Verachtung
"Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?
Doch, das tust du.
Du erinnerst dich noch sehr genau an mich."
Da war es wieder, dieses Gefühl aus den verzweifelten Tagen auf Sprogø, als das Meer und die Wellen sie lockten, ihrem elenden...
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Produktinformationen zu „Verachtung “
"Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?
Doch, das tust du.
Du erinnerst dich noch sehr genau an mich."
Da war es wieder, dieses Gefühl aus den verzweifelten Tagen auf Sprogø, als das Meer und die Wellen sie lockten, ihrem elenden Leben ein Ende zu bereiten ...
Eine Reihe vermisster Personen aus dem Jahr 1987, die durch eine Person und deren entsetzliches Schicksal verbunden sind: Nete Hermansen. Eine junge Frau ohne jede Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, von Menschen grausam misshandelt, wird zwangssterilisiert durch einen fanatischen Arzt und verbannt nach Sprogø, der Insel für ausgestoßene Frauen. Sie nimmt grausam Rache ...
"In diesem gewaltigen Thriller gelingt es Jussi Adler-Olsen, drei starke Geschichten auf vollendete Weise miteinander zu verweben - und am Schluss erwartet den Leser ein komplett unerwarteter Twist, der einem die Schuhe auszieht."
Jydske Vestkysten
Klappentext zu „Verachtung “
"Als Erstes registrierte sie die Stimme. Dann schlief sie wieder ein, machte sich davon in die Dunkelheit, fing Bilder ein von sommerhellen Tagen und unbekümmerten Spielen. Und dann traf sie der Schmerz in der Mitte der Wirbelsäule. „Wir geben ihr fünf Strich mehr", sagte die Stimme und entfernte sich in einem Nebel. Und sie blieb zurück in einem Zustand der Auflösung." Im November 1985 trifft eine junge Frau namens Nete Rosen während eines Empfangs auf den Gynäkologen Curt Wad. Vor den Augen der Gäste und ihres Ehemanns demütigt Wad die Frau, über deren Vergangenheit niemand etwas zu wissen scheint. Es ist eine entsetzliche Vergangenheit, und die Konfrontation damit lässt Netes Ehemann keine Sekunde zögern, sich von seiner geliebten Frau loszusagen. Voller Verachtung für sie stirbt er noch in derselben Nacht bei einem Autounfall.
2010 stößt das Sonderdezernat Q in Kopenhagen auf die Akte einer im Jahr 1987 als vermisst gemeldeten Frau: Rita Nielsen. Recherchen zeigen, dass fünf weitere Personen seit September 1987 spurlos verschwunden sind. Carl Mørck und seine Assistenten Assad und Rose ermitteln in einem ihrer bizarrsten Fälle.
Lese-Probe zu „Verachtung “
Verachtung von Jussi AdlerProlog
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November 1985
Fast hätte sie sich ganz diesem Gefühl hingegeben. Das Champagnerglas in ihrer Hand war angenehm kühl, die Stimmen verschwommen zu einem Summen und die Hand ihres Mannes ruhte leicht auf ihrer Taille. Bis auf die Zeiten des Verliebtseins hatte es nur Sekunden in einer fernen Kindheit gegeben, die an das heranreichen konnten, was sie in diesem Moment empfand. Das Gefühl der Geborgenheit beim Einschlafen, mit dem Murmeln der Großmutter und gedämpftem Lachen im Ohr. Dem Lachen von Menschen, die es längst nicht mehr gab.
Nete presste die Lippen zusammen, damit das Gefühl nicht die Oberhand gewann.
Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick über die eleganten Kleider und schlanken Rücken schweifen. Eine beachtliche Schar von Geladenen hatte sich eingefunden zum Ehrendinner für den dänischen Laureaten des Großen Nordischen Preises in Medizin. Forscher natürlich und Ärzte und die Spitzen der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in die sie nicht hineingeboren war, in der sie sich aber mit den Jahren immer wohler fühlte.
Sie atmete tief ein und stieß einen wohligen Seufzer aus. Da spürte sie auf einmal überdeutlich einen Blick, der sich über die Köpfe der kunstvoll frisierten Frauen und der Smoking tragenden Männer hinweg auf sie heftete. Es war ein Blick wie eine undefinierbare und beunruhigende Entladung. Ein Blick, wie ihn nur Menschen aussandten, die einem Böses wollten. Instinktiv tat sie einen Schritt zur Seite, wie ein gejagtes Tier, das im Gebüsch Deckung sucht, legte ihrem Mann die Hand auf den Arm, versuchte zu lächeln, während ihre Augen zwischen den festlich gekleideten Menschen und den Kronleuchtern hin und her wanderten.
Eine Frau warf für den Moment eines Lachens den Kopf in den Nacken, sodass die Sicht quer durch den Saal freigegeben war.
Dort vor der Wand stand er.
Wie ein Leuchtturm ragte seine Gestalt aus der Schar der Gäste heraus. Trotz der leicht gebeugten Haltung ein riesiges Raubtier, dessen Augen wie Suchscheinwerfer über die Menge glitten.
Sie spürte seinen lauernden Blick mit jeder Faser ihres Körpers und sie wusste, dass ihr Leben binnen Sekunden in sich zusammenstürzen würde, wenn sie nicht augenblicklich reagierte.
»Andreas«, sagte sie und griff sich dabei an den Hals, der schon jetzt schweißnass war, »können wir bitte gehen? Ich fühle mich nicht gut.«
Mehr brauchte es nicht. Ihr Mann hob die dunklen Augenbrauen, nickte den anderen zu, und während er ihren Arm nahm, wandte er sich von der Gruppe ab. Für diese Gesten liebte sie ihn.
»Danke«, sagte sie. »Leider wieder der Kopf.«
Er nickte. Das kannte er nur zu gut von sich selbst. Lange Abende im abgedunkelten Raum, wenn sich die Migräne erst festgesetzt hatte.
Auch das verband sie.
Sie kamen bis zu der ausladenden Treppe vor den Festräumen. Da glitt der Hüne von der Seite heran und stellte sich vor sie hin.
Ihr fiel auf, dass er deutlich gealtert war. Die Augen, die früher Funken gesprüht hatten, waren matt geworden. Das Haar war nicht wiederzuerkennen. Knapp dreißig Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Du hier, Nete? Dich hätte ich in dieser Gesellschaft am allerwenigsten erwartet.«
Sie zog Andreas um ihren Verfolger herum, doch der ließ nicht locker. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?«, kam die Stimme jetzt von hinten. »Doch, das tust du. Curt Wad. Du erinnerst dich sicher.«
Sie hatten die Treppe schon halb geschafft, da holte er sie ein.
»Bist du etwa Direktor Rosens Hure? Solltest du tatsächlich so hoch aufgestiegen sein? Schau mal an, wer hätte das gedacht.«
Sie versuchte, ihren Mann mit sich zu ziehen, aber Andreas Rosen war nicht dafür bekannt, dass er Problemen den Rücken kehrte.
»Würden Sie so freundlich sein und meine Frau in Ruhe lassen?« Der Blick, der seine Worte begleitete, kündete von unterdrücktem Zorn.
»So, so.« Der Verfolger trat einen Schritt zurück. »Da ist dir also tatsächlich Andreas Rosen ins Netz gegangen. Guter Fang, Nete.« Er versuchte sich an etwas, das andere als halbherziges Lächeln bezeichnet hätten, aber sie wusste es besser.
»Das ist meiner Aufmerksamkeit ja vollständig entgangen. Ich komme nicht so oft in diese Kreise, weißt du. Lese keine Klatschspalten.«
Wie in Zeitlupe sah sie ihren Mann verächtlich den Kopf schütteln. Spürte, wie seine Hand nach ihrer griff und sie hinter sich her zog. Sekundenlang konnte sie keine Luft holen. Ihrer beider Schritte klangen wie asynchrone Echos des gleichen Impulses: Bloß weg hier!
Erst als sie schon an der Garderobe standen, war die Stimme wieder hinter ihnen zu hören.
»Herr Rosen! Dann wissen Sie ja vielleicht gar nicht, dass Ihre Frau eine Hure ist? Ein schlichtes Mädel, das die Insel Sprogø besser kennt als so manch anderer. Ich sage nur: Besserungsanstalt. Ein Mädel, das es nicht so genau nimmt, für wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ...«
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete!«, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
»Das war Curt Wad«, flüsterte jemand hinter ihnen. »Hat mit dem heutigen Preisträger zusammen studiert. Und das ist auch das einzig Gute, das sich über ihn sagen lässt.«
Aber sie stand mindestens ebenso im Zentrum der Aufmerksamkeit. Entblößt.
Die Menschen ringsum musterten sie. Und die Blicke verweilten bei Dingen, die auf einmal Netes wahres Ich zu enthüllen schienen. War das Dekolleté zu tief? Sahen ihre Hüften, ihre Lippen vulgär aus?
Als die Garderobenfrau ihnen die Mäntel reichte, kam deren warmer Atem Nete fast giftig vor. »Du bist keinen Deut besser als ich«, schien er zu hauchen.
So schnell ging das.
Sie schlug die Augen nieder und nahm den Arm ihres Mannes. Ihres geliebten Mannes, dessen Blick sie nicht zu begegnen wagte.
Sie horchte auf das leise, regelmäßige Brummen des Motors. Sie hatten seither kein Wort gewechselt, saßen nur nebeneinander und starrten an den unablässig arbeitenden Scheibenwischern vorbei in den dunklen Herbstabend.
Vielleicht wartete er auf Dementis, aber damit konnte sie nicht dienen.
Vielleicht erwartete sie, dass er ihr entgegenkam. Dass er ihr aus der Zwangsjacke half, in die sie sich eingeschnürt fühlte. Dass er sie einfach ansah und sagte, das alles habe nichts zu bedeuten, nur ihre gemeinsamen elf Jahre zählten.
Und nicht die siebenunddreißig Jahre, die sie vorher gelebt hatte.
Aber er schaltete das Autoradio ein und füllte so den Raum lautstark mit Distanz. Sting begleitete sie südwärts über Seeland, Sade und Madonna über die Insel Falster und den Guldborgsund. Es war die Nacht der jungen Sänger und ihrer neuen, unverwechselbaren Stimmen. Das war das Einzige, was sie verband.
Alles andere verschwand.
Wenige hundert Meter vor dem Dorf Blans und zwei Kilometer vor dem großen Hof fuhr er plötzlich auf den Seitenstreifen.
»So, und jetzt schieß los«, sagte er, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Kein freundliches, tröstendes Wort. Nur dieses »Jetzt schieß los«. Nicht einmal ihren Namen nahm er in den Mund.
Sie schloss die Augen. Dann fing sie stockend an zu sprechen, bat ihn zu verstehen, dass es Ereignisse gegeben habe, die alles erklärten, und dass der Mann, der sie so beleidigt habe, an ihrem Unglück schuld sei.
Aber davon abgesehen stimme, was er gesagt habe. Das gab sie mit leiser Stimme zu.
Insgesamt stimme es.
Einen quälenden Augenblick lang war nur sein Atem zu hören. Dann wandte er sich ihr zu. Seine Augen waren dunkel. »Deshalb also konnten wir beide keine Kinder bekommen«, sagte er.
Sie nickte. Presste die Lippen zusammen. Sagte, wie es war. Ja, sie hatte sich schuldig gemacht, indem sie gelogen, indem sie den Grund verschwiegen hatte. Sie gab es zu. Als junges Mädchen habe man sie nach Sprogø gebracht, aber da habe sie nichts dafürgekonnt, das sei das Ergebnis von Machtmissbrauch, Ablehnung und Willkür gewesen. Das Ende einer Kette von Fehlurteilen. Das und nichts anderes. Und ja, sie habe mehrere Aborte gehabt und sei sterilisiert worden, aber dieser entsetzliche Mensch, dem sie gerade begegnet seien ...
Da legte er ihr eine Hand auf den Arm, deren Eiseskälte sich wie mit Stromstößen auf ihren Körper übertrug und sie erstarren ließ.
Dann schaltete er in den ersten Gang, ließ die Kupplung kommen und fuhr langsam durch den Ort. Zwischen den Wiesen und dem Ausblick auf das dunkle Meer beschleunigte er.
»Bedaure, Nete. Aber dass du mich jahrelang in dem blinden Glauben gelassen hast, wir beide könnten ein Kind bekommen, kann ich dir nicht verzeihen. Das kann ich einfach nicht. Und was das Übrige angeht, so widert es mich an.«
Er schwieg, und sie spürte, wie ihre Schläfen eiskalt wurden und sich der Nacken verspannte.
Schließlich hob er den Kopf auf diese anmaßende Art, wie er es in Verhandlungen mit Menschen tat, die seinem Gefühl nach seinen Respekt nicht verdienten.
»Ich packe meine Sachen und räume das Feld«, sagte er und betonte jedes Wort. »Bis du etwas anderes gefunden hast. Ich gebe dir eine Woche. Von Havngaard kannst du mitnehmen, was du willst. Es soll dir an nichts fehlen.«
Immer ungläubiger starrte sie ihn an. Dann wandte sie sich langsam ab und blickte über das Wasser. Ließ das Fenster ein wenig herunter und nahm den Geruch des Tangs wahr. Das tiefschwarze Meer schien endgültig nach ihr zu greifen. Wie damals, in jenen einsamen, verzweifelten Tagen auf Sprogø, als die unablässig heranrollenden Wellen sie gelockt hatten, ihrem elenden Leben ein Ende zu bereiten.
»Es soll dir an nichts fehlen« - als wenn das etwas bedeutete. Dann kannte er sie wirklich nicht.
Einen Moment lang fixierte sie das Datum auf der Uhr, 14. November 1985. Ihre Lippen zitterten, als sie ihm das Gesicht zuwandte.
Seine Augen wirkten wie dunkle Höhlen. Ihn interessierte nur die Straße vor ihm, nur die nächste Kurve.
Da hob sie langsam eine Hand zum Steuer, packte es, und als er protestieren wollte, zog sie so kräftig daran, wie sie nur konnte.
Der Wagen mit seiner gewaltigen Schubkraft reagierte sofort. Die Straße verschwand unter ihnen, und das Krachen durch die Böschung übertönte die letzten Proteste ihres Mannes.
Als sie aufs Meer aufschlugen, war es fast wie nach Hause zu kommen.
1
November 2010
Auf dem Weg von seinem Reihenhaus in Allerød zum Präsidium hatte Carl über Polizeifunk von den nächtlichen Ereignissen gehört. Eigentlich betraf das die Sitte und hätte ihn unter normalen Umständen völlig kaltgelassen. Aber das hier war doch anders.
Man hatte die Inhaberin einer Escort- und Begleitagentur in ihrer Wohnung im Enghavevej überfallen und mit Schwefelsäure übergossen, und die Mitarbeiter der Abteilung für Verbrennungen im Rigshospital hatten mehr als reichlich zu tun bekommen.
Jetzt wurde nach Zeugen gesucht, bisher ergebnislos.
Ein paar Kerle aus Litauen waren bereits festgenommen und verhört worden. Aber im Lauf der Nacht war klar geworden, dass nur einer der Verdächtigen als Täter in Frage kam, und dem konnten sie partout nichts nachweisen. Die Geschädigte hatte bei ihrer Einlieferung erklärt, sie könne den Schuldigen nicht identifizieren, und deshalb mussten sie die ganze Schar laufen lassen.
Kam einem das nicht bekannt vor?
Zwischen Parkplatz und Präsidium begegnete ihm Brandur Isaksen vom City Revier. Der Eiszapfen vom Halmtorv, wie er genannt wurde.
»Na, mal wieder unterwegs, um Leute zu belästigen«, brummelte Carl im Vorbeigehen. Da blieb dieser Idiot doch tatsächlich stehen, als hätte Carl eine Einladung ausgesprochen.
»Dieses Mal hat's Baks Schwester erwischt«, sagte Isaksen kalt.
Carl sah ihn verwirrt an. Wovon redete der Typ? »So'n Pech auch.« Fade Antwort, passte aber irgendwie immer.
»Du hast doch wohl von dem Überfall heute Nacht im Enghavevej gehört? Das war Baks Schwester Esther. Die sah nicht besonders gut aus«, fuhr Isaksen fort. »Wie war eigentlich der Kontakt zwischen Børge Bak und dir? Konntet ihr zwei miteinander? «
Carls Kopf zuckte zurück. Børge Bak? Ob sie gut miteinander konnten? Er und der Vizepolizeikommissar vom Dezernat A, der um Beurlaubung nachgesucht und sich damit selbst zur Unzeit pensioniert hatte? Dieser scheinheilige Mistkerl?
»Wir waren in etwa so gute Freunde wie du und ich«, rutschte es Carl heraus.
Isaksen nickte verkniffen. Schon recht, der Flügelschlag eines Schmetterlings würde reichen, um ihre Zuneigung hinwegzufegen.
»Kennst du Børges Schwester persönlich?«, fragte er.
Carl sah hinüber zum Säulengang. Dort wandelte Rose gerade entlang - mit einer koffergroßen rosafarbenen Handtasche über der Schulter. Was plante die denn? Büroferien?
Er merkte, wie Isaksen seinem Blick folgte, und sah weg.
»Hab sie nie getroffen. Aber besitzt sie nicht ein Bordell? Das fällt doch eher in deine Abteilung als in meine. Brauchst mich also gar nicht damit zu behelligen.«
Isaksens Mundwinkel beugten sich der Schwerkraft. »Du solltest damit rechnen, dass Bak aufkreuzt und mitmischen will.«
Da hatte Carl seine Zweifel. Hatte Bak nicht deshalb bei der Polizei aufgehört, weil er seine Arbeit hasste, weil er es hasste, ins Präsidium zu kommen?
»Na, herzlich willkommen«, antwortete Carl. »Nur nicht unten bei mir.«
Isaksen fuhr sich mit der Hand durch das rabenschwarze Haar. »Nein, natürlich nicht. Bei euch da unten hast du ja auch genug damit zu tun, die da flachzulegen.«
Er deutete mit dem Kopf zu Rose, die gerade die Treppe hinaufging.
Carl schüttelte den Kopf. Isaksen konnte ihn mal kreuzweise. Rose flachlegen! Dann doch lieber in Bratislava ins Kloster gehen.
»Carl«, sagte der Wachhabende im Käfig dreißig Sekunden später. »Diese Psychologin, Mona Ibsen, hat das hier für dich dagelassen.« Durch die geöffnete Tür wedelte er Carl verheißungsvoll mit einem grauen Briefumschlag vor der Nase herum. Als würde ein Stück Paradies darinstecken.
Carl betrachtete den Umschlag verdutzt. Vielleicht stimmte das mit dem Paradies ja sogar.
Der Wachhabende setzte sich. »Ich hab gehört, Assad kommt immer schon morgens um vier. Mannomann, der nimmt sich für seine Sachen da unten im Keller ordentlich Zeit. Plant er einen Terrorangriff aufs Präsidium, oder was?« Er lachte, hielt aber sofort inne, als er Carls bleischweren Blick bemerkte.
»Frag ihn doch selbst«, knurrte Carl und dachte an die Frau, die man am Flughafen verhaftet hatte, nur weil sie das Wort »Bombe« in den Mund genommen hatte. Eine unbedachte Äußerung mit ungeahnten Konsequenzen.
Aber das hier, das war noch viel schlimmer.
Schon auf den untersten Treppenstufen in der Rotunde merkte er, dass Rose ihren guten Tag hatte. Der schwere Duft von Nelken und Jasmin schlug ihm entgegen und erinnerte ihn an die alte Frau in Øster Brønderslev, die alle vorbeikommenden Männer in den Arsch kniff. Wenn Rose so duftete, bekam man regelrecht Kopfschmerzen - und ausnahmsweise mal nicht von ihrer schlechten Laune.
Assad vertrat die Theorie, sie habe das Parfüm geerbt. Andere glaubten zu wissen, dass man solche eklig süßlichen Düfte noch immer in gewissen indischen Läden kaufen konnte. In Läden, die offenbar mehr Interesse an Lauf- als an Stammkundschaft hatten.
»Hallo Carl, komm doch gleich mal her!«, brummelte sie in ihrem Büro.
Carl seufzte. Was denn jetzt schon wieder?
Er stolperte an Assads wüstem Durcheinander vorbei, steckte den Kopf in Roses klinisch reines Büro und erblickte als Erstes die Riesentasche, die sie vorhin geschleppt hatte. Der gewaltige Stapel Akten, der aus der Tasche ragte, war mindestens ebenso beunruhigend wie das Parfüm.
»Ähhh ... was ist das da?«, fragte Carl vorsichtig und deutete auf die Papiere.
Der Blick aus den kajalschwarz umrandeten Augen kündete von aufziehendem Ungemach.
»Ein paar alte Fälle, die im letzten Jahr ringsum auf den Schreibtischen der Polizeipräsidenten eingestaubt sind. Die Fälle, die nicht gleich im ersten Anlauf mit zu uns gekommen sind. Wenn jemand diese Art Schlamperei kennt, dann doch wohl du.«
Den letzten Kommentar begleitete ein gutturales Knurren, das sich mit gutem Willen als Lachen deuten ließ.
»Die Akten waren fälschlicherweise drüben im Nationalen Ermittlungszentrum abgegeben worden. Ich hab sie gerade geholt.«
Carl runzelte die Stirn. Noch mehr Fälle - was, um Himmels willen, gab es da zu lachen?
»Ja, ja. Ich weiß, was du denkst. Das war die schlechte Nachricht des Tages«, kam sie ihm zuvor. »Aber du hast ja diese Akte hier noch nicht gesehen. Die ist nicht vom NEZ, die lag bereits auf meinem Bürostuhl, als ich kam.«
Sie reichte ihm eine abgewetzte Aktenmappe. Offenbar wollte sie, dass er sofort darin blätterte, aber da hatte sie die Rechnung ohne ihn gemacht. Arbeit vor der Morgenzigarette, so weit kam es noch! Alles hübsch der Reihe nach.
Carl schüttelte den Kopf, ging in sein Büro, schmiss die Mappe auf den Schreibtisch und den Mantel über den Stuhl in der Ecke.
Die Luft im Büro war abgestanden und die Leuchtstoffröhre an der Decke flackerte. Den Mittwoch zu überstehen, das war immer am schlimmsten.
Dann steckte er sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg zu Assads Besenkammer. Dort schien alles unverändert. Intensiv nach Myrte duftender Wasserdampf und auf dem Fußboden der Gebetsteppich. Der Transistor auf etwas eingestellt, das wie das Paarungsgewimmer von Walen klang, untermalt von einem Gospelchor und abgespielt von einem leiernden Tonbandgerät.
Istanbul à la carte.
»Guten Morgen«, grüßte Carl.
Assad wandte ihm langsam das Gesicht zu. Das Rot eines Sonnenaufgangs über Kuwait konnte nicht intensiver leuchten als der Riechkolben dieses Mannes.
»Allmächtiger! Assad, das sieht aber gar nicht gut aus.« Hastig trat Carl einen Schritt zurück. Eine Grippeepidemie bei ihnen im Kellergewölbe, das fehlte gerade noch.
»Ist gestern gekommen«, schniefte Assad. Nach ähnlich triefenden Hundeaugen würde man lange suchen müssen.
»Geh nach Hause, und zwar auf der Stelle«, befahl Carl. Wortreicher musste er das nicht ausführen, Assad würde dem ohnehin nicht Folge leisten.
Schnell kehrte er in sein sicheres Geviert zurück, legte die Beine auf den Schreibtisch und grübelte zum ersten Mal in seinem Leben, ob nun der Zeitpunkt gekommen war, da sich eine Pauschalreise nach Gran Canaria aufdrängte. Vierzehn Tage unter einem Sonnenschirm mit einer leicht bekleideten Mona neben sich, das wär's doch, oder? Sollte die Grippe ruhig so lange in Kopenhagen gastieren.
Bei diesem Gedanken nahm er Monas Brief und öffnete ihn. Allein schon der Duft! Zart und sinnlich, Mona Ibsen, wie sie leibte und lebte. Meilenweit entfernt von dem tonnenschweren Bombardement, das Rose auf die Sinne ihrer Mitmenschen abfeuerte.
»Mein lieber Schatz«, so ging es los.
Carl lächelte. Seit er im Krankenhaus von Brønderslev gelegen hatte, mit sechs Stichen genäht und den Blinddarm im Marmeladenglas auf dem Nachttisch neben sich, hatte ihn niemand mehr so zuckersüß angesprochen.
Mein lieber Schatz,
heute Abend um 19.30 Uhr bei mir zu Hause zur Martinsgans? Du ziehst einen Sakko an und bringst den Rotwein mit. Ich sorge für die Überraschung.
Kuss, Mona
Carl spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht stieg. Was für eine Frau!
Er schloss die Augen, nahm einen tiefen Lungenzug und versuchte, sich unter »Überraschung« etwas vorzustellen. Die Bilder, die ihm dabei in den Sinn kamen, waren wahrhaftig nicht jugendfrei.
»Was sitzt du hier und grinst wie ein Honigkuchenpferd?«, dröhnte es hinter ihm. »Wolltest du nicht in die Akte schauen, die ich dir gegeben habe?«
Rose stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf in der offenen Tür. Sie würde nicht verschwinden, ehe er reagiert hatte, und wenn ihre Arme sich zum Knoten verschlangen.
Carl drückte die Kippe aus und griff sich die Aktenmappe. Besser, es hinter sich zu bringen.
Die Akte bestand aus zehn vergilbten Blättern Papier vom Gericht in Hjørring. Gleich auf der ersten Seite sprang ihm entgegen, worum es sich drehte.
Wie zum Teufel war diese Geschichte auf Roses Bürostuhl gelandet?
Zögernd überflog er die erste Seite. Er wusste schon von vornherein die Reihenfolge der Sätze. Sommer 1978. Mann im Nørre Å ertrunken, Inhaber einer großen Maschinenfabrik, passionierter Sportangler, die üblichen Mitgliedschaften in den einschlägigen Vereinen. Vier Paar frische Fußspuren um den Anglerschemel und die abgewetzte Tasche. Angelausrüstung vom Feinsten. Kein Stück fehlte. Schönes Wetter. Bei der Obduktion nichts Anomales zu finden, kein Herzfehler und kein Blutpfropf. Einfach ertrunken.
Wäre der Fluss an der betreffenden Stelle nicht bloß knapp fünfundsiebzig Zentimeter tief gewesen, hätte man die Sache gleich als Unglücksfall abgehakt.
Aber nicht der Todesfall an sich hatte Roses Interesse geweckt, soviel war klar. Auch nicht, dass er nie aufgeklärt wurde und deshalb nun naturgemäß bei ihnen im Keller gelandet war. Der Grund war, dass der Akte eine Reihe Fotos beigelegt waren, von denen zwei Carls Konterfei zeigten.
Carl seufzte. Birger Mørck hieß der Ertrunkene, und er war Carls leibhaftiger Onkel gewesen. Ein jovialer und freigebiger Mann, zu dem nicht nur dessen Sohn Ronny aufgeblickt hatte, sondern auch Carl, und den sie deshalb gern zu kleineren Ausflügen begleitet hatten. Genau wie an jenem Tag, als Birger sie in die Geheimnisse und Tricks des Angelns hatte einweihen wollen.
Aber da waren diese zwei Mädchen aus Kopenhagen gewesen, die durch das ganze schöne Dänemark geradelt waren und sich just in dem Moment in durchgeschwitzten dünnen Blüschen ihrem Ziel Skagen näherten.
Beim Anblick dieser beiden Blondinen, die sich auf ihren Fahrrädern abrackerten, ließen Carl und sein Cousin Ronny die Angelruten einfach fallen und flitzten den Mädchen hinterher.
Zwei Stunden später kehrten sie - den Anblick der engen Blusen auf ewig in die Netzhaut gebrannt - zum Fluss zurück. Da war Birger Mørck schon tot.
Nach vorläufigen Verdächtigungen und vielen Verhören gab die Polizei in Hjørring schließlich auf. Und obwohl die zwei flotten Kopenhagenerinnen nie gefunden wurden und damit das einzige Alibi der jungen Männer nie bestätigt wurde, kam es zu keiner Anklage. Über Monate hinweg war Carls Vater zornig und verzweifelt gewesen. Aber andere Konsequenzen hatte die Angelegenheit nicht gehabt.
»Du sahst damals gar nicht so schlecht aus. Wie alt warst du?«, fragte Rose, die immer noch in der offenen Tür stand. Carl ließ die Akte auf den Tisch fallen. An die Zeit mochte er nun wahrlich nicht erinnert werden.
»Wie alt? Ich war siebzehn und Ronny siebenundzwanzig.« Er seufzte. »Hast du eine Ahnung, warum die Akte auf einmal hier auftaucht?«
»Warum?« Sie klopfte sich mit ihren spitzen Knöcheln gegen die Stirn. »Hallo Prinz Charming! Wach auf! Worum kümmern wir uns hier? Wir wühlen in alten, nicht aufgeklärten Mordfällen herum!«
»Ja, ja. Aber erstens wurde die Sache als Unglücksfall ad acta gelegt und zweitens sind die Unterlagen ja wohl nicht von selbst auf deinem Bürostuhl gelandet, oder?«
»Soll ich vielleicht bei der Polizei in Hjørring nachfragen, warum die Akte gerade jetzt bei uns auftaucht?«
Carl runzelte die Stirn. Ja, warum eigentlich nicht?
Rose machte auf dem Absatz kehrt und klapperte zurück in ihr eigenes Revier. Sie hatte verstanden.
Carl starrte vor sich hin. Warum zum Teufel musste diese Geschichte wieder ans Licht gezerrt werden? Als hätte sie nicht schon mehr als genug Kummer verursacht.
Er warf noch einen letzten Blick auf das Foto von Ronny und sich, dann schob er die Aktenmappe zu einem Stapel anderer Fälle. Das war Schnee von gestern und auch nicht mehr zu ändern. Jetzt war anderes aktuell. Erst vor vier Minuten hatte er Monas Briefchen gelesen. »Mein lieber Schatz«, hieß es da. Man musste Prioritäten setzen.
Er lächelte, kramte das Handy aus den Tiefen seiner Hosentasche und starrte verärgert auf die winzigen Tasten. Wenn er Mona eine SMS schickte, würde es zehn Minuten dauern, bis er die Botschaft eingegeben hätte, und wenn er sie anrief, müsste er genauso lange warten, bis sie abnahm.
Er seufzte und fing mit der SMS an. Die Handytastatur hatte zweifellos ein Pygmäe mit Makkaroni-Fingern entwickelt. Jeder durchschnittlich große Nordeuropäer musste sich beim Tippen fühlen wie ein Nilpferd beim Blockflötespielen.
Anschließend betrachtete er das Ergebnis seiner Anstrengungen und ließ alle Eingabefehler stehen. Mona würde den Sinn schon verstehen: Ihre Martinsgans hatte einen Abnehmer gefunden.
Als er das Handy weglegte, steckte jemand seinen Kopf durch die offene Tür.
Das früher so sorgfältig um den kahlen Kopf gelegte Haar war seit dem letzten Mal getrimmt worden. Aber der Gesichtsausdruck war noch so querköpfig wie eh und je.
»Bak? Was zum Teufel machst du denn hier?«, rutschte es Carl heraus.
»Als wenn du das nicht längst wüsstest«, kam prompt die Antwort. Der Mangel an Schlaf hing dem Mann in den Augenwinkeln. »Ich bin kurz davor, verrückt zu werden! Deshalb bin ich hier!«
Trotz Carls abwehrender Geste ließ Bak sich schwer auf den Stuhl gegenüber sinken. »Meine Schwester Esther wird nie mehr dieselbe sein. Und das Schwein, das ihr die Säure ins Gesicht geschüttet hat, sitzt in irgendeinem schäbigen Kellerladen und lacht sich tot. Wenn die eigene Schwester ein Bordell betreibt, ist man darauf als ehemaliger Polizist nicht unbedingt stolz. Aber soll man deshalb tatenlos akzeptieren, dass der Mistkerl, der das getan hat, einfach so nach Hause geschickt wird?«
»Ich hab keine Ahnung, warum du ausgerechnet zu mir kommst, Bak. Wenn du mit dem Verfahren unzufrieden bist, dann sprich mit denen vom City Revier, mit Marcus Jacobsen oder einem der anderen Chefs. Wie du weißt, beschäftige ich mich nicht mit Sittlichkeitsdelikten.«
»Ich bin hier, weil ich dich und Assad bitten will, mitzukommen und dem Schwein ein Geständnis abzuringen.«
Carl fühlte förmlich, wie sich sein Stirnrunzeln bis unter den Haaransatz fortsetzte. War der Mann noch ganz dicht?
»Ihr habt hier unten einen neuen Fall bekommen, das dürfte dir nicht entgangen sein«, fuhr Bak fort. »Der kommt übrigens von mir. Die Unterlagen hat mir vor ein paar Monaten ein alter Kollege oben in Hjørring zugesteckt. Ich habe sie heute Nacht in Roses Büro platziert.«
Carl sah Bak an und erwog die Möglichkeiten. Soweit er es überblicken konnte, gab es drei. Aufzustehen und dem Idioten eins auf die Nuss zu geben, war eine Option. Ein Tritt in den Arsch die zweite. Aber Carl entschied sich für die dritte.
»Ja, die Mappe liegt dort«, sagte er und deutete zu dem verdammten Stapel auf seinem Schreibtisch. »Warum hast du sie nicht direkt bei mir abgeliefert? Das wäre netter gewesen.«
Bak lächelte kurz. »Seit wann hätte Nettigkeit zwischen uns jemals zu etwas geführt? Nein, nein. Ich wollte sichergehen, dass die Mappe nicht einfach verschwindet, sondern dass sich jemand hier unten die Geschichte ansieht.«
Jetzt schoben sich die beiden anderen Möglichkeiten wieder in den Vordergrund. Ein Segen, dass dieser Saftsack nicht mehr täglich hier aufkreuzte.
»Ich habe mit der Akte auf den richtigen Augenblick gewartet, verstehst du?«
»Nichts verstehe ich. Auf was für einen Augenblick?«
»Ich brauche deine Hilfe!«
»Glaub mal nicht, dass ich einem möglichen Täter eins auf die Rübe gebe, nur weil du mit einem dreißig Jahre alten Fall vor meiner Nase herumwedelst. Und weißt du auch, warum?« Für jede der folgenden Ansagen hob Carl einen Finger in die Höhe.
»Erstens: Die Geschichte ist verjährt. Zweitens: Es war ein Unfall. Mein Onkel ist ertrunken. Ihm wurde offenbar schlecht und er fiel in den Fluss. Zu diesem Schluss kamen auch die Ermittler. Drittens: Ich war nicht vor Ort, als es passierte, und mein Cousin ebenfalls nicht. Viertens: Anders als du bin ich ein ordentlicher Bulle, der nicht einfach auf Verdächtige eindrischt. «
Bei diesem Satz hatte Carl eine Weile gezögert. Aber seines Wissens konnte Bak nichts Derartiges über ihn in Erfahrung gebracht haben. Jedenfalls deutete nichts an Baks Gesichtsausdruck darauf hin.
»Und fünftens!« Carl streckte alle fünf Finger in die Luft, dann ballte er die Faust. »Wenn ich schon den Hammer schwingen muss, dann gegen einen gewissen Exbullen, der meint, noch mal Verbrecherjagd spielen zu müssen.«
Baks Lachfältchen glätteten sich. »Okay. Aber dann will ich dir mal was erzählen. Einer meiner alten Kollegen aus Hjørring fliegt gern nach Thailand. Vierzehn Tage Bangkok mit allem Drum und Dran.«
Und was geht mich das an?, dachte Carl.
»Deinem Cousin Ronny geht es offenbar genauso. Und er trinkt auch gern einen«, fuhr Bak fort. »Und weißt du was, Carl? Wenn dein Cousin Ronny ordentlich einen in der Krone hat, fängt er an zu plaudern.«
Carl unterdrückte einen tiefen Seufzer. Ronny, dieser Vollpfosten! Was hatte der jetzt wieder verzapft? Seit sie sich zuletzt gesehen hatten, waren mindestens zehn Jahre vergangen. Der Anlass war irgendeine bescheuerte Konfirmation in Odder gewesen, bei der Ronny an der Bar sowohl bei den Getränken als auch bei den Serviererinnen reichlich zugelangt hatte. Das wäre vielleicht gar nicht weiter aufgefallen, wäre die eine Serviererin nicht ein bisschen zu willig gewesen und vor allem nicht minderjährig und obendrein die Schwester des Konfirmanden. Der Skandal hatte sich zwar in Grenzen gehalten, war aber im Odder'schen Zweig der Familie unvergessen. Nein, Ronny war eine ziemliche Pfeife.
Carl hob abwehrend die Hand. Ehrlich, was gingen ihn Ronnys Affären an!
»Ach, Bak. Geh doch zu Marcus, wenn du schon das Maul aufreißen musst. Aber du kennst ihn. Er wird dir genau dasselbe sagen wie ich. Man schlägt Verdächtige nicht und man droht ehemaligen Kollegen nicht mit alten Geschichten wie dieser hier.«
Bak lehnte sich zurück. »Und in dieser Bar in Thailand prahlte dein Cousin im Beisein von Zeugen, er habe seinen Vater umgebracht.«
Carl kniff die Augen zusammen. Sonderlich wahrscheinlich klang das nicht.
»Aha, das sagt er also. Dann muss er sich um den Verstand gesoffen haben. Aber zeig ihn doch an, wenn du meinst. Ich weiß, dass er seinen Vater nicht ertränkt hat. Er war nämlich mit mir zusammen.«
»Und gleichzeitig behauptete er, du seist dabei gewesen. Feines Bürschchen, dieser Cousin von dir.«
Carls gerunzelte Stirn glättete sich in Sekundenschnelle, während er aufsprang und dabei so tief einatmete, dass sich sein ohnehin schlecht verteiltes Gewicht mehrheitlich im Schulterbereich sammelte. »Assad, komm mal her«, brüllte er Bak ins Gesicht.
Kaum zehn Sekunden später stand der schniefende Kerl in der Tür.
»Assad, du armes grippegeplagtes Wesen. Sei doch bitte so freundlich und huste diesen Idioten hier mal an. Und hol vorher ordentlich tief Luft, ja?«
Übersetzung: Hannes Thiess
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
November 1985
Fast hätte sie sich ganz diesem Gefühl hingegeben. Das Champagnerglas in ihrer Hand war angenehm kühl, die Stimmen verschwommen zu einem Summen und die Hand ihres Mannes ruhte leicht auf ihrer Taille. Bis auf die Zeiten des Verliebtseins hatte es nur Sekunden in einer fernen Kindheit gegeben, die an das heranreichen konnten, was sie in diesem Moment empfand. Das Gefühl der Geborgenheit beim Einschlafen, mit dem Murmeln der Großmutter und gedämpftem Lachen im Ohr. Dem Lachen von Menschen, die es längst nicht mehr gab.
Nete presste die Lippen zusammen, damit das Gefühl nicht die Oberhand gewann.
Sie richtete sich auf und ließ ihren Blick über die eleganten Kleider und schlanken Rücken schweifen. Eine beachtliche Schar von Geladenen hatte sich eingefunden zum Ehrendinner für den dänischen Laureaten des Großen Nordischen Preises in Medizin. Forscher natürlich und Ärzte und die Spitzen der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in die sie nicht hineingeboren war, in der sie sich aber mit den Jahren immer wohler fühlte.
Sie atmete tief ein und stieß einen wohligen Seufzer aus. Da spürte sie auf einmal überdeutlich einen Blick, der sich über die Köpfe der kunstvoll frisierten Frauen und der Smoking tragenden Männer hinweg auf sie heftete. Es war ein Blick wie eine undefinierbare und beunruhigende Entladung. Ein Blick, wie ihn nur Menschen aussandten, die einem Böses wollten. Instinktiv tat sie einen Schritt zur Seite, wie ein gejagtes Tier, das im Gebüsch Deckung sucht, legte ihrem Mann die Hand auf den Arm, versuchte zu lächeln, während ihre Augen zwischen den festlich gekleideten Menschen und den Kronleuchtern hin und her wanderten.
Eine Frau warf für den Moment eines Lachens den Kopf in den Nacken, sodass die Sicht quer durch den Saal freigegeben war.
Dort vor der Wand stand er.
Wie ein Leuchtturm ragte seine Gestalt aus der Schar der Gäste heraus. Trotz der leicht gebeugten Haltung ein riesiges Raubtier, dessen Augen wie Suchscheinwerfer über die Menge glitten.
Sie spürte seinen lauernden Blick mit jeder Faser ihres Körpers und sie wusste, dass ihr Leben binnen Sekunden in sich zusammenstürzen würde, wenn sie nicht augenblicklich reagierte.
»Andreas«, sagte sie und griff sich dabei an den Hals, der schon jetzt schweißnass war, »können wir bitte gehen? Ich fühle mich nicht gut.«
Mehr brauchte es nicht. Ihr Mann hob die dunklen Augenbrauen, nickte den anderen zu, und während er ihren Arm nahm, wandte er sich von der Gruppe ab. Für diese Gesten liebte sie ihn.
»Danke«, sagte sie. »Leider wieder der Kopf.«
Er nickte. Das kannte er nur zu gut von sich selbst. Lange Abende im abgedunkelten Raum, wenn sich die Migräne erst festgesetzt hatte.
Auch das verband sie.
Sie kamen bis zu der ausladenden Treppe vor den Festräumen. Da glitt der Hüne von der Seite heran und stellte sich vor sie hin.
Ihr fiel auf, dass er deutlich gealtert war. Die Augen, die früher Funken gesprüht hatten, waren matt geworden. Das Haar war nicht wiederzuerkennen. Knapp dreißig Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Du hier, Nete? Dich hätte ich in dieser Gesellschaft am allerwenigsten erwartet.«
Sie zog Andreas um ihren Verfolger herum, doch der ließ nicht locker. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Nete?«, kam die Stimme jetzt von hinten. »Doch, das tust du. Curt Wad. Du erinnerst dich sicher.«
Sie hatten die Treppe schon halb geschafft, da holte er sie ein.
»Bist du etwa Direktor Rosens Hure? Solltest du tatsächlich so hoch aufgestiegen sein? Schau mal an, wer hätte das gedacht.«
Sie versuchte, ihren Mann mit sich zu ziehen, aber Andreas Rosen war nicht dafür bekannt, dass er Problemen den Rücken kehrte.
»Würden Sie so freundlich sein und meine Frau in Ruhe lassen?« Der Blick, der seine Worte begleitete, kündete von unterdrücktem Zorn.
»So, so.« Der Verfolger trat einen Schritt zurück. »Da ist dir also tatsächlich Andreas Rosen ins Netz gegangen. Guter Fang, Nete.« Er versuchte sich an etwas, das andere als halbherziges Lächeln bezeichnet hätten, aber sie wusste es besser.
»Das ist meiner Aufmerksamkeit ja vollständig entgangen. Ich komme nicht so oft in diese Kreise, weißt du. Lese keine Klatschspalten.«
Wie in Zeitlupe sah sie ihren Mann verächtlich den Kopf schütteln. Spürte, wie seine Hand nach ihrer griff und sie hinter sich her zog. Sekundenlang konnte sie keine Luft holen. Ihrer beider Schritte klangen wie asynchrone Echos des gleichen Impulses: Bloß weg hier!
Erst als sie schon an der Garderobe standen, war die Stimme wieder hinter ihnen zu hören.
»Herr Rosen! Dann wissen Sie ja vielleicht gar nicht, dass Ihre Frau eine Hure ist? Ein schlichtes Mädel, das die Insel Sprogø besser kennt als so manch anderer. Ich sage nur: Besserungsanstalt. Ein Mädel, das es nicht so genau nimmt, für wen es die Beine breit macht. Dessen debiles Hirn den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge nicht kennt und ...«
Es zog in ihrem Handgelenk, als sich Andreas Rosen abrupt umdrehte. Mehrere Gäste wollten den Mann, der die festliche Atmosphäre störte, zum Schweigen bringen. Zwei jüngere Ärzte traten dazu, bauten sich drohend vor dem großen Kerl auf und demonstrierten damit überdeutlich, dass er unerwünscht war.
»Andreas, lass es!«, rief sie, aber ihr Mann hörte nicht auf sie. Das Alphatier in ihm war erwacht und hatte angefangen, sein Territorium zu markieren.
»Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte er. »Aber ich schlage vor, dass Sie sich öffentlich erst dann wieder zeigen, wenn Sie gelernt haben, sich unter Menschen zu benehmen.«
Der Angesprochene, der die Männer, die ihn festhielten, ohnehin um einen Kopf überragte, straffte die Schultern und reckte das Kinn. Von der Garderobe her waren alle Augenpaare auf seine trockenen Lippen gerichtet. Die Damen hinter der Theke, die die Pelze und Trenchcoats verwahrten, die anderen, die sich an der Gruppe vorbeidrückten, und die Privatchauffeure, die an den Schwingtüren warteten - alle hatten die Köpfe zu ihm gewandt.
Und dann kamen jene Sätze, die niemals hätten ausgesprochen werden dürfen.
»Dann fragen Sie Nete doch, wo sie sterilisiert wurde, Herr Rosen. Fragen Sie sie, wie viele Schwangerschaftsabbrüche sie hatte. Fragen Sie sie, wie sich fünf Tage in der Strafzelle anfühlen. Fragen Sie sie danach, aber kommen Sie mir nicht mit Belehrungen über Umgangsformen, Andreas Rosen. Dazu bedarf es anderer.«
Curt Wad trat zur Seite. »Ich gehe!«, rief er hasserfüllt. »Und du, Nete!«, der Finger, mit dem er auf sie deutete, zitterte, »schmor doch in der Hölle. Wo du hingehörst.«
Als die Schwingtüren hinter ihm zuklappten, wurde das Stimmengewirr laut.
»Das war Curt Wad«, flüsterte jemand hinter ihnen. »Hat mit dem heutigen Preisträger zusammen studiert. Und das ist auch das einzig Gute, das sich über ihn sagen lässt.«
Aber sie stand mindestens ebenso im Zentrum der Aufmerksamkeit. Entblößt.
Die Menschen ringsum musterten sie. Und die Blicke verweilten bei Dingen, die auf einmal Netes wahres Ich zu enthüllen schienen. War das Dekolleté zu tief? Sahen ihre Hüften, ihre Lippen vulgär aus?
Als die Garderobenfrau ihnen die Mäntel reichte, kam deren warmer Atem Nete fast giftig vor. »Du bist keinen Deut besser als ich«, schien er zu hauchen.
So schnell ging das.
Sie schlug die Augen nieder und nahm den Arm ihres Mannes. Ihres geliebten Mannes, dessen Blick sie nicht zu begegnen wagte.
Sie horchte auf das leise, regelmäßige Brummen des Motors. Sie hatten seither kein Wort gewechselt, saßen nur nebeneinander und starrten an den unablässig arbeitenden Scheibenwischern vorbei in den dunklen Herbstabend.
Vielleicht wartete er auf Dementis, aber damit konnte sie nicht dienen.
Vielleicht erwartete sie, dass er ihr entgegenkam. Dass er ihr aus der Zwangsjacke half, in die sie sich eingeschnürt fühlte. Dass er sie einfach ansah und sagte, das alles habe nichts zu bedeuten, nur ihre gemeinsamen elf Jahre zählten.
Und nicht die siebenunddreißig Jahre, die sie vorher gelebt hatte.
Aber er schaltete das Autoradio ein und füllte so den Raum lautstark mit Distanz. Sting begleitete sie südwärts über Seeland, Sade und Madonna über die Insel Falster und den Guldborgsund. Es war die Nacht der jungen Sänger und ihrer neuen, unverwechselbaren Stimmen. Das war das Einzige, was sie verband.
Alles andere verschwand.
Wenige hundert Meter vor dem Dorf Blans und zwei Kilometer vor dem großen Hof fuhr er plötzlich auf den Seitenstreifen.
»So, und jetzt schieß los«, sagte er, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Kein freundliches, tröstendes Wort. Nur dieses »Jetzt schieß los«. Nicht einmal ihren Namen nahm er in den Mund.
Sie schloss die Augen. Dann fing sie stockend an zu sprechen, bat ihn zu verstehen, dass es Ereignisse gegeben habe, die alles erklärten, und dass der Mann, der sie so beleidigt habe, an ihrem Unglück schuld sei.
Aber davon abgesehen stimme, was er gesagt habe. Das gab sie mit leiser Stimme zu.
Insgesamt stimme es.
Einen quälenden Augenblick lang war nur sein Atem zu hören. Dann wandte er sich ihr zu. Seine Augen waren dunkel. »Deshalb also konnten wir beide keine Kinder bekommen«, sagte er.
Sie nickte. Presste die Lippen zusammen. Sagte, wie es war. Ja, sie hatte sich schuldig gemacht, indem sie gelogen, indem sie den Grund verschwiegen hatte. Sie gab es zu. Als junges Mädchen habe man sie nach Sprogø gebracht, aber da habe sie nichts dafürgekonnt, das sei das Ergebnis von Machtmissbrauch, Ablehnung und Willkür gewesen. Das Ende einer Kette von Fehlurteilen. Das und nichts anderes. Und ja, sie habe mehrere Aborte gehabt und sei sterilisiert worden, aber dieser entsetzliche Mensch, dem sie gerade begegnet seien ...
Da legte er ihr eine Hand auf den Arm, deren Eiseskälte sich wie mit Stromstößen auf ihren Körper übertrug und sie erstarren ließ.
Dann schaltete er in den ersten Gang, ließ die Kupplung kommen und fuhr langsam durch den Ort. Zwischen den Wiesen und dem Ausblick auf das dunkle Meer beschleunigte er.
»Bedaure, Nete. Aber dass du mich jahrelang in dem blinden Glauben gelassen hast, wir beide könnten ein Kind bekommen, kann ich dir nicht verzeihen. Das kann ich einfach nicht. Und was das Übrige angeht, so widert es mich an.«
Er schwieg, und sie spürte, wie ihre Schläfen eiskalt wurden und sich der Nacken verspannte.
Schließlich hob er den Kopf auf diese anmaßende Art, wie er es in Verhandlungen mit Menschen tat, die seinem Gefühl nach seinen Respekt nicht verdienten.
»Ich packe meine Sachen und räume das Feld«, sagte er und betonte jedes Wort. »Bis du etwas anderes gefunden hast. Ich gebe dir eine Woche. Von Havngaard kannst du mitnehmen, was du willst. Es soll dir an nichts fehlen.«
Immer ungläubiger starrte sie ihn an. Dann wandte sie sich langsam ab und blickte über das Wasser. Ließ das Fenster ein wenig herunter und nahm den Geruch des Tangs wahr. Das tiefschwarze Meer schien endgültig nach ihr zu greifen. Wie damals, in jenen einsamen, verzweifelten Tagen auf Sprogø, als die unablässig heranrollenden Wellen sie gelockt hatten, ihrem elenden Leben ein Ende zu bereiten.
»Es soll dir an nichts fehlen« - als wenn das etwas bedeutete. Dann kannte er sie wirklich nicht.
Einen Moment lang fixierte sie das Datum auf der Uhr, 14. November 1985. Ihre Lippen zitterten, als sie ihm das Gesicht zuwandte.
Seine Augen wirkten wie dunkle Höhlen. Ihn interessierte nur die Straße vor ihm, nur die nächste Kurve.
Da hob sie langsam eine Hand zum Steuer, packte es, und als er protestieren wollte, zog sie so kräftig daran, wie sie nur konnte.
Der Wagen mit seiner gewaltigen Schubkraft reagierte sofort. Die Straße verschwand unter ihnen, und das Krachen durch die Böschung übertönte die letzten Proteste ihres Mannes.
Als sie aufs Meer aufschlugen, war es fast wie nach Hause zu kommen.
1
November 2010
Auf dem Weg von seinem Reihenhaus in Allerød zum Präsidium hatte Carl über Polizeifunk von den nächtlichen Ereignissen gehört. Eigentlich betraf das die Sitte und hätte ihn unter normalen Umständen völlig kaltgelassen. Aber das hier war doch anders.
Man hatte die Inhaberin einer Escort- und Begleitagentur in ihrer Wohnung im Enghavevej überfallen und mit Schwefelsäure übergossen, und die Mitarbeiter der Abteilung für Verbrennungen im Rigshospital hatten mehr als reichlich zu tun bekommen.
Jetzt wurde nach Zeugen gesucht, bisher ergebnislos.
Ein paar Kerle aus Litauen waren bereits festgenommen und verhört worden. Aber im Lauf der Nacht war klar geworden, dass nur einer der Verdächtigen als Täter in Frage kam, und dem konnten sie partout nichts nachweisen. Die Geschädigte hatte bei ihrer Einlieferung erklärt, sie könne den Schuldigen nicht identifizieren, und deshalb mussten sie die ganze Schar laufen lassen.
Kam einem das nicht bekannt vor?
Zwischen Parkplatz und Präsidium begegnete ihm Brandur Isaksen vom City Revier. Der Eiszapfen vom Halmtorv, wie er genannt wurde.
»Na, mal wieder unterwegs, um Leute zu belästigen«, brummelte Carl im Vorbeigehen. Da blieb dieser Idiot doch tatsächlich stehen, als hätte Carl eine Einladung ausgesprochen.
»Dieses Mal hat's Baks Schwester erwischt«, sagte Isaksen kalt.
Carl sah ihn verwirrt an. Wovon redete der Typ? »So'n Pech auch.« Fade Antwort, passte aber irgendwie immer.
»Du hast doch wohl von dem Überfall heute Nacht im Enghavevej gehört? Das war Baks Schwester Esther. Die sah nicht besonders gut aus«, fuhr Isaksen fort. »Wie war eigentlich der Kontakt zwischen Børge Bak und dir? Konntet ihr zwei miteinander? «
Carls Kopf zuckte zurück. Børge Bak? Ob sie gut miteinander konnten? Er und der Vizepolizeikommissar vom Dezernat A, der um Beurlaubung nachgesucht und sich damit selbst zur Unzeit pensioniert hatte? Dieser scheinheilige Mistkerl?
»Wir waren in etwa so gute Freunde wie du und ich«, rutschte es Carl heraus.
Isaksen nickte verkniffen. Schon recht, der Flügelschlag eines Schmetterlings würde reichen, um ihre Zuneigung hinwegzufegen.
»Kennst du Børges Schwester persönlich?«, fragte er.
Carl sah hinüber zum Säulengang. Dort wandelte Rose gerade entlang - mit einer koffergroßen rosafarbenen Handtasche über der Schulter. Was plante die denn? Büroferien?
Er merkte, wie Isaksen seinem Blick folgte, und sah weg.
»Hab sie nie getroffen. Aber besitzt sie nicht ein Bordell? Das fällt doch eher in deine Abteilung als in meine. Brauchst mich also gar nicht damit zu behelligen.«
Isaksens Mundwinkel beugten sich der Schwerkraft. »Du solltest damit rechnen, dass Bak aufkreuzt und mitmischen will.«
Da hatte Carl seine Zweifel. Hatte Bak nicht deshalb bei der Polizei aufgehört, weil er seine Arbeit hasste, weil er es hasste, ins Präsidium zu kommen?
»Na, herzlich willkommen«, antwortete Carl. »Nur nicht unten bei mir.«
Isaksen fuhr sich mit der Hand durch das rabenschwarze Haar. »Nein, natürlich nicht. Bei euch da unten hast du ja auch genug damit zu tun, die da flachzulegen.«
Er deutete mit dem Kopf zu Rose, die gerade die Treppe hinaufging.
Carl schüttelte den Kopf. Isaksen konnte ihn mal kreuzweise. Rose flachlegen! Dann doch lieber in Bratislava ins Kloster gehen.
»Carl«, sagte der Wachhabende im Käfig dreißig Sekunden später. »Diese Psychologin, Mona Ibsen, hat das hier für dich dagelassen.« Durch die geöffnete Tür wedelte er Carl verheißungsvoll mit einem grauen Briefumschlag vor der Nase herum. Als würde ein Stück Paradies darinstecken.
Carl betrachtete den Umschlag verdutzt. Vielleicht stimmte das mit dem Paradies ja sogar.
Der Wachhabende setzte sich. »Ich hab gehört, Assad kommt immer schon morgens um vier. Mannomann, der nimmt sich für seine Sachen da unten im Keller ordentlich Zeit. Plant er einen Terrorangriff aufs Präsidium, oder was?« Er lachte, hielt aber sofort inne, als er Carls bleischweren Blick bemerkte.
»Frag ihn doch selbst«, knurrte Carl und dachte an die Frau, die man am Flughafen verhaftet hatte, nur weil sie das Wort »Bombe« in den Mund genommen hatte. Eine unbedachte Äußerung mit ungeahnten Konsequenzen.
Aber das hier, das war noch viel schlimmer.
Schon auf den untersten Treppenstufen in der Rotunde merkte er, dass Rose ihren guten Tag hatte. Der schwere Duft von Nelken und Jasmin schlug ihm entgegen und erinnerte ihn an die alte Frau in Øster Brønderslev, die alle vorbeikommenden Männer in den Arsch kniff. Wenn Rose so duftete, bekam man regelrecht Kopfschmerzen - und ausnahmsweise mal nicht von ihrer schlechten Laune.
Assad vertrat die Theorie, sie habe das Parfüm geerbt. Andere glaubten zu wissen, dass man solche eklig süßlichen Düfte noch immer in gewissen indischen Läden kaufen konnte. In Läden, die offenbar mehr Interesse an Lauf- als an Stammkundschaft hatten.
»Hallo Carl, komm doch gleich mal her!«, brummelte sie in ihrem Büro.
Carl seufzte. Was denn jetzt schon wieder?
Er stolperte an Assads wüstem Durcheinander vorbei, steckte den Kopf in Roses klinisch reines Büro und erblickte als Erstes die Riesentasche, die sie vorhin geschleppt hatte. Der gewaltige Stapel Akten, der aus der Tasche ragte, war mindestens ebenso beunruhigend wie das Parfüm.
»Ähhh ... was ist das da?«, fragte Carl vorsichtig und deutete auf die Papiere.
Der Blick aus den kajalschwarz umrandeten Augen kündete von aufziehendem Ungemach.
»Ein paar alte Fälle, die im letzten Jahr ringsum auf den Schreibtischen der Polizeipräsidenten eingestaubt sind. Die Fälle, die nicht gleich im ersten Anlauf mit zu uns gekommen sind. Wenn jemand diese Art Schlamperei kennt, dann doch wohl du.«
Den letzten Kommentar begleitete ein gutturales Knurren, das sich mit gutem Willen als Lachen deuten ließ.
»Die Akten waren fälschlicherweise drüben im Nationalen Ermittlungszentrum abgegeben worden. Ich hab sie gerade geholt.«
Carl runzelte die Stirn. Noch mehr Fälle - was, um Himmels willen, gab es da zu lachen?
»Ja, ja. Ich weiß, was du denkst. Das war die schlechte Nachricht des Tages«, kam sie ihm zuvor. »Aber du hast ja diese Akte hier noch nicht gesehen. Die ist nicht vom NEZ, die lag bereits auf meinem Bürostuhl, als ich kam.«
Sie reichte ihm eine abgewetzte Aktenmappe. Offenbar wollte sie, dass er sofort darin blätterte, aber da hatte sie die Rechnung ohne ihn gemacht. Arbeit vor der Morgenzigarette, so weit kam es noch! Alles hübsch der Reihe nach.
Carl schüttelte den Kopf, ging in sein Büro, schmiss die Mappe auf den Schreibtisch und den Mantel über den Stuhl in der Ecke.
Die Luft im Büro war abgestanden und die Leuchtstoffröhre an der Decke flackerte. Den Mittwoch zu überstehen, das war immer am schlimmsten.
Dann steckte er sich eine Zigarette an und machte sich auf den Weg zu Assads Besenkammer. Dort schien alles unverändert. Intensiv nach Myrte duftender Wasserdampf und auf dem Fußboden der Gebetsteppich. Der Transistor auf etwas eingestellt, das wie das Paarungsgewimmer von Walen klang, untermalt von einem Gospelchor und abgespielt von einem leiernden Tonbandgerät.
Istanbul à la carte.
»Guten Morgen«, grüßte Carl.
Assad wandte ihm langsam das Gesicht zu. Das Rot eines Sonnenaufgangs über Kuwait konnte nicht intensiver leuchten als der Riechkolben dieses Mannes.
»Allmächtiger! Assad, das sieht aber gar nicht gut aus.« Hastig trat Carl einen Schritt zurück. Eine Grippeepidemie bei ihnen im Kellergewölbe, das fehlte gerade noch.
»Ist gestern gekommen«, schniefte Assad. Nach ähnlich triefenden Hundeaugen würde man lange suchen müssen.
»Geh nach Hause, und zwar auf der Stelle«, befahl Carl. Wortreicher musste er das nicht ausführen, Assad würde dem ohnehin nicht Folge leisten.
Schnell kehrte er in sein sicheres Geviert zurück, legte die Beine auf den Schreibtisch und grübelte zum ersten Mal in seinem Leben, ob nun der Zeitpunkt gekommen war, da sich eine Pauschalreise nach Gran Canaria aufdrängte. Vierzehn Tage unter einem Sonnenschirm mit einer leicht bekleideten Mona neben sich, das wär's doch, oder? Sollte die Grippe ruhig so lange in Kopenhagen gastieren.
Bei diesem Gedanken nahm er Monas Brief und öffnete ihn. Allein schon der Duft! Zart und sinnlich, Mona Ibsen, wie sie leibte und lebte. Meilenweit entfernt von dem tonnenschweren Bombardement, das Rose auf die Sinne ihrer Mitmenschen abfeuerte.
»Mein lieber Schatz«, so ging es los.
Carl lächelte. Seit er im Krankenhaus von Brønderslev gelegen hatte, mit sechs Stichen genäht und den Blinddarm im Marmeladenglas auf dem Nachttisch neben sich, hatte ihn niemand mehr so zuckersüß angesprochen.
Mein lieber Schatz,
heute Abend um 19.30 Uhr bei mir zu Hause zur Martinsgans? Du ziehst einen Sakko an und bringst den Rotwein mit. Ich sorge für die Überraschung.
Kuss, Mona
Carl spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht stieg. Was für eine Frau!
Er schloss die Augen, nahm einen tiefen Lungenzug und versuchte, sich unter »Überraschung« etwas vorzustellen. Die Bilder, die ihm dabei in den Sinn kamen, waren wahrhaftig nicht jugendfrei.
»Was sitzt du hier und grinst wie ein Honigkuchenpferd?«, dröhnte es hinter ihm. »Wolltest du nicht in die Akte schauen, die ich dir gegeben habe?«
Rose stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf in der offenen Tür. Sie würde nicht verschwinden, ehe er reagiert hatte, und wenn ihre Arme sich zum Knoten verschlangen.
Carl drückte die Kippe aus und griff sich die Aktenmappe. Besser, es hinter sich zu bringen.
Die Akte bestand aus zehn vergilbten Blättern Papier vom Gericht in Hjørring. Gleich auf der ersten Seite sprang ihm entgegen, worum es sich drehte.
Wie zum Teufel war diese Geschichte auf Roses Bürostuhl gelandet?
Zögernd überflog er die erste Seite. Er wusste schon von vornherein die Reihenfolge der Sätze. Sommer 1978. Mann im Nørre Å ertrunken, Inhaber einer großen Maschinenfabrik, passionierter Sportangler, die üblichen Mitgliedschaften in den einschlägigen Vereinen. Vier Paar frische Fußspuren um den Anglerschemel und die abgewetzte Tasche. Angelausrüstung vom Feinsten. Kein Stück fehlte. Schönes Wetter. Bei der Obduktion nichts Anomales zu finden, kein Herzfehler und kein Blutpfropf. Einfach ertrunken.
Wäre der Fluss an der betreffenden Stelle nicht bloß knapp fünfundsiebzig Zentimeter tief gewesen, hätte man die Sache gleich als Unglücksfall abgehakt.
Aber nicht der Todesfall an sich hatte Roses Interesse geweckt, soviel war klar. Auch nicht, dass er nie aufgeklärt wurde und deshalb nun naturgemäß bei ihnen im Keller gelandet war. Der Grund war, dass der Akte eine Reihe Fotos beigelegt waren, von denen zwei Carls Konterfei zeigten.
Carl seufzte. Birger Mørck hieß der Ertrunkene, und er war Carls leibhaftiger Onkel gewesen. Ein jovialer und freigebiger Mann, zu dem nicht nur dessen Sohn Ronny aufgeblickt hatte, sondern auch Carl, und den sie deshalb gern zu kleineren Ausflügen begleitet hatten. Genau wie an jenem Tag, als Birger sie in die Geheimnisse und Tricks des Angelns hatte einweihen wollen.
Aber da waren diese zwei Mädchen aus Kopenhagen gewesen, die durch das ganze schöne Dänemark geradelt waren und sich just in dem Moment in durchgeschwitzten dünnen Blüschen ihrem Ziel Skagen näherten.
Beim Anblick dieser beiden Blondinen, die sich auf ihren Fahrrädern abrackerten, ließen Carl und sein Cousin Ronny die Angelruten einfach fallen und flitzten den Mädchen hinterher.
Zwei Stunden später kehrten sie - den Anblick der engen Blusen auf ewig in die Netzhaut gebrannt - zum Fluss zurück. Da war Birger Mørck schon tot.
Nach vorläufigen Verdächtigungen und vielen Verhören gab die Polizei in Hjørring schließlich auf. Und obwohl die zwei flotten Kopenhagenerinnen nie gefunden wurden und damit das einzige Alibi der jungen Männer nie bestätigt wurde, kam es zu keiner Anklage. Über Monate hinweg war Carls Vater zornig und verzweifelt gewesen. Aber andere Konsequenzen hatte die Angelegenheit nicht gehabt.
»Du sahst damals gar nicht so schlecht aus. Wie alt warst du?«, fragte Rose, die immer noch in der offenen Tür stand. Carl ließ die Akte auf den Tisch fallen. An die Zeit mochte er nun wahrlich nicht erinnert werden.
»Wie alt? Ich war siebzehn und Ronny siebenundzwanzig.« Er seufzte. »Hast du eine Ahnung, warum die Akte auf einmal hier auftaucht?«
»Warum?« Sie klopfte sich mit ihren spitzen Knöcheln gegen die Stirn. »Hallo Prinz Charming! Wach auf! Worum kümmern wir uns hier? Wir wühlen in alten, nicht aufgeklärten Mordfällen herum!«
»Ja, ja. Aber erstens wurde die Sache als Unglücksfall ad acta gelegt und zweitens sind die Unterlagen ja wohl nicht von selbst auf deinem Bürostuhl gelandet, oder?«
»Soll ich vielleicht bei der Polizei in Hjørring nachfragen, warum die Akte gerade jetzt bei uns auftaucht?«
Carl runzelte die Stirn. Ja, warum eigentlich nicht?
Rose machte auf dem Absatz kehrt und klapperte zurück in ihr eigenes Revier. Sie hatte verstanden.
Carl starrte vor sich hin. Warum zum Teufel musste diese Geschichte wieder ans Licht gezerrt werden? Als hätte sie nicht schon mehr als genug Kummer verursacht.
Er warf noch einen letzten Blick auf das Foto von Ronny und sich, dann schob er die Aktenmappe zu einem Stapel anderer Fälle. Das war Schnee von gestern und auch nicht mehr zu ändern. Jetzt war anderes aktuell. Erst vor vier Minuten hatte er Monas Briefchen gelesen. »Mein lieber Schatz«, hieß es da. Man musste Prioritäten setzen.
Er lächelte, kramte das Handy aus den Tiefen seiner Hosentasche und starrte verärgert auf die winzigen Tasten. Wenn er Mona eine SMS schickte, würde es zehn Minuten dauern, bis er die Botschaft eingegeben hätte, und wenn er sie anrief, müsste er genauso lange warten, bis sie abnahm.
Er seufzte und fing mit der SMS an. Die Handytastatur hatte zweifellos ein Pygmäe mit Makkaroni-Fingern entwickelt. Jeder durchschnittlich große Nordeuropäer musste sich beim Tippen fühlen wie ein Nilpferd beim Blockflötespielen.
Anschließend betrachtete er das Ergebnis seiner Anstrengungen und ließ alle Eingabefehler stehen. Mona würde den Sinn schon verstehen: Ihre Martinsgans hatte einen Abnehmer gefunden.
Als er das Handy weglegte, steckte jemand seinen Kopf durch die offene Tür.
Das früher so sorgfältig um den kahlen Kopf gelegte Haar war seit dem letzten Mal getrimmt worden. Aber der Gesichtsausdruck war noch so querköpfig wie eh und je.
»Bak? Was zum Teufel machst du denn hier?«, rutschte es Carl heraus.
»Als wenn du das nicht längst wüsstest«, kam prompt die Antwort. Der Mangel an Schlaf hing dem Mann in den Augenwinkeln. »Ich bin kurz davor, verrückt zu werden! Deshalb bin ich hier!«
Trotz Carls abwehrender Geste ließ Bak sich schwer auf den Stuhl gegenüber sinken. »Meine Schwester Esther wird nie mehr dieselbe sein. Und das Schwein, das ihr die Säure ins Gesicht geschüttet hat, sitzt in irgendeinem schäbigen Kellerladen und lacht sich tot. Wenn die eigene Schwester ein Bordell betreibt, ist man darauf als ehemaliger Polizist nicht unbedingt stolz. Aber soll man deshalb tatenlos akzeptieren, dass der Mistkerl, der das getan hat, einfach so nach Hause geschickt wird?«
»Ich hab keine Ahnung, warum du ausgerechnet zu mir kommst, Bak. Wenn du mit dem Verfahren unzufrieden bist, dann sprich mit denen vom City Revier, mit Marcus Jacobsen oder einem der anderen Chefs. Wie du weißt, beschäftige ich mich nicht mit Sittlichkeitsdelikten.«
»Ich bin hier, weil ich dich und Assad bitten will, mitzukommen und dem Schwein ein Geständnis abzuringen.«
Carl fühlte förmlich, wie sich sein Stirnrunzeln bis unter den Haaransatz fortsetzte. War der Mann noch ganz dicht?
»Ihr habt hier unten einen neuen Fall bekommen, das dürfte dir nicht entgangen sein«, fuhr Bak fort. »Der kommt übrigens von mir. Die Unterlagen hat mir vor ein paar Monaten ein alter Kollege oben in Hjørring zugesteckt. Ich habe sie heute Nacht in Roses Büro platziert.«
Carl sah Bak an und erwog die Möglichkeiten. Soweit er es überblicken konnte, gab es drei. Aufzustehen und dem Idioten eins auf die Nuss zu geben, war eine Option. Ein Tritt in den Arsch die zweite. Aber Carl entschied sich für die dritte.
»Ja, die Mappe liegt dort«, sagte er und deutete zu dem verdammten Stapel auf seinem Schreibtisch. »Warum hast du sie nicht direkt bei mir abgeliefert? Das wäre netter gewesen.«
Bak lächelte kurz. »Seit wann hätte Nettigkeit zwischen uns jemals zu etwas geführt? Nein, nein. Ich wollte sichergehen, dass die Mappe nicht einfach verschwindet, sondern dass sich jemand hier unten die Geschichte ansieht.«
Jetzt schoben sich die beiden anderen Möglichkeiten wieder in den Vordergrund. Ein Segen, dass dieser Saftsack nicht mehr täglich hier aufkreuzte.
»Ich habe mit der Akte auf den richtigen Augenblick gewartet, verstehst du?«
»Nichts verstehe ich. Auf was für einen Augenblick?«
»Ich brauche deine Hilfe!«
»Glaub mal nicht, dass ich einem möglichen Täter eins auf die Rübe gebe, nur weil du mit einem dreißig Jahre alten Fall vor meiner Nase herumwedelst. Und weißt du auch, warum?« Für jede der folgenden Ansagen hob Carl einen Finger in die Höhe.
»Erstens: Die Geschichte ist verjährt. Zweitens: Es war ein Unfall. Mein Onkel ist ertrunken. Ihm wurde offenbar schlecht und er fiel in den Fluss. Zu diesem Schluss kamen auch die Ermittler. Drittens: Ich war nicht vor Ort, als es passierte, und mein Cousin ebenfalls nicht. Viertens: Anders als du bin ich ein ordentlicher Bulle, der nicht einfach auf Verdächtige eindrischt. «
Bei diesem Satz hatte Carl eine Weile gezögert. Aber seines Wissens konnte Bak nichts Derartiges über ihn in Erfahrung gebracht haben. Jedenfalls deutete nichts an Baks Gesichtsausdruck darauf hin.
»Und fünftens!« Carl streckte alle fünf Finger in die Luft, dann ballte er die Faust. »Wenn ich schon den Hammer schwingen muss, dann gegen einen gewissen Exbullen, der meint, noch mal Verbrecherjagd spielen zu müssen.«
Baks Lachfältchen glätteten sich. »Okay. Aber dann will ich dir mal was erzählen. Einer meiner alten Kollegen aus Hjørring fliegt gern nach Thailand. Vierzehn Tage Bangkok mit allem Drum und Dran.«
Und was geht mich das an?, dachte Carl.
»Deinem Cousin Ronny geht es offenbar genauso. Und er trinkt auch gern einen«, fuhr Bak fort. »Und weißt du was, Carl? Wenn dein Cousin Ronny ordentlich einen in der Krone hat, fängt er an zu plaudern.«
Carl unterdrückte einen tiefen Seufzer. Ronny, dieser Vollpfosten! Was hatte der jetzt wieder verzapft? Seit sie sich zuletzt gesehen hatten, waren mindestens zehn Jahre vergangen. Der Anlass war irgendeine bescheuerte Konfirmation in Odder gewesen, bei der Ronny an der Bar sowohl bei den Getränken als auch bei den Serviererinnen reichlich zugelangt hatte. Das wäre vielleicht gar nicht weiter aufgefallen, wäre die eine Serviererin nicht ein bisschen zu willig gewesen und vor allem nicht minderjährig und obendrein die Schwester des Konfirmanden. Der Skandal hatte sich zwar in Grenzen gehalten, war aber im Odder'schen Zweig der Familie unvergessen. Nein, Ronny war eine ziemliche Pfeife.
Carl hob abwehrend die Hand. Ehrlich, was gingen ihn Ronnys Affären an!
»Ach, Bak. Geh doch zu Marcus, wenn du schon das Maul aufreißen musst. Aber du kennst ihn. Er wird dir genau dasselbe sagen wie ich. Man schlägt Verdächtige nicht und man droht ehemaligen Kollegen nicht mit alten Geschichten wie dieser hier.«
Bak lehnte sich zurück. »Und in dieser Bar in Thailand prahlte dein Cousin im Beisein von Zeugen, er habe seinen Vater umgebracht.«
Carl kniff die Augen zusammen. Sonderlich wahrscheinlich klang das nicht.
»Aha, das sagt er also. Dann muss er sich um den Verstand gesoffen haben. Aber zeig ihn doch an, wenn du meinst. Ich weiß, dass er seinen Vater nicht ertränkt hat. Er war nämlich mit mir zusammen.«
»Und gleichzeitig behauptete er, du seist dabei gewesen. Feines Bürschchen, dieser Cousin von dir.«
Carls gerunzelte Stirn glättete sich in Sekundenschnelle, während er aufsprang und dabei so tief einatmete, dass sich sein ohnehin schlecht verteiltes Gewicht mehrheitlich im Schulterbereich sammelte. »Assad, komm mal her«, brüllte er Bak ins Gesicht.
Kaum zehn Sekunden später stand der schniefende Kerl in der Tür.
»Assad, du armes grippegeplagtes Wesen. Sei doch bitte so freundlich und huste diesen Idioten hier mal an. Und hol vorher ordentlich tief Luft, ja?«
Übersetzung: Hannes Thiess
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Jussi Adler-Olsen
Jussi Adler-Olsen wurde 1950 in Kopenhagen geboren. Mit seiner Thriller-Serie um Carl Mørck vom Sonderdezernat Q und seinen Romanen (u.a. "Das Washington-Dekret", "Das Alphabethaus") stürmt er die internationalen Bestsellerlisten. Seine preisgekrönten Bücher wurden bislang in 35 Länder verkauft und werden mehrfach verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jussi Adler-Olsen
- 2013, 1, 544 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656024
- ISBN-13: 9783863656027
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