Traumpfad der Liebe
Südaustralien, 1849: Kate ist jung, schön und entschlossen, ihren Weg zu machen. Sie hat es bis nach Australien geschafft und will dort ihr Glück finden. Doch sie hat keine Vorstellung davon, wie hart das Leben im Outback sein kann....
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Produktinformationen zu „Traumpfad der Liebe “
Südaustralien, 1849: Kate ist jung, schön und entschlossen, ihren Weg zu machen. Sie hat es bis nach Australien geschafft und will dort ihr Glück finden. Doch sie hat keine Vorstellung davon, wie hart das Leben im Outback sein kann. Und sie hat nicht mit der großen Liebe gerechnet.
Lese-Probe zu „Traumpfad der Liebe “
Traumpfad der Liebe von Ann Clancy 1 September 1849
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»Himmel, hörst du endlich zu weinen auf, Brigid? Man möchte meinen, das Ende der Welt wäre angebrochen!« »Zumindest sieht es hier aus wie am Ende der Welt. Schau doch!« Kates Blick wanderte über die Hafenmole zu der Landschaft, die sich dahinter erstreckte. So etwas hatte sie wirklich ihr Lebtag noch nicht gesehen. Niedrige Sanddünen und große Ansammlungen stehenden Salzwassers, so weit das Auge reichte. Die Bäume waren grau und kläglich verkrüppelt, und sogar der Gesang der Vögel hatte etwas Trauriges an sich. Kate zog sich die Kapuze ihres dicken Umhangs über den Kopf und wickelte das Kleidungsstück fest um sich, um den beißenden Südwestwind abzuhalten. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, bei ihrer Ankunft in der südaustralischen Kolonie zumindest mit Sonnenschein empfangen zu werden, aber es war stark bewölkt. Der Wind trieb düstere, bedrohlich wirkende Wolken über den Himmel. Das goldene Land der unbegrenzten Möglichkeiten machte eher einen düsteren und trostlosen Eindruck. Doch das wollte sie Brigid gegenüber auf keinen Fall zugeben.
»Das ist nur der Hafen. Adelaide ist sicher das hübscheste Städtchen, das du je erlebt hast. Also hör auf, Trübsal zu blasen, Brigid. Das hier ist ein Neuanfang.« »Man hat uns versprochen, dass zukünftige Ehemänner uns mit offenen Armen erwarten würden«, schniefte Brigid. »Oh, Brigid! Hast du das etwa wirklich geglaubt?« Kate lachte. »Ein Ehemann, der sein Salz in der Suppe wert ist, steht nicht däumchendrehend am Hafen herum und wartet auf ein Waisenmädchen aus Irland. Das haben sie uns nur weisgemacht, um uns bei Laune zu halten. Irgendetwas mussten sie uns ja erzählen, damit zweihundert Mädchen nicht die gesamte vier Monate lange Überfahrt Rotz und Wasser heulen. « »Nun, ich könnte aber losflennen, wenn ich mir das so anschaue. Und außerdem habe ich Angst. Wir wissen nicht, was uns bevorsteht. Fürchtest du dich denn nicht?« »Natürlich fürchte ich mich. Das ist doch ganz normal. Aber wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.« Kate umarmte ihre Freundin. »Keine Sorge. Wir machen einfach alles gemeinsam, so wie in den letzten beiden Jahren. Das Arbeitshaus haben wir auch überstanden, weil wir fest zusammengehalten haben. Schlimmer kann es hier nicht werden.« »Nein, vermutlich hast du recht.« »Nichts, nicht einmal die Kolonie Südaustralien, kann so entsetzlich sein wie die Hungersnot in Irland.« »Schön, dass du so zuversichtlich bist.« »Wir dürfen den Mut nicht verlieren, müssen die Vergangenheit hinter uns lassen und das Beste aus unserer Zukunft machen. Ich weiß schon, was ich tun werde. Zuerst verdiene ich ein Vermögen, und dann suche ich mir einen reichen Mann. Und danach esse ich so viel leckere Sachen, wie man für Geld nur kaufen kann.« Brigid wischte sich lachend die Augen ab. »Das glaube ich dir gern. Du packst jede Gelegenheit sofort beim Schopf. Ohne dich wäre ich niemals zur Waisenverschickung zugelassen worden. Erst als du ihnen vorgeschwindelt hast, wir wären vierzehn, durften wir mitfahren. Wenn die gewusst hätten, dass wir schon sechzehn sind, wären wir jetzt nicht hier.« »Nun, ich habe eine harte Schule hinter mir. Wenn man es in der Welt zu etwas bringen will, muss man die Ellenbogen einsetzen.« »Für dich mag das das Richtige sein, meine liebe Freundin Kate. Mir ist schon aufgefallen, wie die Männer dich anglotzen. Mit deinem Gesicht und deiner Figur angelst du dir sicher rasch einen reichen und überdies netten Mann. Ich hingegen stehe wahrscheinlich noch in zehn Jahren wartend in diesem Hafen herum.« »Unsinn!«, widersprach Kate. »Du hast ein reizendes Gesicht und bist ein bezauberndes Mädchen. Alle mögen dich.« Ihr Blick glitt über ihre Freundin. Brigids Haar war von einem warmen, samtenen Braun und hatte einen leichten Stich ins Rote. Ihre Augen waren groß und schauten freundlich drein. Mit ihrem rundlichen Gesicht gehörte Brigid zu den Mädchen, die mit Männern und Frauen gleichermaßen gut zurechtkamen. Doch wenn Kate ehrlich war, schien Brigid keine Frau zu sein, nach der sich die Männer umdrehten, auch wenn sie das ihrer Freundin nie eingestanden hätte. Kate hingegen fiel überall auf, obwohl sie nicht sicher war, woran das liegen mochte. Vielleicht lag es an ihren Augen, die tatsächlich eine seltene Farbe hatten - eine Mischung aus Violett und Blau - und außerdem ein leuchtendes Strahlen besaßen. Außerdem hatte sie hübsch geschwungene Brauen und lange schwarze Wimpern. Allerdings war sie selbst der Ansicht, dass ihre Augen ihren einzigen Vorzug darstellten. Ihr Mund war zu breit, um als schön durchzugehen, auch wenn sie gute Zähne ihr Eigen nannte. Ihr Haar besaß das schimmernde Schwarz spanischer Vorfahren, wie es in Irland häufig vorkam, aber es fehlte der warme Glanz von Brigids braunen Locken. Sie schaute an sich hinunter. Eigentlich hätte man sie als zierlich beschreiben müssen, obwohl abgemagert derzeit die passendere Bezeichnung für sie und ihre Schicksalsgenossinnen zu sein schien, die so viele Jahre lang Unterernährung oder sogar Hunger hatten erdulden müssen. Dank der kräftigenden Mahlzeiten an Bord der Elgin hatte sie zum Glück wieder ein paar Pfund zugelegt, besaß mit ihren schmalen Schultern und Hüften und den schlanken Beinen jedoch noch immer eine knabenhafte Figur. Inzwischen zeichneten sich zwar die ersten weiblichen Rundungen ab, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie vollbusig zu nennen. Und das war es doch, was den Männern gefiel, oder? Kate fuhr sich mit der Hand über das herzförmige Gesicht, das ihrer Ansicht nach zu mager war. Außerdem standen ihre Wangenknochen zu sehr hervor. Rosige Pausbäckchen, wie Brigid sie hatte, wären gewiss von Vorteil. Dafür war ihre Haut sehr hell, ja, beinahe weiß, und dazu so zart, dass sie fast durchscheinend wirkte, wie bei so vielen schwarzhaarigen Iren. Ihre Hand wanderte weiter über das markante Kinn zum schlanken Hals, während sie das bunte Treiben um sich herum beobachtete. Ihr Aussehen kümmerte sie viel weniger als die vielfältigen Eindrücke ihrer neuen Heimat. Der Hafen ähnelte einem Wald aus Masten und Spieren. Arbeiter wimmelten umher, löschten Ladung und schleppten Waren zwischen Ochsenkarren und den wartenden Schiffen hin und her. Weitere Einwanderer gingen an Land, sodass von allen Seiten fröhliche Begrüßungen zu hören waren. Bis jetzt hatte niemand die Elgin und ihre aus irischen Mädchen bestehende Ladung auch nur eines Blickes gewürdigt. Irische Waisenmädchen waren in Adelaide nichts Neues mehr. Die dröhnende Stimme der Vorsteherin riss Kate aus ihren Betrachtungen. »Kommt, Mädchen, fertig machen zum Aussteigen. Die Wagen für euer Gepäck sind schon da. Und dass ihr euch ja benehmt!« Die Mädchen rafften ihre wenige Habe zusammen und scharten sich um die Vorsteherin. »Schmutzige Bälger«, raunte diese dem Hafenmeister zu, während sie ihre Schützlinge abfällig beäugte. Dass sie die Mädchen nicht leiden konnte, war von Beginn der Reise an nicht zu übersehen gewesen. »Los, Beeilung«, rief sie. »Ihr werdet die acht Meilen in die Stadt zu Fuß gehen. Es gibt nur eine Straße. In Adelaide fragt ihr nach dem Waisenhaus. Also, ein bisschen plötzlich, sonst verpasst ihr euer Abendessen.« Ohne auf die Drohungen und Schimpftiraden der Vorsteherin zu achten, trotteten die Mädchen die Planke hinunter und waren froh, endlich an Land zu sein. »Komm!« Kate nahm ihre schüchterne Freundin bei der Hand und machte sich auf den Weg durch den Hafen.
Die beiden schlängelten sich durch die Kisten, Körbe und Fässer, die sich am Ufer stapelten, liefen an den Bergen von Fischernetzen vorbei und rannten durch die Schwärme von Möwen, die lauerten, bis die Fischer ihnen ein paar Bröckchen frischen Fisch zuwarfen. Riesige Wollballen und hoch aufgetürmte Getreidesäcke warteten darauf, auf die vor Anker liegenden Schiffe verladen zu werden. Nach den vielen Monaten auf See waren die Mädchen noch ein wenig wackelig auf den Beinen. »Hey, passt doch auf, ihr Trampel«, rief da eine Stimme mit irischem Akzent. Kate blieb ruckartig stehen. Der Mann, der sie angeschrien hatte, schob eine Schubkarre, auf der sich bis zum Bersten gefüllte Säcke häuften. Er schnitt ihr den Weg ab, sodass er ihr beinahe über die Schuhspitzen gefahren wäre. »Passen Sie doch selbst auf«, brüllte sie ihm nach. »Oder wissen Sie nicht, dass Damen immer Vortritt haben?« Lachend warf sie ihr Haar zurück und ließ es sich vom Wind aus dem Gesicht wehen. Ihre violetten Augen funkelten spitzbübisch. »Schon, aber hier sind nirgendwo Damen!« Der hochgewachsene, breitschultrige Ire grinste sie an und bleckte dabei makellos weiße Zähne, die sich leuchtend von seiner dunklen Haut abhoben. Im nächsten Moment war er in der Menge verschwunden. Die Straße in die Stadt war wegen der vielen überladenen Fahrzeuge mit tiefen Furchen durchsetzt. Kate, Brigid und die anderen trotteten durch die Straßen von Port Adelaide, vorbei an den Lagerhäusern, Zollkontoren, Handelsniederlassungen und Kramläden. Unterwegs wurden sie ständig von Wagen, Karren und Kutschen überholt. Die entgegenkommenden Fuhrwerke hatten Getreidesäcke oder Kupfererz geladen. Die, die von hinten kamen, ächzten unter dem Gewicht der Möbel und Besitztümer der vielen neuen Siedler, die wöchentlich in der Kolonie eintrafen. Die Straße führte durch weites, von Buschwerk bewachsenes Land, das sich ausdehnte, so weit das Auge reichte. In der Ferne war im Osten eine dicht bewaldete, blau schimmernde Bergkette zu erkennen. Die Gebäude waren eilig aus leicht zu beschaffenden Materialien zusammengezimmert. Die meisten bestanden aus mit Lehm bestrichenem Flechtwerk, ein paar auch aus grob behauenem Stein. Kleine Farmen standen überall auf der Ebene verstreut, und Hühner, Ziegen, Kühe, Schweine und Schafe zogen frei durch die Landschaft. Sie hatten schon einige Meilen hinter sich gebracht, als plötzlich ein voll beladener Wagen langsam neben ihnen herrollte. »Na, wenn das nicht die hübschen Damen aus Irland sind!« Wie Kate rasch feststellte, war es der Mann, mit dem sie am Hafen beinahe zusammengestoßen wäre. »Und wenn das nicht der Bursche ist, der junge Damen mit dem Handkarren überfährt!« »Es wundert mich, Damen Ihres Standes zu Fuß in die Stadt gehen zu sehen. Haben Sie etwa Ihre Kutsche verloren?« »Der Höflichste sind Sie anscheinend nicht gerade«, witzelte Kate zurück. »Ein wahrer Gentleman würde einer Dame eine Mitfahrgelegenheit anbieten, anstatt sich an ihrer misslichen Lage zu weiden.« »Eine feine Dame würde sich niemals in so einem alten Karren sehen lassen.« »Also, ich hätte nichts dagegen«, rief Brigid.
Der Wagen hielt an. »Dann steigen Sie ein.« »Sollen wir?« Ängstlich sah Brigid sich nach der Vorsteherin um. »Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich fühle mich ziemlich wackelig auf den Beinen«, erwiderte Kate. »Wir würden gern mitfahren. Vielen Dank«, sagte Brigid mit leiser, beinahe atemloser Stimme. Der Mann streckte eine kräftige Hand aus und half Kate auf den schmalen Kutschbock. »Sie setzen sich am besten auf die Kiste hinter mir«, meinte er zu Brigid und reichte auch ihr die Hand. »Rory O'Connor, zu Ihren Diensten, meine Damen«, fügte er hinzu und lüpfte seinen Filzhut. Seine dunkelblauen Augen funkelten freundlich, und ein breites Grinsen spielte um seine Lippen. Dann schnalzte er mit den Zügeln, und die Pferde setzten sich gemächlich in Bewegung. Unterwegs betrachtete Kate sein Profil. Er schien noch keine dreißig zu sein, besaß einen markanten Kiefer und einen festen Mund, zu dem die funkelnden Augen und die Lachfältchen einen starken Gegensatz bildeten. Trotz seines kräftigen Körperbaus hatte er kein überflüssiges Gramm Fett an sich und war muskulös. Seine Haut glänzte sonnengebräunt und sah gesund aus. »Ich bin Kate O'Mara, und das ist Brigid Mulcahey.« Kate schenkte ihm ihr reizendstes Lächeln, denn sie freute sich sehr, einem Landsmann begegnet zu sein. »Wir sind heute erst eingetroffen und kommen aus Cork.« »Aus Cork stammen Sie? Dann sind wir beinahe alte Nachbarn. Ich bin aus Castlemaine, County Kerry.«
»Ach, ein O'Connor aus Kerry. Ich kannte einen O'Connor aus Kerry. Er war unser Gemeindepfarrer«, erklärte Brigid. »Vater Daniel O'Connor?« »Ja, genau.« »Das ist der Cousin meines Vaters. Was für ein Zufall. Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Wie geht es ihm denn?« »Bei mir ist es noch länger her. Es war, bevor ... bevor ich von dort fortgegangen bin. Vor dem Tod meiner Familie.« »Sie haben also Ihre ganze Familie verloren?« Brigid sah Kate an. »Wir beide.« »Das tut mir leid.« »Das ist Vergangenheit«, entgegnete Kate und straffte unbewusst die Schultern. »Was ist denn mit Ihrer Familie, Mr O'Connor? Oder sind Sie auch allein hergekommen?« »Ja, ganz allein. Aber freiwillig. Das arme alte Irland war in einem traurigen Zustand. Meine Familie ist noch dort. Wir gehörten zu den Glücklichen, die die Hungersnot überlebt haben. Ich versuche immer noch, sie zum Auswandern zu überreden. Dieses Land ist wundervoll.« Kate war froh, das Thema Familie abgehakt zu haben. »Wirklich? Erzählen Sie uns mehr davon.« »Es ist ein sehr schönes Land, daran besteht kein Zweifel, auch wenn Sie sich für Ihre Ankunft keinen guten Tag ausgesucht haben. Sonst scheint immer die Sonne, und die Vögel singen aus voller Kehle, um den Tag zu loben.« Er hielt inne. »Meist lebt es sich hier recht angenehm. Doch wenn Sie auf Arbeitssuche sind, muss ich Ihnen sagen, dass Sie den falschen Zeitpunkt erwischt haben. Vor ein oder zwei Jahren hätten sich die Arbeitgeber noch um Sie gerissen. Aber das hat sich geändert.« »Uns hat man erzählt, die Leute würden sich am Hafen drängen, um uns eine Stelle anzubieten«, erwiderte Brigid. »Und die heiratswilligen Männer auch.« Rory lachte auf. »Nun, seit der ersten Bootsladung Waisenmädchen haben sich die Zeiten geändert. Anfangs hatten alle Mitleid mit den Opfern der Hungersnot. Seltsamerweise jedoch hat sich die Anteilnahme rasch gelegt, seit es hier von Dienstboten nur so wimmelt.« Kate fuhr hoch. »Was? Es gibt keine Arbeit für Dienstboten?« »Nein, nicht mehr. Offenbar hat man sich, was die Anzahl der Einwanderer angeht, verschätzt. Diese Kolonie wurde von freiwilligen Siedlern gegründet ...« »Wir haben gehört, dass hier keine Sträflinge leben«, unterbrach Kate. »Stimmt. Man wollte es mit einer anderen Art von Kolonie versuchen. Der Plan war, den Wohlhabenden Land zu verkaufen. Der Erlös sollte dafür verwendet werden, die für die Arbeit auf den Farmen benötigten Menschen herzubringen.« »Und was ist schiefgegangen?«, erkundigte sich Brigid eifrig. »Nun, anfangs gab es nicht genug Hauspersonal und Farmarbeiter. Alle, die herkamen, wollten ein Stück Land erwerben, ganz gleich, wie klein es auch sein mochte. Und als es endlich gelang, genügend Arbeitskräfte anzuwerben, ging es mit der ganzen Kolonie bergab, und niemand hatte mehr das Geld, um sie zu beschäftigen.«
»Also ist es nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, von dem man uns erzählt hat«, stellte Brigid fest. »Nein. Aber der Anfang war auch nicht leicht. Vor den Kupferfunden in Burra Burra und Kapunda sah es ganz danach aus, als würden die meisten von uns ihre Zelte abbrechen und nach Osten ziehen. Die Kupferminen haben der Region aber wieder auf die Sprünge geholfen. Allerdings hatten wir einige Dürreperioden und Missernten zu überstehen, sodass sich im Moment niemand Landarbeiter leisten kann.« »Und womit sollen wir dann unser Geld verdienen?« »Eine gute Frage. Ich denke, Sie gehören zu den letzten Waisen, die hergebracht wurden. Wenn Sie beide Bergarbeiter aus Cornwall wären, würde man sich um Sie reißen, denn in den Minen von Burra Burra gibt es genug zu tun. Ansonsten werden Sie vermutlich nur im Busch etwas finden.« »Aber in Irland sitzen Tausende von Mädchen wie wir, die nur darauf warten, endlich von dort wegzukommen. Alle haben die Hoffnung verloren, denn das Land ist vor die Hunde gegangen. Sämtliche Mädchen im Arbeitshaus wollten hierher. Es war reines Glück, dass wir mitfahren durften«, erklärte Brigid. »Als ob ich das nicht wüsste«, sagte Rory. »Ich denke, seit meinem Abschied von der alten Heimat hat sich nicht viel verändert. Keiner, der die Hungersnot überlebt hat, möchte in Irland bleiben und auf die nächste warten. Doch das spielt keine Rolle. Ein Mangel an Einwanderungswilligen ist nicht das Problem. Am besten schenke ich Ihnen gleich reinen Wein ein, denn früher oder später werden Sie es sowieso rauskriegen. Sie sind hier nicht willkommen, und die Leute werden nicht sehr freundlich zu Ihnen sein.«
Die beiden Mädchen wechselten erschrockene Blicke. »Soll das heißen, dass die Iren unbeliebt sind?«, fragte Kate. »Unter anderem. Angeblich soll dieses Land für alle ein Neuanfang sein, doch viele der Siedler - die Engländer, die Schotten und die Deutschen - wollen lieber unter sich bleiben.« »Das ist doch meistens so«, wandte Kate ein. »Hm.« Offenbar war es Rory peinlich, weiterzusprechen. »Tja, die irischen Mädchen, die vor Ihnen kamen, haben dafür gesorgt, dass Irinnen keinen sonderlich guten Ruf genießen. Von denen, die im Mai mit der Inconstant eintrafen, hat keine einzige Arbeit gefunden. Hinzu kam, dass viele von ihnen sich nicht als Dienstmädchen in den Häusern der besseren Gesellschaft eigneten. Also standen ihnen nicht viele Möglichkeiten offen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Während Brigid ein verdattertes Gesicht machte, schwante Kate allmählich die Wahrheit. »Erzählen Sie mehr«, forderte sie Rory auf. »Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen.« »Das werden Sie nicht schaffen. Vergessen Sie nicht, dass wir in einem Arbeitshaus gelebt haben. Wir haben schon einiges gesehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, die meisten, die mit dem letzten Schiff ankamen, sind inzwischen Prostituierte. Überhaupt stammt der Großteil aller Prostituierten in Adelaide aus Irland. Also wird man Sie mit diesen Frauen in einen Topf werfen.« Rory schnalzte mit den Zügeln und starrte in die Ferne, wo die Stadt lag. Erneut wechselten Kate und Brigid erschrockene Blicke. »Ach herrje, ich wünschte, ich wäre nie hergekommen«, flüsterte Brigid und bekreuzigte sich.
Doch Kate ließ sich nicht so schnell unterkriegen. »Warum suchen diese Mädchen sich keine Arbeit in der Landwirtschaft? Sie haben selbst gesagt, dass es dort genug zu tun gibt. Wie ist es denn so im Busch?« Rory sah sie an und lachte. »So jemanden wie Sie nennt man hier noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Wie stellen Sie sich den Busch denn vor?« Kate zuckte die schmalen Schultern und musterte die eintönige Landschaft um sie herum. »Vermutlich sieht es dort so ähnlich aus wie hier, nur nicht mit so vielen Häusern. Richtig?« Rory stieß ein gutmütiges Lachen aus. »Diese Gegend ist verglichen damit ein grünes Paradies. Oben im Norden sieht es völlig anders aus - heiß, trocken und lebensfeindlich.« Er wies mit dem Kopf auf eine Menschengruppe, die ihnen auf der Straße entgegenkam. »Schauen Sie, das sind Aborigines.« Kate und Brigid folgten seinem Blick. Während Brigid wortlos erbleichte, betrachtete Kate die Leute mit unverhohlener Neugier. Sie hatten eine dunkle Haut und waren schmutzig. Magere Arme und Beine ragten aus den fadenscheinigen Kleidern und Fellen, die kaum ihre Körper bedeckten. Kinder und streunende Hunde sprangen um sie herum. »Sehr gefährlich sehen die aber nicht aus«, stellte Kate fest. »Die in der Stadt sind harmlos«, entgegnete Rory. »Sie haben es aufgegeben, um ihr Land zu kämpfen, und dürfen die Stadt nur betreten, wenn sie bekleidet sind. Draußen im Busch jedoch geht es ganz anders zu. Die dortigen Eingeborenen rauben und morden und machen in Kriegsbemalung einen recht bedrohlichen Eindruck. Sie haben ganze Siedlerfamilien auf abgelegenen Farmen umgebracht.« Sein Blick wandte sich wieder der Straße zu. »Allerdings lauern im Busch noch weitere Gefahren: Giftschlangen, Springfluten, endlose Dürreperioden, Wasserknappheit, eine meist unerträgliche Hitze und Buschbrände, von den Fliegen und dem Staub einmal ganz zu schweigen«, ergänzte er. »Also ganz anders als in Irland?«, hakte Kate gespielt arglos und mit spitzbübisch funkelnden Augen nach. »Stimmt.« Rory erwiderte ihr Lächeln. »Und dann gibt es noch etwas, was jedem guten Iren aufs Gemüt schlägt, nämlich die elende Einsamkeit. Der nächste Nachbar wohnt meilenweit entfernt. Zwischen manchen Farmen liegen gar mehrere Tagesreisen. Und da die irischen Mädchen sich nicht in den Busch gewagt haben, um Arbeit zu suchen, haben sie die einzige Möglichkeit ergriffen, die sich ihnen in der Stadt bot.« »Nun, da gehe ich lieber in den Busch, wenn es sein muss«, verkündete Kate. Brigid nickte zustimmend, auch wenn sich in ihrer Miene noch immer Zweifel spiegelten. Die beiden Mädchen blickten geradeaus und ließen sich den Wind ins Gesicht wehen, ernüchtert von dem, was sie offenbar erwartete. Wieder zog Kate den Umhang fester um sich. »Was ist denn da los?«, wunderte sich Rory und ließ die Pferde langsamer gehen. Eine Menschenmenge drängte sich vor einem Gebäude, das ein Schild als Gasthaus zum gelobten Land auswies. Die Leute standen bis auf die Straße hinaus. Der Eingang zum Gebäude wurde von einem Karren blockiert. Auf der Ladefläche hatte sich ein Mann aufgebaut, der eine Frau am Haar gepackt hielt. Die Zuschauer johlten. »Offenbar betrunken«, murmelte Brigid. »Welches Gebot höre ich?«, brüllte der Mann und zerrte den Kopf der Frau näher zu sich heran. »Würde keine schlechte Ehefrau abgeben, wenn ich das so sagen darf!« Er warf ein anzügliches Lächeln in die Runde. »Los, gebt ein Gebot ab und nennt einen Preis. Dann gehört sie euch!« »Kaum zu glauben«, rief Kate aus. »Der Kerl verkauft seine eigene Frau!« Rory schnalzte mit den Zügeln, um weiterzufahren. »Mr O'Connor, warten Sie!« Kate hielt seinen Arm fest. »So etwas sollten Sie sich nicht ansehen, Miss O'Mara. Am besten machen wir uns aus dem Staub.« »Nein! Die arme Frau, wir müssen etwas unternehmen.« Kate war zu Hause dafür bekannt gewesen, dass sie nicht tatenlos zusah, wenn ein bedauernswertes menschliches Wesen misshandelt und gedemütigt wurde. »Mr O'Connor weiß sicher, was richtig ist«, wandte Brigid ein. »Wir sollten verschwinden. Bestimmt wird es Ärger geben. « »Zehn Shilling«, schrie ein magerer, zahnloser Mann, der hinten in der Menge stand. »Zwölf«, überbot ihn ein anderer. »Ach, sie ist viel mehr wert, das kann ich euch garantieren. Sie kann kochen und nähen und macht sich auch nicht schlecht im Bett.« Wieder blickte der Mann lüstern in die Menge. »Ich würde sie behalten, aber ich stecke in Geldnöten. Los, ich will Gebote hören!« »Fünfzehn«, brüllte einer. »Ein Pfund!«, ein anderer. Die Frau machte einen verängstigten Eindruck. Ihr eines Auge schwoll bereits blau an, und ihr Kleid war am Saum und am Ausschnitt zerrissen. Sie wand sich in dem gnadenlosen Griff des Mannes. Rory schnalzte erneut mit den Zügeln, und die Pferde setzten sich in Bewegung. »Halten Sie sofort an!« Kate langte über den Iren hinweg und griff nach den Zügeln, damit die Pferde stehen blieben. »Kate!« Brigid sprang von ihrer Kiste und stürzte sich von hinten auf ihre Freundin. »Deinetwegen werden wir noch einen Unfall haben, du Dummerchen.« Rory nahm ihr die Zügel ab und brachte den Wagen erneut zum Stehen. »Wir dürfen das doch nicht einfach zulassen«, widersprach Kate und wollte aufstehen, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie diese Frau misshandelt wird.« Aber Brigid hielt sie weiter umklammert. »Kate, du musst lernen, dich nicht in alles einzumischen. Du kannst nicht allen bedauernswerten Menschen oder Tieren helfen, die dir über den Weg laufen. Irgendwann wirst du dir mächtig Ärger einhandeln.« »Sie hat recht, Miss O'Mara. Wir können nichts ausrichten. « Kate riss sich von ihrer Freundin los. »Meinetwegen, legt nur die Hände in den Schoß, aber ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern. Und nun werde ich mit diesem sogenannten Ehemann ein Hühnchen rupfen.« Im nächsten Moment sprang sie so blitzschnell vom Wagen, dass niemand sie aufhalten konnte. »Mr O'Connor! Sie müssen sie daran hindern«, entsetzte sich Brigid. »Passen Sie auf die Pferde auf.« Nachdem er Brigid die Z ügel zugeworfen hatte, stieg er ebenfalls vom Wagen und hatte Kate nach wenigen Schritten eingeholt. »Miss O'Mara, Sie werden sich Prügel einhandeln«, warnte er und packte sie am Arm, um sie zurück zum Wagen zu ziehen. »Können Sie denn nichts tun, Mr O'Connor? Bitte!« »Gut, aber wir wollen nicht voreilig sein, sondern zuerst gründlich nachdenken«, erwiderte er und schleppte Kate so sanft wie möglich zum Wagen. Brigid sah Rory an und verdrehte die Augen. Dieser zuckte die Schultern und zog die dichten Augenbrauen hoch, was wohl »Was mache ich jetzt bloß mit ihr?« heißen sollte. »Überlass es Mr O'Connor, Kate.« Sie hörten, wie die Gebote stiegen. Rory drehte Kate zu sich um und blickte ihr eindringlich in die Augen. »Passen Sie auf«, begann er. »Wovor wollen Sie die arme Frau denn eigentlich retten? Möchten Sie, dass sie bei diesem Dreckskerl von einem Ehemann bleiben muss? Ohne ihn wäre sie viel besser dran!« Kate musterte ihn forschend und wandte sich dann wieder zu der Frau um.
Übersetzung: Karin Dufner
Copyright der Originalausgabe © 1996 by Ann Clancy Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
»Himmel, hörst du endlich zu weinen auf, Brigid? Man möchte meinen, das Ende der Welt wäre angebrochen!« »Zumindest sieht es hier aus wie am Ende der Welt. Schau doch!« Kates Blick wanderte über die Hafenmole zu der Landschaft, die sich dahinter erstreckte. So etwas hatte sie wirklich ihr Lebtag noch nicht gesehen. Niedrige Sanddünen und große Ansammlungen stehenden Salzwassers, so weit das Auge reichte. Die Bäume waren grau und kläglich verkrüppelt, und sogar der Gesang der Vögel hatte etwas Trauriges an sich. Kate zog sich die Kapuze ihres dicken Umhangs über den Kopf und wickelte das Kleidungsstück fest um sich, um den beißenden Südwestwind abzuhalten. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, bei ihrer Ankunft in der südaustralischen Kolonie zumindest mit Sonnenschein empfangen zu werden, aber es war stark bewölkt. Der Wind trieb düstere, bedrohlich wirkende Wolken über den Himmel. Das goldene Land der unbegrenzten Möglichkeiten machte eher einen düsteren und trostlosen Eindruck. Doch das wollte sie Brigid gegenüber auf keinen Fall zugeben.
»Das ist nur der Hafen. Adelaide ist sicher das hübscheste Städtchen, das du je erlebt hast. Also hör auf, Trübsal zu blasen, Brigid. Das hier ist ein Neuanfang.« »Man hat uns versprochen, dass zukünftige Ehemänner uns mit offenen Armen erwarten würden«, schniefte Brigid. »Oh, Brigid! Hast du das etwa wirklich geglaubt?« Kate lachte. »Ein Ehemann, der sein Salz in der Suppe wert ist, steht nicht däumchendrehend am Hafen herum und wartet auf ein Waisenmädchen aus Irland. Das haben sie uns nur weisgemacht, um uns bei Laune zu halten. Irgendetwas mussten sie uns ja erzählen, damit zweihundert Mädchen nicht die gesamte vier Monate lange Überfahrt Rotz und Wasser heulen. « »Nun, ich könnte aber losflennen, wenn ich mir das so anschaue. Und außerdem habe ich Angst. Wir wissen nicht, was uns bevorsteht. Fürchtest du dich denn nicht?« »Natürlich fürchte ich mich. Das ist doch ganz normal. Aber wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.« Kate umarmte ihre Freundin. »Keine Sorge. Wir machen einfach alles gemeinsam, so wie in den letzten beiden Jahren. Das Arbeitshaus haben wir auch überstanden, weil wir fest zusammengehalten haben. Schlimmer kann es hier nicht werden.« »Nein, vermutlich hast du recht.« »Nichts, nicht einmal die Kolonie Südaustralien, kann so entsetzlich sein wie die Hungersnot in Irland.« »Schön, dass du so zuversichtlich bist.« »Wir dürfen den Mut nicht verlieren, müssen die Vergangenheit hinter uns lassen und das Beste aus unserer Zukunft machen. Ich weiß schon, was ich tun werde. Zuerst verdiene ich ein Vermögen, und dann suche ich mir einen reichen Mann. Und danach esse ich so viel leckere Sachen, wie man für Geld nur kaufen kann.« Brigid wischte sich lachend die Augen ab. »Das glaube ich dir gern. Du packst jede Gelegenheit sofort beim Schopf. Ohne dich wäre ich niemals zur Waisenverschickung zugelassen worden. Erst als du ihnen vorgeschwindelt hast, wir wären vierzehn, durften wir mitfahren. Wenn die gewusst hätten, dass wir schon sechzehn sind, wären wir jetzt nicht hier.« »Nun, ich habe eine harte Schule hinter mir. Wenn man es in der Welt zu etwas bringen will, muss man die Ellenbogen einsetzen.« »Für dich mag das das Richtige sein, meine liebe Freundin Kate. Mir ist schon aufgefallen, wie die Männer dich anglotzen. Mit deinem Gesicht und deiner Figur angelst du dir sicher rasch einen reichen und überdies netten Mann. Ich hingegen stehe wahrscheinlich noch in zehn Jahren wartend in diesem Hafen herum.« »Unsinn!«, widersprach Kate. »Du hast ein reizendes Gesicht und bist ein bezauberndes Mädchen. Alle mögen dich.« Ihr Blick glitt über ihre Freundin. Brigids Haar war von einem warmen, samtenen Braun und hatte einen leichten Stich ins Rote. Ihre Augen waren groß und schauten freundlich drein. Mit ihrem rundlichen Gesicht gehörte Brigid zu den Mädchen, die mit Männern und Frauen gleichermaßen gut zurechtkamen. Doch wenn Kate ehrlich war, schien Brigid keine Frau zu sein, nach der sich die Männer umdrehten, auch wenn sie das ihrer Freundin nie eingestanden hätte. Kate hingegen fiel überall auf, obwohl sie nicht sicher war, woran das liegen mochte. Vielleicht lag es an ihren Augen, die tatsächlich eine seltene Farbe hatten - eine Mischung aus Violett und Blau - und außerdem ein leuchtendes Strahlen besaßen. Außerdem hatte sie hübsch geschwungene Brauen und lange schwarze Wimpern. Allerdings war sie selbst der Ansicht, dass ihre Augen ihren einzigen Vorzug darstellten. Ihr Mund war zu breit, um als schön durchzugehen, auch wenn sie gute Zähne ihr Eigen nannte. Ihr Haar besaß das schimmernde Schwarz spanischer Vorfahren, wie es in Irland häufig vorkam, aber es fehlte der warme Glanz von Brigids braunen Locken. Sie schaute an sich hinunter. Eigentlich hätte man sie als zierlich beschreiben müssen, obwohl abgemagert derzeit die passendere Bezeichnung für sie und ihre Schicksalsgenossinnen zu sein schien, die so viele Jahre lang Unterernährung oder sogar Hunger hatten erdulden müssen. Dank der kräftigenden Mahlzeiten an Bord der Elgin hatte sie zum Glück wieder ein paar Pfund zugelegt, besaß mit ihren schmalen Schultern und Hüften und den schlanken Beinen jedoch noch immer eine knabenhafte Figur. Inzwischen zeichneten sich zwar die ersten weiblichen Rundungen ab, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, sie vollbusig zu nennen. Und das war es doch, was den Männern gefiel, oder? Kate fuhr sich mit der Hand über das herzförmige Gesicht, das ihrer Ansicht nach zu mager war. Außerdem standen ihre Wangenknochen zu sehr hervor. Rosige Pausbäckchen, wie Brigid sie hatte, wären gewiss von Vorteil. Dafür war ihre Haut sehr hell, ja, beinahe weiß, und dazu so zart, dass sie fast durchscheinend wirkte, wie bei so vielen schwarzhaarigen Iren. Ihre Hand wanderte weiter über das markante Kinn zum schlanken Hals, während sie das bunte Treiben um sich herum beobachtete. Ihr Aussehen kümmerte sie viel weniger als die vielfältigen Eindrücke ihrer neuen Heimat. Der Hafen ähnelte einem Wald aus Masten und Spieren. Arbeiter wimmelten umher, löschten Ladung und schleppten Waren zwischen Ochsenkarren und den wartenden Schiffen hin und her. Weitere Einwanderer gingen an Land, sodass von allen Seiten fröhliche Begrüßungen zu hören waren. Bis jetzt hatte niemand die Elgin und ihre aus irischen Mädchen bestehende Ladung auch nur eines Blickes gewürdigt. Irische Waisenmädchen waren in Adelaide nichts Neues mehr. Die dröhnende Stimme der Vorsteherin riss Kate aus ihren Betrachtungen. »Kommt, Mädchen, fertig machen zum Aussteigen. Die Wagen für euer Gepäck sind schon da. Und dass ihr euch ja benehmt!« Die Mädchen rafften ihre wenige Habe zusammen und scharten sich um die Vorsteherin. »Schmutzige Bälger«, raunte diese dem Hafenmeister zu, während sie ihre Schützlinge abfällig beäugte. Dass sie die Mädchen nicht leiden konnte, war von Beginn der Reise an nicht zu übersehen gewesen. »Los, Beeilung«, rief sie. »Ihr werdet die acht Meilen in die Stadt zu Fuß gehen. Es gibt nur eine Straße. In Adelaide fragt ihr nach dem Waisenhaus. Also, ein bisschen plötzlich, sonst verpasst ihr euer Abendessen.« Ohne auf die Drohungen und Schimpftiraden der Vorsteherin zu achten, trotteten die Mädchen die Planke hinunter und waren froh, endlich an Land zu sein. »Komm!« Kate nahm ihre schüchterne Freundin bei der Hand und machte sich auf den Weg durch den Hafen.
Die beiden schlängelten sich durch die Kisten, Körbe und Fässer, die sich am Ufer stapelten, liefen an den Bergen von Fischernetzen vorbei und rannten durch die Schwärme von Möwen, die lauerten, bis die Fischer ihnen ein paar Bröckchen frischen Fisch zuwarfen. Riesige Wollballen und hoch aufgetürmte Getreidesäcke warteten darauf, auf die vor Anker liegenden Schiffe verladen zu werden. Nach den vielen Monaten auf See waren die Mädchen noch ein wenig wackelig auf den Beinen. »Hey, passt doch auf, ihr Trampel«, rief da eine Stimme mit irischem Akzent. Kate blieb ruckartig stehen. Der Mann, der sie angeschrien hatte, schob eine Schubkarre, auf der sich bis zum Bersten gefüllte Säcke häuften. Er schnitt ihr den Weg ab, sodass er ihr beinahe über die Schuhspitzen gefahren wäre. »Passen Sie doch selbst auf«, brüllte sie ihm nach. »Oder wissen Sie nicht, dass Damen immer Vortritt haben?« Lachend warf sie ihr Haar zurück und ließ es sich vom Wind aus dem Gesicht wehen. Ihre violetten Augen funkelten spitzbübisch. »Schon, aber hier sind nirgendwo Damen!« Der hochgewachsene, breitschultrige Ire grinste sie an und bleckte dabei makellos weiße Zähne, die sich leuchtend von seiner dunklen Haut abhoben. Im nächsten Moment war er in der Menge verschwunden. Die Straße in die Stadt war wegen der vielen überladenen Fahrzeuge mit tiefen Furchen durchsetzt. Kate, Brigid und die anderen trotteten durch die Straßen von Port Adelaide, vorbei an den Lagerhäusern, Zollkontoren, Handelsniederlassungen und Kramläden. Unterwegs wurden sie ständig von Wagen, Karren und Kutschen überholt. Die entgegenkommenden Fuhrwerke hatten Getreidesäcke oder Kupfererz geladen. Die, die von hinten kamen, ächzten unter dem Gewicht der Möbel und Besitztümer der vielen neuen Siedler, die wöchentlich in der Kolonie eintrafen. Die Straße führte durch weites, von Buschwerk bewachsenes Land, das sich ausdehnte, so weit das Auge reichte. In der Ferne war im Osten eine dicht bewaldete, blau schimmernde Bergkette zu erkennen. Die Gebäude waren eilig aus leicht zu beschaffenden Materialien zusammengezimmert. Die meisten bestanden aus mit Lehm bestrichenem Flechtwerk, ein paar auch aus grob behauenem Stein. Kleine Farmen standen überall auf der Ebene verstreut, und Hühner, Ziegen, Kühe, Schweine und Schafe zogen frei durch die Landschaft. Sie hatten schon einige Meilen hinter sich gebracht, als plötzlich ein voll beladener Wagen langsam neben ihnen herrollte. »Na, wenn das nicht die hübschen Damen aus Irland sind!« Wie Kate rasch feststellte, war es der Mann, mit dem sie am Hafen beinahe zusammengestoßen wäre. »Und wenn das nicht der Bursche ist, der junge Damen mit dem Handkarren überfährt!« »Es wundert mich, Damen Ihres Standes zu Fuß in die Stadt gehen zu sehen. Haben Sie etwa Ihre Kutsche verloren?« »Der Höflichste sind Sie anscheinend nicht gerade«, witzelte Kate zurück. »Ein wahrer Gentleman würde einer Dame eine Mitfahrgelegenheit anbieten, anstatt sich an ihrer misslichen Lage zu weiden.« »Eine feine Dame würde sich niemals in so einem alten Karren sehen lassen.« »Also, ich hätte nichts dagegen«, rief Brigid.
Der Wagen hielt an. »Dann steigen Sie ein.« »Sollen wir?« Ängstlich sah Brigid sich nach der Vorsteherin um. »Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich fühle mich ziemlich wackelig auf den Beinen«, erwiderte Kate. »Wir würden gern mitfahren. Vielen Dank«, sagte Brigid mit leiser, beinahe atemloser Stimme. Der Mann streckte eine kräftige Hand aus und half Kate auf den schmalen Kutschbock. »Sie setzen sich am besten auf die Kiste hinter mir«, meinte er zu Brigid und reichte auch ihr die Hand. »Rory O'Connor, zu Ihren Diensten, meine Damen«, fügte er hinzu und lüpfte seinen Filzhut. Seine dunkelblauen Augen funkelten freundlich, und ein breites Grinsen spielte um seine Lippen. Dann schnalzte er mit den Zügeln, und die Pferde setzten sich gemächlich in Bewegung. Unterwegs betrachtete Kate sein Profil. Er schien noch keine dreißig zu sein, besaß einen markanten Kiefer und einen festen Mund, zu dem die funkelnden Augen und die Lachfältchen einen starken Gegensatz bildeten. Trotz seines kräftigen Körperbaus hatte er kein überflüssiges Gramm Fett an sich und war muskulös. Seine Haut glänzte sonnengebräunt und sah gesund aus. »Ich bin Kate O'Mara, und das ist Brigid Mulcahey.« Kate schenkte ihm ihr reizendstes Lächeln, denn sie freute sich sehr, einem Landsmann begegnet zu sein. »Wir sind heute erst eingetroffen und kommen aus Cork.« »Aus Cork stammen Sie? Dann sind wir beinahe alte Nachbarn. Ich bin aus Castlemaine, County Kerry.«
»Ach, ein O'Connor aus Kerry. Ich kannte einen O'Connor aus Kerry. Er war unser Gemeindepfarrer«, erklärte Brigid. »Vater Daniel O'Connor?« »Ja, genau.« »Das ist der Cousin meines Vaters. Was für ein Zufall. Ich habe ihn seit zwei Jahren nicht gesehen. Wie geht es ihm denn?« »Bei mir ist es noch länger her. Es war, bevor ... bevor ich von dort fortgegangen bin. Vor dem Tod meiner Familie.« »Sie haben also Ihre ganze Familie verloren?« Brigid sah Kate an. »Wir beide.« »Das tut mir leid.« »Das ist Vergangenheit«, entgegnete Kate und straffte unbewusst die Schultern. »Was ist denn mit Ihrer Familie, Mr O'Connor? Oder sind Sie auch allein hergekommen?« »Ja, ganz allein. Aber freiwillig. Das arme alte Irland war in einem traurigen Zustand. Meine Familie ist noch dort. Wir gehörten zu den Glücklichen, die die Hungersnot überlebt haben. Ich versuche immer noch, sie zum Auswandern zu überreden. Dieses Land ist wundervoll.« Kate war froh, das Thema Familie abgehakt zu haben. »Wirklich? Erzählen Sie uns mehr davon.« »Es ist ein sehr schönes Land, daran besteht kein Zweifel, auch wenn Sie sich für Ihre Ankunft keinen guten Tag ausgesucht haben. Sonst scheint immer die Sonne, und die Vögel singen aus voller Kehle, um den Tag zu loben.« Er hielt inne. »Meist lebt es sich hier recht angenehm. Doch wenn Sie auf Arbeitssuche sind, muss ich Ihnen sagen, dass Sie den falschen Zeitpunkt erwischt haben. Vor ein oder zwei Jahren hätten sich die Arbeitgeber noch um Sie gerissen. Aber das hat sich geändert.« »Uns hat man erzählt, die Leute würden sich am Hafen drängen, um uns eine Stelle anzubieten«, erwiderte Brigid. »Und die heiratswilligen Männer auch.« Rory lachte auf. »Nun, seit der ersten Bootsladung Waisenmädchen haben sich die Zeiten geändert. Anfangs hatten alle Mitleid mit den Opfern der Hungersnot. Seltsamerweise jedoch hat sich die Anteilnahme rasch gelegt, seit es hier von Dienstboten nur so wimmelt.« Kate fuhr hoch. »Was? Es gibt keine Arbeit für Dienstboten?« »Nein, nicht mehr. Offenbar hat man sich, was die Anzahl der Einwanderer angeht, verschätzt. Diese Kolonie wurde von freiwilligen Siedlern gegründet ...« »Wir haben gehört, dass hier keine Sträflinge leben«, unterbrach Kate. »Stimmt. Man wollte es mit einer anderen Art von Kolonie versuchen. Der Plan war, den Wohlhabenden Land zu verkaufen. Der Erlös sollte dafür verwendet werden, die für die Arbeit auf den Farmen benötigten Menschen herzubringen.« »Und was ist schiefgegangen?«, erkundigte sich Brigid eifrig. »Nun, anfangs gab es nicht genug Hauspersonal und Farmarbeiter. Alle, die herkamen, wollten ein Stück Land erwerben, ganz gleich, wie klein es auch sein mochte. Und als es endlich gelang, genügend Arbeitskräfte anzuwerben, ging es mit der ganzen Kolonie bergab, und niemand hatte mehr das Geld, um sie zu beschäftigen.«
»Also ist es nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, von dem man uns erzählt hat«, stellte Brigid fest. »Nein. Aber der Anfang war auch nicht leicht. Vor den Kupferfunden in Burra Burra und Kapunda sah es ganz danach aus, als würden die meisten von uns ihre Zelte abbrechen und nach Osten ziehen. Die Kupferminen haben der Region aber wieder auf die Sprünge geholfen. Allerdings hatten wir einige Dürreperioden und Missernten zu überstehen, sodass sich im Moment niemand Landarbeiter leisten kann.« »Und womit sollen wir dann unser Geld verdienen?« »Eine gute Frage. Ich denke, Sie gehören zu den letzten Waisen, die hergebracht wurden. Wenn Sie beide Bergarbeiter aus Cornwall wären, würde man sich um Sie reißen, denn in den Minen von Burra Burra gibt es genug zu tun. Ansonsten werden Sie vermutlich nur im Busch etwas finden.« »Aber in Irland sitzen Tausende von Mädchen wie wir, die nur darauf warten, endlich von dort wegzukommen. Alle haben die Hoffnung verloren, denn das Land ist vor die Hunde gegangen. Sämtliche Mädchen im Arbeitshaus wollten hierher. Es war reines Glück, dass wir mitfahren durften«, erklärte Brigid. »Als ob ich das nicht wüsste«, sagte Rory. »Ich denke, seit meinem Abschied von der alten Heimat hat sich nicht viel verändert. Keiner, der die Hungersnot überlebt hat, möchte in Irland bleiben und auf die nächste warten. Doch das spielt keine Rolle. Ein Mangel an Einwanderungswilligen ist nicht das Problem. Am besten schenke ich Ihnen gleich reinen Wein ein, denn früher oder später werden Sie es sowieso rauskriegen. Sie sind hier nicht willkommen, und die Leute werden nicht sehr freundlich zu Ihnen sein.«
Die beiden Mädchen wechselten erschrockene Blicke. »Soll das heißen, dass die Iren unbeliebt sind?«, fragte Kate. »Unter anderem. Angeblich soll dieses Land für alle ein Neuanfang sein, doch viele der Siedler - die Engländer, die Schotten und die Deutschen - wollen lieber unter sich bleiben.« »Das ist doch meistens so«, wandte Kate ein. »Hm.« Offenbar war es Rory peinlich, weiterzusprechen. »Tja, die irischen Mädchen, die vor Ihnen kamen, haben dafür gesorgt, dass Irinnen keinen sonderlich guten Ruf genießen. Von denen, die im Mai mit der Inconstant eintrafen, hat keine einzige Arbeit gefunden. Hinzu kam, dass viele von ihnen sich nicht als Dienstmädchen in den Häusern der besseren Gesellschaft eigneten. Also standen ihnen nicht viele Möglichkeiten offen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Während Brigid ein verdattertes Gesicht machte, schwante Kate allmählich die Wahrheit. »Erzählen Sie mehr«, forderte sie Rory auf. »Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen.« »Das werden Sie nicht schaffen. Vergessen Sie nicht, dass wir in einem Arbeitshaus gelebt haben. Wir haben schon einiges gesehen.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, die meisten, die mit dem letzten Schiff ankamen, sind inzwischen Prostituierte. Überhaupt stammt der Großteil aller Prostituierten in Adelaide aus Irland. Also wird man Sie mit diesen Frauen in einen Topf werfen.« Rory schnalzte mit den Zügeln und starrte in die Ferne, wo die Stadt lag. Erneut wechselten Kate und Brigid erschrockene Blicke. »Ach herrje, ich wünschte, ich wäre nie hergekommen«, flüsterte Brigid und bekreuzigte sich.
Doch Kate ließ sich nicht so schnell unterkriegen. »Warum suchen diese Mädchen sich keine Arbeit in der Landwirtschaft? Sie haben selbst gesagt, dass es dort genug zu tun gibt. Wie ist es denn so im Busch?« Rory sah sie an und lachte. »So jemanden wie Sie nennt man hier noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Wie stellen Sie sich den Busch denn vor?« Kate zuckte die schmalen Schultern und musterte die eintönige Landschaft um sie herum. »Vermutlich sieht es dort so ähnlich aus wie hier, nur nicht mit so vielen Häusern. Richtig?« Rory stieß ein gutmütiges Lachen aus. »Diese Gegend ist verglichen damit ein grünes Paradies. Oben im Norden sieht es völlig anders aus - heiß, trocken und lebensfeindlich.« Er wies mit dem Kopf auf eine Menschengruppe, die ihnen auf der Straße entgegenkam. »Schauen Sie, das sind Aborigines.« Kate und Brigid folgten seinem Blick. Während Brigid wortlos erbleichte, betrachtete Kate die Leute mit unverhohlener Neugier. Sie hatten eine dunkle Haut und waren schmutzig. Magere Arme und Beine ragten aus den fadenscheinigen Kleidern und Fellen, die kaum ihre Körper bedeckten. Kinder und streunende Hunde sprangen um sie herum. »Sehr gefährlich sehen die aber nicht aus«, stellte Kate fest. »Die in der Stadt sind harmlos«, entgegnete Rory. »Sie haben es aufgegeben, um ihr Land zu kämpfen, und dürfen die Stadt nur betreten, wenn sie bekleidet sind. Draußen im Busch jedoch geht es ganz anders zu. Die dortigen Eingeborenen rauben und morden und machen in Kriegsbemalung einen recht bedrohlichen Eindruck. Sie haben ganze Siedlerfamilien auf abgelegenen Farmen umgebracht.« Sein Blick wandte sich wieder der Straße zu. »Allerdings lauern im Busch noch weitere Gefahren: Giftschlangen, Springfluten, endlose Dürreperioden, Wasserknappheit, eine meist unerträgliche Hitze und Buschbrände, von den Fliegen und dem Staub einmal ganz zu schweigen«, ergänzte er. »Also ganz anders als in Irland?«, hakte Kate gespielt arglos und mit spitzbübisch funkelnden Augen nach. »Stimmt.« Rory erwiderte ihr Lächeln. »Und dann gibt es noch etwas, was jedem guten Iren aufs Gemüt schlägt, nämlich die elende Einsamkeit. Der nächste Nachbar wohnt meilenweit entfernt. Zwischen manchen Farmen liegen gar mehrere Tagesreisen. Und da die irischen Mädchen sich nicht in den Busch gewagt haben, um Arbeit zu suchen, haben sie die einzige Möglichkeit ergriffen, die sich ihnen in der Stadt bot.« »Nun, da gehe ich lieber in den Busch, wenn es sein muss«, verkündete Kate. Brigid nickte zustimmend, auch wenn sich in ihrer Miene noch immer Zweifel spiegelten. Die beiden Mädchen blickten geradeaus und ließen sich den Wind ins Gesicht wehen, ernüchtert von dem, was sie offenbar erwartete. Wieder zog Kate den Umhang fester um sich. »Was ist denn da los?«, wunderte sich Rory und ließ die Pferde langsamer gehen. Eine Menschenmenge drängte sich vor einem Gebäude, das ein Schild als Gasthaus zum gelobten Land auswies. Die Leute standen bis auf die Straße hinaus. Der Eingang zum Gebäude wurde von einem Karren blockiert. Auf der Ladefläche hatte sich ein Mann aufgebaut, der eine Frau am Haar gepackt hielt. Die Zuschauer johlten. »Offenbar betrunken«, murmelte Brigid. »Welches Gebot höre ich?«, brüllte der Mann und zerrte den Kopf der Frau näher zu sich heran. »Würde keine schlechte Ehefrau abgeben, wenn ich das so sagen darf!« Er warf ein anzügliches Lächeln in die Runde. »Los, gebt ein Gebot ab und nennt einen Preis. Dann gehört sie euch!« »Kaum zu glauben«, rief Kate aus. »Der Kerl verkauft seine eigene Frau!« Rory schnalzte mit den Zügeln, um weiterzufahren. »Mr O'Connor, warten Sie!« Kate hielt seinen Arm fest. »So etwas sollten Sie sich nicht ansehen, Miss O'Mara. Am besten machen wir uns aus dem Staub.« »Nein! Die arme Frau, wir müssen etwas unternehmen.« Kate war zu Hause dafür bekannt gewesen, dass sie nicht tatenlos zusah, wenn ein bedauernswertes menschliches Wesen misshandelt und gedemütigt wurde. »Mr O'Connor weiß sicher, was richtig ist«, wandte Brigid ein. »Wir sollten verschwinden. Bestimmt wird es Ärger geben. « »Zehn Shilling«, schrie ein magerer, zahnloser Mann, der hinten in der Menge stand. »Zwölf«, überbot ihn ein anderer. »Ach, sie ist viel mehr wert, das kann ich euch garantieren. Sie kann kochen und nähen und macht sich auch nicht schlecht im Bett.« Wieder blickte der Mann lüstern in die Menge. »Ich würde sie behalten, aber ich stecke in Geldnöten. Los, ich will Gebote hören!« »Fünfzehn«, brüllte einer. »Ein Pfund!«, ein anderer. Die Frau machte einen verängstigten Eindruck. Ihr eines Auge schwoll bereits blau an, und ihr Kleid war am Saum und am Ausschnitt zerrissen. Sie wand sich in dem gnadenlosen Griff des Mannes. Rory schnalzte erneut mit den Zügeln, und die Pferde setzten sich in Bewegung. »Halten Sie sofort an!« Kate langte über den Iren hinweg und griff nach den Zügeln, damit die Pferde stehen blieben. »Kate!« Brigid sprang von ihrer Kiste und stürzte sich von hinten auf ihre Freundin. »Deinetwegen werden wir noch einen Unfall haben, du Dummerchen.« Rory nahm ihr die Zügel ab und brachte den Wagen erneut zum Stehen. »Wir dürfen das doch nicht einfach zulassen«, widersprach Kate und wollte aufstehen, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie diese Frau misshandelt wird.« Aber Brigid hielt sie weiter umklammert. »Kate, du musst lernen, dich nicht in alles einzumischen. Du kannst nicht allen bedauernswerten Menschen oder Tieren helfen, die dir über den Weg laufen. Irgendwann wirst du dir mächtig Ärger einhandeln.« »Sie hat recht, Miss O'Mara. Wir können nichts ausrichten. « Kate riss sich von ihrer Freundin los. »Meinetwegen, legt nur die Hände in den Schoß, aber ich lasse mich nicht so leicht einschüchtern. Und nun werde ich mit diesem sogenannten Ehemann ein Hühnchen rupfen.« Im nächsten Moment sprang sie so blitzschnell vom Wagen, dass niemand sie aufhalten konnte. »Mr O'Connor! Sie müssen sie daran hindern«, entsetzte sich Brigid. »Passen Sie auf die Pferde auf.« Nachdem er Brigid die Z ügel zugeworfen hatte, stieg er ebenfalls vom Wagen und hatte Kate nach wenigen Schritten eingeholt. »Miss O'Mara, Sie werden sich Prügel einhandeln«, warnte er und packte sie am Arm, um sie zurück zum Wagen zu ziehen. »Können Sie denn nichts tun, Mr O'Connor? Bitte!« »Gut, aber wir wollen nicht voreilig sein, sondern zuerst gründlich nachdenken«, erwiderte er und schleppte Kate so sanft wie möglich zum Wagen. Brigid sah Rory an und verdrehte die Augen. Dieser zuckte die Schultern und zog die dichten Augenbrauen hoch, was wohl »Was mache ich jetzt bloß mit ihr?« heißen sollte. »Überlass es Mr O'Connor, Kate.« Sie hörten, wie die Gebote stiegen. Rory drehte Kate zu sich um und blickte ihr eindringlich in die Augen. »Passen Sie auf«, begann er. »Wovor wollen Sie die arme Frau denn eigentlich retten? Möchten Sie, dass sie bei diesem Dreckskerl von einem Ehemann bleiben muss? Ohne ihn wäre sie viel besser dran!« Kate musterte ihn forschend und wandte sich dann wieder zu der Frau um.
Übersetzung: Karin Dufner
Copyright der Originalausgabe © 1996 by Ann Clancy Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
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Autoren-Porträt von Ann Clancy
Die Australierin Ann Clancy stammt aus Irland und hat sich seit ihrer Kindheit für die alten Familiengeschichten aus der Kolonialzeit begeistert. So war der Weg vorgezeichnet zum Schreiben historischer Romane, die im australischen Outback ihren Schauplatz haben. Ann Clancy hat große, abenteuerliche Reisen auf allen Kontinenten unternommen, sagt aber von sich, ihr größtes Abenteuer sei das Schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Adelaide.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ann Clancy
- 2013, 1, 656 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655532
- ISBN-13: 9783863655532
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