mich nach argentinischer Art, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten, und wünschte mir zum Abschied feliz cumple.
Ich ging in die Küche, um weiteren Wein zu holen. Tim kam aus der Gästetoilette, an der Küchentür stießen wir fast zusammen.
»Tolle Musik, was?«, sagte ich und ging an ihm vorbei. Er folgte mir bis zum Kühlschrank, wo er sich mir in den Weg stellte.
»Du siehst übrigens immer noch super aus, Cora.«
Ich lächelte. »Danke, Tim. Du übrigens auch.«
Er stand vor mir und sah mich unverwandt an. »Ich würde gern öfter mit dir tanzen!«
Ich lachte verlegen. »Geh mal aus dem Weg!«
Er bewegte sich keinen Millimeter, sah mich nur an. Schlagartig war dieselbe erotische Spannung zwischen uns, die ich von früher kannte. Ich sah sein vertrautes Gesicht vor mir, die braunen Augen, in denen ein Funke tanzte, das leicht spöttische Lächeln, seine fast mädchenhaft geschwungenen Lippen - und auf einmal konnte ich nicht anders: Ich schloss die Augen, beugte mich vor und küsste ihn auf den Mund.
Im nächsten Moment wich ich zurück. »Entschuldige«, murmelte ich verlegen. »Ich weiß auch nicht ... Tut mir leid.« Ich schob mich an ihm vorbei und öffnete den Kühlschrank. Himmel, was war bloß in mich gefahren? Ich musste ja völlig betrunken sein.
Als ich mich umdrehte, stand Tim immer noch da. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich Ivan, der an der Küchentür lehnte und zu uns herübersah. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut Tango tanzen kannst!«, sagte er.
»Ich auch nicht«, erwiderte ich und ging mit einer Flasche Weißwein in der Hand auf ihn zu. Wie lange hatte er da schon gestanden?
Tim war mir gefolgt und blieb jetzt vor Ivan stehen. »Ich muss gehen«, sagte er, reichte ihm die Hand und küsste mich auf die Wangen.
»War schön, dich zu sehen, und danke für die Überraschung«, sagte ich so förmlich wie möglich und sah ihm nach, als er die Wohnung verließ.
Dann drehte ich mich zu Ivan.
»Ich hätte lieber mit dir getanzt«, sagte ich lächelnd, »aber du wolltest es ja nicht lernen.«
Ich versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, aber er zeigte keine Regung, dann hakte ich mich bei ihm ein, er ließ es zu. Gemeinsam kehrten wir ins Wohnzimmer zurück.
Dort war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Hella und Arne lagen sich kreischend in den Armen und erzählten sich gegenseitig, von Lachanfällen unterbrochen, dieselbe Anekdote, die sie offenbar völlig unterschiedlich in Erinnerung hatten.
»Nein!«, protestierte Hella. »Das war doch nicht Herbert! Das war dieser dicke Privatbanker, der ...«
»Das war Herbert! Ganz sicher! Der wollte doch immer, dass alles zeitgeischtig sein sollte. Zeitgeischtig, man stelle sich das vor ...« Arne brach erneut in wieherndes Gelächter aus, während Hubert, Thomas und Katja amüsierte Blicke tauschten.
Ich schwenkte die Flasche. »Wer will noch Wein?«
Mehrere Hände gingen hoch, ich schenkte nach.
Es wurde ein langer Abend. Viel länger, als ich geplant hatte, aber das war mir egal. Schließlich wurde ich nur einmal fünfzig. Um Mitternacht stießen wir an, und meine Gäste sangen »Happy Birthday« für mich. Gleich darauf blickte Paul treuherzig zu mir und fragte: »Mom, ist es okay, wenn ich jetzt abhaue? Ich hab noch 'ne Verabredung.«
Ich wuschelte ihm durch die Haare. »Natürlich ist es okay. Ich fand's so schön, dass du hier warst. Und noch mal danke für das Ständchen!«
Er küsste mich und verabschiedete sich von unseren Gästen. Als er schon an der Tür war, rief ich: »Mit wem bist du denn verabredet? «
Er drehte sich um und warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Uli beugte sich zu mir und sagte tadelnd: »So was fragt man doch nicht! Clara würde mich umbringen!«
»Aber vorher würde sie dir erzählen, mit wem sie sich trifft«, sagte ich. »Paul erzählt nie was.«
»Recht hat er.«
»Pfff.«
Gegen eins brachen Arne und Hubert auf. »Unser Babysitter ist bestimmt sauer«, sagte Arne. »Wir wollten viel früher zu Hause sein.«
»Im Gegenteil«, sagte ich. »Die freuen sich doch, wenn man länger wegbleibt, dann verdienen sie mehr!«
»Woddu recht hast, hassu recht«, sagte Hubert mit schwerer Zunge. Wir hatten zu neunt zwei Flaschen Champagner, acht Flaschen Wein und eine halbe Flasche Grappa geleert. Fast wie in alten Zeiten ...
Ich umarmte die beiden, bedankte mich für die Rosen und das Geschenk, das ich - wie die anderen Geschenke - am nächsten Tag in Ruhe auspacken wollte.
Wenig später verabschiedeten sich Katja, dann Uli und Thomas. Schließlich verkündete auch die beschwipste Hella, es sei ein großartiger Abend gewesen, aber nun gehe sie schlafen. Sie verschwand in Pauls ehemaligem Zimmer.
Jetzt waren Ivan und ich allein. Wir räumten gemeinsam auf, wie so oft, wenn unsere Gäste nach fröhlichen Abenden gegangen waren. Wir waren ein eingespieltes Team, jeder wusste, was er zu tun hatte. Ich schaltete die Spülmaschine ein, Ivan wischte den Küchenblock ab. Mit einem letzten Grappa landeten wir schließlich am Küchentisch.
»Auf uns, die Liebe und viel gutes Essen!«, sagte ich und prostete ihm zu. »Ich finde es plötzlich gar nicht mehr schlimm, dass ich fünfzig geworden bin.«
»Freut mich«, sagte Ivan trocken. »Du hast mich ja auch nur ein halbes Jahr mit dem Thema in Atem gehalten.«
»Jetzt übertreibst du aber!«
Natürlich hatte ich manchmal darüber gesprochen, was es für mich bedeute, älter zu werden. Ich hatte überlegt, ob ich überhaupt feiern wollte, und wenn ja, in welchem Rahmen. Ich hatte nach einer Party-Location gesucht und keine gefunden. Ich hatte Gästelisten geschrieben und wieder verworfen. Ich hatte Reiseziele gesucht, an die ich mich flüchten wollte. Ich hatte überlegt, das Datum einfach zu ignorieren. Ich hatte Heulanfälle bekommen und vorgegeben, das Ganze gehe mich nichts an. Kurz: Ich hatte mich wie eine Frau verhalten, die demnächst fünfzig wurde. Völlig normal.
»Das ist jetzt vorbei«, verkündete ich großspurig.
»Das Geburtstagsthema, vielleicht. Aber wenn die Erfahrung mich nicht täuscht, bahnt sich schon das nächste Drama an.«
»Was meinst du?«
»Paul. Dass er ausgezogen ist, warum er ausgezogen ist, wie viel Geld er sinnlos für das Zimmer verpulvert, dass er dir fehlt, dass er sich nicht oft genug meldet, dass er dich noch nicht eingeladen hat ...«
»Jetzt hör aber auf!«, unterbrach ich ihn. »Darf ich nicht mehr über meine Gefühle sprechen? Das ist eben schwierig für mich, ich muss es erst verarbeiten.«
»Das Problem ist, du verarbeitest dialogisch.« Ivan schenkte sich Grappa nach.
»Natürlich will ich mit dir über so was reden«, sagte ich empört. »Wozu bin ich denn verheiratet?«
Ivan hob eine Augenbraue. »Da würden mir noch ein paar andere Dinge einfallen, aber okay. Und jetzt muss ich mal mit dir reden.«
Solche Ankündigungen war ich von ihm nicht gewohnt. »Was ist denn los?«, fragte ich alarmiert.
Ivan suchte nach Worten. »Ich habe eine Art ... Überdosis. Von dir, vom Familienleben, von allem. Ich brauche ein bisschen Abstand. Zeit für mich und für meine Arbeit.«
Schlagartig war ich völlig nüchtern. »Aber, warum denn plötzlich? Was hab ich dir getan? Bist du ... sauer wegen Tim?«
Ivan sah mich verblüfft an. »Nein, wieso sollte ich sauer sein?«
»Ich dachte nur«, sagte ich ausweichend. »Was ist es sonst?«
»Nichts Besonderes«, sagte Ivan. »Außer dass es immer nur um dich geht. Was sagt Cora, was will Cora, was schlägt Cora vor, wie fühlt sich Cora, welche Pläne hat Cora ...«
»Das ist nicht wahr!«, rief ich. »Du bist doch die sensible Künstlerseele, auf die wir alle Rücksicht nehmen müssen!«
»Außer wenn es ein Problem mit Paul gibt, die Heizung ausfällt, eine Spinne im Schlafzimmer sitzt, dein Fahrrad einen Platten hat, der Vermieter einen blöden Brief schreibt ... kurz: wenn das Leben die Unverschämtheit besitzt stattzufinden. Dann bin leider immer ich zuständig.«
Ich schwieg beleidigt. Sollte ich ihm mal aufzählen, was ich den ganzen Tag für die Familie tat und wofür ich zuständig war, obwohl ich auch einen Job hatte, der mich forderte? Dann hätten wir innerhalb kürzester Zeit den schönsten Ehestreit, und ich wusste genau, wie der verlaufen würde. Ivan würde mir erklären, dass seine Arbeit Kunst sei und meine nur schnöde Erwerbsarbeit. Ich würde sagen, dass ich meinen Beruf ebenso liebte wie er seinen und wer überhaupt darüber entscheide, ob es wertvoller sei, Leinwände mit Farbe zu bedecken oder Menschen zusammenzubringen. Er würde verächtlich schnauben, und ich würde vor Zorn laut werden. Er würde türenknallend den Raum verlassen, wir würden drei Tage lang nicht miteinander sprechen und drei Wochen keinen Sex haben, worauf er mir vorwerfen würde, dass ich ihn emotional aushungern ließe und mich nicht wundern solle, wenn er mich demnächst betrüge. Ich würde verächtlich schnauben, und er würde vor Zorn ganz leise werden. Irgendwann würden wir dann doch miteinander ins Bett gehen und danach beide das Gefühl haben, es sei alles wieder in Ordnung. Und wenig später würde es von vorn losgehen. Es war unser Ehe-Theater, das wir unzählige Male aufgeführt hatten und dessen Text wir auswendig konnten.
»Also, was schlägst du vor?«, fragte ich und versuchte, meiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben.
»Ich würde gern eine Weile allein sein«, sagte Ivan. »Ich muss eine große Ausstellung vorbereiten, und ich kann mich hier nicht konzentrieren.«
»Aber ich störe dich doch nicht! Und zum Malen gehst du doch sowieso ins Atelier!« Nach unserer Hochzeit hatte Ivan seine Wohnung behalten, er nutzte sie seither zum Arbeiten.
Ivan seufzte. »Es ist schwer zu erklären, Cora. Es geht um eine Konzentration, die nicht jeden Abend abreißt, wenn ich nach Hause komme. Ich würde mich gern für eine Weile völlig in mein Projekt versenken.«
»Dieses Projekt ist aber nicht zufällig weiblich, jung und attraktiv?«, fragte ich misstrauisch.
»Nein, zufällig nicht«, erwiderte er, eher gelangweilt als empört. »Wie kommst du darauf?«
»Ich nehme an, die meisten Ehefrauen würden das denken.«
»Schon möglich, aber ich bin nicht wie die meisten Ehemänner. «
Da musste ich ihm recht geben, tatsächlich erfüllte Ivan viele der üblichen Männerklischees nicht. Er war mit den Jahren nicht unaufmerksam geworden. Es genügte ihm nicht, dass alles irgendwie lief, er hatte Ansprüche an mich und unsere Beziehung. Er suchte die Auseinandersetzung - und er begehrte mich noch. All das waren gute Gründe für mich, mit ihm zusammenbleiben zu wollen, deshalb war ich von seiner Eröffnung alles andere als begeistert.
»Was heißt das jetzt?«, fragte ich. »Willst du ausziehen?«
»Nur für eine Weile, ins Atelier.«
Alles in mir wehrte sich dagegen. Es war schwer genug, dass Paul weg war, da konnte Ivan mich doch nicht allein lassen!
»Ich versteh dich ja, ich kann manchmal ziemlich ... intensiv sein«, sagte ich. »Aber deshalb musst du doch nicht gleich die Flucht ergreifen. Ich verspreche dir, dass ich rücksichtsvoller sein werde!«
»Mach es mir nicht so schwer, Cora!«, sagte er bittend. »Ich habe das letzte halbe Jahr mit dir durchlitten und versucht, dir in deiner Krise beizustehen. Das war wirklich nicht einfach, glaub mir. Jetzt bin ich mal wieder dran.«
Betroffen sah ich vor mich hin. War ich wirklich so eine Nervensäge? Belegte ich Ivan so mit Beschlag, dass er nicht mehr arbeiten konnte? Ich hasste Frauen, die ständig an ihren Männern herumzerrten. So wollte ich nicht sein.
»Okay«, sagte ich. »Dann tu, was du für richtig hältst. Ich werde versuchen, es zu akzeptieren. Und ich hoffe, dass ich dir vertrauen kann.«
Er nahm meine Hand. »Nur Arbeit, keine Weiber«, sagte er mit jungenhaftem Grinsen, stand auf, streckte sich und ging in den Flur. Ich hörte, wie er seine Jacke vom Garderobenständer nahm, folgte ihm und stieß polternd gegen den Tisch mit den Geschenken.
»Pst«, machte Ivan. »Du weckst Hella auf.«
An der Wohnungstür holte ich ihn ein. »Du willst jetzt noch gehen?«
»Dann kann ich gleich morgen loslegen.« Er zog mich an sich und küsste mich auf die Lippen. »Bis bald. Happy birthday, Traumfrau.«
Damit verließ er die Wohnung und ging - leise, um niemanden zu wecken - die Treppe hinunter. Benommen stand ich da und versuchte zu begreifen, was passiert war.
Als ich die Wohnungstür geschlossen hatte, blieb ich einen Moment im Flur stehen. Dann begann ich mechanisch, die Geschenke auszupacken, die vor mir lagen. Ich sah sie an, ohne sie richtig wahrzunehmen, faltete das Geschenkpapier und legte es ordentlich auf einen Stapel. In meinem Kopf rotierten unaufhörlich Ivans Worte. Ich würde gern eine Weile allein sein.
Eine Tür ging, Hella kam aus ihrem Zimmer. »Wieso bist du noch wach? Es ist fast halb drei.«
»Ich hab noch ein bisschen aufgeräumt«, sagte ich gespielt munter. »Und du? Wieso schläfst du nicht?«
Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht.«
»Wollen wir noch was trinken?«, schlug ich vor, und sie folgte mir in die Küche. Ich nahm frisches Mineralwasser aus dem Kühlschrank, schenkte uns beiden ein und sah sie auffordernd an. »Also, was ist los?«
Sie blickte mich stumm an, und zu meinem Erstaunen füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich eingefallen, und mit einem Mal nahm ich auch bei ihr die Spuren des Alters wahr, die ich zuvor nicht gesehen hatte.
»Ist es okay für dich, wenn ich hierbleibe?«, fragte sie.
»Na klar, Pauls Zimmer steht doch eh leer.«
»Ich meine, nicht nur für heute Nacht«, sagte Hella, »sondern ... für länger.«
Ich starrte sie an. »Du meinst ...«
»Ich habe Herbert verlassen.«
»Ach du Scheiße«, rutschte es mir heraus. »Aber ... ihr zwei wart doch immer so glücklich! Ich war mir sicher, du hättest das große Los gezogen!«
»Und ich dachte immer, das hättest du gezogen«, sagte Hella mit schiefem Lächeln.
»Na ja, kommt drauf an, welche Lotterie du meinst«, sagte ich. »Bei der Verlosung interessanter Künstlertypen habe ich Glück gehabt. Aber als die Jungs mit Kohle dran waren, habe ich leider eine Niete gezogen.«
»Als würde das heute noch eine Rolle spielen«, sagte Hella wegwerfend. »Ich hätte lieber mein eigenes Geld verdient. Aber Herbert wollte das nicht. ›Meine Frau muss nicht arbeiten‹, hat er immer gesagt.«
Ich kicherte ungläubig. Den Spruch hatte ich zuletzt in einem Film aus den Fünfzigerjahren gehört. So was sagte doch heute niemand mehr.
»Du lachst«, sagte Hella vorwurfsvoll. »Aber Herbert denkt wirklich so. Meine Ideen hat er schon gerne angenommen, aber nur für sein eigenes Unternehmen. Er hat es kategorisch abgelehnt, dass ich für jemand anderes arbeite. Jetzt, wo die Zwillinge groß sind, wollte ich endlich wieder loslegen, unter Leute kommen, was Sinnvolles tun. Aber Herbert will sich demnächst zur Ruhe setzen und nur noch ›das Leben genießen‹, wie er es nennt.«
»Und was versteht er darunter?«
»Golf spielen, Reisen, auf Kreuzfahrtschiffen und in teuren Hotels rumhängen, edel essen und trinken.«
»Was soll daran schlecht sein?«, fragte ich. »Das könnte ich mir auch vorstellen.«
Jetzt war es Hella, die lachte. »Dann nimm du ihn doch! Ich will so nicht leben. Bei der schieren Vorstellung packt mich das Grauen.«
Sie beschrieb mir, wie sie in den Jahren ihrer Ehe versucht hatte, die Frau zu werden, die ihr Mann sich wünschte. Eine Partnerin, die ihm »den Rücken frei hält« und »ein Haus führt«, obwohl sie für häusliche Tätigkeiten alles andere als begabt war.
Die - trotz gegenteiliger Überzeugung - akzeptierte, dass in seiner Welt Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben hatten und es nur zu Problemen führte, diese Rollenverteilung infrage zu stellen.
»Besonders schlimm war es an meinen Geburtstagen«, erzählte Hella. »Da hat er jedes Mal eine Rede auf mich gehalten. ›Was wäre ich bloß ohne dich, Hella? Du bist immer für mich da. Du ermöglichst mir, erfolgreich mein Unternehmen zu führen. Du machst mich zu dem, der ich bin! Danke für alles, ich liebe dich.‹ Und dann hat er immer vor Rührung über sich selbst geweint.«
Ich hielt mühsam das Lachen zurück.
»Noch schlimmer waren die Auftritte der Kinder«, fuhr Hella fort, die sich in Fahrt geredet hatte. »Sie sind beide völlig unmusikalisch, Herbert bestand aber darauf, dass sie Geige und Querflöte lernen. Also haben sie ihre Instrumente gequält, bis die Gäste kurz vor dem Weglaufen waren. Und dann haben sie ihr auswendig gelerntes Sprüchlein aufgesagt: ›Danke-für alles- was-du-für-uns-tust-du-bist-die-allerbeste-Mami-von der- Welt!‹« Sie stöhnte. »Wenn ich das noch ein Mal hören muss, begehe ich einen Mord!«
Wie gut ich sie verstand! Auch ich verabscheute diese verlogenen Inszenierungen bei Familienfesten, die so wirkten, als wären sie einem Werbespot für Frühstücksflocken nachempfunden. Zum Glück kannte ich nur wenige Familien, in denen sie stattfanden.
Hella erzählte, wie sie gelernt hatte, schwäbische Hausmannskost zu kochen und die Geschäftspartner ihres Mannes mit selbst gemachten Maultaschen und Schupfnudeln zu verköstigten. Wie sie Spielnachmittage mit Kaffeetrinken für die Mütter und Kinder der Nachbarschaft organisiert hatte, bei denen sie aus Langeweile die Hosenbeine der Krabbelkinder zusammengeknotet und aus der Entfernung schadenfroh zugesehen hatte, wie deren größere Geschwister dafür ausgeschimpft wurden. Kurz: wie sie immer mehr zu einer jener desperate housewives geworden war, deren aufregendstes Erlebnis der tägliche Klatsch mit anderen Hausfrauen war, bei dem es darum ging, herauszufinden, wer noch frustrierter war als man selbst.
Sie griff nach meiner Hand. »Weißt du, Cora, ich hab es wirklich versucht! Ich dachte, wenn man jemanden liebt, dann muss man Kompromisse machen. Und Herbert ist ein lieber Kerl, er ist halt nur schrecklich konservativ. Aber am Ende wusste ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin.«
Sie schniefte und wischte sich die Augen.
»Dann wurde ich krank«, fuhr sie fort. »Magengeschwür, der Klassiker. Hatte wohl zu viel in mich reingefressen. Da hab ich die Notbremse gezogen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich hab ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. ›Jetzt musst du mir mal zuhören‹, hab ich gesagt. ›Ich will wieder arbeiten, ich will nie wieder einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff setzen, ich will Sprachen lernen, ich will was vom kulturellen Leben außerhalb unseres schwäbischen Kaffs mitkriegen.‹«
»Und? Wie hat er reagiert?«
Bei der Erinnerung daran schüttelte Hella den Kopf. »Er hat gar nicht verstanden, wovon ich spreche! ›Du hasch doch alles‹, hat er immer wieder gesagt. ›Ich tu doch alles für dich! Wieso bisch denn so unzufrieden?‹«
So sei es eine ganze Weile hin und her gegangen. Sie habe immer wieder versucht, ihm begreiflich zu machen, was ihr fehle, aber es habe nichts genutzt. Sie habe vorgeschlagen, eine Therapie zu machen oder zur Eheberatung zu gehen, aber das habe er vehement abgelehnt.
»Was sollet denn die Leut denka?«, habe er gepoltert. »I brauch koin Seelaklempner, i bin doch net verrückt!«
Sie stand auf und ging in der Küche auf und ab. Ich folgte ihr mit den Blicken.
Schließlich blieb sie stehen. »Und dann habe ich begriffen, dass es vorbei ist und ich mir ein eigenes Leben aufbauen muss. Weil ich sonst ... kaputtgehe.« Bei diesen Worten begann sie erneut zu weinen. Ich reichte ihr die Küchenrolle.
Sieh mal einer an. Ich hätte mein (zugegeben geringes) Vermögen darauf verwettet, dass Hella mit ihrem Rundum-sorglos- Paket Herbert Hennemann zufrieden war. Aber auch auf Ivan und mich hätten wohl die meisten Leute Wetten abgeschlossen.
Ich nahm sie in den Arm. »Klar kannst du erst mal hierbleiben. Da trifft es sich ja gut, dass nach Paul auch Ivan gerade ausgezogen ist.«
»Waaas?« Hella hob den Kopf und blickte mich ungläubig an.
»Er meint, ein bisschen Abstand und Zeit zum Arbeiten zu brauchen«, erklärte ich.
»Aber, dann kommt er bald zurück?«
Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hoffe.«
»Vielleicht war er sauer wegen Tim«, überlegte Hella laut. »Der hat dich ja ganz schön angemacht.«
»Ivan ist nicht eifersüchtig«, sagte ich. »Leider.«
»Wahrscheinlich zeigt er es dir bloß nicht.«
Tatsächlich hatte ich bis heute nicht herausgefunden, ob Ivan so cool war, wie er tat. In zwanzig Jahren hatte er sich jedenfalls nicht die Blöße gegeben, jemals Eifersucht zu zeigen.
»Ist Herbert denn eifersüchtig?«, fragte ich.
Hella lachte spöttisch auf. »Herbert kommt nicht mal auf den Gedanken, dass mir jemand anderes besser gefallen könnte. Deshalb versteht er auch nicht, dass ich gegangen bin. Er denkt, ich kriege mich schon wieder ein und komme bald zurück.«
»So wie Ivan?«
»Ivan kommt zurück«, sagte Hella. »Ich nicht.«
Plötzlich wurde mir die Absurdität der Situation bewusst. Mein Mann war weg, mein Sohn war weg, und Hella und ich waren im Begriff, eine WG vorklimakterischer Exehefrauen in spe zu gründen. Das war doch mal ein gelungener fünfzigster Geburtstag!
»Ich glaube, ich brauche jetzt doch einen Grappa«, sagte ich seufzend und holte die Flasche.
»Ich auch«, sagte Hella. »Einen doppelten.«
Wir stießen an.
»Auf ein Neues«, sagte Hella. Sie ließ offen, ob sie damit ein neues Leben, ein neues Lebensjahr oder nur den Auftakt zu einem weiteren Trinkgelage meinte.
Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Amelie Fried
Amelie Fried, geboren 1958, moderierte nach ihrem Studium zahlreiche Fernsehsendungen, darunter "Live aus dem Alabama", "Live aus der Alten Oper", "Stern-TV" und "Kinderella". Von 1998 bis 2009 war sie Gastgeberin der Talkshow "3 nach 9". Sie wurde mit dem Grimme-Preis, dem Telestar-Förderpreis und dem Bambi ausgezeichnet. Ihre beiden ersten Romane wurden auf Anhieb zu Bestsellern. Für ihre Kinderbücher erhielt sie viele Auszeichnungen, darunter den "Deutschen Jugendliteraturpreis". Die Autorin lebt mit ihrer Familie bei München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amelie Fried
- 2014, 416 Seiten, Klappenbroschur, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453265890
- ISBN-13: 9783453265899
- Erscheinungsdatum: 09.06.2014
Rezension zu „Traumfrau mit Lackschäden “
"Die Herausforderungen des Frauseins ab 50 verpackt Amelie Fried, selbst 55, in "Traumfrau mit Lackschäden" sehr amüsant." Gala
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