Unerhörte Leiden
Die Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland im 20.Jahrhundert. Habilitationsschrift
Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild...
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Produktinformationen zu „Unerhörte Leiden “
Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.
Klappentext zu „Unerhörte Leiden “
Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.
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Lese-Probe zu „Unerhörte Leiden “
1. EinführungFrauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Solche Auffassungen sind aber nicht mehr en vogue, es hat sich etwas geändert. Deren Akzeptanz ist geschwunden, in Deutschland wie in anderen Ländern. Die Auffassungen über Schmerzen sind nicht immer deckungsgleich mit dem, was "Experten" über Schmerz sagen. Wie haben sich Experten in diesem Wandlungsprozess des Schmerzes angenommen und wie war dies in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, den Patientinnen und Patienten? Verortet wird die Expertenschaft allgemein bei der Medizin oder den Natur- und Kulturwissenschaften, wobei das letzte Wort viele für sich reklamieren.
Das 20. Jahrhundert zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Deutungshoheit darüber, was Wissen ist und was dann zu wissen war, wenn nicht ideologische Bevormundung griff, zu einem großen Teil den Wissenschaften zugesprochen wurde [114]. Auf die eine oder andere Weise gerieten Debatten, die in den Wissenschaften geführt wurden, auch in breitere Kreise der Bevölkerung, ohne dass ursprüngliche theoretische Ansätze dann noch aufzuspüren sein mussten. So verhält es sich beispielsweise mit einer Studie der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry [681], die in den Kulturwissenschaften seit 1985 weite Kreise zog, während sie durch die Radikalität ihres Ansatzes seither das Potential hat, außerhalb von fachwissenschaftlichen Erörterungen Verwirrung zu stiften. Ohne religiöse Auslegungen bemühen zu müssen, betrachtete Scarry Schmerz und das Zufügen von Schmerzen in einem Zusammenhang. Im Extrem der Folter oder des Krieges würde die Welt des Opfers zerstört. Kulturelle Schöpfungen seien in der Lage, gerade das Gegenteil zu bewirken - indem der menschliche Körper nämlich befähigt würde, sich durch
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ihre Anwendung der zerstörerischen Kraft des Schmerzes zu widersetzen und ihn zu überwinden. Scarrys universell angelegter Erklärungsansatz wirft auch ein Schlaglicht darauf, dass das Streben nach dem ganz großen Wurf - was ist das Wesen des Schmerzes, lautet hier die Gretchenfrage - unendlich viel Platz lässt für Details, Interpretationen, subtile Differenzierungen, aber auch für prätentiöses Auftreten, wie es sich in anderen Publikationen niedergeschlagen hat. Denn es gibt keine Begriffe in den Kulturwissenschaften, die noch universeller angelegt sein können als die Begriffe "Kultur" und "Schmerz". Zum anderen ist Scarrys Monografie The Body in Pain (Der Körper im Schmerz) aus dem Jahr 1985 selbst schon ein (zeit-)historisches Dokument, indem es die politischen Bedingungen der Reagan-Ära in den USA widerspiegelt. Ab 1981 wurden Patienten, die unter chronischem Schmerz litten, im konservativen politischen Klima der USA argwöhnisch beäugt, da man "gelernte Hilflosigkeit" als gängigen verursachenden Faktor ansah und diejenigen, die darunter litten, wegen ihrer Schwäche anklagte [850]. Scarrys Studie kann als Stellungnahme gelesen werden, die Bestrebungen, lang andauernden, chronischen Schmerzen medizinisch zu Leibe zu rücken ("management of pain"), nicht zu unterbinden. Sie ist selbst politisch, was zugleich ein Schlaglicht darauf wirft, dass die Geschichte der Schmerztherapie immer auch Politikgeschichte ist.
Schmerzen sind eine Empfindung, Schmerz ist aber auch ein Gefühl. Die Beschäftigung mit Gefühlen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Dabei herrscht kein Konsens bei der Beantwortung der Frage, ob und wie "Emotion" und "Gefühl" voneinander abzugrenzen sind. Der Neurowissenschaftler António Damásio beispielsweise hat in seinem Buch Self comes to mind eine Theorie entwickelt, in der er "Gefühl" zum Derivat von "Emotion" erklärt [137]. In einem großangelegten "Philosophy of
Schmerzen sind eine Empfindung, Schmerz ist aber auch ein Gefühl. Die Beschäftigung mit Gefühlen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Dabei herrscht kein Konsens bei der Beantwortung der Frage, ob und wie "Emotion" und "Gefühl" voneinander abzugrenzen sind. Der Neurowissenschaftler António Damásio beispielsweise hat in seinem Buch Self comes to mind eine Theorie entwickelt, in der er "Gefühl" zum Derivat von "Emotion" erklärt [137]. In einem großangelegten "Philosophy of
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Inhaltsverzeichnis zu „Unerhörte Leiden “
Inhalt1. Einführung 9
1.1 Schmerztherapie als Therapie aus den USA 12
1.2 Translation, Biomedizin und Übertragung in der Geschichte der Emotionen 15
1.3 Kybernetik und vegetatives Nervensystem 19
2. Heroismus, Pessimismus und Subjektivität 24
2.1 Schmerz und Spiel: das Beispiel des Handballs 26
2.2 Helden des Krieges: Ernst Jünger 35
2.3 Titanen des Schmerzes: Carl Fervers 36
2.4 Patienten mit Schmerzen: Ferdinand Sauerbruch 40
2.5 Katholischer Schmerzheroismus und Anästhesie 43
2.6 Kulturpessimismus des Schmerzes 47
2.7 Subjektivität des Schmerzes: Henry Beecher und George Engel 50
3. Vegetativum und Neuraltherapie bis etwa 1970 54
3.1 Kopfschmerzen 54
3.2 Impletol als Wunderwaffe 57
3.3 Leriche und der Sympathicusschmerz 63
3.4 Nonnenbruch, Dieter Gross und die Bayer-Werke 66
3.5 Speransky und von Roques 71
3.6 Theorie über das Nervensystem 73
3.7 Anästhesiologie und Anästhesietherapie 75
3.8 Akupunktur in der frühen Bundesrepublik 79
4. Die neurochirurgische Schmerztherapie 84
4.1 Otfrid Foerster 85
4.2 Lobotomie als Operation und als Metapher 87
4.3 Stereotaxis und "Gate Control"-Theorie 92
5. Bedeutungswandel des Schmerzes: Phantomschmerz in der Bundesrepublik 100
5.1 Kriegsversehrtheit 101
5.2 Das Bundesarbeitsministerium 106
5.3 VdK-Lobbyismus und die Empfehlungen des Unterausschusses 109
5.4 Der Forschungsauftrag 114
5.5 Phantomschmerz in den 1980er Jahren 119
6. Die Asiatische Reise: der Akupunktur-Boom in den 1970er Jahren 122
6.1 Die Traditionelle Chinesische Medizin 125
6.2 China und der Westen 128
6.3 Endorphine und elektrisch verstärkte Akupunktur 130
6.4 Die Reise gen Osten 133
6.5 Mildred Scheel und die Akupunktur 136
6.6 Explosion an Meldungen 137
6.7 Johannes Bischko 140
6.8 Akupunktur und Anästhesiologie 142
6.9 Horst Ferdinand Herget 145
6.10 Akupunktur und Markt 148
6.11 Manfred Köhnlechner 151
6.12 Die Bewertung elektrisch verstärkter Akupunktur 153
6.13 Die Rezeption der Akupunktur 157
7.
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Krebsschmerz in der Bundesrepublik 160
7.1 Tumorschmerz-Therapie in Großbritannien 160
7.2 Der Film über St. Christopher's 165
7.3 Onkologie in Heidelberg 172
7.4 Die "Deutsche Krebshilfe" 175
7.5 Therapie mit Opioiden 178
7.6 Die WHO-Dreistufenleiter 180
8. Therapie chronischer Schmerzen: die Schmerzklinik als Institution 183
8.1 Rudolf Frey 184
8.2 Institutionalisierung der Schmerzklinik 189
8.3 Die Schmerzklinik in Mainz 191
8.4 Öffentlichkeit für die Schmerzklinik 194
8.5 Das Deutsche Schmerzforschungszentrum 194
8.6 Frey und die rheinland-pfälzische Politik 197
8.7 Die Herausforderung des Terrorismus 201
8.8 Popularisierung des Konzepts 204
8.9 Das Schmerzzentrum Mainz 206
9. Exkurs: Therapie chronischer Schmerzen in der DDR 212
9.1 Physiotherapie in der DDR 216
9.2 Bioklimatologie 220
9.3 Ivan Petrowi? Pavlov 221
9.4 Bandscheibenvorfall und manuelle Therapie 224
9.5 Manuelle Therapie nach tschechischem Vorbild 225
9.6 Russische Reflextherapie 229
9.7 Elektrotherapie 235
9.8 Akupunktur in der DDR 238
9.9 Schmerz und Anästhesiologie in der DDR 248
9.10 Schmerztherapie an der Charité 255
9.11 Die Sektion Schmerztherapie 260
9.12 Krebsschmerztherapie, Rückenschmerzen und die Bilanz der DDR-Schmerztherapie 261
10. Rückenschmerz, Psychologie und die Versorgung von Schmerzpatienten in den 1980er Jahren 267
10.1 Rheumatismus 267
10.2 Der Bandscheibenvorfall 270
10.3 Failed back surgery syndrome 274
10.4 Verhaltenstherapie 276
10.5 Functional restoration 279
10.6 Psychologische Schmerztherapie 280
10.7 "Schmerz - Chronik einer Krankheit" 282
10.8 Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik 288
10.9 Schmerz als Forschungsthema 292
10.10 Die "Deutsche Schmerzhilfe" 293
10.11 Das SCHMERZtherapeutische Kolloquium 296
11. Zusammenfassung 305
Abkürzungen 322
Abbildungsnachweis 325
Verzeichnis verwendeter Archivalien, Literatur, Medien und Interviews 327
Sachregister 395
Personenregister 399
7.1 Tumorschmerz-Therapie in Großbritannien 160
7.2 Der Film über St. Christopher's 165
7.3 Onkologie in Heidelberg 172
7.4 Die "Deutsche Krebshilfe" 175
7.5 Therapie mit Opioiden 178
7.6 Die WHO-Dreistufenleiter 180
8. Therapie chronischer Schmerzen: die Schmerzklinik als Institution 183
8.1 Rudolf Frey 184
8.2 Institutionalisierung der Schmerzklinik 189
8.3 Die Schmerzklinik in Mainz 191
8.4 Öffentlichkeit für die Schmerzklinik 194
8.5 Das Deutsche Schmerzforschungszentrum 194
8.6 Frey und die rheinland-pfälzische Politik 197
8.7 Die Herausforderung des Terrorismus 201
8.8 Popularisierung des Konzepts 204
8.9 Das Schmerzzentrum Mainz 206
9. Exkurs: Therapie chronischer Schmerzen in der DDR 212
9.1 Physiotherapie in der DDR 216
9.2 Bioklimatologie 220
9.3 Ivan Petrowi? Pavlov 221
9.4 Bandscheibenvorfall und manuelle Therapie 224
9.5 Manuelle Therapie nach tschechischem Vorbild 225
9.6 Russische Reflextherapie 229
9.7 Elektrotherapie 235
9.8 Akupunktur in der DDR 238
9.9 Schmerz und Anästhesiologie in der DDR 248
9.10 Schmerztherapie an der Charité 255
9.11 Die Sektion Schmerztherapie 260
9.12 Krebsschmerztherapie, Rückenschmerzen und die Bilanz der DDR-Schmerztherapie 261
10. Rückenschmerz, Psychologie und die Versorgung von Schmerzpatienten in den 1980er Jahren 267
10.1 Rheumatismus 267
10.2 Der Bandscheibenvorfall 270
10.3 Failed back surgery syndrome 274
10.4 Verhaltenstherapie 276
10.5 Functional restoration 279
10.6 Psychologische Schmerztherapie 280
10.7 "Schmerz - Chronik einer Krankheit" 282
10.8 Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik 288
10.9 Schmerz als Forschungsthema 292
10.10 Die "Deutsche Schmerzhilfe" 293
10.11 Das SCHMERZtherapeutische Kolloquium 296
11. Zusammenfassung 305
Abkürzungen 322
Abbildungsnachweis 325
Verzeichnis verwendeter Archivalien, Literatur, Medien und Interviews 327
Sachregister 395
Personenregister 399
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Autoren-Porträt von Wilfried Witte
PD Dr. Wilfried Witte ist Historiker und Arzt; er arbeitet als Oberarzt für Anästhesie und Intensivmedizin an der Charité in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wilfried Witte
- 2017, 402 Seiten, Maße: 14,2 x 21,3 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: CAMPUS VERLAG
- ISBN-10: 3593506602
- ISBN-13: 9783593506609
- Erscheinungsdatum: 03.03.2017
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