Verbrannte Erde
Stalins Herrschaft der Gewalt. Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Sachbuch / Essayistik 2012
Vom Traum einer besseren
Gesellschaft in den Albtraum Gulag: Wie kam es zu den
Gewalt-Exzessen unter Stalin? Waren sie eine notwendige Folge der bolschewistischen Modernisierung? Oder diente der Bolschewismus nur als Rechtfertigung für sinnloses Morden?...
Gesellschaft in den Albtraum Gulag: Wie kam es zu den
Gewalt-Exzessen unter Stalin? Waren sie eine notwendige Folge der bolschewistischen Modernisierung? Oder diente der Bolschewismus nur als Rechtfertigung für sinnloses Morden?...
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Produktinformationen zu „Verbrannte Erde “
Vom Traum einer besseren
Gesellschaft in den Albtraum Gulag: Wie kam es zu den
Gewalt-Exzessen unter Stalin? Waren sie eine notwendige Folge der bolschewistischen Modernisierung? Oder diente der Bolschewismus nur als Rechtfertigung für sinnloses Morden?
Unter Berücksichtigung der Forschung und zahlreicher Quellen ergründet Prof. Baberowski das wahre Wesen des Stalinismus. Er schildert das umfassende Klima der permanenten Angst in der Sowjetunion und den Einfluss Stalins, eines brutalen und gnadenlosen Psychopathen.
Gesellschaft in den Albtraum Gulag: Wie kam es zu den
Gewalt-Exzessen unter Stalin? Waren sie eine notwendige Folge der bolschewistischen Modernisierung? Oder diente der Bolschewismus nur als Rechtfertigung für sinnloses Morden?
Unter Berücksichtigung der Forschung und zahlreicher Quellen ergründet Prof. Baberowski das wahre Wesen des Stalinismus. Er schildert das umfassende Klima der permanenten Angst in der Sowjetunion und den Einfluss Stalins, eines brutalen und gnadenlosen Psychopathen.
Klappentext zu „Verbrannte Erde “
Wir gratulieren Jörg Baberowski sehr herzlich zum Preis der Leipziger Buchmessein der Kategorie Sachbuch/Essayistik!Zur Begründung: "Verbrannte Erde" ist ein Buch, das den Leser von Anfang an in den Bann schlägt und nicht wieder loslässt. Es zwingt ihn, gleichermaßen durch Präzision der Argumente wie durch die Kraft der sprachlichen Vergegenwärtigung, auf eine Fahrt durch alle Kreise der Hölle. Und es erspart ihm nicht, genauer hinzusehen, den Tätern wie den Opfern ins Gesicht zu schauen. Hier handeln nicht Großmächte oder Begriffsgespenster - nicht der Kommunismus, nicht die Moderne, kein Eindeutigkeitswahn -, sondern Menschen. Das macht die Lektüre, sofern man nicht völlig abgestumpft ist, zu einer bedrückenden Erfahrung, zu einem kurzen Lehrgang in Trostlosigkeit. Aber das ist der Preis, der für historische Erkenntnis zu zahlen ist. Jörg Baberowski, der an dear Humboldt-Universität lehrt, widersteht der Versuchung, die Gewalt zu rationalisieren, ihr Gründe unterzuschieben. Aus der Verbindung von Quellennähe und kluger Kritik tradierter Deutungen gewinnt seine Darstellung ihre Wucht. Wenn in den kommenden Jahren einer fragt: Was war das, der Stalinismus, dann wird man zum Regal gehen und ihm dieses Buch geben: Nimm und lies!
Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im "Archipel Gulag" oder wurden im Laufe der "Säuberungen" von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators.
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische
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Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. "Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren", steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.
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Stalins Gewaltherrschaft fielen Millionen Menschen zum Opfer. Sie verhungerten, verschwanden im 'Archipel Gulag' oder wurden im Laufe der 'Säuberungen' von Partei, Staatsapparat und Militär ermordet. In seinem großen, berührenden Buch entwickelt Jörg Baberowski neue Perspektiven auf die stalinistischen Verbrechen und führt den Leser hinab in die paranoide Welt des sowjetischen Diktators.
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. 'Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren', steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.ewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst
Die Bolschewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst mit seinem Tod aufhörte. Er errichtete eine Ordnung des Misstrauens und der Furcht, in der jedermann jederzeit zum Opfer werden konnte. Wer in dieser Weise den inneren Kitt einer Gesellschaft zerstört, der hinterlässt auch in den Seelen der Menschen verbrannte Erde. 'Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren', steht über Dantes Höllentor. Dieser Satz hätte auch an den Grenzpfählen der Sowjetunion stehen können.ewiki wollten eine neue Gesellschaft erschaffen und träumten vom neuen Menschen. Doch reicht es aus, auf das bolschewistische Projekt der Modernisierung zu verweisen, um die stalinistischen Gewaltexzesse zu erklären? War Stalins Terrorherrschaft eine notwendige Folge der kommunistischen Ideologie? Das bolschewistische Projekt, so die These des Buches, bot eine Rechtfertigung für den Massenmord. Aber es schrieb ihn nicht vor. Es war Stalin, ein Psychopath und passionierter Gewalttäter, der den Traum vom neuen Menschen im Blut der Millionen erstickte. Er war Urheber und Regisseur des Terrors, der erst
Lese-Probe zu „Verbrannte Erde “
Verbrannte Erde - Stalins Herrschaft der Gewalt von Jörg Baberowski1
WAS WAR DER STALINISMUS?
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Im ersten Band seines «Archipel Gulag» erzählt Alexander Solschenizyn folgende Episode aus dem Jahr 1937, dem Jahr des Großen Terrors:
«Eine Bezirksparteikonferenz (im Moskauer Gebiet) ... Den Vorsitz führt der neue Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnisse und so weiter. Selbstredend stehen alle auf (wie auch jedesmal sonst der Saal aufspringt, wenn sein Name fällt). Im kleinen Saal braust ‹stürmischer, in Ovationen übergehender Applaus› auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten - noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen über. Doch die Hände schmerzen bereits. Die erhobenen Arme erlahmen. Die Älteren schnappen nach Luft. Und es wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig verehren. Aber: wer wagt es als erster? Aufhören könnte der erste Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des Sitzenden, er hat selber Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als erster aufgibt! ... Im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht ... und Väterchen kann's gar nicht hören ... 6 Minuten! 7 Minuten! 8 Minuten! ... Sie sind verloren! Zugrunde gerichtet! Sie können nicht mehr aufhören, bis das Herz zerspringt! Hinten, in der Tiefe des Saales, im Gedränge, kann einer noch schwindeln, einmal aussetzen, weniger Kraft, weniger Rage hineinlegen - aber nicht im Präsidium, nicht vor aller Augen! Der Direktor der Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium, begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation - und applaudiert - 9 Minuten! 10! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den Sekretär, doch der wagt es nicht. Verrückt! Total verrückt! Sie schielen mit schwacher Hoffnung einer zum anderen, unentwegt Begeisterung auf den Gesichtern, sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! Und auch dann werden die Zurückgebliebenen nicht aufgeben! ... Und so setzt der Direktor in der elften Minute eine geschäftige Miene auf und läßt sich in seinen Sessel im Präsidium fallen. Und - o Wunder! - wo ist der allgemeine, ungestüme und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind gerettet! Der Bann ist gebrochen! ... Allein, an solchen Taten werden unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht wird der Direktor verhaftet. Mit Leichtigkeit werden ihm aus ganz anderem Anlaß zehn Jahre verpaßt. Doch nach Unterzeichnung des abschließenden Untersuchungsprotokolls vergißt der Untersuchungsrichter nicht die Mahnung: ‹Und hören Sie in Zukunft nie als erster mit dem Klatschen auf.›»1
Was Alexander Solschenizyn beschrieb, war Realität für Hunderttausende Menschen in der Sowjetunion des Jahres 1937: ein kollektives Irrenhaus, in dem Menschen sich verhielten, als hätten sie jeden Bezug zur Normalität verloren und alle sozialen Beziehungen aufgegeben. Jedermann konnte jederzeit Opfer des staatlich organisierten Terrors werden: als Mitglied einer stigmatisierten sozialen oder ethnischen Gruppe, durch Denunziation oder Zufall, oder weil es dem Diktator gefiel, Menschen zu töten und in Angst und Schrecken zu versetzen. Im Ausnahmezustand wurde das Denkbare zum Machbaren, der Terror grenzenlos, und die Gewalt löste sich von den Anlässen, die sie einst ausgelöst hatten. Sie wurde zur Normalität, für die Machthaber ebenso wie für die Untertanen. Im Ausnahmezustand, den der Diktator über das Land verhängt hatte, zerfielen alle sozialen Sicherungssysteme, die es Menschen unter friedlichen Umständen ermöglichen, sich vor Gewalt und willkürlicher Verfolgung zu schützen.
Für Kommunisten, die vom Anbruch einer neuen Zeit träumten, war die Gewalt ein unverzichtbares Instrument der Disziplinierung und Umerziehung unzivilisierter Bauernmassen. Für viele Opfer war sie das Ende von allem, weil sie Erwartungssicherheit, Rechtssicherheit und Vertrauen zerstörte, ohne die es ein Leben in der Gesellschaft nicht geben kann. Eine «Religion des Hasses, des Neids, der Feindschaft zwischen den Menschen» sei der Bolschewismus, schrieben Bauern aus dem Gebiet Kalinin, dem ehemaligen Twer, die sich im Jahr 1930 über ihre Erfahrungen mit den bewaffneten Organen des Sowjetstaates beklagten.2 Sie sprachen aus, was Millionen täglich als Wirklichkeit erlebten. In der Sowjetunion Stalins konnten Menschen nach Belieben stigmatisiert, in Angst und Schrecken versetzt oder getötet werden, wenn die Schergen des Regimes danach verlangten. Die Zerstörungswut des Stalinismus kannte keine Grenzen, nicht einmal die Partei war am Ende noch ein Ort der Zuflucht. Sie zerstörte sich selbst, als die Säuberungen der dreißiger Jahre sich zu blutigem Terror potenzierten. Und es war Stalin, der die Destruktion unablässig ins Werk setzen ließ, weil er sich davon eine Totalisierung seiner eigenen Macht versprach.
Nicht einmal nach dem Ende des Großen Terrors kam die sowjetische Gesellschaft zur Ruhe. Denn auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bekämpfte das Regime seine vermeintlichen Feinde mit exzessiver Gewalt: kriegsmüde Soldaten, Deserteure, Flüchtlinge und nationale Minoritäten, die es verdächtigte, mit dem deutschen Aggressor zu paktieren. Nach allem, was Stalin und seine Helfer ihren Untertanen schon angetan hatten, hatten sie Grund genug, mißtrauisch zu sein. Sie kultivierten den Terror als Herrschaftsstil, weil sie sich keine Ordnung vorstellen konnten, die Gehorsam ohne Androhung und Anwendung von Gewalt erzwang.
Während des Krieges wuchs der Terror über die Grenzen des sowjetischen Imperiums hinaus. Er verwüstete aber nicht nur die von der Roten Armee besetzten Nachbarländer. Auch im Inneren der Sowjetunion feierte die Gewalt ungeahnte Triumphe: Das Regime sperrte aus deutscher Gefangenschaft zurückkehrende Soldaten und Zwangsarbeiter in Konzentrationslager, es nahm den Krieg gegen Bauern und ethnische Minderheiten wieder auf und zerstörte alle Hoffnungen, das Ende des Krieges werde auch das Ende der Gewalt sein. «Wir alle waren wie Kaninchen», erinnerte sich der Drehbuchautor Waleri Frid, «die das Recht der Schlange, uns zu verschlingen, akzeptierten.»3 Stalins Terror verwandelte Millionen Menschen in seelische Krüppel, weil er sie zwang, sich in einer Ordnung des Mißtrauens und der Furcht einzurichten. Die soziale Ordnung des Stalinismus war eine Ordnung dauerhaft er Gewalt. In ihr konnte nur überleben, wer die Regeln und Überlebenstechniken beherrschte, auf denen diese Ordnung beruhte. Erst als der Despot im März 1953 starb, konnten seine Nachfolger das Spiel mit der Gewalt beenden.
Dieses Buch spricht von den gewalttätigen Exzessen des Stalinismus und der Kultur, die sie ermöglichte. Deshalb wird in ihm auch keine Geschichte der Sowjetunion, sondern eine Geschichte des Stalinismus erzählt.4 Vieles, was in einer Geschichte der Sowjetunion unverzichtbar gewesen wäre, hat in einer Geschichte der Gewalt keinen Platz. Auch über den Kommunismus als Ideologie hat dieses Buch nur wenig mitzuteilen. Denn der stalinistische Terror wurde zwar im Namen kommunistischer Ideen und Vorstellungen begründet und gerechtfertigt, aber nicht motiviert. Für Kommunisten haben sich im 20. Jahrhundert viele Machthaber gehalten, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, aus solchem Bekenntnis eine Lizenz zum Massenmord abzuleiten. Manche terroristischen Regime haben sich auf den Kommunismus berufen, aber nicht alle kommunistischen Regime waren terroristisch, wie zuletzt Stéphane Courtois im Vorwort zum «Schwarzbuch des Kommunismus» suggerierte.5 Die stalinistische Ordnung wurde von der Allgegenwart des Terrors beherrscht. Aber wie ist dieser Terror zu verstehen? Woher kam die Gewalt, mit der die Machthaber die Gesellschaften des sowjetischen Vielvölkerimperiums überzogen? Und welche Verheerungen richtete sie an? Darauf möchte dieses Buch eine Antwort geben.6
Die Gewalttaten des Stalinismus wurden nicht aus Texten oder Ideen hervorgebracht. Sie entstanden an historischen Orten, die ihre epidemische Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten. Deshalb waren die kommunistischen Regime verschieden. Und dennoch haben alle bisherigen Versuche, die Essenz des Stalinismus zu bestimmen, von den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen abgesehen, unter denen die Gewaltexzesse ihre Form gewannen. Immerhin hatten die Vordenker der Totalitarismustheorie, Hannah Arendt und Carl J. Friedrich, die Beobachtung gemacht, daß sich die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts von allen anderen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft unterschieden. «Die totalitäre Diktatur ist eine neuartige Entwicklung, noch nie hat es etwas ihr wirklich Entsprechendes in der Vergangenheit gegeben», schrieb Friedrich in seinem unmittelbar nach Stalins Tod erschienenen Buch über die Diktatur neuen Typs.7 Friedrich war ein Zeitgenosse jener Diktaturen, deren Eigenschaften er zu beschreiben versuchte. Als das Buch über die totalitäre Diktatur erschien, hatte die Entstalinisierung in der Sowjetunion noch nicht begonnen. Friedrich hatte also kein Wissen vom Ende jenes Stalinismus, den er als Diktatur totalitären Typs beschrieb. Deshalb sei, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb, nicht zu erkennen, «daß sich in der Sowjetunion oder im totalitären System etwas Entscheidendes geändert hat».8 Wir wissen es natürlich besser, aber wir können dieses Wissen nicht gegen Friedrichs Analyse der totalitären Diktatur verwenden.
Gleichwohl waren totalitäre Diktaturen für Friedrich auch keine «statischen, fest umrissenen Gebilde». Sie seien im Gegenteil einer «ständigen Entwicklung unterworfen», sie entstünden weder zwangsläufig noch müßten sie für immer und ewig bleiben, was sie waren.9 «Es ist zu vermuten», so Friedrich, «daß, wenn in England oder Frankreich eine kommunistische Diktatur errichtet würde, viele Einrichtungen der liberalen Ära lange Zeit fortdauern würden.»10 Aber diese Einsicht widersprach allem, was in seinen Texten über die Wirklichkeit der stalinistischen Diktatur gesagt wurde. Sowohl Arendt als auch Friedrich sprachen vom totalen Staat, totaler Kontrolle und Unterwerfung und bestätigten damit vor allem die propagandistischen Selbstinszenierungen faschistischer und kommunistischer Herrschaft.11
Gegen die Konzeption von der totalitären Diktatur sind zahlreiche Einwände vorgetragen worden, vor allem, daß sie die Unterschiede zwischen den kommunistischen und faschistischen Diktaturen bis zur Unkenntlichkeit verwische. Solche Vorwürfe aber waren schlecht begründet, denn Friedrich hatte nicht von den Zielen, sondern von den Praktiken der Macht gesprochen.12 Aber es gab auch überzeugende Kritik an der Totalitarismustheorie: Sie verwechsele die Ansprüche der modernen Diktaturen mit ihren tatsächlichen Praktiken, weil sie sich von den Selbstinszenierungen der Macht täuschen lasse, sie vermittle ein statisches Bild von der Herrschaft und sie habe über die Gesellschaft nur mitzuteilen, daß sie ein passives Opfer des totalen Staates gewesen sei. In der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus kam die Rede vom Ämterchaos auf, vom schwachen Diktator und von den gesellschaftlichen Nischen, die vom nationalsozialistischen Staat nicht unterworfen worden seien. Und auch die Zustimmung, die die Nationalsozialisten erfuhren, schien kein Beleg für die totale Beherrschung der Massen durch das Regime zu sein.13
In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Totalitarismustheorie auch in der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion in die Kritik. Die Bolschewiki hätten die Allmacht ihres Staates zwar unablässig behauptet und inszeniert, sie aber nicht ausgeübt, so lautete der Einwand, der gegen die Vorstellung vom totalen Staat vorgetragen wurde. Nirgendwo erreichte der stalinistische Staat eine totale Kontrolle über die Gesellschaften des Imperiums, und auch von der Beseelung der Untertanen durch die bolschewistische Ideologie konnte wenigstens jenseits der größeren Städte keine Rede sein. Nicht einmal im nationalsozialistischen Deutschland, das im Gegensatz zur Sowjetunion immerhin eine moderne Industrienation war, gab es eine totale Kontrolle der Gesellschaft. Man müsse sich deshalb, so haben die Kritiker gefordert, von der Vorstellung des totalen Staates verabschieden.14 Vielmehr komme es darauf an, die gesellschaftlichen Umstände zu beschreiben, unter denen sich die stalinistische Ordnung entfalten konnte.
Die sogenannten «Revisionisten» wollten, was auch sie Stalinismus nannten, aus der Perspektive der Gesellschaft, «von unten» verstehen. Was war damit gemeint? Man müsse sich dem Geschehen in der Gesellschaft, in Dörfern, Fabriken und Parteizellen zuwenden, um zu begreifen, daß die Kontrollansprüche des Staates an der Wirklichkeit zerbrachen. Was Stalinismus genannt werden könne, sei in Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Prozeß gewesen, den die bolschewistische Führung zu keiner Zeit kontrolliert habe. Nicht der Wille Stalins, und auch nicht das Programm der Bolschewiki, sondern der Ehrgeiz von Aufsteigern und Profiteuren, der Neid und die Unzufriedenheit von Denunzianten und der Machtkampf zwischen Interessengruppen, Verbänden und rivalisierenden Parteikomitees hätten das stalinistische System hervorgebracht. Deshalb sei der Stalinismus nicht nur «von unten» gekommen, sondern auch «von unten» gestützt worden. Die Revisionisten entdeckten also eine Sowjetunion, die nicht totalitär war.
Natürlich wird niemand bestreiten, daß das Regime keine Kontrolle über die zahlreichen Gesellschaften des Imperiums und ihre Lebensweisen ausübte, daß es an Kommunisten, Geheimpolizisten und Justizbeamten fehlte, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Auch wird niemand in Abrede stellen, daß sich die Gewalt aus lokalen Zwängen hervorbrachte, daß die regionalen Parteiführer Gewalt in vorauseilendem Gehorsam ins Werk setzten und «dem Führer entgegenarbeiteten».15 Zahlreichen Menschen ermöglichte Stalins Revolution sozialen Aufstieg, materielles Auskommen und Machtgewinn. Und sie band diese Profiteure an das Regime und seine Ziele. Es gab Mitläufer und überzeugte Kommunisten, die aus eigener Initiative exekutierten, was die politische Führung ihnen nicht einmal abverlangt hatte. Nikita Chruschtschow, Leonid Breschnew, Alexei Kosygin und andere, die in den dreißiger Jahren Karriereleitern erklommen, waren nicht nur Geschöpfe der Mobilisierungsdiktatur. Sie waren auch ihre Stützen.16
In diesem Bild verschwimmt der Charakter der stalinistischen Diktatur allerdings bis zur Unkenntlichkeit. Manche Revisionisten bestritten überhaupt, daß es eine zentrale Strategie für die systematische Veränderung und Terrorisierung der Sowjetunion gegeben habe. Ihnen galten Stalin und seine Helfer allenfalls als Getriebene, die nur zu Reaktionen, nicht aber zu entschlossenem Handeln imstande waren. Können wir uns die millionenfache Ermordung von Menschen als einen ungesteuerten Prozeß vorstellen, in dem sich die Untertanen selbst und freiwillig terrorisierten? Kamen die Massentötungen, die Vertreibung von Völkern und das System der Zwangsarbeitslager «von unten»? Soll man wirklich glauben, die Kollektivierung, die Kulturrevolution und die Schrecken des Großen Terrors hätten sich aus Initiativen übereifriger Kommunisten und aus sozialen Konflikten hervorgebracht? Müßte man nicht auch nach den Voraussetzungen und Handlungsspielräumen fragen, die Menschen dazu bringen, anderen Menschen Gewalt anzutun? Auf diese Fragen fand die revisionistische Geschichte des Stalinismus keine befriedigende Antwort. Vor allem aber hatte sie über die Gewalt und ihre Verursacher überhaupt nichts von Belang mitzuteilen. In ihrer Deutung hätte sich auch ohne Stalin und seine Helfer alles so zutragen können, wie es sich zutrug.
Nun sprechen aber die Primitivität von Institutionen und die Abwesenheit des Diktators im lokalen Entscheidungsprozeß überhaupt nicht gegen die Möglichkeit, Terror einer zentralen Kontrolle zu unterwerfen. Denn wie soll man sonst verstehen, daß selbst der Massenterror des Jahres 1937 durch einen einfachen Zuruf Stalins offenbar mühelos beendet werden konnte?17 Ohne den Willen der politischen Führung, Gewalt als Mittel der Politik ins Spiel zu bringen, wird man die Situation gar nicht erfassen, in der sich Menschen in reißende Wölfe verwandelten. In diesen Kontext gehören auch die ideologischen Rechtfertigungen, die es Tätern wie Opfern ermöglichten, der Gewalt einen Sinn zu geben, sie zu rationalisieren und auf diese Weise den alltäglichen Wahnsinn erträglich zu machen.
Das Regime konnte seinen Anspruch, totale Herrschaft auszuüben und in jeden Winkel des Vielvölkerreiches zu tragen, nicht durchsetzen. Aber die Bolschewiki hielten an der Durchsetzung dieses Anspruchs unbeirrt fest, auch wenn er Tag für Tag widerlegt wurde.18 In diesem Bestreben, die Welt auf den Kopf zu stellen und Feinde aus ihr zu entfernen, wurden die öffentliche und die private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet. Die Suche nach Feinden, die Erzwingung von blindem Gehorsam und Konformität, die Mobilisierung von Zustimmung und Ressentiments und die Verbreitung von Furcht und Schrecken: das alles wurde zu einem Teil jener politischen Kultur, die stalinistisch genannt werden kann.
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© Verlag C.H.Beck oHG, München
Im ersten Band seines «Archipel Gulag» erzählt Alexander Solschenizyn folgende Episode aus dem Jahr 1937, dem Jahr des Großen Terrors:
«Eine Bezirksparteikonferenz (im Moskauer Gebiet) ... Den Vorsitz führt der neue Bezirkssekretär anstelle des sitzenden früheren. Am Ende wird ein Schreiben an Stalin angenommen, Treuebekenntnisse und so weiter. Selbstredend stehen alle auf (wie auch jedesmal sonst der Saal aufspringt, wenn sein Name fällt). Im kleinen Saal braust ‹stürmischer, in Ovationen übergehender Applaus› auf. Drei Minuten, vier Minuten, fünf Minuten - noch immer ist er stürmisch und geht noch immer in Ovationen über. Doch die Hände schmerzen bereits. Die erhobenen Arme erlahmen. Die Älteren schnappen nach Luft. Und es wird das Ganze unerträglich dumm selbst für Leute, die Stalin aufrichtig verehren. Aber: wer wagt es als erster? Aufhören könnte der erste Bezirkssekretär. Doch er ist ein Neuling, er steht hier anstelle des Sitzenden, er hat selber Angst! Denn im Saal stehen und klatschen auch NKWD-Leute, die passen schon auf, wer als erster aufgibt! ... Im kleinen, unbedeutenden Saal wird geklatscht ... und Väterchen kann's gar nicht hören ... 6 Minuten! 7 Minuten! 8 Minuten! ... Sie sind verloren! Zugrunde gerichtet! Sie können nicht mehr aufhören, bis das Herz zerspringt! Hinten, in der Tiefe des Saales, im Gedränge, kann einer noch schwindeln, einmal aussetzen, weniger Kraft, weniger Rage hineinlegen - aber nicht im Präsidium, nicht vor aller Augen! Der Direktor der Papierfabrik, ein starker und unabhängiger Mann, steht im Präsidium, begreift die Verlogenheit, die Ausweglosigkeit der Situation - und applaudiert - 9 Minuten! 10! Er wirft sehnsüchtige Blicke auf den Sekretär, doch der wagt es nicht. Verrückt! Total verrückt! Sie schielen mit schwacher Hoffnung einer zum anderen, unentwegt Begeisterung auf den Gesichtern, sie klatschen und werden klatschen, bis sie hinfallen, bis man sie auf Tragbahren hinausbringt! Und auch dann werden die Zurückgebliebenen nicht aufgeben! ... Und so setzt der Direktor in der elften Minute eine geschäftige Miene auf und läßt sich in seinen Sessel im Präsidium fallen. Und - o Wunder! - wo ist der allgemeine, ungestüme und unbeschreibliche Enthusiasmus geblieben? Wie ein Mann hören sie mitten in der Bewegung auf und plumpsen ebenfalls nieder. Sie sind gerettet! Der Bann ist gebrochen! ... Allein, an solchen Taten werden unabhängige Leute erkannt. Erkannt und festgenagelt: In selbiger Nacht wird der Direktor verhaftet. Mit Leichtigkeit werden ihm aus ganz anderem Anlaß zehn Jahre verpaßt. Doch nach Unterzeichnung des abschließenden Untersuchungsprotokolls vergißt der Untersuchungsrichter nicht die Mahnung: ‹Und hören Sie in Zukunft nie als erster mit dem Klatschen auf.›»1
Was Alexander Solschenizyn beschrieb, war Realität für Hunderttausende Menschen in der Sowjetunion des Jahres 1937: ein kollektives Irrenhaus, in dem Menschen sich verhielten, als hätten sie jeden Bezug zur Normalität verloren und alle sozialen Beziehungen aufgegeben. Jedermann konnte jederzeit Opfer des staatlich organisierten Terrors werden: als Mitglied einer stigmatisierten sozialen oder ethnischen Gruppe, durch Denunziation oder Zufall, oder weil es dem Diktator gefiel, Menschen zu töten und in Angst und Schrecken zu versetzen. Im Ausnahmezustand wurde das Denkbare zum Machbaren, der Terror grenzenlos, und die Gewalt löste sich von den Anlässen, die sie einst ausgelöst hatten. Sie wurde zur Normalität, für die Machthaber ebenso wie für die Untertanen. Im Ausnahmezustand, den der Diktator über das Land verhängt hatte, zerfielen alle sozialen Sicherungssysteme, die es Menschen unter friedlichen Umständen ermöglichen, sich vor Gewalt und willkürlicher Verfolgung zu schützen.
Für Kommunisten, die vom Anbruch einer neuen Zeit träumten, war die Gewalt ein unverzichtbares Instrument der Disziplinierung und Umerziehung unzivilisierter Bauernmassen. Für viele Opfer war sie das Ende von allem, weil sie Erwartungssicherheit, Rechtssicherheit und Vertrauen zerstörte, ohne die es ein Leben in der Gesellschaft nicht geben kann. Eine «Religion des Hasses, des Neids, der Feindschaft zwischen den Menschen» sei der Bolschewismus, schrieben Bauern aus dem Gebiet Kalinin, dem ehemaligen Twer, die sich im Jahr 1930 über ihre Erfahrungen mit den bewaffneten Organen des Sowjetstaates beklagten.2 Sie sprachen aus, was Millionen täglich als Wirklichkeit erlebten. In der Sowjetunion Stalins konnten Menschen nach Belieben stigmatisiert, in Angst und Schrecken versetzt oder getötet werden, wenn die Schergen des Regimes danach verlangten. Die Zerstörungswut des Stalinismus kannte keine Grenzen, nicht einmal die Partei war am Ende noch ein Ort der Zuflucht. Sie zerstörte sich selbst, als die Säuberungen der dreißiger Jahre sich zu blutigem Terror potenzierten. Und es war Stalin, der die Destruktion unablässig ins Werk setzen ließ, weil er sich davon eine Totalisierung seiner eigenen Macht versprach.
Nicht einmal nach dem Ende des Großen Terrors kam die sowjetische Gesellschaft zur Ruhe. Denn auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges bekämpfte das Regime seine vermeintlichen Feinde mit exzessiver Gewalt: kriegsmüde Soldaten, Deserteure, Flüchtlinge und nationale Minoritäten, die es verdächtigte, mit dem deutschen Aggressor zu paktieren. Nach allem, was Stalin und seine Helfer ihren Untertanen schon angetan hatten, hatten sie Grund genug, mißtrauisch zu sein. Sie kultivierten den Terror als Herrschaftsstil, weil sie sich keine Ordnung vorstellen konnten, die Gehorsam ohne Androhung und Anwendung von Gewalt erzwang.
Während des Krieges wuchs der Terror über die Grenzen des sowjetischen Imperiums hinaus. Er verwüstete aber nicht nur die von der Roten Armee besetzten Nachbarländer. Auch im Inneren der Sowjetunion feierte die Gewalt ungeahnte Triumphe: Das Regime sperrte aus deutscher Gefangenschaft zurückkehrende Soldaten und Zwangsarbeiter in Konzentrationslager, es nahm den Krieg gegen Bauern und ethnische Minderheiten wieder auf und zerstörte alle Hoffnungen, das Ende des Krieges werde auch das Ende der Gewalt sein. «Wir alle waren wie Kaninchen», erinnerte sich der Drehbuchautor Waleri Frid, «die das Recht der Schlange, uns zu verschlingen, akzeptierten.»3 Stalins Terror verwandelte Millionen Menschen in seelische Krüppel, weil er sie zwang, sich in einer Ordnung des Mißtrauens und der Furcht einzurichten. Die soziale Ordnung des Stalinismus war eine Ordnung dauerhaft er Gewalt. In ihr konnte nur überleben, wer die Regeln und Überlebenstechniken beherrschte, auf denen diese Ordnung beruhte. Erst als der Despot im März 1953 starb, konnten seine Nachfolger das Spiel mit der Gewalt beenden.
Dieses Buch spricht von den gewalttätigen Exzessen des Stalinismus und der Kultur, die sie ermöglichte. Deshalb wird in ihm auch keine Geschichte der Sowjetunion, sondern eine Geschichte des Stalinismus erzählt.4 Vieles, was in einer Geschichte der Sowjetunion unverzichtbar gewesen wäre, hat in einer Geschichte der Gewalt keinen Platz. Auch über den Kommunismus als Ideologie hat dieses Buch nur wenig mitzuteilen. Denn der stalinistische Terror wurde zwar im Namen kommunistischer Ideen und Vorstellungen begründet und gerechtfertigt, aber nicht motiviert. Für Kommunisten haben sich im 20. Jahrhundert viele Machthaber gehalten, ohne daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, aus solchem Bekenntnis eine Lizenz zum Massenmord abzuleiten. Manche terroristischen Regime haben sich auf den Kommunismus berufen, aber nicht alle kommunistischen Regime waren terroristisch, wie zuletzt Stéphane Courtois im Vorwort zum «Schwarzbuch des Kommunismus» suggerierte.5 Die stalinistische Ordnung wurde von der Allgegenwart des Terrors beherrscht. Aber wie ist dieser Terror zu verstehen? Woher kam die Gewalt, mit der die Machthaber die Gesellschaften des sowjetischen Vielvölkerimperiums überzogen? Und welche Verheerungen richtete sie an? Darauf möchte dieses Buch eine Antwort geben.6
Die Gewalttaten des Stalinismus wurden nicht aus Texten oder Ideen hervorgebracht. Sie entstanden an historischen Orten, die ihre epidemische Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten. Deshalb waren die kommunistischen Regime verschieden. Und dennoch haben alle bisherigen Versuche, die Essenz des Stalinismus zu bestimmen, von den gesellschaftlichen und kulturellen Umständen abgesehen, unter denen die Gewaltexzesse ihre Form gewannen. Immerhin hatten die Vordenker der Totalitarismustheorie, Hannah Arendt und Carl J. Friedrich, die Beobachtung gemacht, daß sich die faschistischen und kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts von allen anderen Formen autoritärer und autokratischer Herrschaft unterschieden. «Die totalitäre Diktatur ist eine neuartige Entwicklung, noch nie hat es etwas ihr wirklich Entsprechendes in der Vergangenheit gegeben», schrieb Friedrich in seinem unmittelbar nach Stalins Tod erschienenen Buch über die Diktatur neuen Typs.7 Friedrich war ein Zeitgenosse jener Diktaturen, deren Eigenschaften er zu beschreiben versuchte. Als das Buch über die totalitäre Diktatur erschien, hatte die Entstalinisierung in der Sowjetunion noch nicht begonnen. Friedrich hatte also kein Wissen vom Ende jenes Stalinismus, den er als Diktatur totalitären Typs beschrieb. Deshalb sei, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb, nicht zu erkennen, «daß sich in der Sowjetunion oder im totalitären System etwas Entscheidendes geändert hat».8 Wir wissen es natürlich besser, aber wir können dieses Wissen nicht gegen Friedrichs Analyse der totalitären Diktatur verwenden.
Gleichwohl waren totalitäre Diktaturen für Friedrich auch keine «statischen, fest umrissenen Gebilde». Sie seien im Gegenteil einer «ständigen Entwicklung unterworfen», sie entstünden weder zwangsläufig noch müßten sie für immer und ewig bleiben, was sie waren.9 «Es ist zu vermuten», so Friedrich, «daß, wenn in England oder Frankreich eine kommunistische Diktatur errichtet würde, viele Einrichtungen der liberalen Ära lange Zeit fortdauern würden.»10 Aber diese Einsicht widersprach allem, was in seinen Texten über die Wirklichkeit der stalinistischen Diktatur gesagt wurde. Sowohl Arendt als auch Friedrich sprachen vom totalen Staat, totaler Kontrolle und Unterwerfung und bestätigten damit vor allem die propagandistischen Selbstinszenierungen faschistischer und kommunistischer Herrschaft.11
Gegen die Konzeption von der totalitären Diktatur sind zahlreiche Einwände vorgetragen worden, vor allem, daß sie die Unterschiede zwischen den kommunistischen und faschistischen Diktaturen bis zur Unkenntlichkeit verwische. Solche Vorwürfe aber waren schlecht begründet, denn Friedrich hatte nicht von den Zielen, sondern von den Praktiken der Macht gesprochen.12 Aber es gab auch überzeugende Kritik an der Totalitarismustheorie: Sie verwechsele die Ansprüche der modernen Diktaturen mit ihren tatsächlichen Praktiken, weil sie sich von den Selbstinszenierungen der Macht täuschen lasse, sie vermittle ein statisches Bild von der Herrschaft und sie habe über die Gesellschaft nur mitzuteilen, daß sie ein passives Opfer des totalen Staates gewesen sei. In der Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus kam die Rede vom Ämterchaos auf, vom schwachen Diktator und von den gesellschaftlichen Nischen, die vom nationalsozialistischen Staat nicht unterworfen worden seien. Und auch die Zustimmung, die die Nationalsozialisten erfuhren, schien kein Beleg für die totale Beherrschung der Massen durch das Regime zu sein.13
In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Totalitarismustheorie auch in der Geschichtsschreibung über die Sowjetunion in die Kritik. Die Bolschewiki hätten die Allmacht ihres Staates zwar unablässig behauptet und inszeniert, sie aber nicht ausgeübt, so lautete der Einwand, der gegen die Vorstellung vom totalen Staat vorgetragen wurde. Nirgendwo erreichte der stalinistische Staat eine totale Kontrolle über die Gesellschaften des Imperiums, und auch von der Beseelung der Untertanen durch die bolschewistische Ideologie konnte wenigstens jenseits der größeren Städte keine Rede sein. Nicht einmal im nationalsozialistischen Deutschland, das im Gegensatz zur Sowjetunion immerhin eine moderne Industrienation war, gab es eine totale Kontrolle der Gesellschaft. Man müsse sich deshalb, so haben die Kritiker gefordert, von der Vorstellung des totalen Staates verabschieden.14 Vielmehr komme es darauf an, die gesellschaftlichen Umstände zu beschreiben, unter denen sich die stalinistische Ordnung entfalten konnte.
Die sogenannten «Revisionisten» wollten, was auch sie Stalinismus nannten, aus der Perspektive der Gesellschaft, «von unten» verstehen. Was war damit gemeint? Man müsse sich dem Geschehen in der Gesellschaft, in Dörfern, Fabriken und Parteizellen zuwenden, um zu begreifen, daß die Kontrollansprüche des Staates an der Wirklichkeit zerbrachen. Was Stalinismus genannt werden könne, sei in Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Prozeß gewesen, den die bolschewistische Führung zu keiner Zeit kontrolliert habe. Nicht der Wille Stalins, und auch nicht das Programm der Bolschewiki, sondern der Ehrgeiz von Aufsteigern und Profiteuren, der Neid und die Unzufriedenheit von Denunzianten und der Machtkampf zwischen Interessengruppen, Verbänden und rivalisierenden Parteikomitees hätten das stalinistische System hervorgebracht. Deshalb sei der Stalinismus nicht nur «von unten» gekommen, sondern auch «von unten» gestützt worden. Die Revisionisten entdeckten also eine Sowjetunion, die nicht totalitär war.
Natürlich wird niemand bestreiten, daß das Regime keine Kontrolle über die zahlreichen Gesellschaften des Imperiums und ihre Lebensweisen ausübte, daß es an Kommunisten, Geheimpolizisten und Justizbeamten fehlte, um die Bevölkerung zu kontrollieren. Auch wird niemand in Abrede stellen, daß sich die Gewalt aus lokalen Zwängen hervorbrachte, daß die regionalen Parteiführer Gewalt in vorauseilendem Gehorsam ins Werk setzten und «dem Führer entgegenarbeiteten».15 Zahlreichen Menschen ermöglichte Stalins Revolution sozialen Aufstieg, materielles Auskommen und Machtgewinn. Und sie band diese Profiteure an das Regime und seine Ziele. Es gab Mitläufer und überzeugte Kommunisten, die aus eigener Initiative exekutierten, was die politische Führung ihnen nicht einmal abverlangt hatte. Nikita Chruschtschow, Leonid Breschnew, Alexei Kosygin und andere, die in den dreißiger Jahren Karriereleitern erklommen, waren nicht nur Geschöpfe der Mobilisierungsdiktatur. Sie waren auch ihre Stützen.16
In diesem Bild verschwimmt der Charakter der stalinistischen Diktatur allerdings bis zur Unkenntlichkeit. Manche Revisionisten bestritten überhaupt, daß es eine zentrale Strategie für die systematische Veränderung und Terrorisierung der Sowjetunion gegeben habe. Ihnen galten Stalin und seine Helfer allenfalls als Getriebene, die nur zu Reaktionen, nicht aber zu entschlossenem Handeln imstande waren. Können wir uns die millionenfache Ermordung von Menschen als einen ungesteuerten Prozeß vorstellen, in dem sich die Untertanen selbst und freiwillig terrorisierten? Kamen die Massentötungen, die Vertreibung von Völkern und das System der Zwangsarbeitslager «von unten»? Soll man wirklich glauben, die Kollektivierung, die Kulturrevolution und die Schrecken des Großen Terrors hätten sich aus Initiativen übereifriger Kommunisten und aus sozialen Konflikten hervorgebracht? Müßte man nicht auch nach den Voraussetzungen und Handlungsspielräumen fragen, die Menschen dazu bringen, anderen Menschen Gewalt anzutun? Auf diese Fragen fand die revisionistische Geschichte des Stalinismus keine befriedigende Antwort. Vor allem aber hatte sie über die Gewalt und ihre Verursacher überhaupt nichts von Belang mitzuteilen. In ihrer Deutung hätte sich auch ohne Stalin und seine Helfer alles so zutragen können, wie es sich zutrug.
Nun sprechen aber die Primitivität von Institutionen und die Abwesenheit des Diktators im lokalen Entscheidungsprozeß überhaupt nicht gegen die Möglichkeit, Terror einer zentralen Kontrolle zu unterwerfen. Denn wie soll man sonst verstehen, daß selbst der Massenterror des Jahres 1937 durch einen einfachen Zuruf Stalins offenbar mühelos beendet werden konnte?17 Ohne den Willen der politischen Führung, Gewalt als Mittel der Politik ins Spiel zu bringen, wird man die Situation gar nicht erfassen, in der sich Menschen in reißende Wölfe verwandelten. In diesen Kontext gehören auch die ideologischen Rechtfertigungen, die es Tätern wie Opfern ermöglichten, der Gewalt einen Sinn zu geben, sie zu rationalisieren und auf diese Weise den alltäglichen Wahnsinn erträglich zu machen.
Das Regime konnte seinen Anspruch, totale Herrschaft auszuüben und in jeden Winkel des Vielvölkerreiches zu tragen, nicht durchsetzen. Aber die Bolschewiki hielten an der Durchsetzung dieses Anspruchs unbeirrt fest, auch wenn er Tag für Tag widerlegt wurde.18 In diesem Bestreben, die Welt auf den Kopf zu stellen und Feinde aus ihr zu entfernen, wurden die öffentliche und die private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet. Die Suche nach Feinden, die Erzwingung von blindem Gehorsam und Konformität, die Mobilisierung von Zustimmung und Ressentiments und die Verbreitung von Furcht und Schrecken: das alles wurde zu einem Teil jener politischen Kultur, die stalinistisch genannt werden kann.
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© Verlag C.H.Beck oHG, München
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Inhaltsverzeichnis zu „Verbrannte Erde “
VORWORTI. WAS WAR DER STALINISMUS?
II. IMPERIALE GEWALTRÄUME
1. Voraussetzungen
2. Revolutionen
3. Bürgerkriege
III. PYRRHUSSIEGE
1. Ökonomische Reformen
2. Der Staat im Dorf
3. Diktatur ohne Proletariat
4. Die Nationalisierung des Imperiums
5. Der Aufstieg Stalins
IV. UNTERWERFUNG
1. Neue Menschen
2. Feinde
3. Der Krieg gegen die Bauern
4. Todeszonen
5. Kommandowirtschaft
V. DIKTATUR DES SCHRECKENS
1. Macht und Gewalt
2. Die Unterwerfung der Parteielite
3. Die Zerstörung der Partei
4. Die Vernichtung des Offizierskorps
5. Die Selbstzerstörung des Staatsapparates
6. Die Allmacht des Despoten
7. Massenterror
8. Die nationalen Operationen
9. Das Ende des Massenterrors
10. Die Gewalt und ihre Situationen
VI. KRIEGE
1. Die Expansion der Gewalt
2. Der stalinistische Krieg
3. Krieg im Frieden
4. Götterdämmerung
VII. STALINS ERBEN
ANHANG
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Register
Autoren-Porträt von Jörg Baberowski
Jörg Baberowski, geb. 1961, ist Professor für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur russischen und sowjetischen Geschichte. 2012 erhielt er für sein Werk "Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt" den Preis der Leipziger Buchmesse.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Baberowski
- 2012, 3, 606 Seiten, 74 Abbildungen, Maße: 14,5 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406632548
- ISBN-13: 9783406632549
- Erscheinungsdatum: 09.02.2012
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