Unter dem Eis
Während in Köln ein Jahrhundertsommer die...
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Während in Köln ein Jahrhundertsommer die Menschen lähmt und ein mysteriöser Vermißtenfall die Polizei beschäftigt, sucht Judith Krieger in Kanada nachihrer alten Schulkameradin Charlotte. Die Vogelforscherin wollte dort Eistaucher beobachten. Diese rotäugigen Wasservögel tauchen, so ein alter Mythos, zwischen der Welt der Lebenden und jener der Toten hin und her. Und bald geht es auch für Judith um Leben und Tod: Hat der Mann, mit dem sie in der kanadischen Wildnis eine leidenschaftliche Affäre anfängt, Charlotte umgebracht? Als zu Hause in Köln ein weiterer Junge verschwindet, beginnt für Judith ein Wettlauf mit der Zeit.
Unter dem Eis vonGisa Klönne
LESEPROBE
Sonntag, 24. Juli
Im ersten Moment ist da nur ihreAngst. Sie reißt die Augen auf und nimmt das fahle Frühmorgenlicht wahr, ihrvertrautes Zimmer. Eine Weile liegt sie da und hört dem Balzen und Zetern derAmseln vor ihrem Fenster zu, dann denkt sie an Barabbasund ihr müder Körper verkrampft sich in der Konzentration des Lauschens.Närrisches Weib, bangst um deinen Köter wie andere umeinen Mann, schilt sie sich. Doch erst als sie sich davon überzeugt hat, dassdas kaum wahrnehmbare heisere Raspeln im Flur Barabbas Atem ist, findet sie den Mut, sich aufzusetzen.
Der Schmerz schießt ihr in Arme undSchultern, noch bevor ihre Füße die verschlissene Wolle des Webläufersberühren. Reiß dich zusammen, lass dich nicht gehen, am Morgen ist es immer amschlimmsten, aber du weißt, dass du trotzdem aufstehen kannst. Sie presst dieLippen zusammen. Abnutzung und jahrzehntelange Fehlhaltungen, zu viel Arbeitund Anspannung, das ist alles, was die Ärzte dazu sagen. Nehmen SieSchmerztabletten, schonen Sie sich. Ihre wahren Gedanken verstecken sie hinterdem kalten Lächeln der Jugend und scheinheiligen Fragen. Sie wohnen allein? Wiealt sind Sie, Frau Vogt? 82? Ein großer Garten? Und ein Schäferhund? Wird Ihnendas nicht zu viel? Und dann der Braunkohletagebau - das ist doch nicht mehrschön hier in Frimmersdorf. Sie sind alt, waserwarten Sie, scheren Sie sich zum Teufel, das ist es, was die Ärzte eigentlichsagen wollen, doch diesen Gefallen wird sie ihnen nicht tun.
Die Hitze des heranbrechendenTages hängt wie eine Ahnung über den Beeten. Ich sollte mich jetzt sofort umdie Zucchini und die Bohnen kümmern, die Erdbeeren pflücken, bevor die Amselnsie holen, nachher wird es zu warm sein, denkt sie. Der Kessel summt, sie gießtBohnenkaffee auf, lässt Butter und Honig auf einer Scheibe Toastbrot verlaufen,füllt Barabbas Napf mit Wasser und wirft ihm einpaar Hundekuchen zu. Er drängt sich an sie und sie krault seine Ohren, ignoriertden Schmerz, mit dem ihr Körper die leicht gebückte Haltung augenblicklichstraft. Barabbas schlabbert drinnen sein Wasser, sieschlürft am Verandatisch vor der Küche ihren Kaffee. Halb fünf. Falls ein Omenfür Unglück in der Luft liegt, bemerkt sie es nicht.
So sollte es immer sein, überlegtsie stattdessen. Anfang, nicht Ende. Ein Tag, so sauber und neu, geschaffen wiefür uns allein. Ein paar Amseln fliegen auf und in Barabbas braunen Augen glimmt Sehnsucht. Wann haben sie den letzten längeren Spazierganggemacht? Wann hat er über die Felder streifen können? Vorgestern? Vor einerWoche? Sie erinnert sich nicht mehr. Noch ein Fluch des Alters, dieseGedächtnislücken. Man braucht wirklich sehr viel Selbstbewusstsein, um sichnicht unterkriegen zu lassen vom Leben. Je älter man wird, desto mehr. Sieträgt die leere Tasse in die Küche und nimmt den Schäferhund an die Leine, aufeinmal selbst ganz beseelt von dem Gedanken an einen ausgedehnten Streifzug. Wirdsie die Erdbeeren eben pflücken, wenn sie zurückkommen, und das Gemüse muss biszum Abend warten.
Sie wählt den Weg durch den Ort, undauch wenn es noch früh ist, löst sie Barabbas Leinenicht. Solange sie sich korrekt verhält, kann niemand behaupten, dass sie fürein so großes, starkes Tier nicht mehr die Kraft hat und deshalb eine Gefahr fürihre Mitmenschen darstellt, dass der Hund eingeschläfert und sie ins Heimgehört. Am Dorfrand, hinter den Sportplätzen, lässt sie Barabbaslaufen. Der Kraftwerkskoloss schläft nicht. Dampf zischt in den Morgenhimmel,die Werkssirene heult, die Förderbänder transportieren Braunkohle, rumpeln undquietschen. Sie wählt den Weg durch den Tunnel, überquert den Fluss, an demspäter die Angler sitzen werden. Barabbas hatoffensichtlich einen guten Tag, stiebt davon wie ein Welpe. Nach einer Weileverlässt er die Straße und schnürt in ein Wäldchen. Sie folgt ihm langsam,darauf bedacht, nicht zu stolpern. Die Sonne steigt jetzt höher, aber nochbrennt sie nicht, der Duft wilder Kamille liegt in der Luft.
Das Aufheulen eines Motors fährt ihrgeradewegs ins Herz. Verwirrt dreht sie sich einmal um ihre eigene Achse. Waswar das? Wieder heult der Motor auf, ein misstönendes Knattern folgt.Halbstarke, denkt sie, kein Respekt vor irgendwas. Aber schlafen junge Leutesonntags um diese Zeit nicht ihren Rausch aus? Für den Bruchteil einer Sekundeglaubt sie, dass der Verursacher des morgendlichen Lärms direkt auf siezufährt, noch ein Knattern und ein Lichtblitz, dahinten Richtung Straße. Imnächsten Moment kann sie nichts mehr erkennen und das Motorengeräusch entferntsich.
Wo ist Barabbas?Plötzlich ergreift die Nachtangst wieder Besitz von ihr. Was wäre ich ohnemeinen Hund? Was bleibt mir, wenn er stirbt? Sie ruft nach ihm und entdeckt ihnin einer Kuhle, er wälzt sich selig im Dreck, es wird lange dauern, ihm denStaub aus dem Fell zu bürsten. Das ganze Haus stinkt nach Hund, gib s doch zu, du schaffst es schon seit Monaten nichtmehr, das Vieh zu baden - die Stimme ihrer Tochter. Elisabeth Vogtschüttelt den Kopf, obwohl sie ganz genau weiß, dass Erinnerungen sich dadurchnicht vertreiben lassen.
»Barabbas,hierher, komm zu Frauchen!« Ihr Ruf ist das heisereGekrächz eines alten Weibs.
»Barabbas!«
Jetzt endlich bequemt sich derSchäferhund zu gehorchen, mit wedelnder Rute und beinahe schelmischem Blick.Nie kann sie ihm böse sein, nicht einmal als er sich jetzt ihrem Griffentzieht, um in langen Sätzen dorthin zurückzujagen, wo es geknattert undgeblitzt hat. Nun ja, letztendlich ist es ihr gleich, welchen Weg sie nehmen,also folgt sie ihm. Der Boden ist sandig. Dreck rieselt in ihreBirkenstocksandalen, immer wieder muss sie die Füße von Gestrüpp befreien. Sie hörtdas kehlige Knurren ihres Hundes, bevor sie ihn sieht, und ein Hitzeschauerjagt ihr über den Rücken. Der dick- geflochtene lederne Griff der Hundeleineliegt in ihrer Hand wie ein toter Aal.
»Bara «,ihre Stimme versagt. In all den 16 Jahren ihres Zusammenlebens hat sie sichnicht vor ihrem Hund gefürchtet, er hat ihr nie einen Grund dafür gegeben.Jetzt aber will sie fliehen, will nicht sehen, was aus ihrem freundlichenGefährten ein geiferndes Höllentier macht, doch eine Macht, die stärker ist alssie, schiebt sie dennoch zwischen die krüppeligen Bäume.
Zuerst sieht sie nur Barabbas gekrümmten Rücken. Gesträubtes Fell, angespannteMuskeln, er hat sich in etwas verbissen, reißt daran, und die ganze Zeit grolltin seiner Kehle der Abgrund.
»Barabbas,aus!« Das Entsetzen gibt ihr die Stimme wieder, sie lässt den Ledergriff derHundeleine auf seinen Rücken niederfahren. Niemals zuvor hat sie ihm mehr alseinen leichten Klaps mit der Zeitung gegeben, aber jetzt drischt sie wie von Sinnenauf ihn ein, mit einer Kraft, die sie längst verloren zu haben glaubte, zerrtden Rüden zugleich am Halsband und würgt ihn, bis sein Knurren endlich zumWinseln wird und er sein blutiges Maul öffnet.
Schlaff und zerstört liegt seineBeute im Schmutz. Ein Rauhaardackel.
Bilder flimmern vor ElisabethsAugen. Der Junge aus ihrer Straße mit seinem Struppi,beide mit glänzenden Augen. Ihr Enkel, wie er Barabbasumarmt und seine Mutter anbettelt, ihm doch bitte, bitte, bitte einen Hund zuschenken, wenigstens einen kleinen, es muss ja gar kein Schäferhund sein, einDackel reicht völlig, und nie, nie, nie will er danach noch ein anderesGeschenk haben, weder zu Weihnachten noch zu Ostern oder zum Geburtstag, undimmer wird er mit seinem Hund Gassi gehen, ich schwöre, Mammi, ich schwöre, bitte,bitte, bitte.
Sie hält Barabbasweiter im Würgegriff des Halsbands und schließt für ein paar gnädige Momentedie Augen. Nein, sie will nicht sehen, was da liegt, sie will nicht hierbleiben, will nicht, kann nicht. Barabbas Keuchenund das aufdringliche Summen einer grünschillerndenSchmeißfliege holen sie zurück in die Wirklichkeit des Wäldchens. Nach Hause,wir müssen nach Hause, hier dürfen wir nicht bleiben,wenn sie uns hier finden und sehen, was Barabbasgetan hat, werden sie ihn mir nehmen. Sie klinkt die Leine in sein Halsband undzerrt ihn Schritt für Schritt mit sich. Ihr Rücken schreit vor Schmerz, auf einmalspürt sie das wieder, und auch Barabbas Energiescheint verbraucht, er duckt sich zitternd an ihre Seite, ein verwirrter alterHund, wie hat sie ihn nur so verprügeln können. Nach Hause, denkt sie wieder,wir müssen nach Hause, da sind wir sicher, da wird alles wieder gut.
Die Sonne erklimmt denHimmel jetzt viel zu schnell, Elisabeths Kleid klebt an Schenkeln und Rücken,jeder Atemzug tut weh. Niemand wird erfahren, was du getan hast, ich passe aufdich auf, Barabbas, mein Freund, mein Gefährte, sie werdendich nicht einschläfern, das lasse ich nicht zu, verzeih, was ich dir angetanhabe.
Verzeih. Verzeih. Mitaller verbliebenen Kraft zwingt sie sich, nichts anderes zu denken als das.
Die Villa im KölnerNobelstadtteil Bayenthal liegt apathisch in der Hitze, deren Ursprung dieMedien mit rapide nachlassendem Enthusiasmus als Jahrhundertsommer bezeichnen. Sogardie Alleebäume wirken erschöpft. Judith Krieger, auf eigenen Wunsch beurlaubteKriminalhauptkommissarin, legt den Kopf in den Nacken und starrt durchsgeöffnete Faltdach ihrer Ente in den Himmel. Sie sehnt sich danach, den Motor anzulassen,Gas zu geben und das Gesicht so lange in den Fahrtwind zu halten, bis sie einenSee erreicht. Wenn sie die Augen schließt, erscheint ihr das Wasser zum Greifennah. Kühl und beinahe kitschpostkartenartig blaugrün.
Ein dunkler Mercedeshält hinter ihrer Ente. Der Mann, der herausklettert, ist ihr vertraut und dochauch wieder nicht, genau wie das Haus, vor dem sie parkt. Er kommt auf sie zu,in Schritten, die zu klein sind für seinen Körper. Als seien seine Beine zurFortbewegung gar nicht nötig, als schiebe er sich vielmehr auf Judith zu, einübergewichtiger, blauäugiger Krebs in heller Freizeitkleidung, dem man denSeitwärts- gangabtrainiert hat. In Judiths Magengegend flattert etwas. Es war ein Fehler,herzukommen, denkt sie. Dies ist meine letzte Urlaubswoche. Ich hätte michnicht überreden lassen sollen, auch nicht um der alten Zeiten willen, wasvorbei ist, ist vorbei.
»Judith Krieger, höchstpersönlich,Gott sei Dank!« Ihr ehemaliger Schulkamerad entblößtZähne, deren Regulierung einem Kiefernorthopäden ein kleines Vermögeneingebracht hätte.
»Berthold Prätorius«, Judith steigtaus und zieht ihre Hand so schnell wie möglich aus seiner feuchtwarmenBegrüßung.
Er strahlt sie an. »Ich wusste, dassdu kommst.«
»Da warst du zuversichtlicher alsich.«
Er fährt sich mit der Hand durch diemausbraunen Haarsträhnen, eine nervöse Geste. Früher waren seine Finger wund undtintenfleckig, die Nägel quasi nicht vorhanden. Jetzt verraten nur noch diebreiten, fleischigen Fingerspitzen den gefragten EDV-Experten Dr. BertholdPrätorius als einstigen Nagelbeißer und Klassenfreak.
»Bitte, Judith. Ich hab dir dochgesagt, Charlotte ist in Gefahr. Du musst mir helfen.«
Bertholds Anruf war völligüberraschend gekommen. Regelrecht angefleht hatte er Judith, sich mit ihm beiCharlottes Villa zu treffen. Ihre alte Schulkameradin sei seit mehreren Wochenverschwunden, genauer gesagt seit Ende Mai. Kein Urlaub, nein. Charlotte seiimmer nur an die Ostsee gefahren, Fischland Darß/Zingst,Pension Storch, Seevögel beobachten, aber da sei sie nicht. Charlotte sei wievom Erdboden verschluckt, vielleicht sei ihr etwas zugestoßen, aber ihm seiendie Hände gebunden, er kenne sich nur mit Computern aus, die Polizei versteheseine Sorgen nicht und Judith sei doch Kommissarin. Okay, hatte sie schließlichgesagt, ich schau mir das Haus mal an, rein privat. Vielleicht wissen wir dannmehr. Sie mustert ihn, wie er jetzt in seinen Hosentaschen herum- fingert,links, rechts, wieder links, bis er endlich mit einem Seufzer einen Schlüsselhervorkramt und vor Judiths Nase baumeln lässt.
»Willst du oder soll ich?«
»Du bist mit Charlotte befreundet,nicht ich.«
Er nickt und steckt den Schlüsselins Schloss. Die Kühle im Hausflur ist ein Schock auf der Haut, die Luft abgestanden.Tot, denkt Judith, auch wenn nichts auf den unverkennbaren Geruch derZersetzung eines menschlichen Körpers hindeutet. Es riecht nach Staub,Mottenkugeln und einem Hauch Desinfektionsmittel. Berthold zieht die Haustürins Schloss, und das Gefühl, ein Mausoleum zu betreten, wird stärker. »Gibt shier kein Licht?« Judith tastet an der Wand neben derHaustür nach einem Schalter.
»Die Rollos sind runter, warte.« Berthold schiebt sich an ihr vorbei und öffnet eine Tür,sie findet den Lichtschalter im selben Moment, in dem er die Rollos imNebenraum hochzieht. Stofftapeten in bleichem Altrosa werden erkennbar, einklobiger Garderobenschrank, ein Spiegel und eine altmodische Telefonbank.
Berthold Prätorius setzt sich wiederin Bewegung und Judith folgt ihm in ein Wohnzimmer mit schweren Eichenmöbeln. Auchhier ist es halbdunkel, bis Berthold die Rollos hochzieht und den Blick aufeinen parkähnlichen, von hohen Nadelbäumen umrahmten Garten freigibt. Lichtflutet ihnen entgegen, Sonnenstrahlen, die im ersten Moment nichts Wärmendes ansich haben, sondern die Augen quälen.
»Der Rasen sieht frisch gemäht aus«,sagt Judith.
»Charlotte hat einen Gärtner.«
»Wie bezahlt sie ihn?«
Berthold zuckt die Schultern. »PerDauerauftrag? Ich habe keine Ahnung.«
Judith sieht sich um. Über dem nietenbeschlagenen Ledersofa hängt ein schweres Ölbild mitGoldrand. Rotbefrackte Reiter, die ihren hysterisch wirkenden Pferden den Kopfin den Nacken reißen, Jagdhunde mit blutigen Lefzen, ein fliehender Hirsch.
»Dieses Haus wirkt nicht geradejugendlich.«
»Die Einrichtung stammt noch vonCharlottes Vater.« Berthold spricht, als wolle er dieverschwundene Schulkameradin verteidigen, mit der er, im Gegensatz zu Judith,bis heute in Kontakt geblieben ist. Befreundet, wie er sagt.
© Ullstein Buchverlage
- Autor: Gisa Klönne
- 2006, 360 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550086458
- ISBN-13: 9783550086458
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