Vergeltung / Ermittlerin Rebekka Holm Bd.1
Thriller. Deutsche Erstausgabe
In einer dänischen Kleinstadt wird die junge Anna ermordet. Ermittlerin Rebekka Holm findet heraus, dass das Verbrechen an einen 20 Jahre zurückliegenden Mord erinnert. Gibt es einen Zusammenhang? Dann wird ein zweijähriges...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vergeltung / Ermittlerin Rebekka Holm Bd.1 “
In einer dänischen Kleinstadt wird die junge Anna ermordet. Ermittlerin Rebekka Holm findet heraus, dass das Verbrechen an einen 20 Jahre zurückliegenden Mord erinnert. Gibt es einen Zusammenhang? Dann wird ein zweijähriges Mädchen entführt. Ihr Name: Anna.
Klappentext zu „Vergeltung / Ermittlerin Rebekka Holm Bd.1 “
In einer warmen Sommernacht wird die junge Anna ermordet aufgefunden, nicht weit entfernt von ihrem Elternhaus in einer dänischen Kleinstadt. Die Polizei zieht die Sonderermittlerin Rebekka Holm hinzu. Die findet bald heraus, dass das Verbrechen bis in seine Einzelheiten an einen 20 Jahre zurückliegenden Mord an einer jungen Frau erinnert. Hat sich das Verbrechen von damals wiederholt? Hat Erik, Sohn des örtlichen Pfarrers, seine Freundin umgebracht? Doch dann wird ein zweijähriges Mädchen entführt. Ihr Name: Anna ...
Lese-Probe zu „Vergeltung / Ermittlerin Rebekka Holm Bd.1 “
Vergeltung von Julie Hastrup ... mehr
Die Nacht von Samstag, 25. August, auf Sonntag, 26. August
Das Fahrrad schlingerte so stark, dass es in Annas Bauch kribbelte, als sie den unebenen Waldweg hinunterfuhr. Sie musste laut lachen, und der Klang ihres Lachens zerriss die Stille des dunklen Waldes. Es nieselte, und sie stellte sich vor, wie die Baumkronen über ihr zu einem schützenden Regenschirm zusammenrückten. Sie schloss die Augen und radelte weiter, während sie ihren keuchenden Atem und das rhythmische Surren der Reifen vernahm, öffnete den Mund und ließ den Regen auf der Zunge zergehen. Die milde Nachtluft war feuchtigkeitsgeschwängert, es duftete nach frischer Erde, und Annas langes feuchtes Haar berührte sanft ihre nackten Schultern. In der Diskothek hatte sie ihren Spaß gehabt. Dieser dunkelhaarige Typ, Alex, war zwar schüchtern, aber süß gewesen. Sie hatte sich von seinem Aussehen nicht abschrecken lassen, hatte etwas Weiches hinter der harten Fassade erahnt. Als er sie nach ihrer Handynummer gefragt hatte, hatte sie sie auf eine Serviette gekritzelt und sie ihm mit einem koketten Lächeln hingeschoben. Er schien sich zu freuen, doch dann hatte sie ihm plötzlich die Serviette aus der Hand gerissen. Warum, wusste sie selbst nicht. Er hatte sie festgehalten, seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm, hart, aber nicht unangenehm, als wollte er sie beschützen. Tränen hatten in ihrer Kehle geprickelt, und sie hatte sich losgerissen. Er hatte sie nur verwundert angesehen, mit den Schultern gezuckt und auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie hätte es ihm gerne erklärt, war aber davon ausgegangen, dass er es nicht verstehen würde. Er war sofort in der dunklen, wogenden Menge aus Menschenkörpern verschwunden, doch seine Berührung hatte noch lange auf ihrer Haut gebrannt. Anna spürte einen harten Stoß, riss erschrocken die Augen auf und sah gerade noch, dass sie den Schlagbaum gerammt hatte, der den Fruerwald von dem kleinen Parkplatz direkt am Fjord trennte, bevor sie das Gleichgewicht verlor, auf dem Weg landete und unter ihrem Fahrrad begraben wurde. Ihr Knie brannte, sie spürte warmes Blut ihr Bein hinunterlaufen, und der rechte Ellenbogen tat weh. Sie rieb leicht darüber und richtete sich schwankend auf. Eine dunkle Wolke enthüllte einen bleichen Mond, und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht allein war. Sie hielt den Atem an, blieb still stehen und lauschte, hörte aber nur ihren eigenen hämmernden Puls und das schwache Rauschen des Fjords. »Ist da jemand?« Der Wind trug ihren Ruf davon und einige Sekunden stand sie unschlüssig da, unsicher, was sie tun sollte. Dann sprach sie sich gut zu. Natürlich war da niemand. Ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Sie bildete sich dauernd irgendetwas ein. Das sagte ihr Vater auch oft. In dem Gebüsch am Weg raschelte es. Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam, erahnte die kompakte Kontur eines Strauchs in der schwarzen Dunkelheit, konnte aber sonst nichts erkennen. Die Angst auf ihrer Haut fühlte sich an wie spitze kleine Nadeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, umfasste den Lenker fester und zog das Fahrrad an dem Schlagbaum vorbei. Auf halbem Weg stieß ihr Fuß gegen etwas Hartes. Sie beugte sich vor, um zu sehen, was es war. Ein großer Ast versperrte den Weg, und sie streckte den Arm aus, um ihn fortzuschieben. Der Schlag kam überraschend und hart. Anna fiel über den Ast, der sie an der Stirn erwischte. Etwas Warmes, Klebriges lief ihr über das Gesicht. Sie versuchte aufzustehen, bekam jedoch einen weiteren Schlag auf den Hinterkopf, und ihr Gesicht wurde auf den Boden gedrückt. Ihr Mund füllte sich mit Erde und kleinen Steinen, sie wollte laut schreien, aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie spürte den Atem eines Fremden dicht neben sich. Und den Duft von etwas Bekanntem. Ein weiterer harter Schlag. Ein lautes Knirschen. Jetzt lief ihr das Blut in den Mund. Übelkeit überrollte sie, und langsam wurde alles grau. Komm, komm, du musst hier weg. Sie wollte nach dem Ast greifen oder nach einem scharfen Stein, wollte sich verteidigen, kämpfen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie spürte im Rücken einen stechenden Schmerz. Wieder und wieder. Und hörte ein seltsames Röcheln. Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob das Röcheln nicht von ihr kam. Langsam verstummten alle Laute. Ihr letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde, war: »Jetzt sterbe ich«, und auf die eine oder andere Weise tröstete sie das. Jetzt konnte ihr niemand mehr etwas anhaben. Der Sonntag war ein schwarzer Tag, ein Tag voller Melancholie. Er kroch unter die Haut und erfüllte den Körper langsam mit einer Apathie, gegen die nur schwer anzukommen war. Rebekka hatte Sonntage gehasst, seit sie neun Jahre alt war. Seitdem hatte sie versucht, sie mit jeder Menge Aktivitäten vollzupacken oder, wenn es mit den Verabredungen nicht so klappte, sie zu verschlafen, damit der verhasste Tag so schnell wie möglich von einem weit vielversprechenderen Montag abgelöst wurde. Sie stand in ihrem geräumigen, neu eingerichteten Büro mit Aussicht auf das Tivoli und hatte ihren letzten Fall fast fertig archiviert. Sie stellte den schweren, grauen Ordner geräuschvoll ins Regal. Seit knapp drei Jahren gehörte sie zur mobilen Spezialeinheit der dänischen Reichspolizei. Als einzige Frau. Ein begehrter Job, der nur den tüchtigsten Polizisten offenstand. Sie und ihre Kollegen waren gut und gerne zweihundert Tage im Jahr unterwegs, um der Polizei vor Ort bei schwierigen Fällen zu helfen. Rebekka liebte ihre Arbeit. Ihr Chef, Torsten Krogh, hatte ihr mehrmals zu verstehen gegeben, wie zufrieden er mit ihrer Arbeit war, und auch von ihren Kollegen wurde sie als eine der »Jungs« akzeptiert. Ihr Ton untereinander war rau und der Zusammenhalt stark, und Rebekka fühlte sich zum ersten Mal als Teil einer Gemeinschaft. Sie sah sich zufrieden in ihrem Büro um. Sie hatte schon lange ein Auge auf den Raum geworfen. Er lag im fünften Stock und bot eine grandiose Aussicht auf die Attraktionen des Tivolis und den Rathausturm, und als er frei geworden war, hatte sie Torsten Krogh in den Ohren gelegen, ihn ihr zu geben. Genau genommen war das Büro zu groß für eine Person, vor allem wenn diese die meiste Zeit außer Haus arbeitete, doch Torsten Krogh war - zu ihrer großen Freude - ihrem Wunsch trotzdem nachgekommen. Rebekka seufzte leise, während sie die Nase gegen die kühle Fensterscheibe drückte und eine Taube beobachtete, die in der kühlen Morgensonne auf dem Fenstersims saß. Ihr Gurren war fast schon meditativ, und einen Moment verlor sie sich in ihren Gedanken. Vom Rathausturm schlug es deutlich elf Mal. Sie war heute früh aufgewacht, war erst eine Runde im Søndermarken gelaufen und dann ins Präsidium gefahren. Jetzt war der Papierkram erledigt, es gab hier für sie nichts mehr zu tun. Selbst die Blume auf dem hellen Schreibtisch hatte sie gegossen. Kurz streifte sie ein Gefühl von Einsamkeit, und sie wählte schnell Dortes Nummer. Die Freundin lud sie auf einen Kaffee ein und etwas optimistischer griff Rebekka nach ihrem Mantel und verließ das menschenleere Gebäude. Michael Bertelsen wurde von dem hartnäckigen Läuten des Telefons geweckt. Einen Moment wusste er nicht, ob es Tag oder Nacht war. Dann erinnerte er sich an den abendlichen Einsatz in der Disco in der Fußgängerzone und folgerte, dass es Tag sein musste, auch wenn er sich über die genaue Zeit nicht im Klaren war. Er tastete nach dem schnurlosen Telefon und fand es unter der zweiten, ordentlich zusammengefalteten Decke in dem breiten Doppelbett. »Bertelsen«, murmelte er in den Hörer, während er sich die Augen rieb. Sie gewöhnten sich langsam an das Licht, und er warf einen Blick auf den Radiowecker: 11.03 Uhr. »Michael, hier ist Teit. Im westlichen Teil des Fruerwalds, gleich bei dem Parkplatz ist eine junge Frau gefunden worden, ermordet. Anna Gudbergsen. Zweiundzwanzig Jahre.« Michael setzte sich verwirrt im Bett auf. »Was?« »Sie wurde niedergeschlagen und durch mehrere Messerstiche getötet. Auf den ersten Blick sieht es nach einem Sexualverbrechen aus. Thorkild Thøgersen untersucht gerade die Leiche. Komm, so schnell du kannst, hier raus.« Während Teit Jørgensen ihm genauere Informationen und Anweisungen gab, spritzte Michael sich Wasser ins Gesicht und unter die Arme. Dann hüpfte er auf einem Bein durch das Schlafzimmer und versuchte, Hose und Socken anzuziehen. »Gib mir zehn Minuten«, sagte er, »dann bin ich da.« Das Handy klingelte durchdringend, als Rebekka gerade das Auto vor Dortes kleinem Genossenschaftshaus einparkte. Es war ihr Chef, Torsten Krogh. »Rebekka. Hör zu. Eine junge Frau ist auf einem Waldweg in Westjütland ermordet worden. In einem Blutrausch mit dem Messer niedergestochen. Möglicherweise vergewaltigt. Ich schicke dich allein hin. Du weißt natürlich, dass so etwas eigentlich nicht zu unseren Aufgaben gehört, aber ein alter Freund, Kriminalkommissar Teit Jørgensen, hat mich um Hilfe gebeten, deshalb werde ich tun, was ich kann. Um die Technik kümmern sich die Kollegen aus Århus.« Rebekka spürte ein Kribbeln im Magen. Seit Inkrafttreten der neuen Polizeireform hatten sie nur noch selten mit den klassischen Mordfällen zu tun, für die die Spezialeinheit ursprünglich zuständig gewesen war. Jetzt waren ihre Aufgaben eher politisch ausgerichtet, was zur Folge hatte, dass die Ermittler bestimmten Bereichen wie Prostitution, Menschenhandel, Rockerszene und Bandenkriminalität eine höhere Priorität einräumen und die einzelnen Polizeidistrikte ihre Mordfälle trotz mangelnder Erfahrung selbst lösen mussten. Als Rebekka sich seinerzeit bei der Spezialeinheit beworben hatte, hatte sie vor allem das Interesse an den traditionellen Mordfällen zu diesem Schritt bewogen, und sie war bei Weitem nicht die einzige Ermittlerin, die über diese Entwicklung unglücklich war. »Wo genau in Jütland?«, fragte sie und bemühte sich, nicht übereifrig zu klingen. »In Ringkøbing.« Ringkøbing. Ringkøbing. Ringkøbing.
Kalte Angst durchfuhr Rebekka, vernebelte ihren Blick und ihr Mund wurde trocken. Wie von ferne nahm sie wahr, dass Torsten Krogh in irgendwelchen Papieren wühlte, während die Welt sich um sie zusammenzog. »Im Fruerwald. Man hat sie nahe dem westlichen Zugang zum Wald gefunden. Rebekka, Rebekka, bist du noch da?« Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Ich war nur etwas überrascht. Ich komme doch selbst aus Ringkøbing.« »Stimmt. Das trifft sich gut.« Torsten Krogh klang begeistert und versorgte sie noch mit weiteren Informationen, bevor er auflegte. Rebekka sank im Autositz in sich zusammen und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Ringkøbing, ausgerechnet. Sie hatte die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens in dieser Stadt verbracht und war bei der erstbesten Gelegenheit geflüchtet. Und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Ihre Eltern wohnten noch immer dort. In demselben gelben Reihenhaus mit dem Kiesweg davor, ein beharrliches Zeugnis aus einer anderen Zeit. Jemand klopfte gegen das Autofenster. Rebekka richtete sich verwirrt auf und sah durch die Scheibe Dortes fröhliches Gesicht. Sie öffnete die Autotür. »Was treibst du denn da? Bist du eingeschlafen?« »Ich muss nach Ringkøbing, jetzt sofort. Dort ist ein Mord passiert.« Sie schwankte fast aus dem Auto in die Arme von Dorte, die sie mit großen Augen anstarrte. »Arme Bekka. Das kannst du nicht machen. Die finden bestimmt jemand anderen. Ich meine ... wegen Robin und so.« Dorte drückte liebevoll ihren Arm. »Nein ... nein, ich muss das machen.« Rebekka nahm sich zusammen. »Das ist mein Fall, und ich muss jetzt los. Ich will jetzt los. Das ist nur so total verrückt. Ich meine, die ganzen Jahre habe ich alles Erdenkliche angestellt, um mich von dieser Stadt fernzuhalten, und jetzt bin ich plötzlich gezwungen zurückzukehren.« »Du hast keine Zeit mehr für einen Kaffee, oder?« »Nichts zu machen, das müssen wir nachholen.« »Okay, verstehe ... als die gute Polizistinnenfreundin, die ich bin«, lachte Dorte. Dann wurde sie ernst. »Wissen deine Eltern, dass du kommst?« »Nein. Ich habe es selbst gerade erst erfahren. Ich werde sie natürlich anrufen, mal sehen, was passiert, wenn ich da bin. Ich weiß nur, dass ich höllisch viel zu tun haben werde.«
Alles war rot. Michael trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er Anna Gudbergsens Leiche sah. Der Anblick war so unbeschreiblich makaber, dass ihm die Galle bis in den Mund stieg. Er konnte sie nicht ausspucken, musste sie wieder hinunterschlucken. Anna Gudbergsen lag auf einer kleinen Lichtung in dem dichten Gebüsch, das den Waldweg säumte. Sie lag auf dem Rücken, die Beine gespreizt, ein Arm schlaff neben dem Körper, der andere, den sie sich schützend vor das Gesicht gehalten hatte, verharrte steif in einer unnatürlichen Position. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, das bis über den Bauch hochgezogen war und ihren Unterleib bloßlegte. Ihr Seidenslip, der einmal weiß gewesen sein musste, war jetzt blutdurchtränkt und hing ihr um die schmalen Fesseln. Eine Sandale lag neben ihr, die andere saß am linken Fuß. Überall war dunkelrotes geronnenes Blut, und ihr langes blondes Haar war von dünnen Blutstreifen durchzogen und hatte sich in Blättern und Ästchen verheddert. An der linken Wange klaffte eine Wunde, Arme und Beine waren mit Blutstreifen überzogen, und Bauch und Unterleib wiesen tiefe, schwarze Einstiche auf, die von einem Messer herrühren mussten. Nur die Augen waren unverletzt. Anna Gudbergsens große grüne Augen starrten ausdruckslos in den Himmel. Michael schluckte. Schloss für einen Moment die Augen, um sich eine Verschnaufpause zu verschaffen, Kräfte zu sammeln und die vielen Eindrücke des Tatorts zu verdauen. Um ihn herum summte es vor Leben, mehrere Beamte teilten den Tatort in Felder auf. »Ganz schön brutal, was?« Er spürte, wie ihn jemand an der Schulter packte und sah seinem Freund und Kollegen David Johansen in die Augen. Michael nickte stumm. Die Luft war voller schwarzer Punkte, Schmeißfliegen, die emsig über der Leiche schwirrten. Es roch süßlich. Michael wurde erneut von einer heftigen Übelkeit übermannt und ermahnte sich, das Frühstück in Zukunft nicht mehr ausfallen zu lassen. Der Rechtsmediziner Thorkild Thøgersen, der kurz vor der Pensionierung stand, gesellte sich zu ihnen. »Århus ist im Anmarsch«, brummte er und kratzte sich die grauen Bartstoppeln. »Ich bin hier gleich fertig.« »Kannst du schon was sagen?« »Sie ist heute Nacht gestorben - irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens. Wie du siehst, hat die Leichenstarre in der Kiefermuskulatur und in Teilen des Oberkörpers bereits eingesetzt. Außerdem haben die Schmeißfliegen angefangen, Eier in die Wunden zu legen.« Michael beugte sich über die Leiche, sah die winzigen Punkte in den klaffenden Wunden und spürte umgehend den Drang, sich zu übergeben. Er schluckte schnell, und der alte Rechtsmediziner fuhr fort: »Jemand hat mehrere Male mit einem scharfen Gegenstand auf sie eingestochen, vermutlich mit einem ganz normalen, ungefähr fünfzehn bis zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser. Ich möchte wetten, dass es an die zwanzig Stiche sind. Thorkild Thøgersen schüttelte den Kopf und zeigte auf Anna. »Wenn man den Kopf vorsichtig dreht, sieht man deutlich, dass sie ein paar kräftige Schläge auf den Hinterkopf bekommen hat. Durch die langen Haare ist das schwer zu erkennen, aber das sieht ganz nach Gehirnmasse aus, die ausgetreten ist.« Michaels Blick folgte dem runzligen Finger, der auf eine gräuliche Masse zeigte, die den Waldboden bedeckte. Thorkild Thøgersen blickte ihn finster an und konstatierte: »Aber die eigentliche Todesursache lautet vermutlich Tod durch Erwürgen.« Michael runzelte überrascht die Stirn. »Guck mal.« Der Rechtsmediziner zeigte auf ihren Hals. Ein Großteil des dünnen Halses war mit eingetrocknetem Blut bedeckt, doch dort, wo die bloße Haut zu sehen war, erkannte das geschulte Auge eine Reihe kleiner blauer Blutergüsse. Michael nickte und hockte sich neben ihn. »Sieh dir mal ihre Augen an«, sagte Thorkild Thøgersen. »Siehst du die kleinen punktförmigen Blutungen? Ein weiterer Anhaltspunkt, dass sie erwürgt wurde. Mehrere der Messerstiche waren tief und tödlich, da hat jemand wirklich ganze Arbeit geleistet. Hinzu kommen die Schläge auf den Hinterkopf und das Strangulieren. Es wundert mich, dass der Täter, wie soll ich sagen, so gründlich vorgegangen ist, doch das muss ich glücklicherweise nicht verstehen, das ist euer Job. Hast du dir übrigens das Gebüsch angesehen?« Michael drehte den Kopf, sein Blick folgte Thøgersens Hand, und er sah die winzigen Blutspritzer auf den grünen Büschen und Pflanzen, die die Sonnenstrahlen wie Pailletten glitzern ließen. Thorkild Thøgersen kramte in den Taschen seines weißen Schutzanzugs und förderte eine vergilbte Packung GaJol zutage. Er öffnete sie und bot Michael davon an. »Vermutlich ist sie bei der Schranke niedergeschlagen worden. Ein großer Ast versperrt dort den Weg - vielleicht eine Falle -, dann hat der Täter sie ins Gebüsch gezerrt und sein Werk beendet. Okay, ich sehe zu, dass ich etwas zu essen bekomme, während ich auf Århus warte.« Thorkild Thøgersen erhob sich schwer aus seiner sitzenden Position, blieb einen Augenblick stehen und starrte gedankenverloren vor sich hin. »Das ist schon merkwürdig. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatten wir einen ähnlichen Mord. Ich war gerade von Odense hierhergekommen. Wie hieß die Frau noch? Lene ... Lene irgendwas. Sie ist gar nicht so weit von hier ermordet worden, etwas weiter den Fjord runter. Auf sie wurde auch mehrere Male mit einem Messer eingestochen. Das war mein erster Fall als Rechtsmediziner hier in der Stadt. Der hat Eindruck auf mich gemacht, das kannst du mir glauben.« Thorkild Thøgersen sah Michael verlegen an, der nickte und sich mit steifen Beinen erhob. Im Inneren verfluchte er seine schlechte Kondition. »Wurde der Mord aufgeklärt?« Thorkild Thøgersen schüttelte langsam den Kopf, hob die Hand zum Gruß und verließ mit müden Schritten den Tatort.
Rebekka drückte das Gaspedal durch, und der kleine Citroën schoss wie eine silberne Kugel über die Autobahn Richtung Ringkøbing. Die Sonne stand hoch am Himmel, und sie kramte in der offenen Tasche auf dem Beifahrersitz nach ihrer Sonnenbrille, setzte sie auf und drehte an dem knisternden Radio, bis sie einen Sender mit Popmusik gefunden hatte. Boyfriend, don't you touch my boyfriend, he's not your boyfriend, he's mine. Rebekka grölte den Text mit und spürte eine Mischung aus Aufgedrehtheit und Angst. Sie war auf dem Weg nach Ringkøbing, in die Stadt, die sie versucht hatte unter allen Umständen zu meiden. Die Provinzstadt mit den roten Häusern, der Kirche und dem Fjord als Symbolen der Kleinstadtidylle, nur dass Rebekkas Erfahrung alles andere als idyllisch war.
Übersetzung: Hanne Hammer
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2012 Piper Verlag GmbH, München
Die Nacht von Samstag, 25. August, auf Sonntag, 26. August
Das Fahrrad schlingerte so stark, dass es in Annas Bauch kribbelte, als sie den unebenen Waldweg hinunterfuhr. Sie musste laut lachen, und der Klang ihres Lachens zerriss die Stille des dunklen Waldes. Es nieselte, und sie stellte sich vor, wie die Baumkronen über ihr zu einem schützenden Regenschirm zusammenrückten. Sie schloss die Augen und radelte weiter, während sie ihren keuchenden Atem und das rhythmische Surren der Reifen vernahm, öffnete den Mund und ließ den Regen auf der Zunge zergehen. Die milde Nachtluft war feuchtigkeitsgeschwängert, es duftete nach frischer Erde, und Annas langes feuchtes Haar berührte sanft ihre nackten Schultern. In der Diskothek hatte sie ihren Spaß gehabt. Dieser dunkelhaarige Typ, Alex, war zwar schüchtern, aber süß gewesen. Sie hatte sich von seinem Aussehen nicht abschrecken lassen, hatte etwas Weiches hinter der harten Fassade erahnt. Als er sie nach ihrer Handynummer gefragt hatte, hatte sie sie auf eine Serviette gekritzelt und sie ihm mit einem koketten Lächeln hingeschoben. Er schien sich zu freuen, doch dann hatte sie ihm plötzlich die Serviette aus der Hand gerissen. Warum, wusste sie selbst nicht. Er hatte sie festgehalten, seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm, hart, aber nicht unangenehm, als wollte er sie beschützen. Tränen hatten in ihrer Kehle geprickelt, und sie hatte sich losgerissen. Er hatte sie nur verwundert angesehen, mit den Schultern gezuckt und auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie hätte es ihm gerne erklärt, war aber davon ausgegangen, dass er es nicht verstehen würde. Er war sofort in der dunklen, wogenden Menge aus Menschenkörpern verschwunden, doch seine Berührung hatte noch lange auf ihrer Haut gebrannt. Anna spürte einen harten Stoß, riss erschrocken die Augen auf und sah gerade noch, dass sie den Schlagbaum gerammt hatte, der den Fruerwald von dem kleinen Parkplatz direkt am Fjord trennte, bevor sie das Gleichgewicht verlor, auf dem Weg landete und unter ihrem Fahrrad begraben wurde. Ihr Knie brannte, sie spürte warmes Blut ihr Bein hinunterlaufen, und der rechte Ellenbogen tat weh. Sie rieb leicht darüber und richtete sich schwankend auf. Eine dunkle Wolke enthüllte einen bleichen Mond, und sie hatte das Gefühl, dass sie nicht allein war. Sie hielt den Atem an, blieb still stehen und lauschte, hörte aber nur ihren eigenen hämmernden Puls und das schwache Rauschen des Fjords. »Ist da jemand?« Der Wind trug ihren Ruf davon und einige Sekunden stand sie unschlüssig da, unsicher, was sie tun sollte. Dann sprach sie sich gut zu. Natürlich war da niemand. Ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Sie bildete sich dauernd irgendetwas ein. Das sagte ihr Vater auch oft. In dem Gebüsch am Weg raschelte es. Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch kam, erahnte die kompakte Kontur eines Strauchs in der schwarzen Dunkelheit, konnte aber sonst nichts erkennen. Die Angst auf ihrer Haut fühlte sich an wie spitze kleine Nadeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, umfasste den Lenker fester und zog das Fahrrad an dem Schlagbaum vorbei. Auf halbem Weg stieß ihr Fuß gegen etwas Hartes. Sie beugte sich vor, um zu sehen, was es war. Ein großer Ast versperrte den Weg, und sie streckte den Arm aus, um ihn fortzuschieben. Der Schlag kam überraschend und hart. Anna fiel über den Ast, der sie an der Stirn erwischte. Etwas Warmes, Klebriges lief ihr über das Gesicht. Sie versuchte aufzustehen, bekam jedoch einen weiteren Schlag auf den Hinterkopf, und ihr Gesicht wurde auf den Boden gedrückt. Ihr Mund füllte sich mit Erde und kleinen Steinen, sie wollte laut schreien, aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie spürte den Atem eines Fremden dicht neben sich. Und den Duft von etwas Bekanntem. Ein weiterer harter Schlag. Ein lautes Knirschen. Jetzt lief ihr das Blut in den Mund. Übelkeit überrollte sie, und langsam wurde alles grau. Komm, komm, du musst hier weg. Sie wollte nach dem Ast greifen oder nach einem scharfen Stein, wollte sich verteidigen, kämpfen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie spürte im Rücken einen stechenden Schmerz. Wieder und wieder. Und hörte ein seltsames Röcheln. Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob das Röcheln nicht von ihr kam. Langsam verstummten alle Laute. Ihr letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde, war: »Jetzt sterbe ich«, und auf die eine oder andere Weise tröstete sie das. Jetzt konnte ihr niemand mehr etwas anhaben. Der Sonntag war ein schwarzer Tag, ein Tag voller Melancholie. Er kroch unter die Haut und erfüllte den Körper langsam mit einer Apathie, gegen die nur schwer anzukommen war. Rebekka hatte Sonntage gehasst, seit sie neun Jahre alt war. Seitdem hatte sie versucht, sie mit jeder Menge Aktivitäten vollzupacken oder, wenn es mit den Verabredungen nicht so klappte, sie zu verschlafen, damit der verhasste Tag so schnell wie möglich von einem weit vielversprechenderen Montag abgelöst wurde. Sie stand in ihrem geräumigen, neu eingerichteten Büro mit Aussicht auf das Tivoli und hatte ihren letzten Fall fast fertig archiviert. Sie stellte den schweren, grauen Ordner geräuschvoll ins Regal. Seit knapp drei Jahren gehörte sie zur mobilen Spezialeinheit der dänischen Reichspolizei. Als einzige Frau. Ein begehrter Job, der nur den tüchtigsten Polizisten offenstand. Sie und ihre Kollegen waren gut und gerne zweihundert Tage im Jahr unterwegs, um der Polizei vor Ort bei schwierigen Fällen zu helfen. Rebekka liebte ihre Arbeit. Ihr Chef, Torsten Krogh, hatte ihr mehrmals zu verstehen gegeben, wie zufrieden er mit ihrer Arbeit war, und auch von ihren Kollegen wurde sie als eine der »Jungs« akzeptiert. Ihr Ton untereinander war rau und der Zusammenhalt stark, und Rebekka fühlte sich zum ersten Mal als Teil einer Gemeinschaft. Sie sah sich zufrieden in ihrem Büro um. Sie hatte schon lange ein Auge auf den Raum geworfen. Er lag im fünften Stock und bot eine grandiose Aussicht auf die Attraktionen des Tivolis und den Rathausturm, und als er frei geworden war, hatte sie Torsten Krogh in den Ohren gelegen, ihn ihr zu geben. Genau genommen war das Büro zu groß für eine Person, vor allem wenn diese die meiste Zeit außer Haus arbeitete, doch Torsten Krogh war - zu ihrer großen Freude - ihrem Wunsch trotzdem nachgekommen. Rebekka seufzte leise, während sie die Nase gegen die kühle Fensterscheibe drückte und eine Taube beobachtete, die in der kühlen Morgensonne auf dem Fenstersims saß. Ihr Gurren war fast schon meditativ, und einen Moment verlor sie sich in ihren Gedanken. Vom Rathausturm schlug es deutlich elf Mal. Sie war heute früh aufgewacht, war erst eine Runde im Søndermarken gelaufen und dann ins Präsidium gefahren. Jetzt war der Papierkram erledigt, es gab hier für sie nichts mehr zu tun. Selbst die Blume auf dem hellen Schreibtisch hatte sie gegossen. Kurz streifte sie ein Gefühl von Einsamkeit, und sie wählte schnell Dortes Nummer. Die Freundin lud sie auf einen Kaffee ein und etwas optimistischer griff Rebekka nach ihrem Mantel und verließ das menschenleere Gebäude. Michael Bertelsen wurde von dem hartnäckigen Läuten des Telefons geweckt. Einen Moment wusste er nicht, ob es Tag oder Nacht war. Dann erinnerte er sich an den abendlichen Einsatz in der Disco in der Fußgängerzone und folgerte, dass es Tag sein musste, auch wenn er sich über die genaue Zeit nicht im Klaren war. Er tastete nach dem schnurlosen Telefon und fand es unter der zweiten, ordentlich zusammengefalteten Decke in dem breiten Doppelbett. »Bertelsen«, murmelte er in den Hörer, während er sich die Augen rieb. Sie gewöhnten sich langsam an das Licht, und er warf einen Blick auf den Radiowecker: 11.03 Uhr. »Michael, hier ist Teit. Im westlichen Teil des Fruerwalds, gleich bei dem Parkplatz ist eine junge Frau gefunden worden, ermordet. Anna Gudbergsen. Zweiundzwanzig Jahre.« Michael setzte sich verwirrt im Bett auf. »Was?« »Sie wurde niedergeschlagen und durch mehrere Messerstiche getötet. Auf den ersten Blick sieht es nach einem Sexualverbrechen aus. Thorkild Thøgersen untersucht gerade die Leiche. Komm, so schnell du kannst, hier raus.« Während Teit Jørgensen ihm genauere Informationen und Anweisungen gab, spritzte Michael sich Wasser ins Gesicht und unter die Arme. Dann hüpfte er auf einem Bein durch das Schlafzimmer und versuchte, Hose und Socken anzuziehen. »Gib mir zehn Minuten«, sagte er, »dann bin ich da.« Das Handy klingelte durchdringend, als Rebekka gerade das Auto vor Dortes kleinem Genossenschaftshaus einparkte. Es war ihr Chef, Torsten Krogh. »Rebekka. Hör zu. Eine junge Frau ist auf einem Waldweg in Westjütland ermordet worden. In einem Blutrausch mit dem Messer niedergestochen. Möglicherweise vergewaltigt. Ich schicke dich allein hin. Du weißt natürlich, dass so etwas eigentlich nicht zu unseren Aufgaben gehört, aber ein alter Freund, Kriminalkommissar Teit Jørgensen, hat mich um Hilfe gebeten, deshalb werde ich tun, was ich kann. Um die Technik kümmern sich die Kollegen aus Århus.« Rebekka spürte ein Kribbeln im Magen. Seit Inkrafttreten der neuen Polizeireform hatten sie nur noch selten mit den klassischen Mordfällen zu tun, für die die Spezialeinheit ursprünglich zuständig gewesen war. Jetzt waren ihre Aufgaben eher politisch ausgerichtet, was zur Folge hatte, dass die Ermittler bestimmten Bereichen wie Prostitution, Menschenhandel, Rockerszene und Bandenkriminalität eine höhere Priorität einräumen und die einzelnen Polizeidistrikte ihre Mordfälle trotz mangelnder Erfahrung selbst lösen mussten. Als Rebekka sich seinerzeit bei der Spezialeinheit beworben hatte, hatte sie vor allem das Interesse an den traditionellen Mordfällen zu diesem Schritt bewogen, und sie war bei Weitem nicht die einzige Ermittlerin, die über diese Entwicklung unglücklich war. »Wo genau in Jütland?«, fragte sie und bemühte sich, nicht übereifrig zu klingen. »In Ringkøbing.« Ringkøbing. Ringkøbing. Ringkøbing.
Kalte Angst durchfuhr Rebekka, vernebelte ihren Blick und ihr Mund wurde trocken. Wie von ferne nahm sie wahr, dass Torsten Krogh in irgendwelchen Papieren wühlte, während die Welt sich um sie zusammenzog. »Im Fruerwald. Man hat sie nahe dem westlichen Zugang zum Wald gefunden. Rebekka, Rebekka, bist du noch da?« Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Ich war nur etwas überrascht. Ich komme doch selbst aus Ringkøbing.« »Stimmt. Das trifft sich gut.« Torsten Krogh klang begeistert und versorgte sie noch mit weiteren Informationen, bevor er auflegte. Rebekka sank im Autositz in sich zusammen und starrte mit leeren Augen vor sich hin. Ringkøbing, ausgerechnet. Sie hatte die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens in dieser Stadt verbracht und war bei der erstbesten Gelegenheit geflüchtet. Und seitdem nicht mehr zurückgekehrt. Ihre Eltern wohnten noch immer dort. In demselben gelben Reihenhaus mit dem Kiesweg davor, ein beharrliches Zeugnis aus einer anderen Zeit. Jemand klopfte gegen das Autofenster. Rebekka richtete sich verwirrt auf und sah durch die Scheibe Dortes fröhliches Gesicht. Sie öffnete die Autotür. »Was treibst du denn da? Bist du eingeschlafen?« »Ich muss nach Ringkøbing, jetzt sofort. Dort ist ein Mord passiert.« Sie schwankte fast aus dem Auto in die Arme von Dorte, die sie mit großen Augen anstarrte. »Arme Bekka. Das kannst du nicht machen. Die finden bestimmt jemand anderen. Ich meine ... wegen Robin und so.« Dorte drückte liebevoll ihren Arm. »Nein ... nein, ich muss das machen.« Rebekka nahm sich zusammen. »Das ist mein Fall, und ich muss jetzt los. Ich will jetzt los. Das ist nur so total verrückt. Ich meine, die ganzen Jahre habe ich alles Erdenkliche angestellt, um mich von dieser Stadt fernzuhalten, und jetzt bin ich plötzlich gezwungen zurückzukehren.« »Du hast keine Zeit mehr für einen Kaffee, oder?« »Nichts zu machen, das müssen wir nachholen.« »Okay, verstehe ... als die gute Polizistinnenfreundin, die ich bin«, lachte Dorte. Dann wurde sie ernst. »Wissen deine Eltern, dass du kommst?« »Nein. Ich habe es selbst gerade erst erfahren. Ich werde sie natürlich anrufen, mal sehen, was passiert, wenn ich da bin. Ich weiß nur, dass ich höllisch viel zu tun haben werde.«
Alles war rot. Michael trat unwillkürlich einen Schritt zurück, als er Anna Gudbergsens Leiche sah. Der Anblick war so unbeschreiblich makaber, dass ihm die Galle bis in den Mund stieg. Er konnte sie nicht ausspucken, musste sie wieder hinunterschlucken. Anna Gudbergsen lag auf einer kleinen Lichtung in dem dichten Gebüsch, das den Waldweg säumte. Sie lag auf dem Rücken, die Beine gespreizt, ein Arm schlaff neben dem Körper, der andere, den sie sich schützend vor das Gesicht gehalten hatte, verharrte steif in einer unnatürlichen Position. Sie trug ein geblümtes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, das bis über den Bauch hochgezogen war und ihren Unterleib bloßlegte. Ihr Seidenslip, der einmal weiß gewesen sein musste, war jetzt blutdurchtränkt und hing ihr um die schmalen Fesseln. Eine Sandale lag neben ihr, die andere saß am linken Fuß. Überall war dunkelrotes geronnenes Blut, und ihr langes blondes Haar war von dünnen Blutstreifen durchzogen und hatte sich in Blättern und Ästchen verheddert. An der linken Wange klaffte eine Wunde, Arme und Beine waren mit Blutstreifen überzogen, und Bauch und Unterleib wiesen tiefe, schwarze Einstiche auf, die von einem Messer herrühren mussten. Nur die Augen waren unverletzt. Anna Gudbergsens große grüne Augen starrten ausdruckslos in den Himmel. Michael schluckte. Schloss für einen Moment die Augen, um sich eine Verschnaufpause zu verschaffen, Kräfte zu sammeln und die vielen Eindrücke des Tatorts zu verdauen. Um ihn herum summte es vor Leben, mehrere Beamte teilten den Tatort in Felder auf. »Ganz schön brutal, was?« Er spürte, wie ihn jemand an der Schulter packte und sah seinem Freund und Kollegen David Johansen in die Augen. Michael nickte stumm. Die Luft war voller schwarzer Punkte, Schmeißfliegen, die emsig über der Leiche schwirrten. Es roch süßlich. Michael wurde erneut von einer heftigen Übelkeit übermannt und ermahnte sich, das Frühstück in Zukunft nicht mehr ausfallen zu lassen. Der Rechtsmediziner Thorkild Thøgersen, der kurz vor der Pensionierung stand, gesellte sich zu ihnen. »Århus ist im Anmarsch«, brummte er und kratzte sich die grauen Bartstoppeln. »Ich bin hier gleich fertig.« »Kannst du schon was sagen?« »Sie ist heute Nacht gestorben - irgendwann zwischen zwei und vier Uhr morgens. Wie du siehst, hat die Leichenstarre in der Kiefermuskulatur und in Teilen des Oberkörpers bereits eingesetzt. Außerdem haben die Schmeißfliegen angefangen, Eier in die Wunden zu legen.« Michael beugte sich über die Leiche, sah die winzigen Punkte in den klaffenden Wunden und spürte umgehend den Drang, sich zu übergeben. Er schluckte schnell, und der alte Rechtsmediziner fuhr fort: »Jemand hat mehrere Male mit einem scharfen Gegenstand auf sie eingestochen, vermutlich mit einem ganz normalen, ungefähr fünfzehn bis zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser. Ich möchte wetten, dass es an die zwanzig Stiche sind. Thorkild Thøgersen schüttelte den Kopf und zeigte auf Anna. »Wenn man den Kopf vorsichtig dreht, sieht man deutlich, dass sie ein paar kräftige Schläge auf den Hinterkopf bekommen hat. Durch die langen Haare ist das schwer zu erkennen, aber das sieht ganz nach Gehirnmasse aus, die ausgetreten ist.« Michaels Blick folgte dem runzligen Finger, der auf eine gräuliche Masse zeigte, die den Waldboden bedeckte. Thorkild Thøgersen blickte ihn finster an und konstatierte: »Aber die eigentliche Todesursache lautet vermutlich Tod durch Erwürgen.« Michael runzelte überrascht die Stirn. »Guck mal.« Der Rechtsmediziner zeigte auf ihren Hals. Ein Großteil des dünnen Halses war mit eingetrocknetem Blut bedeckt, doch dort, wo die bloße Haut zu sehen war, erkannte das geschulte Auge eine Reihe kleiner blauer Blutergüsse. Michael nickte und hockte sich neben ihn. »Sieh dir mal ihre Augen an«, sagte Thorkild Thøgersen. »Siehst du die kleinen punktförmigen Blutungen? Ein weiterer Anhaltspunkt, dass sie erwürgt wurde. Mehrere der Messerstiche waren tief und tödlich, da hat jemand wirklich ganze Arbeit geleistet. Hinzu kommen die Schläge auf den Hinterkopf und das Strangulieren. Es wundert mich, dass der Täter, wie soll ich sagen, so gründlich vorgegangen ist, doch das muss ich glücklicherweise nicht verstehen, das ist euer Job. Hast du dir übrigens das Gebüsch angesehen?« Michael drehte den Kopf, sein Blick folgte Thøgersens Hand, und er sah die winzigen Blutspritzer auf den grünen Büschen und Pflanzen, die die Sonnenstrahlen wie Pailletten glitzern ließen. Thorkild Thøgersen kramte in den Taschen seines weißen Schutzanzugs und förderte eine vergilbte Packung GaJol zutage. Er öffnete sie und bot Michael davon an. »Vermutlich ist sie bei der Schranke niedergeschlagen worden. Ein großer Ast versperrt dort den Weg - vielleicht eine Falle -, dann hat der Täter sie ins Gebüsch gezerrt und sein Werk beendet. Okay, ich sehe zu, dass ich etwas zu essen bekomme, während ich auf Århus warte.« Thorkild Thøgersen erhob sich schwer aus seiner sitzenden Position, blieb einen Augenblick stehen und starrte gedankenverloren vor sich hin. »Das ist schon merkwürdig. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatten wir einen ähnlichen Mord. Ich war gerade von Odense hierhergekommen. Wie hieß die Frau noch? Lene ... Lene irgendwas. Sie ist gar nicht so weit von hier ermordet worden, etwas weiter den Fjord runter. Auf sie wurde auch mehrere Male mit einem Messer eingestochen. Das war mein erster Fall als Rechtsmediziner hier in der Stadt. Der hat Eindruck auf mich gemacht, das kannst du mir glauben.« Thorkild Thøgersen sah Michael verlegen an, der nickte und sich mit steifen Beinen erhob. Im Inneren verfluchte er seine schlechte Kondition. »Wurde der Mord aufgeklärt?« Thorkild Thøgersen schüttelte langsam den Kopf, hob die Hand zum Gruß und verließ mit müden Schritten den Tatort.
Rebekka drückte das Gaspedal durch, und der kleine Citroën schoss wie eine silberne Kugel über die Autobahn Richtung Ringkøbing. Die Sonne stand hoch am Himmel, und sie kramte in der offenen Tasche auf dem Beifahrersitz nach ihrer Sonnenbrille, setzte sie auf und drehte an dem knisternden Radio, bis sie einen Sender mit Popmusik gefunden hatte. Boyfriend, don't you touch my boyfriend, he's not your boyfriend, he's mine. Rebekka grölte den Text mit und spürte eine Mischung aus Aufgedrehtheit und Angst. Sie war auf dem Weg nach Ringkøbing, in die Stadt, die sie versucht hatte unter allen Umständen zu meiden. Die Provinzstadt mit den roten Häusern, der Kirche und dem Fjord als Symbolen der Kleinstadtidylle, nur dass Rebekkas Erfahrung alles andere als idyllisch war.
Übersetzung: Hanne Hammer
© der deutschsprachigen Ausgabe: 2012 Piper Verlag GmbH, München
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Autoren-Porträt von Julie Hastrup
Hastrup, JulieJulie Hastrup, geboren 1968 in Ringkøbing, ist ausgebildete Journalistin und eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen Dänemarks. Sie arbeitete für dänische Radio- und Fernsehanstalten, ehe sie 2009 mit »Vergeltung« den Auftakt zu ihrer erfolgreichen Thriller-Serie um die Ermittlerin Rebekka Holm veröffentlichte. Julie Hastrup ist verheiratet und lebt mit ihren zwei Kindern in Kopenhagen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julie Hastrup
- 2012, 392 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Hammer, Hanne
- Übersetzer: Hanne Hammer
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492272681
- ISBN-13: 9783492272681
Rezension zu „Vergeltung / Ermittlerin Rebekka Holm Bd.1 “
"(...) schnörkelloser Krimi.", Morgenpost, 07.03.2012 20151120
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