Unter aller Sau
Witzige Krimikomödie aus der bayrischen Provinz: Wenn zwei skurrile Polizisten und eine raffinierte Dienststellenleiterin auf den seiner Meinung nach schönsten Polizisten Niederbayerns treffen.
Das beschauliche Dorf...
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Produktinformationen zu „Unter aller Sau “
Witzige Krimikomödie aus der bayrischen Provinz: Wenn zwei skurrile Polizisten und eine raffinierte Dienststellenleiterin auf den seiner Meinung nach schönsten Polizisten Niederbayerns treffen.
Das beschauliche Dorf Niedernussdorf ist pure, friedliche Land-Idylle - bis die beiden Polizisten Richie und Erwin eine tote Frau im Wald finden. Richie will die Tote am Liebsten über die Gemeindegrenze tragen. Dann wäre er die Arbeit los. Doch sein diensteifriger Kollege Erwin meldet sofort einen Mord. Das bringt die Mordkommission aus Straubing nach Niedernussdorf - und damit Hauptkommissar Lederer, Markenzeichen schlechter Geschmack und Überheblichkeit. Schnell verbreitet er Angst und Schrecken im Dorf. Doch Dienststellenleiterin Gisela hat genug: Zusammen mit den Frauen Niedernussdorfs setzt sie Bauernschläue und Hinterfotzigkeit ein.
Lese-Probe zu „Unter aller Sau “
Unter aller Sau von Christian Limmer ... mehr
Schneewittchen war kein schöner Anblick. Ihre Haut weiß mit einem Grauschimmer, schwarzes, zotteliges Haar, die Lippen blau und rissig, das rechte Auge blutunterlaufen, im linken räkelten sich ein Dutzend Maden.
Zusammengekrümmt wie ein frierendes Kleinkind lag sie zwischen den Brombeersträuchern, fast so, als hätte sie dort Schutz gesucht. Ihr Negligé war zerrissen, die Laufmaschen der halterlosen Strümpfe wirkten wie Narben an ihren langen, schlanken Beinen. Die Hände hatten den Waldboden aufgewühlt, die kleinen Fäuste mit den pink lackierten Fingernägeln hielten den Dreck immer noch fest umklammert.
Die Welt um sie herum kümmerte das wenig. Die Tannen knarrten im warmen Sommerwind, die Vögel trugen ihre morgendlichen Gesangsduelle aus, und nicht weit entfernt plätscherte der Bach, der seit Jahrhunderten den Wald durchzog und Richtung Niedernussdorf floss, um sich vierzig Kilometer weiter nördlich mit der Donau zu vereinen.
Kurz bevor der Bach die Ortsgrenze von Niedernuss dorf überschreitet, macht er einen Schlenker um den Wegmeyerhof. Dort hatten die Kinder aus dem Dorf einen Staudamm aus Ästen gebaut, an dem ihre selbst geschnitzten Holzschiffchen hängenblieben, die sie weiter oben ins Wasser ließen.
Auch diesmal schaukelten zwei Bötchen um die Wette auf den Staudamm zu. Beppo und sein bester Freund Olli liefen am Ufer entlang neben ihnen her. Die Schulranzen auf ihren Rücken wippten im Takt der Schritte. »Kannst den Euro schon mal rüberfahren«, sagte Beppo mit einem fetten Grinsen, das Grübchen in seine Wangen zeichnete. Seine grünen Augen blitzten siegessicher. »Noch sind wir nicht da«, erwiderte Olli. Der Elfj ährige mit den Segelohren und der Igelfrisur grinste ebenfalls, denn schon oft hatten sich die Wettrennen auf den letzten fünf Metern entschieden, dort, wo der Bach in einer scharfen Kurve vom Wegmeyerhof abbog. Tatsächlich verfing sich das Boot Beppos, das aus leichtem Kiefernholz gefertigt war, an einem Autoreifen, der halb aus dem Wasser ragte. Ollis Fichtenschiffchen rammte den Konkurrenten, wirbelte einmal um die eigene Achse und setzte seine Fahrt fort.
»Hättest nicht so früh schreien sollen«, triumphierte Olli. Er eilte zum Staudamm, während Beppo kurzerhand aus seinen Flipflops rutschte, ins Wasser stieg und sein Bötchen aus der Reifenfalle befreite.
»Beppo!«, plärrte Olli. Beppo schaute zu seinem Freund, der mit einem durchsichtigen Gefrierbeutel wedelte.
»Das musst dir anschauen!«
»Gleich!«
»Schick dich, sonst gehört das alles mir.«
»Komm halt du.«
»Bin ja nicht dein Fiffi.« Olli schaute trotzig zu Beppo. Der kletterte gemächlich ans Ufer, schlüpfte in seine Flipflops. Olli seufzte, rannte zu seinem Freund. »Schau.« Olli hielt den Beutel hoch. Beppos Augen wurden riesengroß. In dem Gefrierbeutel waren jede Menge Geldscheine, alles Fünfziger und Hunderter.
»Boah.«
»Was machen wir?«
»Ja, aufmachen, was sonst?« Beppo nahm Olli kurzerhand den Beutel aus den Fingern, zippte den Verschluss auf und leerte den Inhalt auf den Boden. Staunend gingen die beiden Jungs in die Hocke, keiner von ihnen traute sich, das Geld anzufassen.
»Wie viel is'n das?«, fragte sich Olli.
»Über tausend auf jeden Fall.«
»Zähl mal.«
»Wieso ich?«
»Weil du in Mathe einen Zweier hast.«
»Aber dein Vater ist Banker.«
»Der hat nie mehr als fünfzig Euro im Geldbeutel. Der zahlt nur noch mit Karte. Der sagt immer, heutzutage mit Bargeld rumrennen ist absoluter Schwachsinn.«
»Mein Vater hat nur Bargeld. Nur Bares ist Wahres.«
»Mei, jeder ist anders.«
Beide schwiegen, konnten ihren Blick nicht von dem Geld abwenden.
»Weißt, was du für über tausend Euro kriegst?«, fragte Beppo.
»Freilich. Eine PS3, eine Wii und eine Xbox.«
Beppo schaute auf, runzelte die Stirn. »Wie hast denn das so schnell zusammengerechnet?«
»Ich hab letztes Jahr einen Weihnachtszettel gemacht. Da war aber noch ein iPod drauf, da war ich dann bei eintausendeinhundertfünf. « Er schaute Beppo an. »Den iPod hab ich jetzt einfach abgezogen.«
Beppo deutete auf das Geld. »Ja, das sind aber bestimmt über tausend Euro, da kannst dir den iPod auch noch leisten.«
»Du willst das doch nicht behalten, oder?«
»Warum nicht?«
»Das gehört doch jemandem.«
»Schon. Aber er hat's ja weggeschmissen, also wollt er's nicht mehr.«
»Das glaubst doch selber nicht.«
Beppo grinste wieder fett. »Ich glaub, wir bringen's zu den Sheriff s.«
Olli war erleichtert, dass sich Beppo nur einen Scherz erlaubt hatte. »Genau. Sollen die's doch zählen.«
»Dreitausendfünfhundertfünfzig.« Schorsch Kramer legte den letzten Fünfziger mit seiner mächtigen Pranke auf die anderen Geldscheine. Der Statur nach erinnerte er an einen Braunbären, seine Haltung etwas gebeugt, als wollte er aus Rücksicht die anderen nicht überragen. Alles an ihm wirkte schwer und massig, von den weißwurstdicken Fingern über den wuchtigen Bauch bis zum Dreifachkinn, das seinen Kopf ohne sichtbaren Hals auf dem Oberkörper sitzen ließ.
Seine kindlichen Knopfaugen schauten Beppo und Olli an, die vor dem Tresen in der Polizeistation Niedernussdorf standen. »Dafür muss eine alte Frau lange Holz hacken.«
Seine Kollegen, Wachtmeister Richard Hafenrichter und Wachtmeister Erwin Huber, richteten ihren Blick ebenfalls auf die beiden Jungs. Die fühlten sich etwas unbehaglich angesichts dreier Uniformierter, die sie wie Verbrecher zu mustern schienen.
»Wir haben die gefunden, ehrlich«, fühlte Olli sich bemüßigt zu erklären. »Wir klauen nicht.«
Keiner der Streifenbeamten sagte ein Wort. Ihre Blicke drückten wie Mühlsteine auf das Gewissen der beiden Jungs.
»Sonst hätten wir das doch nicht hergebracht«, unterstützte Beppo seinen Freund.
Die drei Polizisten starrten die Kinder weiter stumm an. Jeder schien zu überlegen, was er sagen sollte, und bei jedem geschah das in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Und mit unterschiedlichem Ergebnis. Erwin, der schnellste unter ihnen, beugte sich vor.
»War da noch was?«
»Wie, war da noch was?«
»Da, wo ihr das gefunden habt. Habt ihr da noch was gefunden?«
Erwin erinnerte in diesem Moment an einen Wolf, ein Eindruck, der durch seine dichten Augenbrauen im schmalen Gesicht mit der kleinen Nase noch verstärkt wurde. Seine dunklen Augen fixierten die beiden Jungs finster. Erwins Grundhaltung war von Misstrauen geprägt, und sein gedrungener Körper schien immer angespannt und zum Angriff bereit. Beppo und Olli ließen sich davon nicht beeindrucken.
»Wenn wir noch was gefunden hätten, hätten wir's mitgebracht«, polterte Olli frech zurück.
»Das kommt drauf an«, mischte sich Schorsch ein, was ihm einen schrägen Seitenblick Erwins einbrachte. Der hatte es gar nicht gern, wenn man sich in seine Befragung einmischte, und schon gar nicht, wenn es Schorsch war. Die beiden Kollegen verband seit der Grundschulzeit eine unverbrüchliche Hassliebe. In der zweiten Klasse hatte sich herausgestellt, dass Erwin unter einer Schreibschwäche litt. Buchstabendreher, vergessene Buchstaben, fantasievolle Eigenkreationen trieben Lehrer und Eltern zur Verzweifl ung. Schließlich hatte es dazu geführt, dass Erwin auf eine Sonderschule kam. Mit dem sogenannten Depperlbus musste er fünf Kilometer ins benachbarte Grünharding fahren, wo sich speziell geschulte Pädagogen seiner annahmen.
Schorsch, der in der Schule immer ein Musterschüler gewesen war, verlieh Erwin den Titel geistiger Tiefflieger, was eines Tages zu einer Schlägerei führte, bei der Erwin zeigte, worin er wirklich gut war. Im Handfesten. Sein Oberstübchen war vielleicht etwas unterentwickelt, dafür hatte er, trotz seiner Kleinwüchsigkeit, eine unheimliche Kraft. Schorsch kam an jenem Abend mit zwei Milchzähnen weniger nach Hause, und Erwin hatte entdeckt, was ihm Spaß machte. Boxen. Henry Maske wurde sein Vorbild, dem er auch jetzt noch nacheiferte. Im Wohnzimmer hing ein Boxsack, den er regelmäßig traktierte, er trank jeden Morgen einen Eiweißdrink, und in den virtuellen Boxkämpfen im Internet belegte er stets einen der vorderen Plätze.
»Auf was?«, fragte Beppo Schorsch herausfordernd.
»Wie groß und schwer das war«, erwiderte Schorsch. Richie, die Lider von der vergangenen Nacht noch auf halbmast, drehte seine Augen mit Mühe Richtung Schorsch. Worauf wollte der Dicke hinaus? Bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schoss Schorsch bereits die nächste Frage ab.
»Vielleicht hat das Geld ja neben einer Leiche gelegen.« Alle glaubten, sich verhört zu haben. Sie starrten Schorsch an, der sich zu einer Erklärung verpflichtet fühlte. »Die zwei haben uns schon mal Arbeit gemacht.« Keiner reagierte. Jeder wusste, dass er auf den abgebissenen Finger vom letzten Jahr anspielte, der einen besonders grausamen Mord nahegelegt hatte. Das ganze Dorf hatte sich damals in heller Aufregung an der Opfersuche beteiligt. Wie sich schließlich herausstellte, hatte der Finger der alten Mathilda vom Gruberhof gehört. Sie war auf ganz natürliche Weise verstorben, von den Angehörigen aber an die Säue verfüttert worden, um sie spurlos verschwinden zu lassen. Eine Leiche in der Sommerhitze ist nur begrenzt haltbar, und so war das einzige Überbleibsel der Finger gewesen, den Beppo und Olli seinerzeit zur Polizei gebracht hatten. Ein Pflichtbewusstsein, das den Beamten immer noch säuerlich aufstieß. Man musste Arbeit ja nicht mit Gewalt erzwingen, war von jeher Schorschs Motto. Darin stimmten seine Kollegen mit ihm überein.
»Ich mein, wir haben sonst nie Stress, und immer wenn die zwei auftauchen ...« Er deutete mit dem Kinn auf Beppo und Olli. Richie und Erwin seufzten und nickten synchron. Die Augen der Polizisten richteten sich wieder auf die Jungs. Erwin holte tief Luft.
»Also, ihr habt's das gut gemacht, so ehrliche Finder gibt's heutzutage selten. Ab jetzt übernehmen wir. Ihr könnt gehen.«
Die beiden Kinder bewegten sich keinen Millimeter.
»Kriegen wir was dafür?«, erkundigte sich Olli.
»Einen Finderlohn«, ergänzte Beppo.
»Finderlohn gibt's, wenn sich derjenige meldet, dem das Geld gehört«, entgegnete Richie.
»Aber irgendwas hätten wir schon gerne«, hakte Beppo nach.
»Das ist hier kein Wunschkonzert«, brauste Schorsch auf. »Sobald sich jemand meldet, hört ihr von uns.« Er und die Jungs starrten sich an. Keiner zuckte auch nur mit der Wimper.
»Ich hab da was für euch«, schob sich Richie dazwischen. Aus einer Schublade holte er ein Paar Handschellen, hielt sie den Jungs hin. Die Handschellen waren verschlossen. »Aber ohne Schlüssel.«
Beppo und Olli wechselten einen kurzen Blick, nickten. Beppo nahm die Handschellen, versuchte gleich, eine Hand durchzuzwängen. Es klappte.
»Cool.«
Die zweite Hand folgte. Er grinste Olli an.
»Jetzt kannst mich abführen.«
Erwin schaute auf die große Uhr über der Tür. Halb neun.
»Ja, und zwar zur Schule. Im Laufschritt. Die erste Stunde schafft ihr sowieso nicht mehr.«
»Vielleicht schreiben Sie uns eine Entschuldigung, damit die Müllerin auch glaubt, was wir erzählen.«
»Raus! Aber sofort!« Schorsch war der Kragen geplatzt, und der Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Beppo und Olli drängten zur Tür hinaus und fl itzten davon.
Schorsch war so in Fahrt, dass er sich gleich Richie vorknöpfte.
»Und du, wieso schenkst du denen Handschellen? Das sind Arbeitsutensilien.«
»Ohne Schlüssel liegen die doch bloß rum.«
»Darum geht's nicht. Dafür sind Steuergelder ausgegeben worden, die hast du nicht aus deiner eigenen Tasche bezahlt, oder?«
»Durchs Rumliegen werden die auch nicht besser. Und jetzt sind sie immerhin zu was nützlich.«
»Handschellen sind kein Kinderspielzeug.«
Jetzt war es Erwin, dem es zu bunt wurde.
»Es reicht!« Sein böser Blick brachte sowohl Richie als auch Schorsch zum Verstummen. »Viel wichtiger ist, was wir mit dem Geld da machen!«
Die drei glotzten auf die dreitausendfünfhundertfünfzig Euro.
»Warten, bis sich jemand meldet, was sonst«, meinte Richie, der jegliche Störung seines friedvollen Lebens als äußerst lästig empfand. Und den Besitzer dieses Geldhaufens zu finden roch nach richtiger Arbeit.
»Wir müssen da schon einen Aushang machen, und die Zeitung sollten wir auch informieren«, hielt Schorsch dagegen. Er hoffte, dass ein Mal gemacht würde, was er sagte. Bisher hatten sich derartige Hoffnungen in seinem Leben nur selten erfüllt, und auch diesmal wurde sein Einwand ignoriert.
»Wir sagen der Gisela Bescheid, die wird schon wissen, was wir machen sollen«, entschied Erwin. Schorsch grummelte zwar, aber letztendlich war es Gisela, die als Dienststellenleiterin die Entscheidung treff en musste.
Gisela Wegmeyer saß auf einem neumodischen Schwingstuhl in einem modernen Zimmer mit abstrakter Kunst an der Wand. Ihr Erscheinungsbild stand im krassen Widerspruch zur Einrichtung des Wartezimmers. Gisela war grundsolide. Ihre kornblauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus, was von dem leichten Lächeln um ihre Mundwinkel unterstützt wurde. Sie trug niemals Make-up, ihre strohblonden Haare waren so unauff ällig wie die Kleidung. Obwohl sie etwas fester gebaut war, hatte Gisela etwas Filigranes an sich, das nur mit ihrem speziellen Fingerspitzengefühl erklärt werden konnte. Sie war in der Lage, jedem Menschen, mit dem sie zu tun hatte, das Gefühl zu geben, er allein stehe im Mittelpunkt ihres Interesses. Das war keine Heuchelei, viel mehr entsprach diese Empathie ihrer Persönlichkeit. In Giselas Nähe fühlten sich die Menschen gut aufgehoben.
Auf den anderen Chromstühlen im Wartezimmer der neurologischen Praxis in Straubing hockten ein älteres Ehepaar, ein junger Mann mit Kopfverband, der eine Autozeitschrift durchblätterte, und eine Mutter mit ihrem dreijährigen Buben. Der Kleine hielt einen zerzausten Stoffelefanten fest umklammert, während seine Mutter ihm ein Lied ins Ohr summte. Er fi xierte Giselas große Nase, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er war so fasziniert von dem Zinken, dass er keinen Mucks von sich gab. Die Mutter schrieb seine Ruhe ihrem Lied und dem leisen Wasserplätschern zu, das, untermalt von Harfenmusik, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte.
Die Sprechstundenhilfe, eine magersüchtige Schwarzhaarige mit ungesunden Augenringen, steckte ihren Kopf ins Wartezimmer.
»Frau Wegmeyer, bitte.«
Gisela erhob sich.
»Wiederschaun«, verabschiedete sie sich in die Runde.
»Wiederschaun«, ertönte es unisono. Der Kleine starrte Gisela mit großen Augen nach, als sie das Wartezimmer verließ und der Magersüchtigen in ein kleines Besprechungszimmer folgte.
»Der Herr Doktor und Ihr Vater kommen gleich«, meinte die Magersüchtige und ließ sie alleine. Gisela setzte sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. Hier gab es keine Musik, hier summte nur die Sauerstoffanlage eines Aquariums, das fast eine gesamte Wandbreite einnahm. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Regal voller medizinischer Enzyklopädien, den freien Platz daneben nahm eine Skulptur aus Blech ein, die man für einen Menschen halten konnte, der die Hände dem Himmel entgegenstreckte. Hinter dem Schreibtisch war eine breite Terrassentür, die von einem orangefarbenen Vorhang verdeckt war. Das durch den Vorhang hereinfallende Licht tauchte das Zimmer in eine warme Farbe, die dem nüchternen Raum fast etwas Gemütliches verlieh.
Wäre da nicht der unbequeme Schwingstuhl. Giselas Körper verspannte sich, weil sie das Gefühl hatte, dass sie bei der leisesten Bewegung von der schiefen Sitzfl äche rutschen würde.
Vielleicht war sie aber auch angespannt, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr der Arzt sagen würde. Gisela rieb ihre Handflächen trocken, versuchte gleichmäßig zu atmen und ihren wippenden rechten Fuß unter Kontrolle zu kriegen.
Die Tür schwang auf. Gisela zuckte leicht zusammen, stemmte sich sofort hoch. Doktor Rothaler und Giselas Vater kamen herein.
»Grüß Gott, Frau Wegmeyer.«
»Grüß Gott, Herr Doktor.«
Gisela schob ihrem Vater den zweiten Stuhl hin und stützte den Einundachtzigjährigen, während er sich darauf niederließ. Doktor Rothaler, Mitte fünfzig, aber mit der Dynamik eines Studenten, warf sich in seinen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. Er sah unverschämt gut aus, braungebrannt, gerade weiße Zähne und kein einziges graues Haar. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, fragte sich Gisela, ob er sich von einem Schönheitschirurgen behandeln ließ. Üblicherweise wusste die Natur zu verhindern, dass jemand in ihrem Alter so frisch und gut erhalten blieb.
»Wollen Sie die gute oder die schlechte Nachricht zuerst? «
Doktor Rothaler schaute Gisela aus seinen klaren blauen Augen offen an. Gisela war seine forsche Art schon gewohnt.
»Erst die schlechte. Falls die mich umhaut, bringt mich die gute hoffentlich wieder auf die Füße.«
»Das Kurzzeitgedächtnis Ihres Vaters ist kaum mehr vorhanden.«
Sein Blick wanderte zu Jakob, der auf seine verschränkten Hände sah und augenscheinlich kein Wort hörte. Doktor Rothaler und Gisela wussten, dass dem nicht so war. Jakob war es einfach unangenehm, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wurde. Er hatte nie gern im Mittelpunkt gestanden.
»Das bedeutet, er vergisst Dinge, die Sie ihm vor ein paar Minuten gesagt haben, er wird Sie immer häufi ger nicht erkennen, und seine gewohnte Umgebung wird ihm allmählich fremd erscheinen. Wir müssen ihm Hilfestellungen geben, damit er im Alltag einigermaßen gut zurechtkommt.«
»Aha«, kam es rau aus Giselas Mund. Ihr Hals war vollkommen ausgetrocknet, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Luft gefüllt.
»Sie müssen sich daran gewöhnen, in einfachen Sätzen zu reden. Er wird oft aufbrausend reagieren, weil er nicht versteht, was Sie von ihm wollen. Er meint es nicht böse, er hat nur Angst, weil ihm nichts in seiner Welt mehr Orientierung gibt.«
Doktor Rothaler holte eine kleine Blechdose aus seinem blütenweißen Kittel, öffnete den Deckel. Darin lagen schneeweiße Pfefferminzbonbons. Er hielt Gisela das Döschen hin, sie schüttelte den Kopf. Doktor Rothaler bot Jakob die Bonbons an. Der Alte streckte seine Hand aus, nahm eines.
»Danke«, sagte er leise. Er schob sich das Pfeff erminzbonbon in den Mund. Zufrieden lehnte er sich zurück. Er schien plötzlich völlig entspannt.
Doktor Rothaler bediente sich selbst und fl äzte sich wieder in das Lederpolster.
»Diese Bonbons erinnern ihn an seine Kindheit, er hat immer eines bekommen, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hatte.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
»Wer sonst?«
Doktor Rothaler und seine Augen lächelten.
»Das hab ich gar nicht gewusst«, meinte Gisela.
»Das ist die gute Nachricht. Wir müssen uns mit den Kindheitserinnerungen Ihres Vaters auseinandersetzen. Aber nur mit den positiven, bitte schön.«
»Und dann ist er glücklich?«
Doktor Rothaler drehte sich in seinem Sessel hin und her.
»Glücklich ist vielleicht das falsche Wort. Dann fühlt er sich wohl. Damit können wir die negativen Auswirkungen der Demenz etwas abmildern.«
Gisela mochte dieses Wörtchen wir überhaupt nicht, diese Implikation, dass es nicht alleine ihre Aufgabe war, sich um ihren Vater zu kümmern.
»Haben Sie noch Angehörige, die uns da unterstützen können?«
»Wir haben da noch einen Bruder, der aber mit seiner Familie total überfordert ist. Der wird uns da keine Hilfe sein.«
Die Betonung der beiden Pronomen ließ das Lächeln in den Augen des Doktors noch fröhlicher werden. Er mochte Menschen wie Gisela, die nicht auf den Mund gefallen waren.
»Sehen Sie das Ganze als Chance, Ihren Vater besser kennenzulernen.«
Er beugte sich vor.
»Sie werden es nicht bereuen.«
Gisela war nicht so überzeugt. Die letzten Jahre hatte Jakob ihre Lebenszeit sehr in Anspruch genommen, und wenn das jetzt noch weiter zunähme ...
Sie schaute zu ihrem Vater, der aus seiner Selbstversunkenheit auftauchte. Er schnalzte kurz mit der Zunge, spürte dem Geschmack des Pfeff erminzbonbons nach.
»Kann ich noch eines haben?«
Doktor Rothaus streckte Jakob die Dose hin.
»Wo krieg ich die denn her?«, fragte Gisela.
»Die gibt's nur noch im Internet. Ich schreib Ihnen die Adresse auf.«
Nachdem Jakob in den nigelnagelneuen Smart eingestiegen und festgeschnallt war, schaltete Gisela ihr Handy wieder ein. Die ersten Takte von Mamma Mia informierten Gisela über eine Nachricht auf der Mailbox. Es war Erwin, der sie über das gefundene Geld in Kenntnis setzte. Gisela drückte die Kurzwahltaste für ihre Dienststelle.
»Bist schon fertig?«, tönte ihr Erwins Stimme entgegen.
»Grad vor fünf Minuten.«
»Und? Wie schaut's aus?«
»Mei, nicht gut.«
Sie blickte zu Jakob, der im Beifahrersitz saß und wieder auf seine verschränkten Hände starrte.
Sie holte tief Luft. »Was ist denn das mit dem Geld?«
»Keine Ahnung. Mehr, als ich dir aufs Band gesprochen hab, wissen wir jetzt auch nicht.«
»Die haben das im Bach gefunden?«
»Genau.«
Gisela überlegte kurz. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihr Gehirn in Anspruch nahm.
»Dann geht ihr jetzt von der Fundstelle bachaufwärts. Vielleicht findet ihr ja was.«
»Ja, und was?«
»Irgendwas. Und wenn nicht, dann haben wir es wenigstens probiert.«
Ätherisches Rauschen füllte eine kurze Pause.
»Und wen meinst du mit ihr?«
»Na, du und der Richie.«
»Und der Schorsch?«
»Einer muss ja auf der Wache bleiben, oder?«
»Ja, aber immer der Schorsch.«
»Jetzt geh, Bewegung schadet euch nicht. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da. Servus.«
Ohne auf ein weiteres Wort Erwins zu warten, drückte sie die Auflegen-Taste. Sie hatte keine Lust auf endlose Diskussionen darüber, wer was machte und warum. Ihre drei Untergebenen waren in dieser Hinsicht wie Kinder, die nie Pflichten übernehmen, sondern immer nur Spaß haben wollten. Gisela selbst hatte zwar keine Kinder, aber sie wusste mit ihnen umzugehen.
Und so schlurften fünf Minuten später Erwin und Richie ohne großen Elan den kleinen Bach entlang Richtung Wald. Ihre Augen taten so, als würden sie die Umgebung nach Hinweisen auf den Ursprung des Geldes absuchen, aber in Wahrheit reichte der Blick nicht weit. Ohne klare Vorstellung, wonach man suchte, war jede Suche sinnlos. Das jedenfalls war Richies Meinung, und seine ganze Körperhaltung drückte das aus. Er wirkte wie der personifizierte Widerwille in Uniform.
Nach zehn Minuten hatten sie den Wald erreicht, und Richie blieb stehen.
»Da willst du jetzt aber nicht wirklich reingehen, oder?« Erwin drehte sich zu Richie um.
»Logisch. Wieso nicht?«
»Weil, wenn wir dem Bach noch weiter nachgehen, sind wir übermorgen in Zwiesel und Ende der Woche in der Tschechei.«
Erwin schaute Richie lange an, dann wandte er sich dem Wald zu, starrte auf die Bäume, drehte sich schließlich wieder zu Richie um.
»Wir gehen bis zur Grenze von Grünharding und kehren dort um. Das heißt, wir sind maximal noch eine Stunde unterwegs.«
Richie seufzte. »Wenn's sein muss.«
Die beiden setzten sich wieder in Bewegung.
»Eigentlich hätte das der Schorsch machen können. Dem tät's echt nicht schaden, wenn er ein bisschen rauskommt «, brummte Richie.
»Mei, er ist halt der geborene Schreibtischhengst. Wir nicht. Das passt schon.«
Erwin und Richie verschwanden zwischen den Bäumen. Ein Specht klopfte, ein Traktor dröhnte, ein Hund bellte, und dreiundfünfzig Minuten später standen die beiden Streifenbeamten vor Schneewittchen und kämpften mit dem Brechreiz.
Erwin verlor den Kampf, er hastete Richtung Bach und spendete sein Frühstück der Natur. Richie spürte seinen Magen zwar rumoren, aber da er nie frühstückte, sondern nur einen Joint rauchte und ein Weißbier trank, gelang es ihm, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Seine Augen klebten an der Leiche, während seine Hand sich langsam hob und die Finger in die Brusttasche wanderten, wo sein Handy wohnte. Er zog es heraus, und ohne dass sich seine Pupillen einen Millimeter bewegten, drückte er eine Kurzwahltaste, hielt das Telefon ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. Wahrscheinlich hörte er den Ton gar nicht, denn als sich Gisela am anderen Ende meldete, dauerte es glatte zwanzig Sekunden, bis ihre Stimme in seine Gehirnwindungen vordrang.
»... Richie, jetzt sag einmal, was ist denn los? Hörst du mich überhaupt?«
»Gisela.«
Das war alles, was sich aus seinem Mund quälte. Und es klang so rau, dass man Tannenzapfen damit hätte abschmirgeln können.
»Was?«, drang es aus dem Handy.
»Gisela.«
Richie war noch immer zu keiner Bewegung fähig. Diese junge Frau, deren linkes Auge mit Maden gefüllt war, war der erste gewaltsam umgekommene Mensch, den er in seinen bislang dreiunddreißig Lebensjahren gesehen hatte. Eine Erfahrung, die seine Seelenruhe zutiefst erschütterte.
»Wo bist du denn?«
»Im Wald.«
Erwin kam hinter einem Baum hervor, näherte sich kreidebleich seinem Kollegen. Er bemühte sich, die Leiche nicht anzuschauen, während er Richie das Handy aus der Hand nahm. An dessen Körperhaltung änderte sich nichts.
»Wir sind am Mittererbach, da wo's nach Grünharding geht. Da liegt ...«, krächzte Erwin, würgte, zwang sich, nicht zu Schneewittchen zu blicken, »... da liegt eine Frau. Sie, die ist ...« Der Rest seines Frühstücks überholte den Satz.
Gisela, die auf den Seitenstreifen gefahren war, hörte Erwin über ihre Freisprecheinrichtung kotzen. Die Übertragung war so gut, dass man glaubte, er säße im Wagen. Das Geräusch erhitzte Giselas Innereien schlagartig, sie spürte, wie ihr ebenfalls unwohl wurde. Jakob hingegen starrte zum Beifahrerfenster hinaus und schien nichts davon wahrzunehmen.
»Erwin?«
Sie hörte Keuchen. Ein herzhaftes Fluchen.
»Wann bist du da?«, tropfte Erwins Stimme ins Auto.
»Ich bring den Papa noch schnell heim, dann komm ich zu euch.«
»Wie lang ...?«
Gisela ahnte das Herannahen eines erneuten Schwächeanfalls Erwins.
»So schnell's geht. Und schaut, dass ihr den Tatort nicht versaut.«
Aus den Lautsprechern gedämpfte Schritte, als würde jemand über Waldboden laufen, um sich in sicherer Entfernung der Leiche noch einmal zu übergeben. Gisela schaltete das Handy ab, legte den ersten Gang ein, und der Smart pfiff zurück auf die Fahrbahn, um Giselas Mitarbeitern zu Hilfe zu eilen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg Copyright der Originalausgabe © 2012 by Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Schneewittchen war kein schöner Anblick. Ihre Haut weiß mit einem Grauschimmer, schwarzes, zotteliges Haar, die Lippen blau und rissig, das rechte Auge blutunterlaufen, im linken räkelten sich ein Dutzend Maden.
Zusammengekrümmt wie ein frierendes Kleinkind lag sie zwischen den Brombeersträuchern, fast so, als hätte sie dort Schutz gesucht. Ihr Negligé war zerrissen, die Laufmaschen der halterlosen Strümpfe wirkten wie Narben an ihren langen, schlanken Beinen. Die Hände hatten den Waldboden aufgewühlt, die kleinen Fäuste mit den pink lackierten Fingernägeln hielten den Dreck immer noch fest umklammert.
Die Welt um sie herum kümmerte das wenig. Die Tannen knarrten im warmen Sommerwind, die Vögel trugen ihre morgendlichen Gesangsduelle aus, und nicht weit entfernt plätscherte der Bach, der seit Jahrhunderten den Wald durchzog und Richtung Niedernussdorf floss, um sich vierzig Kilometer weiter nördlich mit der Donau zu vereinen.
Kurz bevor der Bach die Ortsgrenze von Niedernuss dorf überschreitet, macht er einen Schlenker um den Wegmeyerhof. Dort hatten die Kinder aus dem Dorf einen Staudamm aus Ästen gebaut, an dem ihre selbst geschnitzten Holzschiffchen hängenblieben, die sie weiter oben ins Wasser ließen.
Auch diesmal schaukelten zwei Bötchen um die Wette auf den Staudamm zu. Beppo und sein bester Freund Olli liefen am Ufer entlang neben ihnen her. Die Schulranzen auf ihren Rücken wippten im Takt der Schritte. »Kannst den Euro schon mal rüberfahren«, sagte Beppo mit einem fetten Grinsen, das Grübchen in seine Wangen zeichnete. Seine grünen Augen blitzten siegessicher. »Noch sind wir nicht da«, erwiderte Olli. Der Elfj ährige mit den Segelohren und der Igelfrisur grinste ebenfalls, denn schon oft hatten sich die Wettrennen auf den letzten fünf Metern entschieden, dort, wo der Bach in einer scharfen Kurve vom Wegmeyerhof abbog. Tatsächlich verfing sich das Boot Beppos, das aus leichtem Kiefernholz gefertigt war, an einem Autoreifen, der halb aus dem Wasser ragte. Ollis Fichtenschiffchen rammte den Konkurrenten, wirbelte einmal um die eigene Achse und setzte seine Fahrt fort.
»Hättest nicht so früh schreien sollen«, triumphierte Olli. Er eilte zum Staudamm, während Beppo kurzerhand aus seinen Flipflops rutschte, ins Wasser stieg und sein Bötchen aus der Reifenfalle befreite.
»Beppo!«, plärrte Olli. Beppo schaute zu seinem Freund, der mit einem durchsichtigen Gefrierbeutel wedelte.
»Das musst dir anschauen!«
»Gleich!«
»Schick dich, sonst gehört das alles mir.«
»Komm halt du.«
»Bin ja nicht dein Fiffi.« Olli schaute trotzig zu Beppo. Der kletterte gemächlich ans Ufer, schlüpfte in seine Flipflops. Olli seufzte, rannte zu seinem Freund. »Schau.« Olli hielt den Beutel hoch. Beppos Augen wurden riesengroß. In dem Gefrierbeutel waren jede Menge Geldscheine, alles Fünfziger und Hunderter.
»Boah.«
»Was machen wir?«
»Ja, aufmachen, was sonst?« Beppo nahm Olli kurzerhand den Beutel aus den Fingern, zippte den Verschluss auf und leerte den Inhalt auf den Boden. Staunend gingen die beiden Jungs in die Hocke, keiner von ihnen traute sich, das Geld anzufassen.
»Wie viel is'n das?«, fragte sich Olli.
»Über tausend auf jeden Fall.«
»Zähl mal.«
»Wieso ich?«
»Weil du in Mathe einen Zweier hast.«
»Aber dein Vater ist Banker.«
»Der hat nie mehr als fünfzig Euro im Geldbeutel. Der zahlt nur noch mit Karte. Der sagt immer, heutzutage mit Bargeld rumrennen ist absoluter Schwachsinn.«
»Mein Vater hat nur Bargeld. Nur Bares ist Wahres.«
»Mei, jeder ist anders.«
Beide schwiegen, konnten ihren Blick nicht von dem Geld abwenden.
»Weißt, was du für über tausend Euro kriegst?«, fragte Beppo.
»Freilich. Eine PS3, eine Wii und eine Xbox.«
Beppo schaute auf, runzelte die Stirn. »Wie hast denn das so schnell zusammengerechnet?«
»Ich hab letztes Jahr einen Weihnachtszettel gemacht. Da war aber noch ein iPod drauf, da war ich dann bei eintausendeinhundertfünf. « Er schaute Beppo an. »Den iPod hab ich jetzt einfach abgezogen.«
Beppo deutete auf das Geld. »Ja, das sind aber bestimmt über tausend Euro, da kannst dir den iPod auch noch leisten.«
»Du willst das doch nicht behalten, oder?«
»Warum nicht?«
»Das gehört doch jemandem.«
»Schon. Aber er hat's ja weggeschmissen, also wollt er's nicht mehr.«
»Das glaubst doch selber nicht.«
Beppo grinste wieder fett. »Ich glaub, wir bringen's zu den Sheriff s.«
Olli war erleichtert, dass sich Beppo nur einen Scherz erlaubt hatte. »Genau. Sollen die's doch zählen.«
»Dreitausendfünfhundertfünfzig.« Schorsch Kramer legte den letzten Fünfziger mit seiner mächtigen Pranke auf die anderen Geldscheine. Der Statur nach erinnerte er an einen Braunbären, seine Haltung etwas gebeugt, als wollte er aus Rücksicht die anderen nicht überragen. Alles an ihm wirkte schwer und massig, von den weißwurstdicken Fingern über den wuchtigen Bauch bis zum Dreifachkinn, das seinen Kopf ohne sichtbaren Hals auf dem Oberkörper sitzen ließ.
Seine kindlichen Knopfaugen schauten Beppo und Olli an, die vor dem Tresen in der Polizeistation Niedernussdorf standen. »Dafür muss eine alte Frau lange Holz hacken.«
Seine Kollegen, Wachtmeister Richard Hafenrichter und Wachtmeister Erwin Huber, richteten ihren Blick ebenfalls auf die beiden Jungs. Die fühlten sich etwas unbehaglich angesichts dreier Uniformierter, die sie wie Verbrecher zu mustern schienen.
»Wir haben die gefunden, ehrlich«, fühlte Olli sich bemüßigt zu erklären. »Wir klauen nicht.«
Keiner der Streifenbeamten sagte ein Wort. Ihre Blicke drückten wie Mühlsteine auf das Gewissen der beiden Jungs.
»Sonst hätten wir das doch nicht hergebracht«, unterstützte Beppo seinen Freund.
Die drei Polizisten starrten die Kinder weiter stumm an. Jeder schien zu überlegen, was er sagen sollte, und bei jedem geschah das in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Und mit unterschiedlichem Ergebnis. Erwin, der schnellste unter ihnen, beugte sich vor.
»War da noch was?«
»Wie, war da noch was?«
»Da, wo ihr das gefunden habt. Habt ihr da noch was gefunden?«
Erwin erinnerte in diesem Moment an einen Wolf, ein Eindruck, der durch seine dichten Augenbrauen im schmalen Gesicht mit der kleinen Nase noch verstärkt wurde. Seine dunklen Augen fixierten die beiden Jungs finster. Erwins Grundhaltung war von Misstrauen geprägt, und sein gedrungener Körper schien immer angespannt und zum Angriff bereit. Beppo und Olli ließen sich davon nicht beeindrucken.
»Wenn wir noch was gefunden hätten, hätten wir's mitgebracht«, polterte Olli frech zurück.
»Das kommt drauf an«, mischte sich Schorsch ein, was ihm einen schrägen Seitenblick Erwins einbrachte. Der hatte es gar nicht gern, wenn man sich in seine Befragung einmischte, und schon gar nicht, wenn es Schorsch war. Die beiden Kollegen verband seit der Grundschulzeit eine unverbrüchliche Hassliebe. In der zweiten Klasse hatte sich herausgestellt, dass Erwin unter einer Schreibschwäche litt. Buchstabendreher, vergessene Buchstaben, fantasievolle Eigenkreationen trieben Lehrer und Eltern zur Verzweifl ung. Schließlich hatte es dazu geführt, dass Erwin auf eine Sonderschule kam. Mit dem sogenannten Depperlbus musste er fünf Kilometer ins benachbarte Grünharding fahren, wo sich speziell geschulte Pädagogen seiner annahmen.
Schorsch, der in der Schule immer ein Musterschüler gewesen war, verlieh Erwin den Titel geistiger Tiefflieger, was eines Tages zu einer Schlägerei führte, bei der Erwin zeigte, worin er wirklich gut war. Im Handfesten. Sein Oberstübchen war vielleicht etwas unterentwickelt, dafür hatte er, trotz seiner Kleinwüchsigkeit, eine unheimliche Kraft. Schorsch kam an jenem Abend mit zwei Milchzähnen weniger nach Hause, und Erwin hatte entdeckt, was ihm Spaß machte. Boxen. Henry Maske wurde sein Vorbild, dem er auch jetzt noch nacheiferte. Im Wohnzimmer hing ein Boxsack, den er regelmäßig traktierte, er trank jeden Morgen einen Eiweißdrink, und in den virtuellen Boxkämpfen im Internet belegte er stets einen der vorderen Plätze.
»Auf was?«, fragte Beppo Schorsch herausfordernd.
»Wie groß und schwer das war«, erwiderte Schorsch. Richie, die Lider von der vergangenen Nacht noch auf halbmast, drehte seine Augen mit Mühe Richtung Schorsch. Worauf wollte der Dicke hinaus? Bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schoss Schorsch bereits die nächste Frage ab.
»Vielleicht hat das Geld ja neben einer Leiche gelegen.« Alle glaubten, sich verhört zu haben. Sie starrten Schorsch an, der sich zu einer Erklärung verpflichtet fühlte. »Die zwei haben uns schon mal Arbeit gemacht.« Keiner reagierte. Jeder wusste, dass er auf den abgebissenen Finger vom letzten Jahr anspielte, der einen besonders grausamen Mord nahegelegt hatte. Das ganze Dorf hatte sich damals in heller Aufregung an der Opfersuche beteiligt. Wie sich schließlich herausstellte, hatte der Finger der alten Mathilda vom Gruberhof gehört. Sie war auf ganz natürliche Weise verstorben, von den Angehörigen aber an die Säue verfüttert worden, um sie spurlos verschwinden zu lassen. Eine Leiche in der Sommerhitze ist nur begrenzt haltbar, und so war das einzige Überbleibsel der Finger gewesen, den Beppo und Olli seinerzeit zur Polizei gebracht hatten. Ein Pflichtbewusstsein, das den Beamten immer noch säuerlich aufstieß. Man musste Arbeit ja nicht mit Gewalt erzwingen, war von jeher Schorschs Motto. Darin stimmten seine Kollegen mit ihm überein.
»Ich mein, wir haben sonst nie Stress, und immer wenn die zwei auftauchen ...« Er deutete mit dem Kinn auf Beppo und Olli. Richie und Erwin seufzten und nickten synchron. Die Augen der Polizisten richteten sich wieder auf die Jungs. Erwin holte tief Luft.
»Also, ihr habt's das gut gemacht, so ehrliche Finder gibt's heutzutage selten. Ab jetzt übernehmen wir. Ihr könnt gehen.«
Die beiden Kinder bewegten sich keinen Millimeter.
»Kriegen wir was dafür?«, erkundigte sich Olli.
»Einen Finderlohn«, ergänzte Beppo.
»Finderlohn gibt's, wenn sich derjenige meldet, dem das Geld gehört«, entgegnete Richie.
»Aber irgendwas hätten wir schon gerne«, hakte Beppo nach.
»Das ist hier kein Wunschkonzert«, brauste Schorsch auf. »Sobald sich jemand meldet, hört ihr von uns.« Er und die Jungs starrten sich an. Keiner zuckte auch nur mit der Wimper.
»Ich hab da was für euch«, schob sich Richie dazwischen. Aus einer Schublade holte er ein Paar Handschellen, hielt sie den Jungs hin. Die Handschellen waren verschlossen. »Aber ohne Schlüssel.«
Beppo und Olli wechselten einen kurzen Blick, nickten. Beppo nahm die Handschellen, versuchte gleich, eine Hand durchzuzwängen. Es klappte.
»Cool.«
Die zweite Hand folgte. Er grinste Olli an.
»Jetzt kannst mich abführen.«
Erwin schaute auf die große Uhr über der Tür. Halb neun.
»Ja, und zwar zur Schule. Im Laufschritt. Die erste Stunde schafft ihr sowieso nicht mehr.«
»Vielleicht schreiben Sie uns eine Entschuldigung, damit die Müllerin auch glaubt, was wir erzählen.«
»Raus! Aber sofort!« Schorsch war der Kragen geplatzt, und der Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Beppo und Olli drängten zur Tür hinaus und fl itzten davon.
Schorsch war so in Fahrt, dass er sich gleich Richie vorknöpfte.
»Und du, wieso schenkst du denen Handschellen? Das sind Arbeitsutensilien.«
»Ohne Schlüssel liegen die doch bloß rum.«
»Darum geht's nicht. Dafür sind Steuergelder ausgegeben worden, die hast du nicht aus deiner eigenen Tasche bezahlt, oder?«
»Durchs Rumliegen werden die auch nicht besser. Und jetzt sind sie immerhin zu was nützlich.«
»Handschellen sind kein Kinderspielzeug.«
Jetzt war es Erwin, dem es zu bunt wurde.
»Es reicht!« Sein böser Blick brachte sowohl Richie als auch Schorsch zum Verstummen. »Viel wichtiger ist, was wir mit dem Geld da machen!«
Die drei glotzten auf die dreitausendfünfhundertfünfzig Euro.
»Warten, bis sich jemand meldet, was sonst«, meinte Richie, der jegliche Störung seines friedvollen Lebens als äußerst lästig empfand. Und den Besitzer dieses Geldhaufens zu finden roch nach richtiger Arbeit.
»Wir müssen da schon einen Aushang machen, und die Zeitung sollten wir auch informieren«, hielt Schorsch dagegen. Er hoffte, dass ein Mal gemacht würde, was er sagte. Bisher hatten sich derartige Hoffnungen in seinem Leben nur selten erfüllt, und auch diesmal wurde sein Einwand ignoriert.
»Wir sagen der Gisela Bescheid, die wird schon wissen, was wir machen sollen«, entschied Erwin. Schorsch grummelte zwar, aber letztendlich war es Gisela, die als Dienststellenleiterin die Entscheidung treff en musste.
Gisela Wegmeyer saß auf einem neumodischen Schwingstuhl in einem modernen Zimmer mit abstrakter Kunst an der Wand. Ihr Erscheinungsbild stand im krassen Widerspruch zur Einrichtung des Wartezimmers. Gisela war grundsolide. Ihre kornblauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus, was von dem leichten Lächeln um ihre Mundwinkel unterstützt wurde. Sie trug niemals Make-up, ihre strohblonden Haare waren so unauff ällig wie die Kleidung. Obwohl sie etwas fester gebaut war, hatte Gisela etwas Filigranes an sich, das nur mit ihrem speziellen Fingerspitzengefühl erklärt werden konnte. Sie war in der Lage, jedem Menschen, mit dem sie zu tun hatte, das Gefühl zu geben, er allein stehe im Mittelpunkt ihres Interesses. Das war keine Heuchelei, viel mehr entsprach diese Empathie ihrer Persönlichkeit. In Giselas Nähe fühlten sich die Menschen gut aufgehoben.
Auf den anderen Chromstühlen im Wartezimmer der neurologischen Praxis in Straubing hockten ein älteres Ehepaar, ein junger Mann mit Kopfverband, der eine Autozeitschrift durchblätterte, und eine Mutter mit ihrem dreijährigen Buben. Der Kleine hielt einen zerzausten Stoffelefanten fest umklammert, während seine Mutter ihm ein Lied ins Ohr summte. Er fi xierte Giselas große Nase, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er war so fasziniert von dem Zinken, dass er keinen Mucks von sich gab. Die Mutter schrieb seine Ruhe ihrem Lied und dem leisen Wasserplätschern zu, das, untermalt von Harfenmusik, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte.
Die Sprechstundenhilfe, eine magersüchtige Schwarzhaarige mit ungesunden Augenringen, steckte ihren Kopf ins Wartezimmer.
»Frau Wegmeyer, bitte.«
Gisela erhob sich.
»Wiederschaun«, verabschiedete sie sich in die Runde.
»Wiederschaun«, ertönte es unisono. Der Kleine starrte Gisela mit großen Augen nach, als sie das Wartezimmer verließ und der Magersüchtigen in ein kleines Besprechungszimmer folgte.
»Der Herr Doktor und Ihr Vater kommen gleich«, meinte die Magersüchtige und ließ sie alleine. Gisela setzte sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. Hier gab es keine Musik, hier summte nur die Sauerstoffanlage eines Aquariums, das fast eine gesamte Wandbreite einnahm. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Regal voller medizinischer Enzyklopädien, den freien Platz daneben nahm eine Skulptur aus Blech ein, die man für einen Menschen halten konnte, der die Hände dem Himmel entgegenstreckte. Hinter dem Schreibtisch war eine breite Terrassentür, die von einem orangefarbenen Vorhang verdeckt war. Das durch den Vorhang hereinfallende Licht tauchte das Zimmer in eine warme Farbe, die dem nüchternen Raum fast etwas Gemütliches verlieh.
Wäre da nicht der unbequeme Schwingstuhl. Giselas Körper verspannte sich, weil sie das Gefühl hatte, dass sie bei der leisesten Bewegung von der schiefen Sitzfl äche rutschen würde.
Vielleicht war sie aber auch angespannt, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr der Arzt sagen würde. Gisela rieb ihre Handflächen trocken, versuchte gleichmäßig zu atmen und ihren wippenden rechten Fuß unter Kontrolle zu kriegen.
Die Tür schwang auf. Gisela zuckte leicht zusammen, stemmte sich sofort hoch. Doktor Rothaler und Giselas Vater kamen herein.
»Grüß Gott, Frau Wegmeyer.«
»Grüß Gott, Herr Doktor.«
Gisela schob ihrem Vater den zweiten Stuhl hin und stützte den Einundachtzigjährigen, während er sich darauf niederließ. Doktor Rothaler, Mitte fünfzig, aber mit der Dynamik eines Studenten, warf sich in seinen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. Er sah unverschämt gut aus, braungebrannt, gerade weiße Zähne und kein einziges graues Haar. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, fragte sich Gisela, ob er sich von einem Schönheitschirurgen behandeln ließ. Üblicherweise wusste die Natur zu verhindern, dass jemand in ihrem Alter so frisch und gut erhalten blieb.
»Wollen Sie die gute oder die schlechte Nachricht zuerst? «
Doktor Rothaler schaute Gisela aus seinen klaren blauen Augen offen an. Gisela war seine forsche Art schon gewohnt.
»Erst die schlechte. Falls die mich umhaut, bringt mich die gute hoffentlich wieder auf die Füße.«
»Das Kurzzeitgedächtnis Ihres Vaters ist kaum mehr vorhanden.«
Sein Blick wanderte zu Jakob, der auf seine verschränkten Hände sah und augenscheinlich kein Wort hörte. Doktor Rothaler und Gisela wussten, dass dem nicht so war. Jakob war es einfach unangenehm, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wurde. Er hatte nie gern im Mittelpunkt gestanden.
»Das bedeutet, er vergisst Dinge, die Sie ihm vor ein paar Minuten gesagt haben, er wird Sie immer häufi ger nicht erkennen, und seine gewohnte Umgebung wird ihm allmählich fremd erscheinen. Wir müssen ihm Hilfestellungen geben, damit er im Alltag einigermaßen gut zurechtkommt.«
»Aha«, kam es rau aus Giselas Mund. Ihr Hals war vollkommen ausgetrocknet, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Luft gefüllt.
»Sie müssen sich daran gewöhnen, in einfachen Sätzen zu reden. Er wird oft aufbrausend reagieren, weil er nicht versteht, was Sie von ihm wollen. Er meint es nicht böse, er hat nur Angst, weil ihm nichts in seiner Welt mehr Orientierung gibt.«
Doktor Rothaler holte eine kleine Blechdose aus seinem blütenweißen Kittel, öffnete den Deckel. Darin lagen schneeweiße Pfefferminzbonbons. Er hielt Gisela das Döschen hin, sie schüttelte den Kopf. Doktor Rothaler bot Jakob die Bonbons an. Der Alte streckte seine Hand aus, nahm eines.
»Danke«, sagte er leise. Er schob sich das Pfeff erminzbonbon in den Mund. Zufrieden lehnte er sich zurück. Er schien plötzlich völlig entspannt.
Doktor Rothaler bediente sich selbst und fl äzte sich wieder in das Lederpolster.
»Diese Bonbons erinnern ihn an seine Kindheit, er hat immer eines bekommen, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hatte.«
»Hat er Ihnen das erzählt?«
»Wer sonst?«
Doktor Rothaler und seine Augen lächelten.
»Das hab ich gar nicht gewusst«, meinte Gisela.
»Das ist die gute Nachricht. Wir müssen uns mit den Kindheitserinnerungen Ihres Vaters auseinandersetzen. Aber nur mit den positiven, bitte schön.«
»Und dann ist er glücklich?«
Doktor Rothaler drehte sich in seinem Sessel hin und her.
»Glücklich ist vielleicht das falsche Wort. Dann fühlt er sich wohl. Damit können wir die negativen Auswirkungen der Demenz etwas abmildern.«
Gisela mochte dieses Wörtchen wir überhaupt nicht, diese Implikation, dass es nicht alleine ihre Aufgabe war, sich um ihren Vater zu kümmern.
»Haben Sie noch Angehörige, die uns da unterstützen können?«
»Wir haben da noch einen Bruder, der aber mit seiner Familie total überfordert ist. Der wird uns da keine Hilfe sein.«
Die Betonung der beiden Pronomen ließ das Lächeln in den Augen des Doktors noch fröhlicher werden. Er mochte Menschen wie Gisela, die nicht auf den Mund gefallen waren.
»Sehen Sie das Ganze als Chance, Ihren Vater besser kennenzulernen.«
Er beugte sich vor.
»Sie werden es nicht bereuen.«
Gisela war nicht so überzeugt. Die letzten Jahre hatte Jakob ihre Lebenszeit sehr in Anspruch genommen, und wenn das jetzt noch weiter zunähme ...
Sie schaute zu ihrem Vater, der aus seiner Selbstversunkenheit auftauchte. Er schnalzte kurz mit der Zunge, spürte dem Geschmack des Pfeff erminzbonbons nach.
»Kann ich noch eines haben?«
Doktor Rothaus streckte Jakob die Dose hin.
»Wo krieg ich die denn her?«, fragte Gisela.
»Die gibt's nur noch im Internet. Ich schreib Ihnen die Adresse auf.«
Nachdem Jakob in den nigelnagelneuen Smart eingestiegen und festgeschnallt war, schaltete Gisela ihr Handy wieder ein. Die ersten Takte von Mamma Mia informierten Gisela über eine Nachricht auf der Mailbox. Es war Erwin, der sie über das gefundene Geld in Kenntnis setzte. Gisela drückte die Kurzwahltaste für ihre Dienststelle.
»Bist schon fertig?«, tönte ihr Erwins Stimme entgegen.
»Grad vor fünf Minuten.«
»Und? Wie schaut's aus?«
»Mei, nicht gut.«
Sie blickte zu Jakob, der im Beifahrersitz saß und wieder auf seine verschränkten Hände starrte.
Sie holte tief Luft. »Was ist denn das mit dem Geld?«
»Keine Ahnung. Mehr, als ich dir aufs Band gesprochen hab, wissen wir jetzt auch nicht.«
»Die haben das im Bach gefunden?«
»Genau.«
Gisela überlegte kurz. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihr Gehirn in Anspruch nahm.
»Dann geht ihr jetzt von der Fundstelle bachaufwärts. Vielleicht findet ihr ja was.«
»Ja, und was?«
»Irgendwas. Und wenn nicht, dann haben wir es wenigstens probiert.«
Ätherisches Rauschen füllte eine kurze Pause.
»Und wen meinst du mit ihr?«
»Na, du und der Richie.«
»Und der Schorsch?«
»Einer muss ja auf der Wache bleiben, oder?«
»Ja, aber immer der Schorsch.«
»Jetzt geh, Bewegung schadet euch nicht. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da. Servus.«
Ohne auf ein weiteres Wort Erwins zu warten, drückte sie die Auflegen-Taste. Sie hatte keine Lust auf endlose Diskussionen darüber, wer was machte und warum. Ihre drei Untergebenen waren in dieser Hinsicht wie Kinder, die nie Pflichten übernehmen, sondern immer nur Spaß haben wollten. Gisela selbst hatte zwar keine Kinder, aber sie wusste mit ihnen umzugehen.
Und so schlurften fünf Minuten später Erwin und Richie ohne großen Elan den kleinen Bach entlang Richtung Wald. Ihre Augen taten so, als würden sie die Umgebung nach Hinweisen auf den Ursprung des Geldes absuchen, aber in Wahrheit reichte der Blick nicht weit. Ohne klare Vorstellung, wonach man suchte, war jede Suche sinnlos. Das jedenfalls war Richies Meinung, und seine ganze Körperhaltung drückte das aus. Er wirkte wie der personifizierte Widerwille in Uniform.
Nach zehn Minuten hatten sie den Wald erreicht, und Richie blieb stehen.
»Da willst du jetzt aber nicht wirklich reingehen, oder?« Erwin drehte sich zu Richie um.
»Logisch. Wieso nicht?«
»Weil, wenn wir dem Bach noch weiter nachgehen, sind wir übermorgen in Zwiesel und Ende der Woche in der Tschechei.«
Erwin schaute Richie lange an, dann wandte er sich dem Wald zu, starrte auf die Bäume, drehte sich schließlich wieder zu Richie um.
»Wir gehen bis zur Grenze von Grünharding und kehren dort um. Das heißt, wir sind maximal noch eine Stunde unterwegs.«
Richie seufzte. »Wenn's sein muss.«
Die beiden setzten sich wieder in Bewegung.
»Eigentlich hätte das der Schorsch machen können. Dem tät's echt nicht schaden, wenn er ein bisschen rauskommt «, brummte Richie.
»Mei, er ist halt der geborene Schreibtischhengst. Wir nicht. Das passt schon.«
Erwin und Richie verschwanden zwischen den Bäumen. Ein Specht klopfte, ein Traktor dröhnte, ein Hund bellte, und dreiundfünfzig Minuten später standen die beiden Streifenbeamten vor Schneewittchen und kämpften mit dem Brechreiz.
Erwin verlor den Kampf, er hastete Richtung Bach und spendete sein Frühstück der Natur. Richie spürte seinen Magen zwar rumoren, aber da er nie frühstückte, sondern nur einen Joint rauchte und ein Weißbier trank, gelang es ihm, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Seine Augen klebten an der Leiche, während seine Hand sich langsam hob und die Finger in die Brusttasche wanderten, wo sein Handy wohnte. Er zog es heraus, und ohne dass sich seine Pupillen einen Millimeter bewegten, drückte er eine Kurzwahltaste, hielt das Telefon ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. Wahrscheinlich hörte er den Ton gar nicht, denn als sich Gisela am anderen Ende meldete, dauerte es glatte zwanzig Sekunden, bis ihre Stimme in seine Gehirnwindungen vordrang.
»... Richie, jetzt sag einmal, was ist denn los? Hörst du mich überhaupt?«
»Gisela.«
Das war alles, was sich aus seinem Mund quälte. Und es klang so rau, dass man Tannenzapfen damit hätte abschmirgeln können.
»Was?«, drang es aus dem Handy.
»Gisela.«
Richie war noch immer zu keiner Bewegung fähig. Diese junge Frau, deren linkes Auge mit Maden gefüllt war, war der erste gewaltsam umgekommene Mensch, den er in seinen bislang dreiunddreißig Lebensjahren gesehen hatte. Eine Erfahrung, die seine Seelenruhe zutiefst erschütterte.
»Wo bist du denn?«
»Im Wald.«
Erwin kam hinter einem Baum hervor, näherte sich kreidebleich seinem Kollegen. Er bemühte sich, die Leiche nicht anzuschauen, während er Richie das Handy aus der Hand nahm. An dessen Körperhaltung änderte sich nichts.
»Wir sind am Mittererbach, da wo's nach Grünharding geht. Da liegt ...«, krächzte Erwin, würgte, zwang sich, nicht zu Schneewittchen zu blicken, »... da liegt eine Frau. Sie, die ist ...« Der Rest seines Frühstücks überholte den Satz.
Gisela, die auf den Seitenstreifen gefahren war, hörte Erwin über ihre Freisprecheinrichtung kotzen. Die Übertragung war so gut, dass man glaubte, er säße im Wagen. Das Geräusch erhitzte Giselas Innereien schlagartig, sie spürte, wie ihr ebenfalls unwohl wurde. Jakob hingegen starrte zum Beifahrerfenster hinaus und schien nichts davon wahrzunehmen.
»Erwin?«
Sie hörte Keuchen. Ein herzhaftes Fluchen.
»Wann bist du da?«, tropfte Erwins Stimme ins Auto.
»Ich bring den Papa noch schnell heim, dann komm ich zu euch.«
»Wie lang ...?«
Gisela ahnte das Herannahen eines erneuten Schwächeanfalls Erwins.
»So schnell's geht. Und schaut, dass ihr den Tatort nicht versaut.«
Aus den Lautsprechern gedämpfte Schritte, als würde jemand über Waldboden laufen, um sich in sicherer Entfernung der Leiche noch einmal zu übergeben. Gisela schaltete das Handy ab, legte den ersten Gang ein, und der Smart pfiff zurück auf die Fahrbahn, um Giselas Mitarbeitern zu Hilfe zu eilen.
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Autoren-Porträt von Christian Limmer
Christian Limmer, 1964 in Straubing geboren und aufgewachsen, hat versucht, Theaterwissenschaft zu studieren, das Studium wegen Trockenheit abgebrochen und im Folgenden unter anderem als Cutter bei der Bavaria Film gearbeitet. An UCLA in Los Angeles absolvierte er einen Drehbuchkurs, bevor er seine Karriere bei Film und Fernsehen begann. Seit 1993 schreibt er Drehbücher für Fernsehproduktionen wie Polizeiruf 110, Tatort oder Unter Verdacht.Sein Niederbayernkrimi Sau Nr. 4 ist mit dem Bayerischen Fernsehpreis 2011 ausgezeichnet worden.
Er lebt mit seiner Familie in München.
Unter aller Sau ist sein erster Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christian Limmer
- 2012, 1, 352 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007652
- ISBN-13: 9783868007657
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