Venuswurf
Das mächtige Rom im Jahre sieben nach Christus. Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Julilla, die machthungrige Enkelin des Augustus, und Andromeda, eine Zwergin, die von ihrem Vater in die Sklaverei verkauft wurde. Die eine will...
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Das mächtige Rom im Jahre sieben nach Christus. Zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Julilla, die machthungrige Enkelin des Augustus, und Andromeda, eine Zwergin, die von ihrem Vater in die Sklaverei verkauft wurde. Die eine will herrschen, die andere überleben. Eine Intrige kettet sie aneinander - und ein Wunsch: endlich die Gelegenheit für ihren Venuswurf zu bekommen, jenen Moment, wenn man nicht nur beim Spiel, sondern auch im Leben alles gewinnen kann. Oder verlieren.
Venuswurf von Tanja Kinkel
LESEPROBE
Es war laut, das fiel ihr als Erstes auf. Ungeheuer laut. ZuBeginn ihrer Reise hatten die anderen miteinander geschwatzt, bis ihre Stimmenin Dunkelheit, Erschöpfung und Angst versickerten. Die Nacht war immer nochnicht vorbei, aber mittlerweile hörten sie von allen Seiten Geräusche. VonRädern, die kein Loch und keinen Stein auf der Straße ausließen. Von Fuhrwerkum Fuhrwerk, das hinter ihnen, vor ihnen oder neben ihnen von Rindern, Eselnoder Menschen gezogen wurde. Flüche, Knirschen und Scharren, das sie nichteinordnen konnten. In ihren Dörfern hatte es selbst an Erntetagen nicht so vielLärm gegeben, und ganz gewiss nicht in der Nacht.
»Heb mich hoch!«, forderte Tertia, nachdem sie sich vergeblichauf die Zehenspitzen gestellt hatte, um durch die Spalten des Verschlags zuspähen, und berührte den Mann, der an ihrer Seite kauerte, mit dem Ellbogen.»Wir müssen in der Stadt sein. Ich will die Stadt sehen!«
Selbst sitzend war er noch größer als sie. »Warum?«, fragteer dumpf. »Hast du es so eilig, verkauft zu werden?«
»Ich werde nicht verkauft«, sagte Tertia scharf. »Ich werdegerettet.«
Er schnaubte verächtlich und beachtete sie nicht weiter. Dafüräußerte sich die einzige andere Person, die aus dem gleichen Dorf wie Tertiastammte. »Du hast Glück, dass deine Eltern dich nicht schon längst losgewordensind«, sagte Fausta verächtlich.
»Das sind nicht meine Eltern«, erwiderte Tertia in einem hohenSingsang. »Sie haben mich als Kind gefunden, wie Romulus und Remus. InWirklichkeit bin ich die Tochter eines griechischen Königs, und er wird in derStadt sein, um mich zu retten.« Ihre Geschichte hatte zu Beginn der Reiseeinige der anderen zum Lachen gebracht, aber mittlerweile nicht mehr.
»König der Missgeburten, meinst du wohl«, sagte Fausta. Dannversank sie wieder in dem gleichen dumpfen Schweigen, das der Rest derGefangenen sich teilte.
Es roch nach Schweiß, nach Angst und Pisse, und trotz ihrerAufregung spürte Tertia, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. Aber sie wussteauch, dass die anderen sie zwingen würden, in ihrem Erbrochenen zu sitzen,nicht einmal aus Bosheit, sondern weil sonst kein Platz in dem engen Verschlagwar. Der Händler hatte dafür gesorgt, dass sein Karren an allen Seiten vonhohen Wänden begrenzt wurde, für den Fall, dass jemand an Flucht dachte. Es gabnoch nicht einmal die Möglichkeit, den Kopf darüber in die frische Luft zustrecken. Also versuchte sie alles, um sich zu beherrschen. Und dabei aucheinen Gedanken zu unterdrücken: dass sie sich ihr neues Leben andersvorgestellt hatte.
Inmitten von Lärm und Gestank zählte sie an den Fingern ihrewichtigsten Zahlen ab: Drei mal fünf, so alt war sie. Drei Kühe, die sich ihrVater für das Geld kaufen konnte, das er für sie bekommen hatte. So viel Geld,wie sein Bruder in zwei Jahren in der Legion verdiente, hatte er zu Tertias Muttergesagt. Auf eine dritte Drei brachte sie es nicht, denn sie war nur zwei Fußund einen Spann hoch. Mit vier Jahren war sie nicht mehr weiter gewachsen.Tertia hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sie nie größer werdenwürde. Und sie wusste, dass Fausta Recht hatte: Es war ein Glück, dass man siedamals nicht einfach aussetzte. Ein Mädchen, das ein Zwerg war, konnte nur einunnützer Esser bleiben, den nie jemand heiratete und der noch nicht einmal richtigauf dem Hof zupacken würde. Aber was Fausta nicht wusste, war, dass es keinenGrund gab, Tertia zu bedauern. O nein.
Das Mädchen presste die Finger ihrer linken Hand in den geöffnetenTeller ihrer rechten, einmal, zweimal, dreimal, viermal, und hörte schließlichauf. Die Summe, die ihr Vater erhalten hatte, überstieg den Preis der drei Küheum ein Vielfaches; solche Zahlen hatte sie nie gelernt, weil in ihrer Familienie jemand so viel von etwas besessen hatte. Ganz bestimmt brachte es ihreEltern über den Winter, mindestens das. Und das war ein großes Glück. Es gabmehr und mehr freie Bauern, die ihre Schulden einfach nicht mehr begleichenkonnten, vor allem, weil die Güter in der Umgebung mittlerweile fast allereichen Leuten aus der Stadt gehörten, die Sklaven hatten, um sie zubewirtschaften. Tertia, die klein genug war, um fast überall ein Versteck zufinden und all die Gespräche zu belauschen, die sie nicht hören sollte,verstand lange nicht, warum ihre Eltern nicht taten, was doch auf der Hand lag.
»Ziehen wir doch in die Stadt!«, platzte sie eines Tages heraus,als sie mit ihrer Mutter die Ziege melkte. Ihre Mutter wusste, dass sie nichtdie nächste Ortschaft meinte. In Latium gab es nur eine Stadt, die wirklichzählte. Sie schaute Tertia mit großen Augen an und schwieg.
»Dort gibt es Getreidespenden für die Armen«, fuhr Tertiafort. »Jeder sagt das.«
»Dein Vater wird seinen Hof nie verlassen, sein Dinkelfeld,seine Erbsen und seinen Kohl«, stellte ihre Mutter traurig fest.
Tertia hielt das für dumm. Sie begriff nicht, was an dem Hof,der nichts als Arbeit und Hunger bedeutete, so besonders sein sollte. Vorallem, als der Vater schließlich ihre letzte Kuh und die letzte Ziege verkaufenmusste und ihnen damit auch noch die Grundlage für Käse und Quark genommen wurde.
Im Dorf hatte es nur eine Person gegeben, die schon einmalin der Stadt gewesen war, die blinde Caeca. Vier Jahre nach Tertias Geburt warsie mit einem großen Wagenzug in die Gegend gekommen und zurückgelassen worden.Als ein Zeichen der Götter, wie die Frömmeren im Dorf meinten; weil dieHerrschaft eine Dienerin nicht mehr ernähren wollte, die ihr Augenlichtverloren hatte, sagten die Böswilligeren. Caeca selbst behauptete, einePriesterin zu sein, und versuchte, sich nützlich zu machen, indem sie fürjedermann Segenssprüche sprach und die Rituale durchführte. Die Älteren imDorf hatten zunächst ihre Zweifel; gewiss, sagten sie, wäre eine Priesterinimmer versorgt worden, doch konnte man sich bei Caeca wirklich sicher sein,dass sie dieses hohe Amt zu Recht einnahm? Caeca unternahm nie einen Versuch,sich zu rechtfertigen. Das taten bald andere für sie. Tertia vergaß nie,welchen Schutz eine Behauptung bot, die man nicht beweisen musste.
Ganz egal, was der Rest des Dorfes dachte, für Tertia warCaeca von Anfang an eine Heldin. In ihrer Kindheit hatte sie jedes Mal, wenndie anderen Kinder sie jagten, bei Caeca Unterschlupf gefunden, das erste Mal,als die Dorfbewohner noch nicht sicher waren, ob sie die blinde Frau durchfütternsollten. Danach hatte Tertia ihren Vater bestürmt, und er hatte sichschließlich auf die Seite derer gestellt, die Caeca für ein Geschenk derGötter hielten, was diese Gruppe in die Lage versetzte, die andere zu überstimmen.
Caecas Geschichten von der märchenhaften Stadt waren unendlichbesser und schöner als die alltägliche Plackerei. Getreide gab es dort umsonst,ein Geschenk des gütigen Augustus Caesar an die Armen, und nur prunkvolleHäuser aus Stein. In der Stadt gab es sogar andere Zwerge; Caeca schwor, dasssie früher, vor ihrer Erblindung, mit eigenen Augen eine Zwergin erblickthatte. Die Menschen scherzten und lachten den ganzen Tag miteinander, stattsich gegenseitig anzugrunzen, niemand nannte einen anderen eine Missgeburt,und Wortwitz war mehr gefragt als Muskelkraft. Für Tertia, die bereits Übungdarin hatte, sich mit Worten zu verteidigen, und nun zunehmend lernte, CaecaDinge zu beschreiben, welche die alte Frau nicht sehen konnte, klang das mehrals erstrebenswert. Die Stadt wurde alles, wovon sie träumte, und nach CaecasTod kam sie einer Besessenheit gleich. Tertia war bereit, alles zu tun, um demSchweigen zu entkommen, in das sie seit dem Verlust der Freundin zurückgefallenwar. (...)
© Droemer Knaur Verlagsgruppe
Tanja Kinkel, geboren 1969 in Bamberg, gewann bereits mit 18 Jahren ihre ersten Literaturpreise. Sie studierte in München Germanistik, Theater- und Kommunikationswissenschaft und promovierte über Aspekte von Feuchtwangers Auseinandersetzung mit dem Thema Macht. 1992 gründete sie die Kinderhilfsorganisation "Brot und Bücher e.V", um sich so aktiv für eine humanere Welt einzusetzen (mehr Informationen: www.brotundbuecher.de). Tanja Kinkels Romane wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt; sie spannen den Bogen von der Gründung Roms bis zum Amerika des 21. Jahrhunderts. Zu ihren bekanntesten Werken gehören "Die Löwin von Aquitanien" (1991), "Die Puppenspieler" (1993), "Mondlaub" (1995), "Die Schatten von La Rochelle" (1996), "Die Söhne der Wölfin" (2000), "Götterdämmerung" (2003), "Venuswurf" (2006), "Säulen der Ewigkeit" (2008) und "Im Schatten der Königin" (2010), "Das Spiel der Nachtigall" (2011), "Verführung" (2013) und "Manduchai - Die letzte Kriegerkönigin" (2014).
- Autor: Tanja Kinkel
- 2007, Erw. Ausg., 509 Seiten, Maße: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426635062
- ISBN-13: 9783426635063
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