Trouble
Ein Jack-Reacher-Roman
Pures Adrenalin - Jack Reacher ist zurück
Keine feste Adresse, kein Telefon, keine Vergangenheit. Seit er die Eliteeinheit bei der Army verlassen hat, führt Jack Reacher ein Leben, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Doch eines Tages liegen 1.030...
Keine feste Adresse, kein Telefon, keine Vergangenheit. Seit er die Eliteeinheit bei der Army verlassen hat, führt Jack Reacher ein Leben, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Doch eines Tages liegen 1.030...
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Produktinformationen zu „Trouble “
Pures Adrenalin - Jack Reacher ist zurück
Keine feste Adresse, kein Telefon, keine Vergangenheit. Seit er die Eliteeinheit bei der Army verlassen hat, führt Jack Reacher ein Leben, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Doch eines Tages liegen 1.030 Dollar auf seinem Bankkonto, und Reacher weiß: Seine Vergangenheit hat ihn wieder. Als er auf den codierten Notruf reagiert und seine Exkollegin Frances Neagley kontaktiert, erfährt er von der brutalen Ermordung ihres einstigen Partners Calvin Franz, der erst gefoltert und dann aus einem Helikopter über der Wüste Nevadas abgeworfen wurde. Auf der Suche nach dem Rest des früheren Teams müssen sie feststellen, dass Calvin nicht das einzige Mordopfer war. Eiskalt vor Zorn rüstet Reacher zum Rachefeldzug.
Unversöhnlich, unerbittlich, unschlagbar: Jack Reacher, der einsamste und eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur.
Keine feste Adresse, kein Telefon, keine Vergangenheit. Seit er die Eliteeinheit bei der Army verlassen hat, führt Jack Reacher ein Leben, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Doch eines Tages liegen 1.030 Dollar auf seinem Bankkonto, und Reacher weiß: Seine Vergangenheit hat ihn wieder. Als er auf den codierten Notruf reagiert und seine Exkollegin Frances Neagley kontaktiert, erfährt er von der brutalen Ermordung ihres einstigen Partners Calvin Franz, der erst gefoltert und dann aus einem Helikopter über der Wüste Nevadas abgeworfen wurde. Auf der Suche nach dem Rest des früheren Teams müssen sie feststellen, dass Calvin nicht das einzige Mordopfer war. Eiskalt vor Zorn rüstet Reacher zum Rachefeldzug.
Unversöhnlich, unerbittlich, unschlagbar: Jack Reacher, der einsamste und eigenwilligste Ermittler der amerikanischen Thrillerliteratur.
Lese-Probe zu „Trouble “
Der Mann hieß Calvin Franz, und der Hubschrauber war eine Bell 222. Franz hatte zwei gebrochene Beine, deshalb musste er auf einer Tragbahre festgeschnallt an Bord gebracht werden. Das war nicht weiter schwierig. Die Bell war geräumig: Der für Geschäftsreisen und Polizeiaufgaben konzipierte zweistrahlige Hubschrauber bot Platz für sieben Fluggäste. Die Kabinentüren waren so breit wie die eines Kastenwagens und ließen sich weit öffnen. Die mittlere Sitzreihe war ausgebaut worden. Für Franz gab es auf dem Kabinenboden reichlich Platz.Die Triebwerke liefen im Leerlauf. Zwei Männer schleppten die Tragbahre. Sie duckten sich im Rotorabwind und hasteten auf die Bell zu, einer rückwärts, einer vorwärts gehend. Als sie die offene Tür erreichten, hievte der Kerl, der rückwärts gegangen war, einen der Tragegriffe auf die Türschwelle und duckte sich weg. Der andere Kerl trat vor und schob kräftig an, sodass die Tragbahre ganz in die Kabine rutschte. Franz war bei Bewusstsein und hatte Schmerzen. Er schrie auf und warf sich etwas herum, aber nicht allzu sehr, weil seine Brust- und Schenkelgurte sehr straff angezogen waren. Die beiden Männer stiegen nach ihm ein und nahmen ihre Plätze in der Reihe hinter den ausgebauten Sitzen ein und knallten die Kabinentür zu.
Dann warteten sie.
Der Pilot wartete.
Ein dritter Mann trat aus einer grauen Metalltür und kam übers Vorfeld. Er ging gebückt unter den Rotorblättern hindurch und hielt eine Hand flach an seine Brust gepresst, damit seine Krawatte nicht im Wind flatterte. Diese Geste ließ ihn wie einen Schuldigen aussehen, der seine Unschuld beteuert. Er ging vorn um den langen Bug der Bell herum und stieg links neben dem Piloten ein.
"Los", sagte er, dann senkte er den Kopf, um sich auf den Zentralverschluss seines Gurtzeugs zu konzentrieren.
Als der Pilot die Leistungshebel nach vorn schob, verwandelte das träge Wup-wup-wup der Rotorblätter im Leerlauf sich in ein helles, drängendes Knattern, das dann vom Heulen der
... mehr
Triebwerke überlagert wurde. Die Bell hob senkrecht ab, driftete etwas nach links und drehte sich halb, bevor sie mit eingefahrenem Fahrwerk auf dreihundert Meter stieg. Dann senkte sie ihren Bug und knatterte hoch und schnell nach Norden. Unter ihr glitten Straßen und Wissenschaftsparks und kleine Fabriken und sauber abgegrenzte Vororte vorbei. Klinkermauern und Blechbeplankungen leuchteten in der Abendsonne rot. Kleine smaragdgrüne Rasenflächen und türkise Swimmingpools glänzten im letzten Licht.
Der Mann auf dem vorderen linken Sitz fragte: "Sie wissen, wohin wir wollen?"
Der Pilot nickte, ohne etwas zu sagen.
Die Bell knatterte weiter, ging auf Nordostkurs, stieg etwas höher, tauchte ins nächtliche Dunkel ein. Sie überflog einen tief unter ihr liegenden Freeway, einen Strom aus weißen Lichtern, die nach Westen krochen, und aus roten, die nach Osten krochen. Eine Minute nördlich des Freeways gingen die letzten kultivierten Flächen in kleine Hügel über, die kahl und mit niedrigem Buschwerk bewachsen und unbewohnt waren. Ihre der untergehenden Sonne zugekehrten Flanken leuchteten orangerot, während ihre im Schatten liegenden Seiten und die Täler dunkelbeige waren. Wenig später gingen die kleinen Hügel ihrerseits in niedrige abgerundete Berge über. Die Bell raste weiter, stieg und sank, folgte den Geländekonturen unter ihnen. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich um und sah auf Franz herab, der hinter ihm auf dem Boden lag. Lächelte flüchtig und sagte: "Ungefähr noch zwanzig Minuten."
Franz gab keine Antwort. Er litt zu starke Schmerzen.
Die Reisegeschwindigkeit der Bell betrug knapp zweihundertsechzig Stundenkilometer, daher legte sie in weiteren zwanzig Minuten rund sechsundachtzig Kilometer zurück und gelangte über die Berge weit in die unbesiedelte Wüste hinaus. Der Pilot hob den Bug an und flog etwas langsamer. Der Mann neben ihm drückte seine Stirn ans Fenster und starrte ins Dunkel hinunter.
"Wo sind wir?", fragte er.
Der Pilot sagte: "Wo wir schon mal waren." "Genau?"
"Ungefähr."
"Was liegt unter uns?"
"Sand."
"Höhe?"
"Tausend Meter."
"Wie sind die Verhältnisse hier oben?"
"Still. Leichte Thermik, aber kein Wind."
"Sicher?"
"Flugtechnisch schon."
"Okay, dann los."
Der Pilot wurde noch langsamer, bis er in tausend Meter Höhe über der Wüste in den Schwebeflug überging. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich erneut um und machte den Kerl en in der letzten Reihe ein Zeichen. Die beiden schnallten sich ab. Einer kauerte neben Franz' Füßen nieder, hielt seinen Sicherheitsgurt mit einer Hand umklammert und entriegelte mit der anderen die Kabinentür. Der Pilot, der sie halb umgedreht beobachtete, hob den Bug etwas an, sodass die Tür durch ihr Eigengewicht ganz nach hinten glitt. Dann senkte er den Bug wieder und flog einen langsamen Rechtskreis, damit Fliehkraft und Luftströmung die Tür offen hielten. Der zweite Kerl ging hinter Franz' Kopf in die Hocke und hievte die Tragbahre in einem Winkel von fünfundvierzig Grad hoch. Um die Tragbahre anzuhalten, stellte der erste Kerl seinen Schuh aufs Ende der Schiene, in der die Rollen der Tragbahre liefen. Der zweite Kerl stemmte sie wie ein Gewichtheber mit einem Ruck fast senkrecht hoch. Franz sackte gegen die Gurte nach unten. Er war ein großer, schwerer Mann. Und er ließ sich nicht leicht unterkriegen. Seine Beine waren wertlos, aber sein Oberkörper war stark und versuchte den Gurt zu sprengen. Er warf seinen Kopf von einer Seite zur anderen.
Der erste Kerl zog sein Springmesser und ließ die Klinge aufschnappen. Benutzte es, um Franz' Schenkelgurt zu durchtrennen. Dann machte er eine kurze Pause, bevor er den Gurt über Franz' Brust zerschnitt. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung. Genau gleichzeitig brachte der zweite Kerl die Tragbahre ganz in die Senkrechte. Franz trat unwillkürlich einen Schritt nach vorn, auf seinem gebrochenen rechten Bein. Er schrie kurz auf, dann machte er instinktiv einen weiteren Schritt, auf seinem gebrochenen linken Bein. Er sackte, wild mit den Armen rudernd, nach vorn, und das Übergewicht seines schweren Oberkörpers ließ ihn über die Drehachse der steifen Hüften kippen und beförderte ihn durch die offene Tür hinaus: in die von Lärm erfüllte Dunkelheit, in den Sturmstärke erreichenden Rotorabwind, in die Nacht.
Tausend Meter über der Wüste.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Selbst der Triebwerkslärm schien abzunehmen. Dann kehrte der Pilot die Bewegungsrichtung der Bell um und senkte ihren Bug, sodass die Kabinentür sich von selbst wieder schloss. Die Turbinendrehzahl ging etwas zurück, die Rotorblätter schaufelten Luft, und der Bug blieb leicht gesenkt.
Die beiden Kerle beeilten sich, auf ihre Plätze zurückzukommen.
Der Mann vorn neben dem Piloten sagte: "Okay, jetzt nach Hause."
Siebzehn Tage später war Jack Reacher in Portland, Oregon, und ziemlich abgebrannt. In Portland, weil er irgendwo sein musste und der Überlandbus, mit dem er zwei Tage zuvor unterwegs gewesen war, dort gehalten hatte. Ziemlich abgebrannt, weil er in einer Cop Bar eine stellvertretende Staatsanwältin namens Samantha kennengelernt und sie zweimal zum Abendessen eingeladen hatte, bevor er zwei Nächte bei ihr verbrachte. Jetzt war sie ins Büro gefahren, und er entfernte sich von ihrem Haus, war um neun Uhr morgens zum Busbahnhof in der Stadtmitte unterwegs: mit noch vom Duschen nassem Haar, befriedigt, entspannt, ohne bestimmtes Ziel, mit einem sehr dünnen Packen Geldscheine in der Tasche.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten Reachers Alltag in zweierlei Hinsicht verändert. Erstens hatte er jetzt neben seiner Klappzahnbürste einen Reisepass in der Tasche. In dieser neuen Ära erforderten zu viele Dinge - auch die meisten Reisemöglichkeiten - einen Lichtbildausweis. Reacher war jemand, der sich treiben ließ, aber kein Einsiedler, ruhelos, aber nicht gestört, und hatte deshalb würdevoll nachgegeben.
Und zweitens hatte er sein Verfahren für Barabhebungen geändert. Nach seinem Ausscheiden aus der Army hatte er viele Jahre lang bei Bedarf seine Bank in Virginia angerufen und sich mit Western Union telegrafisch Geld an seinen jeweiligen Aufenthaltsort schicken lassen. Neue Sorgen über die Finanzierungsmethoden von Terroristen hatten dieses Verfahren jedoch praktisch unmöglich gemacht. Also hatte Reacher sich eine Kontokarte ausstellen lassen. Er trug sie im Pass bei sich und hatte als PIN die Zahl 8197 gewählt. Er betrachtete sich als Mann mit sehr wenigen Talenten, aber allen möglichen Fähigkeiten, von denen die meisten physisch waren und mit seiner überdurchschnittlichen Größe und Stärke zusammenhingen; dazu gehörten auch die Gabe, dass er immer wusste, wie spät es gerade war, ohne auf die Uhr sehen zu müssen, und eine nicht unbedingt mit Intelligenz zusammenhängende Rechenbegabung. Daher die 8197. Ihm gefiel die 97, weil sie die größte zweistellige Primzahl war, und er liebte die 81, weil sie unter buchstäblich unendlich vielen Zahlen die absolut einzige war, deren Wurzel mit ihrer Quersumme übereinstimmte. Die Quadratwurzel aus 81 war neun, und acht und eins ergab ebenfalls neun. Keine andere nicht triviale Zahl im Kosmos besaß solch köstliche Symmetrie. Perfekt.
Seine Freude an Zahlenspielereien und sein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Geldhäusern zwangen ihn dazu, jedes Mal seinen Kontostand zu kontrollieren, wenn er Geld abhob. Er dachte immer daran, die Auszahlungsgebühr abzuziehen und jedes Vierteljahr den kümmerlichen Guthabenzins der Bank zu addieren. Aber trotz seines Misstrauens war er nie abgezockt worden. Sein Guthaben entsprach jedes Mal genau seiner Berechnung. Er war bisher nie überrascht oder enttäuscht gewesen.
Bis zu diesem Morgen in Portland, an dem er überrascht, aber nicht gerade enttäuscht war. Weil sein Guthaben über tausend Dollar höher war als erwartet.
Exakt eintausenddreißig Dollar höher, als Reacher sich im Kopf ausgerechnet hatte. Offenbar ein Irrtum. Ein Fehler der Bank. Eine Überweisung auf ein falsches Konto. Ein Irrtum, der sich berichtigen ließ. Behalten würde er das Geld natürlich nicht können. Er war ein Optimist, aber kein Dummkopf. Er drückte auf einen weiteren Knopf und forderte damit einen sogenannten Minikontoauszug an. Aus einem Schlitz schlängelte sich ein dünner Papierstreifen. Schwacher grauer Druck zeigte die letzten fünf Kontobewegungen an. Drei davon waren Abhebungen an Geldautomaten, an die er sich gut erinnerte. Eine betraf die Guthabenzinsen der Bank. Ganz unten stand eine vor drei Tagen erfolgte Einzahlung über eintausenddreißig Dollar in bar. Nun hatte er's schwarz auf weiß. Der Papierstreifen war zu schmal für eigene Soll- und Habenspalten, deshalb stand der Betrag in Klammern, die ihn als Gutschrift auswiesen: (1030,00).
Tausenddreißig Dollar.
1030.
Keine auf den ersten Blick interessante Zahl, aber Reacher starrte sie doch eine Minute lang an. Natürlich keine Primzahl. Keine gerade Zahl mit mehr als zwei Stellen konnte eine Primzahl sein. Wurzel? Etwas weniger als 10,1. Teiler? Nicht viele, aber 5 und 206 neben den auf der Hand liegenden 10 und 103 und den noch offensichtlicheren 2 und 515.
Also 1030.
Tausenddreißig.
Ein Irrtum. Vielleicht.
Oder vielleicht auch keiner.
Reacher zog seine fünfzig Dollar aus dem Automaten, angelte Kleingeld aus der Tasche und machte sich auf die Suche nach einem Münztelefon.
Eine Telefonzelle fand er im Busbahnhof. Die Nummer seiner Bank wusste er auswendig. 9.40 Uhr im Westen, 12.40 Uhr im Osten. Mittagspause in Virginia, aber bestimmt war irgendjemand da.
Tatsächlich war jemand da. Keine Mitarbeiterin, mit der Reacher schon mal gesprochen hatte, aber eine Frau, die kompetent wirkte. Vielleicht eine leitende Angestellte, die nur über Mittag eingesprungen war. Sie nannte ihren Namen, den Reacher aber nicht verstand. Danach ratterte sie einen eingeübten Begrüßungstext herunter, der Reacher das Gefühl vermitteln sollte, ein geschätzter Kunde zu sein. Er ließ ihn über sich ergehen, dann erzählte er ihr von der Einzahlung. Sie war erstaunt, dass ein Kunde wegen eines Irrtums zu seinen Gunsten anrief.
"War vielleicht kein Irrtum", sagte Reacher.
"Haben Sie die Einzahlung erwartet?", fragte sie.
"Nein."
"Zahlen Dritte häufig etwas auf Ihr Konto ein?"
"Nein."
"Dann ist's wahrscheinlich ein Irrtum, glauben Sie nicht?"
"Ich muss wissen, wer den Betrag eingezahlt hat."
"Darf ich fragen, weshalb?"
"Das zu erklären würde lange dauern."
"Ich müsste's trotzdem wissen", sagte die Frau. "Hier geht es um vertrauliche Informationen. Gewährt ein Irrtum der Bank einem Kunden Einblick in die finanziellen Verhältnisse eines anderen, könnte das ein Verstoß gegen alle möglichen Bestimmungen und Vorschriften und ethischen Grundsätze sein."
"Die Einzahlung könnte eine Nachricht sein", sagte Reacher.
"Eine Nachricht?"
"Aus der Vergangenheit."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich war früher mal bei der Militärpolizei", erklärte Reacher. "Der Funkverkehr der Militärpolizei ist verschlüsselt.
Braucht ein Militärpolizist dringend Unterstützung von Kollegen, gibt er über Funk den Code zehn-dreißig durch. Verstehen Sie, was ich meine?"
"Nein, ehrlich gesagt nicht."
Reacher sagte: "Kenne ich den Einzahler nicht, ist diese Sache ein tausenddreißig Dollar teurer Irrtum, denke ich. Kenne ich ihn jedoch, kann sie ein Hilferuf sein."
"Das verstehe ich noch immer nicht."
"Sehen Sie sich die Schreibweise an. Statt tausenddreißig Dollar könnte der Funkcode zehn-dreißig gemeint sein. Sehen Sie sich die geschriebene Zahl an."
"Hätte diese Person Sie nicht einfach angerufen?"
"Ich habe kein Telefon."
"Vielleicht eine E-Mail? Oder ein Telegramm. Oder sogar ein Brief?"
"Ich habe keine Adressen für solche Dinge."
"Wie setzen wir uns dann mit Ihnen in Verbindung?"
"Überhaupt nicht."
"Eine Einzahlung auf Ihr Konto wäre eine sehr merkwürdige Art der Verbindungsaufnahme."
"Vielleicht die einzige Art."
"Eine sehr schwierige Art. Jemand müsste Ihr Bankkonto ausfindig machen."
"Genau das meine ich", erwiderte Reacher. "Das könnte nur eine clevere, einfallsreiche Person schaffen. Und wenn eine clevere, einfallsreiche Person Hilfe braucht, ist irgendwo etwas Schlimmes passiert."
"Das wäre auch ziemlich teuer. Es könnte jemanden über tausend Dollar kosten."
"Genau. Diese Person müsste clever und einfallsreich und verzweifelt sein."
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Dann: "Können Sie nicht einfach eine Liste der infrage kommenden Leute aufstellen und sie nacheinander abtelefonieren?"
"Ich habe mit vielen cleveren Leuten zusammengearbeitet. Meistens liegt das schon sehr lange zurück. Ich würde Wochen brauchen, um alle aufzuspüren. Dann könnte's schon zu spät sein. Und ich habe ohnehin kein Telefon."
Wieder Stille. Bis auf das Klappern einer Tastatur.
Reacher sagte: "Sie sehen nach, stimmt's?"
Die Frau antwortete: "Das dürfte ich eigentlich gar nicht."
"Ich verpfeife Sie nicht."
Erneut Schweigen. Das Klappern der Tastatur verstummte. Reacher wusste, dass sie den Namen auf ihrem Bildschirm vor sich hatte.
"Sagen Sie ihn mir", verlangte er.
"Ich kann Ihnen den Namen nicht einfach sagen. Sie müssen mir schon ein bisschen helfen."
"Wie?"
"Geben Sie mir Hinweise. Damit ich nicht einfach den Namen sagen muss."
"Was für Hinweise?"
Sie fragte: "Nun, handelt es sich beispielsweise um einen Mann oder eine Frau?"
Reacher lächelte flüchtig. Die Antwort lag bereits in der Fragestellung. Es war eine Frau. Todsicher. Eine clevere, einfallsreiche Frau, die eine fantasievolle Querdenkerin war. Eine Frau, die von seinem fast zwanghaften Rechentrieb wusste.
"Lassen Sie mich raten", sagte Reacher. "Die Einzahlung ist in Chicago erfolgt."
"Ja, durch einen persönlichen Scheck auf eine Bank in Chicago."
"Neagley", sagte Reacher.
"Das ist der Name, den wir haben", sagte die Frau. "Frances L. Neagley."
"Dann vergessen Sie, dass wir jemals miteinander geredet haben", sagte Reacher. "Das war kein Irrtum Ihrer Bank."
Reacher hatte dreizehn Jahre in der U.S. Army gedient, alle davon bei der Militärpolizei. Er hatte Frances Neagley zehn Jahre lang gekannt und sieben Jahre lang ab und zu mit ihr zusammengearbeitet. Er war Offizier gewesen, erst Leutnant, dann Oberleutnant, Hauptmann und Major, dann zum Hauptmann degradiert und zuletzt wieder Major. Neagley hatte standhaft jegliche Beförderung über den Master Sergeant hinaus abgelehnt. Sie hatte sich geweigert, auch nur an die Offiziersschule zu denken. Reacher hatte nie richtig gewusst, weshalb. Es gab viel, was er trotz ihrer zehnjährigen Bekanntschaft nicht über sie wusste.
Andererseits gab es viel, was er über sie wusste. Sie war clever und einfallsreich und gründlich. Und verdammt taff. Und eigenartig ungehemmt. Nicht in Bezug auf persönliche Beziehungen. Sie mied persönliche Beziehungen. Sie hütete ihr Privatleben eifersüchtig und wehrte sich gegen jegliche Art körperlicher oder emotionaler Nähe. Ihre Ungehemmtheit war rein professionell. Hatte sie das Gefühl, etwas sei richtig oder notwendig, war sie kompromisslos. Dann konnte nichts sie aufhalten - keine Politik, keine praktischen Erwägungen, keine Höflichkeit oder sogar das, was Zivilisten vielleicht Recht und Gesetz genannt hätten. Reacher hatte sie einst zu einer Einheit für Sonderermittlungen geholt, in der sie zwei entscheidende Jahre lang eine wichtige Rolle spielte. Die meisten Leute hatten die oft spektakulären Erfolge ihrer Einheit auf Reachers Führungskraft zurückgeführt, aber Reacher schrieb sie Neagley zu. Sie beeindruckte ihn gewaltig. Manchmal ängstigte sie ihn fast.
Forderte sie dringend Unterstützung an, tat sie's nicht, weil sie ihre Autoschlüssel nicht finden konnte.
Neagley arbeitete bei einem privaten Sicherheitsdienst in Chicago. Das wusste er. Wenigstens hatte sie das vor vier Jahren getan, bei ihrer letzten Begegnung. Sie war ein Jahr nach ihm aus der Army ausgeschieden und hatte sich mit jemandem, den sie kannte, selbstständig gemacht. Als Partnerin, vermutete er, nicht als Angestellte.
Er grub noch mal in seinen Taschen und förderte weitere Münzen zutage. Rief die Auskunft für Ferngespräche an. Fragte nach Chicago. Gab den Namen der Firma an, wie er sich an ihn erinnerte. Die Telefonistin wurde durch eine Computerstimme ersetzt, die ihm eine Nummer nannte. Reacher hängte ein und wählte gleich wieder. Als eine Empfangsdame sich meldete, verlangte er Frances Neagley. Er wurde höflich gebeten, einen Augenblick zu warten. Wahrscheinlich war die Firma größer, als er bisher angenommen hatte. Er hatte sich einen einzigen Raum, ein schmutziges Fenster, vielleicht zwei verkratzte Schreibtische, überquellende Aktenschränke vorgestellt. Aber die gemessenen Worte der Empfangsdame, die Klickgeräusche im Hörer und die dezente Musik, während er weiterverbunden wurde, ließen auf eine erheblich größere Firma schließen. Vielleicht zwei Stockwerke, kühle weiße Korridore, Bilder an den Wänden, ein internes Telefonverzeichnis.
Ein Mann meldete sich: "Frances Neagleys Büro."
Reacher fragte: "Ist sie da?"
"Darf ich fragen, wer Sie sind?"
"Jack Reacher."
"Gut. Danke, dass Sie anrufen."
"Wer sind Sie?"
"Ich bin Ms. Neagleys Assistent."
"Sie hat einen Assistenten?"
"Gewiss."
"Ist sie da?"
"Sie ist nach Los Angeles unterwegs. In diesem Augenblick in der Luft, glaube ich."
"Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?"
"Sie möchte Sie so schnell wie möglich sprechen."
"In Chicago?"
"Sie ist für ein paar Tage in L.A. Ich denke, Sie sollten sie dort aufsuchen."
"Worum geht's überhaupt?"
"Das weiß ich nicht."
"Es hängt nicht mit ihrer Arbeit zusammen?"
"Ausgeschlossen. Sie hätte eine Akte angelegt. Den Fall hier diskutiert. Sie hätte sich nicht hilfesuchend an Fremde gewandt."
"Ich bin kein Fremder. Ich kenne sie länger als Sie."
"Entschuldigung. Das habe ich nicht gewusst."
"In welchem Hotel ist sie in L.A.?"
"Auch das weiß ich nicht."
"Wie soll ich sie dann finden?"
"Sie hat gesagt, Sie würden sie dort aufspüren können."
Reacher fragte: "Was ist das - eine Art Test?"
"Sie hat gesagt, wenn Sie sie nicht finden, könne sie Sie nicht brauchen."
"Alles in Ordnung mit ihr?"
"Irgendetwas macht ihr Sorgen. Aber sie hat mir nicht verraten, was."
Reacher behielt den Hörer am Ohr und wandte sich von der Wand ab. Der Metallschlauch mit dem Kabel wickelte sich um seine Brust. Er sah zu den mit laufenden Motoren bereitstehenden Bussen und der Abfahrtstafel hinüber. Dann fragte er: "An wen hat sie sich noch gewandt?"
Der Mann sagte: "Es gibt eine ganze Liste mit Namen. Aber Sie sind der Erste, der sich bei ihr meldet."
"Ruft sie nach der Ankunft bei Ihnen an?"
"Wahrscheinlich."
"Richten Sie ihr aus, dass ich unterwegs bin."
Reacher fuhr mit einem Zubringerbus zum Flughafen Portland und buchte bei United Airlines einen einfachen Flug nach LAX. Er benutzte seinen Reisepass, um sich auszuweisen, und seine Kontokarte für die Abbuchung. Der Preis für einen Flug am selben Vormittag war unverschämt hoch. Alaska Airlines wäre billiger gewesen, aber Reacher hasste diese Fluggesellschaft. Sie stellte Karten mit Bibelsprüchen auf ihre Essenstabletts. Verdarb ihm den Appetit.
Für Reacher war die Sicherheitskontrolle ein Kinderspiel. Kabinengepäck besaß er keines. Er hatte keinen Gürtel, keine Schlüssel, kein Handy, keine Armbanduhr. Er brauchte nur sein Kleingeld in den Plastikkorb zu werfen und seine Schuhe auszuziehen und durch den Metalldetektor zu gehen. Eine Sache von dreißig Sekunden. Dann war er zum Flugsteig unterwegs - mit seinem Kleingeld wieder in der Tasche, seinen Schuhen wieder an den Füßen, in Gedanken bei Neagley.
Nicht mit der Arbeit zusammenhängend. Also eine Privatsache. Aber so viel er wusste, hatte sie keine privaten Angelegenheiten. Kein Privatleben. Sie hatte nie eines gehabt. Natürlich hatte sie Alltagssorgen, vermutete er, und alltägliche Probleme. Wie jeder Mensch. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie bei solchen Dingen Hilfe brauchte. Ein lärmender Nachbar? Jeder vernünftige Mann würde seine Stereoanlage nach einem kurzen Gespräch mit Frances Neagley verkaufen. Oder einer Wohltätigkeitsorganisation spenden. Drogenhändler an ihrer Straßenecke? Die würden als kleine Meldung im Innenteil der Morgenzeitung enden: Leichen in einer Gasse aufgefunden, mehrfache Stichwunden, vorerst noch keine Verdächtigen. Ein Stalker? Ein Grapscher im L-Train? Reacher lief ein kalter Schauder über den Rücken. Neagley hasste es, angefasst zu werden. Er wusste nicht, weshalb. Aber jeder über eine zufällige Berührung hinausgehende Körperkontakt mit ihr würde einem Kerl einen gebrochenen Arm einbringen. Vielleicht sogar zwei gebrochene Arme.
Was war also ihr Problem?
Eine ganze Liste mit Namen. Vielleicht hatte ihre Vergangenheit sie eingeholt. Reacher hatte das Gefühl, seine Militärzeit liege sehr lange zurück. Eine andere Ära, eine andere Welt. Mit anderen Regeln. Vielleicht beurteilte jemand damalige Ereignisse nach heutigen Maßstäben und beschwerte sich über irgendetwas. Vielleicht hatte eine lange hinausgeschobene interne Untersuchung begonnen. Reachers Sonderermittler hatten viele Verfahren abgekürzt, oft mit brutalen Mitteln gearbeitet. Irgendjemand, vielleicht Neagley selbst, hatte einen Slogan erfunden: Mit den Sonderermittlern legt man sich nicht an. Das war als Versprechen, als Warnung endlos wiederholt worden. Ausdruckslos und todernst.
Vielleicht hatte sich jetzt jemand mit den Sonderermittlern angelegt. Vielleicht hagelte es Vorladungen und einstweilige Verfügungen. Aber wieso sollte Neagley ihn in diese Sache hineinziehen? Er lebte ungefähr so anonym, wie das in Amerika überhaupt möglich war. Würde sie sich nicht einfach dumm stellen und ihn unbehelligt lassen?
Er schüttelte den Kopf, gab auf und ging an Bord seines Flugzeugs.
Unterwegs nutzte er die Zeit, um sich zu überlegen, wo Neagley sich verkrochen haben mochte. Früher hatte es zu seinem Job gehört, Leute aufzuspüren, und er war darin ziemlich gut gewesen. Erfolg beruhte auf Empathie. Man musste wie sie denken, wie sie fühlen. Sehen, was sie sahen. Sich in ihre Lage versetzen. Sie sein.
Bei Soldaten, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatten, war das natürlich leichter. Ihre Ziellosigkeit machte ihre Entscheidungen umso durchsichtiger. Und sie flüchteten vor etwas, waren nicht zu etwas unterwegs. Dabei verfielen sie oft in einen unbewussten geografischen Symbolismus. Waren sie aus Osten in eine Stadt gekommen, verkrochen sie sich im Westen. Sie wollten möglichst viel Masse zwischen sich und ihre Verfolger bringen. Hatte Reacher eine Stunde mit einem Stadtplan, einem Busfahrplan und den Gelben Seiten verbracht, konnte er häufig vorhersagen, in welchem Straßenblock er die Flüchtigen finden würde. Sogar in welchem Motel.
Bei Neagley war das schwieriger, weil sie irgendwohin unterwegs war. In einer Privatangelegenheit, deren Hintergründe er nicht kannte. Also zurück zum Grundsätzlichen. Was wusste er über sie? Was würde der entscheidende Faktor sein? Nun, sie war sehr preisbewusst. Nicht weil sie arm oder geizig war, sondern weil sie nicht gern Geld für etwas ausgab, das sie nicht brauchte. Und sie brauchte nicht viel. Sie brauchte keine aufgeschlagene Bettdecke oder ein Stück Schokolade auf dem Kopfkissen. Sie brauchte keinen Zimmerservice oder den morgigen Wetterbericht. Sie brauchte keinen flauschigen Bademantel oder in Zellophan versiegelte kostenlose Frotteepantoffeln. Sie brauchte nur ein Bett und eine Tür, die sich absperren ließ. Und Menschenmassen und Schatten und anonyme, von niedrigen Mieten und häufigen Mieterwechseln geprägte Viertel, in denen Barkeeper und Motelangestellte ein kurzes Gedächtnis hatten.
Folglich kam die Innenstadt nicht infrage. Beverly Hills ebenfalls nicht.
Wo also? Wo würde sie sich in der Weitläufigkeit von L.A. wohlfühlen?
Dort standen fast vierunddreißigtausend Straßenkilometer zur Auswahl.
Reacher fragte sich: Wo würde ich hingehen?
Hollywood, antwortete er. Etwas südöstlich von dem guten Zeug. Auf der falschen Seite des Sunset Boulevards.
Dort würde ich hingehen, dachte er.
Und dort wird sie sein.
Das Flugzeug landete etwas verspätet in LAX, lange nach Mittag. An Bord hatte es keine Mahlzeit gegeben, und Reacher war hungrig. Bei Samantha, der Staatsanwältin in Portland, hatte es zum Frühstück Kaffee und Vollkornbrötchen gegeben, aber das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er machte keine Essenspause, sondern ging sofort zu den Taxis hinaus, wo er einen Koreaner mit einem gelben Toyota Minivan erwischte, der über Boxen reden wollte. Reacher verstand nichts vom Boxen und interessierte sich auch nicht dafür. Die offensichtliche Künstlichkeit dieses Sports war ihm zuwider. Gepolsterte Handschuhe und das Verbot von Tiefschlägen hatten in seiner Welt keinen Platz. Und er redete ungern. Also hockte er schweigend auf dem Rücksitz und ließ den Kerl weiterschwatzen. Er betrachtete das braune Nachmittagslicht durchs Fenster. Palmen, Reklametafeln mit Filmwerbung, hellgraue Fahrbahnen mit endlosen doppelten Gummispuren. Und Autos, Ströme von Autos, eine Flut von Autos. Er sah einen neuen Rolls-Royce und einen alten Citroën DS, beide schwarz. Einen blutroten MGA und einen pastellblauen 1957er Thunderbird, beide offen. Eine gelbe 1960er Corvette hinter einer grünen von 2008. Beobachtete man den Verkehr in L.A. lange genug, konnte man vermutlich jedes jemals hergestellte Automobil sehen.
Der Mann auf dem vorderen linken Sitz fragte: "Sie wissen, wohin wir wollen?"
Der Pilot nickte, ohne etwas zu sagen.
Die Bell knatterte weiter, ging auf Nordostkurs, stieg etwas höher, tauchte ins nächtliche Dunkel ein. Sie überflog einen tief unter ihr liegenden Freeway, einen Strom aus weißen Lichtern, die nach Westen krochen, und aus roten, die nach Osten krochen. Eine Minute nördlich des Freeways gingen die letzten kultivierten Flächen in kleine Hügel über, die kahl und mit niedrigem Buschwerk bewachsen und unbewohnt waren. Ihre der untergehenden Sonne zugekehrten Flanken leuchteten orangerot, während ihre im Schatten liegenden Seiten und die Täler dunkelbeige waren. Wenig später gingen die kleinen Hügel ihrerseits in niedrige abgerundete Berge über. Die Bell raste weiter, stieg und sank, folgte den Geländekonturen unter ihnen. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich um und sah auf Franz herab, der hinter ihm auf dem Boden lag. Lächelte flüchtig und sagte: "Ungefähr noch zwanzig Minuten."
Franz gab keine Antwort. Er litt zu starke Schmerzen.
Die Reisegeschwindigkeit der Bell betrug knapp zweihundertsechzig Stundenkilometer, daher legte sie in weiteren zwanzig Minuten rund sechsundachtzig Kilometer zurück und gelangte über die Berge weit in die unbesiedelte Wüste hinaus. Der Pilot hob den Bug an und flog etwas langsamer. Der Mann neben ihm drückte seine Stirn ans Fenster und starrte ins Dunkel hinunter.
"Wo sind wir?", fragte er.
Der Pilot sagte: "Wo wir schon mal waren." "Genau?"
"Ungefähr."
"Was liegt unter uns?"
"Sand."
"Höhe?"
"Tausend Meter."
"Wie sind die Verhältnisse hier oben?"
"Still. Leichte Thermik, aber kein Wind."
"Sicher?"
"Flugtechnisch schon."
"Okay, dann los."
Der Pilot wurde noch langsamer, bis er in tausend Meter Höhe über der Wüste in den Schwebeflug überging. Der Mann auf dem Vordersitz drehte sich erneut um und machte den Kerl en in der letzten Reihe ein Zeichen. Die beiden schnallten sich ab. Einer kauerte neben Franz' Füßen nieder, hielt seinen Sicherheitsgurt mit einer Hand umklammert und entriegelte mit der anderen die Kabinentür. Der Pilot, der sie halb umgedreht beobachtete, hob den Bug etwas an, sodass die Tür durch ihr Eigengewicht ganz nach hinten glitt. Dann senkte er den Bug wieder und flog einen langsamen Rechtskreis, damit Fliehkraft und Luftströmung die Tür offen hielten. Der zweite Kerl ging hinter Franz' Kopf in die Hocke und hievte die Tragbahre in einem Winkel von fünfundvierzig Grad hoch. Um die Tragbahre anzuhalten, stellte der erste Kerl seinen Schuh aufs Ende der Schiene, in der die Rollen der Tragbahre liefen. Der zweite Kerl stemmte sie wie ein Gewichtheber mit einem Ruck fast senkrecht hoch. Franz sackte gegen die Gurte nach unten. Er war ein großer, schwerer Mann. Und er ließ sich nicht leicht unterkriegen. Seine Beine waren wertlos, aber sein Oberkörper war stark und versuchte den Gurt zu sprengen. Er warf seinen Kopf von einer Seite zur anderen.
Der erste Kerl zog sein Springmesser und ließ die Klinge aufschnappen. Benutzte es, um Franz' Schenkelgurt zu durchtrennen. Dann machte er eine kurze Pause, bevor er den Gurt über Franz' Brust zerschnitt. Mit einer einzigen flüssigen Bewegung. Genau gleichzeitig brachte der zweite Kerl die Tragbahre ganz in die Senkrechte. Franz trat unwillkürlich einen Schritt nach vorn, auf seinem gebrochenen rechten Bein. Er schrie kurz auf, dann machte er instinktiv einen weiteren Schritt, auf seinem gebrochenen linken Bein. Er sackte, wild mit den Armen rudernd, nach vorn, und das Übergewicht seines schweren Oberkörpers ließ ihn über die Drehachse der steifen Hüften kippen und beförderte ihn durch die offene Tür hinaus: in die von Lärm erfüllte Dunkelheit, in den Sturmstärke erreichenden Rotorabwind, in die Nacht.
Tausend Meter über der Wüste.
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Selbst der Triebwerkslärm schien abzunehmen. Dann kehrte der Pilot die Bewegungsrichtung der Bell um und senkte ihren Bug, sodass die Kabinentür sich von selbst wieder schloss. Die Turbinendrehzahl ging etwas zurück, die Rotorblätter schaufelten Luft, und der Bug blieb leicht gesenkt.
Die beiden Kerle beeilten sich, auf ihre Plätze zurückzukommen.
Der Mann vorn neben dem Piloten sagte: "Okay, jetzt nach Hause."
Siebzehn Tage später war Jack Reacher in Portland, Oregon, und ziemlich abgebrannt. In Portland, weil er irgendwo sein musste und der Überlandbus, mit dem er zwei Tage zuvor unterwegs gewesen war, dort gehalten hatte. Ziemlich abgebrannt, weil er in einer Cop Bar eine stellvertretende Staatsanwältin namens Samantha kennengelernt und sie zweimal zum Abendessen eingeladen hatte, bevor er zwei Nächte bei ihr verbrachte. Jetzt war sie ins Büro gefahren, und er entfernte sich von ihrem Haus, war um neun Uhr morgens zum Busbahnhof in der Stadtmitte unterwegs: mit noch vom Duschen nassem Haar, befriedigt, entspannt, ohne bestimmtes Ziel, mit einem sehr dünnen Packen Geldscheine in der Tasche.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten Reachers Alltag in zweierlei Hinsicht verändert. Erstens hatte er jetzt neben seiner Klappzahnbürste einen Reisepass in der Tasche. In dieser neuen Ära erforderten zu viele Dinge - auch die meisten Reisemöglichkeiten - einen Lichtbildausweis. Reacher war jemand, der sich treiben ließ, aber kein Einsiedler, ruhelos, aber nicht gestört, und hatte deshalb würdevoll nachgegeben.
Und zweitens hatte er sein Verfahren für Barabhebungen geändert. Nach seinem Ausscheiden aus der Army hatte er viele Jahre lang bei Bedarf seine Bank in Virginia angerufen und sich mit Western Union telegrafisch Geld an seinen jeweiligen Aufenthaltsort schicken lassen. Neue Sorgen über die Finanzierungsmethoden von Terroristen hatten dieses Verfahren jedoch praktisch unmöglich gemacht. Also hatte Reacher sich eine Kontokarte ausstellen lassen. Er trug sie im Pass bei sich und hatte als PIN die Zahl 8197 gewählt. Er betrachtete sich als Mann mit sehr wenigen Talenten, aber allen möglichen Fähigkeiten, von denen die meisten physisch waren und mit seiner überdurchschnittlichen Größe und Stärke zusammenhingen; dazu gehörten auch die Gabe, dass er immer wusste, wie spät es gerade war, ohne auf die Uhr sehen zu müssen, und eine nicht unbedingt mit Intelligenz zusammenhängende Rechenbegabung. Daher die 8197. Ihm gefiel die 97, weil sie die größte zweistellige Primzahl war, und er liebte die 81, weil sie unter buchstäblich unendlich vielen Zahlen die absolut einzige war, deren Wurzel mit ihrer Quersumme übereinstimmte. Die Quadratwurzel aus 81 war neun, und acht und eins ergab ebenfalls neun. Keine andere nicht triviale Zahl im Kosmos besaß solch köstliche Symmetrie. Perfekt.
Seine Freude an Zahlenspielereien und sein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Geldhäusern zwangen ihn dazu, jedes Mal seinen Kontostand zu kontrollieren, wenn er Geld abhob. Er dachte immer daran, die Auszahlungsgebühr abzuziehen und jedes Vierteljahr den kümmerlichen Guthabenzins der Bank zu addieren. Aber trotz seines Misstrauens war er nie abgezockt worden. Sein Guthaben entsprach jedes Mal genau seiner Berechnung. Er war bisher nie überrascht oder enttäuscht gewesen.
Bis zu diesem Morgen in Portland, an dem er überrascht, aber nicht gerade enttäuscht war. Weil sein Guthaben über tausend Dollar höher war als erwartet.
Exakt eintausenddreißig Dollar höher, als Reacher sich im Kopf ausgerechnet hatte. Offenbar ein Irrtum. Ein Fehler der Bank. Eine Überweisung auf ein falsches Konto. Ein Irrtum, der sich berichtigen ließ. Behalten würde er das Geld natürlich nicht können. Er war ein Optimist, aber kein Dummkopf. Er drückte auf einen weiteren Knopf und forderte damit einen sogenannten Minikontoauszug an. Aus einem Schlitz schlängelte sich ein dünner Papierstreifen. Schwacher grauer Druck zeigte die letzten fünf Kontobewegungen an. Drei davon waren Abhebungen an Geldautomaten, an die er sich gut erinnerte. Eine betraf die Guthabenzinsen der Bank. Ganz unten stand eine vor drei Tagen erfolgte Einzahlung über eintausenddreißig Dollar in bar. Nun hatte er's schwarz auf weiß. Der Papierstreifen war zu schmal für eigene Soll- und Habenspalten, deshalb stand der Betrag in Klammern, die ihn als Gutschrift auswiesen: (1030,00).
Tausenddreißig Dollar.
1030.
Keine auf den ersten Blick interessante Zahl, aber Reacher starrte sie doch eine Minute lang an. Natürlich keine Primzahl. Keine gerade Zahl mit mehr als zwei Stellen konnte eine Primzahl sein. Wurzel? Etwas weniger als 10,1. Teiler? Nicht viele, aber 5 und 206 neben den auf der Hand liegenden 10 und 103 und den noch offensichtlicheren 2 und 515.
Also 1030.
Tausenddreißig.
Ein Irrtum. Vielleicht.
Oder vielleicht auch keiner.
Reacher zog seine fünfzig Dollar aus dem Automaten, angelte Kleingeld aus der Tasche und machte sich auf die Suche nach einem Münztelefon.
Eine Telefonzelle fand er im Busbahnhof. Die Nummer seiner Bank wusste er auswendig. 9.40 Uhr im Westen, 12.40 Uhr im Osten. Mittagspause in Virginia, aber bestimmt war irgendjemand da.
Tatsächlich war jemand da. Keine Mitarbeiterin, mit der Reacher schon mal gesprochen hatte, aber eine Frau, die kompetent wirkte. Vielleicht eine leitende Angestellte, die nur über Mittag eingesprungen war. Sie nannte ihren Namen, den Reacher aber nicht verstand. Danach ratterte sie einen eingeübten Begrüßungstext herunter, der Reacher das Gefühl vermitteln sollte, ein geschätzter Kunde zu sein. Er ließ ihn über sich ergehen, dann erzählte er ihr von der Einzahlung. Sie war erstaunt, dass ein Kunde wegen eines Irrtums zu seinen Gunsten anrief.
"War vielleicht kein Irrtum", sagte Reacher.
"Haben Sie die Einzahlung erwartet?", fragte sie.
"Nein."
"Zahlen Dritte häufig etwas auf Ihr Konto ein?"
"Nein."
"Dann ist's wahrscheinlich ein Irrtum, glauben Sie nicht?"
"Ich muss wissen, wer den Betrag eingezahlt hat."
"Darf ich fragen, weshalb?"
"Das zu erklären würde lange dauern."
"Ich müsste's trotzdem wissen", sagte die Frau. "Hier geht es um vertrauliche Informationen. Gewährt ein Irrtum der Bank einem Kunden Einblick in die finanziellen Verhältnisse eines anderen, könnte das ein Verstoß gegen alle möglichen Bestimmungen und Vorschriften und ethischen Grundsätze sein."
"Die Einzahlung könnte eine Nachricht sein", sagte Reacher.
"Eine Nachricht?"
"Aus der Vergangenheit."
"Das verstehe ich nicht."
"Ich war früher mal bei der Militärpolizei", erklärte Reacher. "Der Funkverkehr der Militärpolizei ist verschlüsselt.
Braucht ein Militärpolizist dringend Unterstützung von Kollegen, gibt er über Funk den Code zehn-dreißig durch. Verstehen Sie, was ich meine?"
"Nein, ehrlich gesagt nicht."
Reacher sagte: "Kenne ich den Einzahler nicht, ist diese Sache ein tausenddreißig Dollar teurer Irrtum, denke ich. Kenne ich ihn jedoch, kann sie ein Hilferuf sein."
"Das verstehe ich noch immer nicht."
"Sehen Sie sich die Schreibweise an. Statt tausenddreißig Dollar könnte der Funkcode zehn-dreißig gemeint sein. Sehen Sie sich die geschriebene Zahl an."
"Hätte diese Person Sie nicht einfach angerufen?"
"Ich habe kein Telefon."
"Vielleicht eine E-Mail? Oder ein Telegramm. Oder sogar ein Brief?"
"Ich habe keine Adressen für solche Dinge."
"Wie setzen wir uns dann mit Ihnen in Verbindung?"
"Überhaupt nicht."
"Eine Einzahlung auf Ihr Konto wäre eine sehr merkwürdige Art der Verbindungsaufnahme."
"Vielleicht die einzige Art."
"Eine sehr schwierige Art. Jemand müsste Ihr Bankkonto ausfindig machen."
"Genau das meine ich", erwiderte Reacher. "Das könnte nur eine clevere, einfallsreiche Person schaffen. Und wenn eine clevere, einfallsreiche Person Hilfe braucht, ist irgendwo etwas Schlimmes passiert."
"Das wäre auch ziemlich teuer. Es könnte jemanden über tausend Dollar kosten."
"Genau. Diese Person müsste clever und einfallsreich und verzweifelt sein."
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Dann: "Können Sie nicht einfach eine Liste der infrage kommenden Leute aufstellen und sie nacheinander abtelefonieren?"
"Ich habe mit vielen cleveren Leuten zusammengearbeitet. Meistens liegt das schon sehr lange zurück. Ich würde Wochen brauchen, um alle aufzuspüren. Dann könnte's schon zu spät sein. Und ich habe ohnehin kein Telefon."
Wieder Stille. Bis auf das Klappern einer Tastatur.
Reacher sagte: "Sie sehen nach, stimmt's?"
Die Frau antwortete: "Das dürfte ich eigentlich gar nicht."
"Ich verpfeife Sie nicht."
Erneut Schweigen. Das Klappern der Tastatur verstummte. Reacher wusste, dass sie den Namen auf ihrem Bildschirm vor sich hatte.
"Sagen Sie ihn mir", verlangte er.
"Ich kann Ihnen den Namen nicht einfach sagen. Sie müssen mir schon ein bisschen helfen."
"Wie?"
"Geben Sie mir Hinweise. Damit ich nicht einfach den Namen sagen muss."
"Was für Hinweise?"
Sie fragte: "Nun, handelt es sich beispielsweise um einen Mann oder eine Frau?"
Reacher lächelte flüchtig. Die Antwort lag bereits in der Fragestellung. Es war eine Frau. Todsicher. Eine clevere, einfallsreiche Frau, die eine fantasievolle Querdenkerin war. Eine Frau, die von seinem fast zwanghaften Rechentrieb wusste.
"Lassen Sie mich raten", sagte Reacher. "Die Einzahlung ist in Chicago erfolgt."
"Ja, durch einen persönlichen Scheck auf eine Bank in Chicago."
"Neagley", sagte Reacher.
"Das ist der Name, den wir haben", sagte die Frau. "Frances L. Neagley."
"Dann vergessen Sie, dass wir jemals miteinander geredet haben", sagte Reacher. "Das war kein Irrtum Ihrer Bank."
Reacher hatte dreizehn Jahre in der U.S. Army gedient, alle davon bei der Militärpolizei. Er hatte Frances Neagley zehn Jahre lang gekannt und sieben Jahre lang ab und zu mit ihr zusammengearbeitet. Er war Offizier gewesen, erst Leutnant, dann Oberleutnant, Hauptmann und Major, dann zum Hauptmann degradiert und zuletzt wieder Major. Neagley hatte standhaft jegliche Beförderung über den Master Sergeant hinaus abgelehnt. Sie hatte sich geweigert, auch nur an die Offiziersschule zu denken. Reacher hatte nie richtig gewusst, weshalb. Es gab viel, was er trotz ihrer zehnjährigen Bekanntschaft nicht über sie wusste.
Andererseits gab es viel, was er über sie wusste. Sie war clever und einfallsreich und gründlich. Und verdammt taff. Und eigenartig ungehemmt. Nicht in Bezug auf persönliche Beziehungen. Sie mied persönliche Beziehungen. Sie hütete ihr Privatleben eifersüchtig und wehrte sich gegen jegliche Art körperlicher oder emotionaler Nähe. Ihre Ungehemmtheit war rein professionell. Hatte sie das Gefühl, etwas sei richtig oder notwendig, war sie kompromisslos. Dann konnte nichts sie aufhalten - keine Politik, keine praktischen Erwägungen, keine Höflichkeit oder sogar das, was Zivilisten vielleicht Recht und Gesetz genannt hätten. Reacher hatte sie einst zu einer Einheit für Sonderermittlungen geholt, in der sie zwei entscheidende Jahre lang eine wichtige Rolle spielte. Die meisten Leute hatten die oft spektakulären Erfolge ihrer Einheit auf Reachers Führungskraft zurückgeführt, aber Reacher schrieb sie Neagley zu. Sie beeindruckte ihn gewaltig. Manchmal ängstigte sie ihn fast.
Forderte sie dringend Unterstützung an, tat sie's nicht, weil sie ihre Autoschlüssel nicht finden konnte.
Neagley arbeitete bei einem privaten Sicherheitsdienst in Chicago. Das wusste er. Wenigstens hatte sie das vor vier Jahren getan, bei ihrer letzten Begegnung. Sie war ein Jahr nach ihm aus der Army ausgeschieden und hatte sich mit jemandem, den sie kannte, selbstständig gemacht. Als Partnerin, vermutete er, nicht als Angestellte.
Er grub noch mal in seinen Taschen und förderte weitere Münzen zutage. Rief die Auskunft für Ferngespräche an. Fragte nach Chicago. Gab den Namen der Firma an, wie er sich an ihn erinnerte. Die Telefonistin wurde durch eine Computerstimme ersetzt, die ihm eine Nummer nannte. Reacher hängte ein und wählte gleich wieder. Als eine Empfangsdame sich meldete, verlangte er Frances Neagley. Er wurde höflich gebeten, einen Augenblick zu warten. Wahrscheinlich war die Firma größer, als er bisher angenommen hatte. Er hatte sich einen einzigen Raum, ein schmutziges Fenster, vielleicht zwei verkratzte Schreibtische, überquellende Aktenschränke vorgestellt. Aber die gemessenen Worte der Empfangsdame, die Klickgeräusche im Hörer und die dezente Musik, während er weiterverbunden wurde, ließen auf eine erheblich größere Firma schließen. Vielleicht zwei Stockwerke, kühle weiße Korridore, Bilder an den Wänden, ein internes Telefonverzeichnis.
Ein Mann meldete sich: "Frances Neagleys Büro."
Reacher fragte: "Ist sie da?"
"Darf ich fragen, wer Sie sind?"
"Jack Reacher."
"Gut. Danke, dass Sie anrufen."
"Wer sind Sie?"
"Ich bin Ms. Neagleys Assistent."
"Sie hat einen Assistenten?"
"Gewiss."
"Ist sie da?"
"Sie ist nach Los Angeles unterwegs. In diesem Augenblick in der Luft, glaube ich."
"Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?"
"Sie möchte Sie so schnell wie möglich sprechen."
"In Chicago?"
"Sie ist für ein paar Tage in L.A. Ich denke, Sie sollten sie dort aufsuchen."
"Worum geht's überhaupt?"
"Das weiß ich nicht."
"Es hängt nicht mit ihrer Arbeit zusammen?"
"Ausgeschlossen. Sie hätte eine Akte angelegt. Den Fall hier diskutiert. Sie hätte sich nicht hilfesuchend an Fremde gewandt."
"Ich bin kein Fremder. Ich kenne sie länger als Sie."
"Entschuldigung. Das habe ich nicht gewusst."
"In welchem Hotel ist sie in L.A.?"
"Auch das weiß ich nicht."
"Wie soll ich sie dann finden?"
"Sie hat gesagt, Sie würden sie dort aufspüren können."
Reacher fragte: "Was ist das - eine Art Test?"
"Sie hat gesagt, wenn Sie sie nicht finden, könne sie Sie nicht brauchen."
"Alles in Ordnung mit ihr?"
"Irgendetwas macht ihr Sorgen. Aber sie hat mir nicht verraten, was."
Reacher behielt den Hörer am Ohr und wandte sich von der Wand ab. Der Metallschlauch mit dem Kabel wickelte sich um seine Brust. Er sah zu den mit laufenden Motoren bereitstehenden Bussen und der Abfahrtstafel hinüber. Dann fragte er: "An wen hat sie sich noch gewandt?"
Der Mann sagte: "Es gibt eine ganze Liste mit Namen. Aber Sie sind der Erste, der sich bei ihr meldet."
"Ruft sie nach der Ankunft bei Ihnen an?"
"Wahrscheinlich."
"Richten Sie ihr aus, dass ich unterwegs bin."
Reacher fuhr mit einem Zubringerbus zum Flughafen Portland und buchte bei United Airlines einen einfachen Flug nach LAX. Er benutzte seinen Reisepass, um sich auszuweisen, und seine Kontokarte für die Abbuchung. Der Preis für einen Flug am selben Vormittag war unverschämt hoch. Alaska Airlines wäre billiger gewesen, aber Reacher hasste diese Fluggesellschaft. Sie stellte Karten mit Bibelsprüchen auf ihre Essenstabletts. Verdarb ihm den Appetit.
Für Reacher war die Sicherheitskontrolle ein Kinderspiel. Kabinengepäck besaß er keines. Er hatte keinen Gürtel, keine Schlüssel, kein Handy, keine Armbanduhr. Er brauchte nur sein Kleingeld in den Plastikkorb zu werfen und seine Schuhe auszuziehen und durch den Metalldetektor zu gehen. Eine Sache von dreißig Sekunden. Dann war er zum Flugsteig unterwegs - mit seinem Kleingeld wieder in der Tasche, seinen Schuhen wieder an den Füßen, in Gedanken bei Neagley.
Nicht mit der Arbeit zusammenhängend. Also eine Privatsache. Aber so viel er wusste, hatte sie keine privaten Angelegenheiten. Kein Privatleben. Sie hatte nie eines gehabt. Natürlich hatte sie Alltagssorgen, vermutete er, und alltägliche Probleme. Wie jeder Mensch. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie bei solchen Dingen Hilfe brauchte. Ein lärmender Nachbar? Jeder vernünftige Mann würde seine Stereoanlage nach einem kurzen Gespräch mit Frances Neagley verkaufen. Oder einer Wohltätigkeitsorganisation spenden. Drogenhändler an ihrer Straßenecke? Die würden als kleine Meldung im Innenteil der Morgenzeitung enden: Leichen in einer Gasse aufgefunden, mehrfache Stichwunden, vorerst noch keine Verdächtigen. Ein Stalker? Ein Grapscher im L-Train? Reacher lief ein kalter Schauder über den Rücken. Neagley hasste es, angefasst zu werden. Er wusste nicht, weshalb. Aber jeder über eine zufällige Berührung hinausgehende Körperkontakt mit ihr würde einem Kerl einen gebrochenen Arm einbringen. Vielleicht sogar zwei gebrochene Arme.
Was war also ihr Problem?
Eine ganze Liste mit Namen. Vielleicht hatte ihre Vergangenheit sie eingeholt. Reacher hatte das Gefühl, seine Militärzeit liege sehr lange zurück. Eine andere Ära, eine andere Welt. Mit anderen Regeln. Vielleicht beurteilte jemand damalige Ereignisse nach heutigen Maßstäben und beschwerte sich über irgendetwas. Vielleicht hatte eine lange hinausgeschobene interne Untersuchung begonnen. Reachers Sonderermittler hatten viele Verfahren abgekürzt, oft mit brutalen Mitteln gearbeitet. Irgendjemand, vielleicht Neagley selbst, hatte einen Slogan erfunden: Mit den Sonderermittlern legt man sich nicht an. Das war als Versprechen, als Warnung endlos wiederholt worden. Ausdruckslos und todernst.
Vielleicht hatte sich jetzt jemand mit den Sonderermittlern angelegt. Vielleicht hagelte es Vorladungen und einstweilige Verfügungen. Aber wieso sollte Neagley ihn in diese Sache hineinziehen? Er lebte ungefähr so anonym, wie das in Amerika überhaupt möglich war. Würde sie sich nicht einfach dumm stellen und ihn unbehelligt lassen?
Er schüttelte den Kopf, gab auf und ging an Bord seines Flugzeugs.
Unterwegs nutzte er die Zeit, um sich zu überlegen, wo Neagley sich verkrochen haben mochte. Früher hatte es zu seinem Job gehört, Leute aufzuspüren, und er war darin ziemlich gut gewesen. Erfolg beruhte auf Empathie. Man musste wie sie denken, wie sie fühlen. Sehen, was sie sahen. Sich in ihre Lage versetzen. Sie sein.
Bei Soldaten, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatten, war das natürlich leichter. Ihre Ziellosigkeit machte ihre Entscheidungen umso durchsichtiger. Und sie flüchteten vor etwas, waren nicht zu etwas unterwegs. Dabei verfielen sie oft in einen unbewussten geografischen Symbolismus. Waren sie aus Osten in eine Stadt gekommen, verkrochen sie sich im Westen. Sie wollten möglichst viel Masse zwischen sich und ihre Verfolger bringen. Hatte Reacher eine Stunde mit einem Stadtplan, einem Busfahrplan und den Gelben Seiten verbracht, konnte er häufig vorhersagen, in welchem Straßenblock er die Flüchtigen finden würde. Sogar in welchem Motel.
Bei Neagley war das schwieriger, weil sie irgendwohin unterwegs war. In einer Privatangelegenheit, deren Hintergründe er nicht kannte. Also zurück zum Grundsätzlichen. Was wusste er über sie? Was würde der entscheidende Faktor sein? Nun, sie war sehr preisbewusst. Nicht weil sie arm oder geizig war, sondern weil sie nicht gern Geld für etwas ausgab, das sie nicht brauchte. Und sie brauchte nicht viel. Sie brauchte keine aufgeschlagene Bettdecke oder ein Stück Schokolade auf dem Kopfkissen. Sie brauchte keinen Zimmerservice oder den morgigen Wetterbericht. Sie brauchte keinen flauschigen Bademantel oder in Zellophan versiegelte kostenlose Frotteepantoffeln. Sie brauchte nur ein Bett und eine Tür, die sich absperren ließ. Und Menschenmassen und Schatten und anonyme, von niedrigen Mieten und häufigen Mieterwechseln geprägte Viertel, in denen Barkeeper und Motelangestellte ein kurzes Gedächtnis hatten.
Folglich kam die Innenstadt nicht infrage. Beverly Hills ebenfalls nicht.
Wo also? Wo würde sie sich in der Weitläufigkeit von L.A. wohlfühlen?
Dort standen fast vierunddreißigtausend Straßenkilometer zur Auswahl.
Reacher fragte sich: Wo würde ich hingehen?
Hollywood, antwortete er. Etwas südöstlich von dem guten Zeug. Auf der falschen Seite des Sunset Boulevards.
Dort würde ich hingehen, dachte er.
Und dort wird sie sein.
Das Flugzeug landete etwas verspätet in LAX, lange nach Mittag. An Bord hatte es keine Mahlzeit gegeben, und Reacher war hungrig. Bei Samantha, der Staatsanwältin in Portland, hatte es zum Frühstück Kaffee und Vollkornbrötchen gegeben, aber das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er machte keine Essenspause, sondern ging sofort zu den Taxis hinaus, wo er einen Koreaner mit einem gelben Toyota Minivan erwischte, der über Boxen reden wollte. Reacher verstand nichts vom Boxen und interessierte sich auch nicht dafür. Die offensichtliche Künstlichkeit dieses Sports war ihm zuwider. Gepolsterte Handschuhe und das Verbot von Tiefschlägen hatten in seiner Welt keinen Platz. Und er redete ungern. Also hockte er schweigend auf dem Rücksitz und ließ den Kerl weiterschwatzen. Er betrachtete das braune Nachmittagslicht durchs Fenster. Palmen, Reklametafeln mit Filmwerbung, hellgraue Fahrbahnen mit endlosen doppelten Gummispuren. Und Autos, Ströme von Autos, eine Flut von Autos. Er sah einen neuen Rolls-Royce und einen alten Citroën DS, beide schwarz. Einen blutroten MGA und einen pastellblauen 1957er Thunderbird, beide offen. Eine gelbe 1960er Corvette hinter einer grünen von 2008. Beobachtete man den Verkehr in L.A. lange genug, konnte man vermutlich jedes jemals hergestellte Automobil sehen.
... weniger
Autoren-Porträt von Lee Child
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete dann zwanzig Jahre lang beim Fernsehen, wo er u.a. so hochklassige Thrillerserien wie 'Prime Suspect' ('Heißer Verdacht') oder 'Cracker' ('Für alle Fälle Fitz') betreute. 1995 kehrte er der Fernsehwelt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Seither fesselt er seine Fans mit immer neuen atemberaubenden Reacher-Romanen. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem 'Anthony Award', dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur und 2013 mit dem CWA Diamond Dagger.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lee Child
- 2010, 2, 447 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Wulf Bergner
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503556
- ISBN-13: 9783764503550
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