Verkaufte Träume
Ein brisanter und mutiger Roman, der ein schockierendes Thema aufgreift und in Norwegen bereits die Bestenlisten stürmte.
Dorte lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Litauen und hat einen großen Traum: Stockholm....
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Produktinformationen zu „Verkaufte Träume “
Ein brisanter und mutiger Roman, der ein schockierendes Thema aufgreift und in Norwegen bereits die Bestenlisten stürmte.
Dorte lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf in Litauen und hat einen großen Traum: Stockholm. Da würde sie am liebsten hin, um endlich das ärmliche Landleben hinter sich zu lassen. Als sie die erfahrene Nadja kennenlernt, scheint ihr Traum greifbar nahe, denn die verspricht Dorte einen Kellnerjob in Stockholm. Aber als die beiden eines Nachts abhauen wollen, wartet statt Nadja ein Mann in einem Luxusauto auf sie und verschleppt Dorte nach Norwegen. Dort wird sie als Opfer grausamer Mädchenhändler zwangsprostituiert. Und sie muss feststellen, wie wenig ihr eigenes Leben wert ist.
Lese-Probe zu „Verkaufte Träume “
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs 1
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Dorte öffnete die Mülltonne. Der Gestank schlug ihr entgegen. Küchenabfälle und Kartoffelschalen waren bei über zwanzig Grad verrottet. Der Bauer würde bald den Jungen danach schicken müssen, sonst würden die Tiere krank werden. Sie ließ den Abfall in die Tonne fallen. Der Deckel war irgendwann einmal so übel behandelt worden, dass er sich der Tonnenöffnung nicht mehr anpasste. Ein breiter Spalt lud Insekten und Ungeziefer in diese Speisekammer ein. Im Gebüsch darüber hatte eine Spinne ihr Netz aufgespannt. Drei Fliegen hingen starr darin und warteten darauf, verspeist zu werden. Aber die Spinne war nicht zu Hause. Vielleicht war sie eines plötzlichen Todes gestorben. »Vögel wollen auch leben«, hätte der Vater jetzt gesagt. Und als sie das dachte, hatte sie das Gefühl, dass er ihr aus dem Himmel eine Postkarte schickte. Als Dorte nach oben kam, wischte Vera gerade mit mürrischer Miene den Küchentisch ab, und die Mutter goss kochendes Wasser auf den frisch gemahlenen Kaffee. Ihr Gesicht war bleich und mit roten Flecken übersät. Die Bluse stand offen. Man hätte meinen können, dass ihr die Knöpfe fehlten. Aber der Mutter mangelte es nicht an Knöpfen. Der schwarze unkleidsame Rock reichte bis weit über die Waden. In letzter Zeit war ihr Körper hohl geworden, vor allem in der Mitte, so wie Onkel Josefs Standuhr ohne Uhrwerk. An manchen Abenden, wenn sie sehr müde war, ähnelte ihr Gesicht einem Apfel, der eine Weile auf dem Boden gelegen hatte.»Das Gebet ist das Einzige, worauf ein Mensch sich auf die Dauer verlassen kann. Das Gebet ist unsere Nabelschnur zu Gott«, sagte die Mutter und richtete sich auf. Vera warf den Kopf in den Nacken, dass ihre Haare nur so flogen, und ihrem Gesicht nach schien sie einen Mord zu planen. »Beten!«, rief sie mit schriller Stimme. »Da hat man nicht viel, worauf man sich verlassen kann. Er lässt sich ja nicht mal dazu herab, uns ein paar schnöde Litas zu schicken für ein neues Kleid oder die Miete. Wir hätten niemals unser Haus in Weißrussland verkaufen und in dieses Kaff ziehen dürfen, wo es nur Säufer und übellaunige Weibsbilder gibt!« Sie wischte den Tisch im Takt ihrer Worte ab. Dann spülte sie den Lappen in der Zinkbütte aus und wrang ihn, bis ihre Fingerknöchel weiß wurden. Am Ende faltete sie ihn demonstrativ mehrmals zusammen und knallte ihn über den Wasserhahn. »Gieß bitte das Wasser aus«, bat die Mutter und musterte Vera mit trauriger Verwunderung. Als sei ihr gerade erst aufgegangen, dass sie ein Kind in die Welt gesetzt hatte, das zu dermaßen gotteslästerlichen Reden imstande war.
Vera kippte die Bütte so heftig aus, dass das Wasser aus Rache an den Wänden weit Hoch spritzte. Gleich darauf stand sie hinter dem Wandschirm und bürstete sich die langen blonden Haare. Also wollte sie offenbar auch an diesem Abend wieder ausgehen. »Du musst deine Haare flechten oder dir einen Pferdeschwanz binden, Liebes«, sagte die Mutter sanft, aber entschieden. Vera gab keine Antwort und gehorchte auch nicht. Nahm nur Tasche und Jacke vom Haken an der Tür und wollte gehen. Die Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter, aber das war Vera gar nicht recht. Sie schüttelte sich, wie um ein störendes Insekt zu verscheuchen. Ein Schatten glitt über das Gesicht der Mutter. Es erinnerte an kalte Wintertage am Fluss. Still, weiß - und erfüllt von einer Trauer, über die man nicht sprechen kann. Gleich darauf hörten sie Vera auf der Treppe. Vera war nicht gerade leise. »Manche trauern mit dem Körper mehr als mit dem Kopf. Und da Taten deutlicher sind als Gedanken, fällt uns Veras Trauer stärker auf«, sagte die Mutter, als sie und Dorte allein waren. Ihre Stimme war in Zucker getunkt, ihr Gesicht aber ausdruckslos. Dorte hatte sich immer anhören müssen, dass Vera und sie von so unterschiedlichem Temperament seien. Die Mutter glaubte, Vera vermisse den Vater auf eine wütendere Weise als Dorte, was aber nicht bedeute, dass die Trauer der einen kleiner wäre als die der anderen. Für Dorte war die Trauer nicht größer oder weniger groß. Sie war eher, wie Glasscherben hinunterzuschlucken. Veras Trauer zeigte sich oft darin, dass sie strafte oder verletzte. Oder dass sie für viele Stunden ausblieb und die Mutter nicht wusste, wo sie war. Dortes Trauer dagegen war eher wie eine Fledermaus im Winter. Die mit klammernden Krallen kopfüber an einem dunklen Ort hing. So natürlich, dass man glauben konnte, sie komme mit der Jahreszeit. Die Gebete der Mutter hatten eingesetzt, ehe sie nach Litauen gekommen waren. Zuerst hatte Dorte sie unangenehm gefunden. Jetzt aber waren die frommen Gespräche zum Alltag geworden. Wie Gesangbuchverse, die man nicht ganz begriff, oder wie das Knacken einer alten Treppe. An diesem Morgen hatte Dortes Mutter die Mutter Gottes um Entschuldigung gebeten, weil Vera am Vorabend zu spät nach Hause gekommen war und deshalb Vorwürfe verdient hatte. Die Mutter erklärte, es gebe so viele Versuchungen für junge Menschen. Was die Jungfrau Maria ja wohl längst wissen müsste, fand Dorte. Vera selbst erhielt keine Entschuldigung und bat auch nicht darum, sie lag mit geschlossenen Augen da und stellte sich schlafend. Dorte hatte sich daran gewöhnt, aus diesen Gebeten viel mehr herauszuhören, als in Worten gesagt wurde. Auf diese Weise erfuhr sie, was die Mutter über Vera und sie wusste. Zum Beispiel, dass die Mutter sie darüber sprechen gehört hatte, wie schön es wäre wegzugehen. Fort. Nach Westen. Eigentlich hätte die Mutter das verstehen müssen, denn auch sie hatte ihren Heimatort verlassen. Aber sie schien zu glauben, dass das, was sie selbst getan hatte, für Vera und Dorte nicht das Richtige wäre. Der Vater hatte ihnen schon als Kinder Litauisch beigebracht, da das seine Muttersprache war. Auch die Mutter sprach Litauisch, doch beim Beten benutzte sie immer Russisch. Dass sie sich an die Jungfrau Maria wandte, war sicher die pure Höflichkeit. Am Ende betete sie immer das Vaterunser, morgens, auf dem Hocker neben dem Gasherd, während sie Kaffee mahlte. Die beiden schienen im Morgenkaffee ein gemeinsames Interesse gefunden zu haben. Er saß in seinem Himmel und wartete darauf, dass das Wasser kochte, damit die Mutter es auf das Kaffeepulver gießen konnte. Wenn es kalt war, musste Gott sich gedulden. Dann zog die Mutter ihren verschlissenen Morgenrock mit dem Webpelz an und lag noch lange unter der Decke auf dem Ausziehsofa. Oft ging es in den Gebeten darum, wie dankbar sie sein mussten, weil Onkel Josef sie bei sich wohnen ließ. Die Mutter erwähnte dabei nicht, dass sie dem alten Mann alle mögliche Arbeit abnahm. Besonders viel war es, wenn sie die Miete nicht bezahlen konnten. Sie wusch und putzte, sie flickte Kleider, kochte, kümmerte sich um den Küchengarten und das Schneeschippen. Die Hühner mussten gefüttert und ab und zu geschlachtet und gerupft werden. Es kam vor, dass die Mutter mit Gott über Dinge sprach, die sie streng genommen gar nicht wusste. Zum Beispiel, dass Dorte mit Nikolai, dem Sohn des Bäckers, hinter dem Bretterzaun gestanden und vorgegeben hatte, nicht zu merken, dass er sie um die Taille fasste und fest an sich zog. Aber Dorte hatte es gespürt! Sie war sich vorgekommen wie flüssig. Als habe ihre Haut nur die eine Funktion, nämlich, berührt zu werden. Der Onkel des Vaters, Josef, war ein magerer und sehniger Mann, der meistens am Fenster auf einem Stuhl saß und darauf wartete, dass sein Sohn aus Vilnius kam. Dieser Sohn kassierte die Miete. Der Alte wünschte sich vor allem Hilfe und nahm es mit dem Geld nicht so genau. »Die Zimmer sind ja ohnehin da«, sagte Josef oft. Die Leute hier im Dorf nannten ihn »Litvak«, den Juden. Es waren schreckliche Geschichten darüber im Umlauf, wie er kreuz und quer geflohen war und die Gefangenschaft überlebt hatte. Ein Lehrer hatte - ohne es direkt auszusprechen - angedeutet, die Juden seien schuld daran gewesen, dass 44 die Russen gekommen waren. Er nannte sie Kommunisten. Sie hatten bei dem Lehrer
auch von Romas Kalantas gehört, dem jungen Helden, der sich 1972 selbst angezündet hatte, um gegen die Rückkehr der Russen zu protestieren. Sich selbst zu verbrennen war zweifellos eine große Tat, aber für Dorte wäre es keine Lösung. Onkel Josef selbst erzählte nichts, deshalb begriff Dorte nicht, wie jemand so sicher wissen konnte, wie alles gewesen war. Seine Frau, Anna, erkannte die anderen nicht immer. In ihrem Kopf war irgendetwas zerbrochen. Oft verfiel sie in Angst oder wurde unfreundlich, wenn man ihr die Wäsche brachte, die die Mutter geflickt, oder das Essen, das sie gekocht hatte. Vera weigerte sich, zu ihr zu gehen, deshalb blieb diese Aufgabe immer an Dorte hängen. So war es auch an diesem Abend. Dorte balancierte mit dem Topf die Treppe hinunter und half den alten Leuten, die Kartoffelsuppe aufzuwärmen. Im ganzen Haus verbreitete sich der Geruch nach gegorener Gurke in Dilllake, die in dem Tongefäß auf dem Gang lagerte. Die Mutter füllte später bläuliche Dreilitergläser ab, drehte blanke Metalldeckel darauf und stellte sie in den Keller. Aber trotzdem schlug der Dillgeruch allen entgegen, die die Tür öffneten.
Josef bat Dorte, aus einer abgegriffenen Nummer der Zeitung »Lietuvos rytas« vorzulesen. Das tat sie gern, weil sie sich auf diese Weise darin üben konnte, Litauisch zu lesen. Eine Sprache zu sprechen war das eine, sie zu lesen und zu schreiben etwas ganz anderes. Das war ihr sofort aufgegangen, als sie in die litauische Schule gekommen war. Die weißen Haare des alten Josef lagen in feuchten Locken um seinen eiförmigen Kopf. Wenn er nicht so runzlig gewesen wäre und wenn er keinen so ungelenkigen alten Körper gehabt hätte, hätte man ihn für neugeboren halten können. Sein Kopf war immer ein wenig gesenkt, und oft hatte er irgendeinen Fleck auf seiner Hemdenbrust. Die Mutter glaubte, er passe nicht genau auf, wenn er seinen Kautabak ausspuckte. Seine Brille saß so, dass er sowohl über als auch durch die Gläser schauen konnte. Wenn Dorte ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte sie gedacht, er sei böse. »Ich habe vorhin gehört, wie Vera wieder so hart mit der Tür geknallt hat«, erklärte er, als sie im Vorlesen eine Pause einlegte. »Ach ...« »Deine Mutter hat es nicht leicht!« Dazu hatte Dorte nichts zu sagen, deshalb fragte sie nur, ob sie weiterlesen sollte. Josef nickte und faltete auf seinem Schoß die Hände. Dann schloss er die Augen und ließ sie lesen. Anna saß meistens mit gesenktem Kopf da. Der Tisch fungierte als solider Holzzaun und hinderte sie daran zu fallen, wenn sie es sich in den Kopf setzte, einen Spaziergang zu machen, ohne daran zu denken, dass sie zuerst aufstehen musste. Ab und zu richtete sie sich auf und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Aber fast immer vergaß sie es dann und saß nur da und saugte an ihren Zähnen. Meistens hielt sie ihren Zopf fest, der über eine Schulter hing. Dick und glänzend, als habe sie Fußbodenlack benutzt, um ihn haltbar zu machen. Ihr Gesicht zeigte stets dieselbe Miene: Pass auf, sonst hau ich dich! Dorte hatte nie erlebt, dass sie das getan hätte, aber sie sah die Tante nur ungern an. Es war schon gut, sich an die Zeitung halten zu können. Aber plötzlich, mitten im Artikel über Präsident Paksas, der vor Gericht gestellt werden sollte, musste sie daran denken, wie ungerecht es war, dass ihr Vater gestorben war, während Anna mit ihrem zerstörten Kopf leben durfte. Und deshalb las sie zu schnell weiter. »Nein, nein ... was hast du jetzt gesagt?«, tadelte Josef mit der Stimme dessen, der ewig zu kurz kommt.
Und sie musste alles wiederholen, ohne so richtig zu erfassen, ob der Präsident diese Anklage nun verdient hatte oder nicht. »Onkel Josef«, sagte sie endlich. »Das ist eine alte Zeitung. Die hab ich dir schon vorgelesen.« »Das weiß ich ja wohl! Ich höre es nur so gern noch einmal«, erklärte er triumphierend. Aber gleich darauf wurde Anna so unruhig, dass er ihr ins Bett helfen musste. Dorte faltete die Zeitung zusammen, nahm den Kochtopf und wünschte eine gute Nacht. Als sie nach oben kam, bügelte die Mutter gerade die Hemden des Pfarrers. Sie spitzte den Mund nach links und blies sich die Haare aus dem heißen Gesicht. Dann lächelte sie Dorte kurz zu. »Sie haben gegessen?« »Ja.« »Hast du die Teller gespült und in den Schrank gestellt?« »Ja.« »Hast du Josef vorgelesen?« »Ja, über den Präsidenten.« »Hat er etwas darüber gesagt, dass sein Sohn kommt?« Die Mutter nannte diesen Sohn niemals beim Namen. So konnte sie von sich fernhalten, dass er bisweilen ziemlich unangenehm wurde, wenn sie kein Geld für die Miete hatten. »Nein, das hat er nicht erwähnt.« Dorte nahm Wäsche aus dem Korb und legte sie zusammen, ohne dass die Mutter sie darum gebeten hätte. »Ich bin froh, dass du diese Ruhe hast. Dass du nicht alles so schwer nimmst«, sagte die Mutter und faltete den zweiten Ärmel am Hemd des Pfarrers zusammen. Er musste ganz akkurat liegen, mit der Manschette auf der Hemdenbrust, der Rest hinter dem Rücken versteckt. »Soll ich das Laken sprengen?« »Ja, tu das.« Dorte füllte die Sprengflasche und breitete das Laken auf dem Tisch aus. »Vera hat so schlechte Nerven. Sie nimmt es schwer, dass wir kein Geld haben«, sagte die Mutter. Dorte wusste nicht so recht, ob die Mutter mit ihr sprach oder mit Gott. Deshalb sagte sie nichts. Um zehn Uhr hatten sie nach ihrem Tagewerk aufgeräumt, und die Mutter gähnte. Sie zog die Uhr auf und machte sich bereit, um ins Bett zu gehen. Aber gegen Mitternacht lief sie noch immer zwischen den beiden Fenstern hin und her, ohne darüber zu sprechen,
woran sie beide dachten. Dass Vera noch nicht zu Hause war. Für Dorte war es unerträglich, das beobachten zu müssen, auch wenn sie bequem im Sessel des Vaters saß und einen Atlas über den Knien liegen hatte. »Mama! Sollen wir sie nicht lieber suchen gehen?«
»Doch!«, sagte die Mutter und griff nach ihrem schwarzen Tuch. Manchmal war sie wie eine Aufziehpuppe, man musste ihr nur das Stichwort geben, und schon setzte sie sich in Bewegung. Gerade als sie ihre Mäntel angezogen hatten, hörten sie Vera auf der Treppe. Leichte Schritte, ganz anders als vorhin, als sie gegangen war. Dann stand sie in der Tür. Ihr Gesicht glühte, und ihre Bluse war vorn ein wenig zerknüllt. Ihr Mund ähnelte den Rosen im Pfarrgarten. Denen, die so schwer und rot waren, dass sie sich auf den Zaun stützen mussten. »Papa hätte das niemals zugelassen«, sagte die Mutter. »Was weißt du denn darüber? Er ist seit zwei Jahren tot. Ich bin achtzehn und mache, was ich will!« Statt Vera weiter zu tadeln, stand die Mutter plötzlich mit dem Tuch in der Hand da, wie ein Vogel, der auf einem Bein steht und Würmern auflauert. »Ist das so lange her?«, fragte sie verwundert und hängte das Tuch wieder an den Haken. Gleich darauf klappte sie das Sofa auf - ohne noch mehr zu sagen. Einmal, als Dorte der Mutter geholfen hatte, im Pfarrhaus zu putzen, hatte der Pfarrer erklärt, man könne der Sprache der Mutter anhören, dass sie einer gebildeten Familie entstamme. Das war sicher ehrlich gemeint gewesen, aber eigentlich missbilligte er alles, was russisch war. Obwohl er nach Schnaps roch. Und er hatte recht. Die Mutter war in einem großen Haus mit Vorgarten am Rand der Stadt aufgewachsen, die damals Leningrad geheißen hatte. Aber sie sprach fast nie darüber. Als Vera und Dorte im Bett hinter dem Schrank lagen, war die Stimme der Mutter sanft und leise, aber doch deutlich zu hören. »Liebe Maria, Mutter Gottes, du weißt, dass es Vera hier zu eng wird, wenn draußen Mond und Sterne leuchten. Und Musik und Tanz locken! Wir haben nichts dagegen, dass sie Freunde hat und lacht und das Leben genießt. Aber sie sieht die vielen Gefahren
nicht. Sie ist unschuldig und weiß nicht, was ein Mensch manchmal erdulden muss. Deshalb passt es ihr nicht, wenn ich andeute, dass ich mehr weiß und sie beschützen möchte. Du, mein Gott, weißt es noch besser als ich und erinnerst Dich sicher daran, dass auch ich in meiner Jugend eine Aufrührerin war, eine, die sich für unverletzlich hielt. Aber ich bin billig davongekommen, weil Du in Deinem Erbarmen Liebe zu mir gesandt hast. Du hast meinen Geliebten zu Dir genommen, aber Du hast mir auch den Verstand gegeben zu erkennen, dass Verbitterung wehtut. Ich habe nicht so viel gebetet, wie es richtig gewesen wäre, bevor die Trauer sich einstellte. Die Trauer hat mich geadelt. Also danke ich Dir und bitte: Lass Vera billig davonkommen! Mach ihre monatlichen Tage ein wenig leichter. Gib ihr keinen größeren Kummer, als sie ertragen kann. Aber Liebe! Und wenn Du eine Möglichkeit siehst - dann braucht sie auch Arbeit. Amen!« Voller Verachtung in der Stimme nannte Vera den Ort, in dem sie wohnten, eine Häuserzeile am Straßenrand. In der Mitte stand eine römisch-katholische Kirche, die nichts für die Mutter war. Die Mutter war russisch-orthodox. Es gab eine Schule, zwei Gaststätten und einen Frisiersalon. Ein Begräbnisunternehmen
mit Gittern vor allen Fenstern, sodass man glauben konnte, der Inhaber fürchte, dass man ihm die Leichen stahl. Es gab einen Bäcker, der mit seinem alten Auto seine Waren in die Nachbardörfer fuhr. Eine Tankstelle, umgeben von Altmetall, einen Kiosk, in dem auch Wodka verkauft wurde, und einen sogenannten Supermarkt, in dem Vera ab und zu aushalf. Sie hatten niemanden gekannt, als sie mit dem scheppernden Möbelwagen hier angekommen waren, sie hatten nur die Briefe des alten Onkel Josef gehabt.
Die Frau des Bäckers betrieb die eine Gaststätte. Da man dort Schnaps kaufen konnte, wollte die Mutter nicht, dass die Mädchen Abends hingingen. Die Frau des Bäckers verkaufte außerdem Limonade und Kaffee. Ja, und Gebäck natürlich. Die Brote waren grau und rochen nach Kümmel und Bierhefe. Da die Frau Russin war, servierte sie goldene Watruschki gefüllt mit süßer Käsemasse. Das schmeckte gut zu einem Glas Milch. Die Frau des Bäckers verbreitete einen leichten Zimtgeruch. An manchen Abenden war die Gaststätte voll. Jugendliche und erwachsene Männer versammelten sich hier. Die meisten jungen Leute fanden keine Beschäftigung, wenn sie mit der Schule fertig waren. Nur wenige hatten Verwandte in der Stadt, bei denen sie wohnen konnten, während sie eine Lehre machten oder studierten. Also blieben sie zu Hause und übernahmen Aushilfsjobs, wenn sich die Gelegenheit bot. Die Gaststätte lag im Haus des Bäckers, zwei Treppenstufen unter dem Straßenniveau. Ab und zu konnte man die Knetmaschine durch die Wände der Bäckerei hören, die ebenfalls dort unten lag. Es roch nach Keller und Tabak, obwohl die Türen der Bäckerei oft offen standen und die Frau des Bäckers sich bemühte, zu lüften und alles sauber zu halten. Die eine Wand wies eine Tapete mit einem braunroten, in sich verschlungenen Muster auf. Zwei Fenster ließen Licht herein und hatten normale Zimmergardinen. Die Gardinen hingen an zerschlissenen Schlaufen, die ursprünglich nicht dazugehört hatten. Manchmal stand dort der Sohn, Nikolai. Oder er half aus. Wie seine Mutter hatte er ein Gesicht, aus dem die Sonne leuchtete, egal wie das Wetter sein mochte. Er sagte selten etwas, aber seine Blicke glitten mit solcher Deutlichkeit über Dorte, dass sie das Gefühl hatte, er spreche freundlich mit ihr. Ihrer Mutter zuliebe ging Dorte nur tagsüber hin. Jetzt war es fast Abend, aber als sie sah, dass Nikolai allein dort war, trugen sie ihre Füße von selbst hinein. Sie nickte und glitt auf den Stuhl, der mit dem Rücken zur Tür dem Tresen am nächsten stand. Er ging in den Verschlag, der als Küche diente, und kam mit einem Glas Milch zurück, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Sein Gesicht war tiefernst, trotzdem konnte sie sehen, dass er zu lächeln glaubte. Sie sagte »tausend Dank« und lächelte schnell zurück.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Knaur Verlag.
Übersetzung: Gabriele Haefs
Dorte öffnete die Mülltonne. Der Gestank schlug ihr entgegen. Küchenabfälle und Kartoffelschalen waren bei über zwanzig Grad verrottet. Der Bauer würde bald den Jungen danach schicken müssen, sonst würden die Tiere krank werden. Sie ließ den Abfall in die Tonne fallen. Der Deckel war irgendwann einmal so übel behandelt worden, dass er sich der Tonnenöffnung nicht mehr anpasste. Ein breiter Spalt lud Insekten und Ungeziefer in diese Speisekammer ein. Im Gebüsch darüber hatte eine Spinne ihr Netz aufgespannt. Drei Fliegen hingen starr darin und warteten darauf, verspeist zu werden. Aber die Spinne war nicht zu Hause. Vielleicht war sie eines plötzlichen Todes gestorben. »Vögel wollen auch leben«, hätte der Vater jetzt gesagt. Und als sie das dachte, hatte sie das Gefühl, dass er ihr aus dem Himmel eine Postkarte schickte. Als Dorte nach oben kam, wischte Vera gerade mit mürrischer Miene den Küchentisch ab, und die Mutter goss kochendes Wasser auf den frisch gemahlenen Kaffee. Ihr Gesicht war bleich und mit roten Flecken übersät. Die Bluse stand offen. Man hätte meinen können, dass ihr die Knöpfe fehlten. Aber der Mutter mangelte es nicht an Knöpfen. Der schwarze unkleidsame Rock reichte bis weit über die Waden. In letzter Zeit war ihr Körper hohl geworden, vor allem in der Mitte, so wie Onkel Josefs Standuhr ohne Uhrwerk. An manchen Abenden, wenn sie sehr müde war, ähnelte ihr Gesicht einem Apfel, der eine Weile auf dem Boden gelegen hatte.»Das Gebet ist das Einzige, worauf ein Mensch sich auf die Dauer verlassen kann. Das Gebet ist unsere Nabelschnur zu Gott«, sagte die Mutter und richtete sich auf. Vera warf den Kopf in den Nacken, dass ihre Haare nur so flogen, und ihrem Gesicht nach schien sie einen Mord zu planen. »Beten!«, rief sie mit schriller Stimme. »Da hat man nicht viel, worauf man sich verlassen kann. Er lässt sich ja nicht mal dazu herab, uns ein paar schnöde Litas zu schicken für ein neues Kleid oder die Miete. Wir hätten niemals unser Haus in Weißrussland verkaufen und in dieses Kaff ziehen dürfen, wo es nur Säufer und übellaunige Weibsbilder gibt!« Sie wischte den Tisch im Takt ihrer Worte ab. Dann spülte sie den Lappen in der Zinkbütte aus und wrang ihn, bis ihre Fingerknöchel weiß wurden. Am Ende faltete sie ihn demonstrativ mehrmals zusammen und knallte ihn über den Wasserhahn. »Gieß bitte das Wasser aus«, bat die Mutter und musterte Vera mit trauriger Verwunderung. Als sei ihr gerade erst aufgegangen, dass sie ein Kind in die Welt gesetzt hatte, das zu dermaßen gotteslästerlichen Reden imstande war.
Vera kippte die Bütte so heftig aus, dass das Wasser aus Rache an den Wänden weit Hoch spritzte. Gleich darauf stand sie hinter dem Wandschirm und bürstete sich die langen blonden Haare. Also wollte sie offenbar auch an diesem Abend wieder ausgehen. »Du musst deine Haare flechten oder dir einen Pferdeschwanz binden, Liebes«, sagte die Mutter sanft, aber entschieden. Vera gab keine Antwort und gehorchte auch nicht. Nahm nur Tasche und Jacke vom Haken an der Tür und wollte gehen. Die Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter, aber das war Vera gar nicht recht. Sie schüttelte sich, wie um ein störendes Insekt zu verscheuchen. Ein Schatten glitt über das Gesicht der Mutter. Es erinnerte an kalte Wintertage am Fluss. Still, weiß - und erfüllt von einer Trauer, über die man nicht sprechen kann. Gleich darauf hörten sie Vera auf der Treppe. Vera war nicht gerade leise. »Manche trauern mit dem Körper mehr als mit dem Kopf. Und da Taten deutlicher sind als Gedanken, fällt uns Veras Trauer stärker auf«, sagte die Mutter, als sie und Dorte allein waren. Ihre Stimme war in Zucker getunkt, ihr Gesicht aber ausdruckslos. Dorte hatte sich immer anhören müssen, dass Vera und sie von so unterschiedlichem Temperament seien. Die Mutter glaubte, Vera vermisse den Vater auf eine wütendere Weise als Dorte, was aber nicht bedeute, dass die Trauer der einen kleiner wäre als die der anderen. Für Dorte war die Trauer nicht größer oder weniger groß. Sie war eher, wie Glasscherben hinunterzuschlucken. Veras Trauer zeigte sich oft darin, dass sie strafte oder verletzte. Oder dass sie für viele Stunden ausblieb und die Mutter nicht wusste, wo sie war. Dortes Trauer dagegen war eher wie eine Fledermaus im Winter. Die mit klammernden Krallen kopfüber an einem dunklen Ort hing. So natürlich, dass man glauben konnte, sie komme mit der Jahreszeit. Die Gebete der Mutter hatten eingesetzt, ehe sie nach Litauen gekommen waren. Zuerst hatte Dorte sie unangenehm gefunden. Jetzt aber waren die frommen Gespräche zum Alltag geworden. Wie Gesangbuchverse, die man nicht ganz begriff, oder wie das Knacken einer alten Treppe. An diesem Morgen hatte Dortes Mutter die Mutter Gottes um Entschuldigung gebeten, weil Vera am Vorabend zu spät nach Hause gekommen war und deshalb Vorwürfe verdient hatte. Die Mutter erklärte, es gebe so viele Versuchungen für junge Menschen. Was die Jungfrau Maria ja wohl längst wissen müsste, fand Dorte. Vera selbst erhielt keine Entschuldigung und bat auch nicht darum, sie lag mit geschlossenen Augen da und stellte sich schlafend. Dorte hatte sich daran gewöhnt, aus diesen Gebeten viel mehr herauszuhören, als in Worten gesagt wurde. Auf diese Weise erfuhr sie, was die Mutter über Vera und sie wusste. Zum Beispiel, dass die Mutter sie darüber sprechen gehört hatte, wie schön es wäre wegzugehen. Fort. Nach Westen. Eigentlich hätte die Mutter das verstehen müssen, denn auch sie hatte ihren Heimatort verlassen. Aber sie schien zu glauben, dass das, was sie selbst getan hatte, für Vera und Dorte nicht das Richtige wäre. Der Vater hatte ihnen schon als Kinder Litauisch beigebracht, da das seine Muttersprache war. Auch die Mutter sprach Litauisch, doch beim Beten benutzte sie immer Russisch. Dass sie sich an die Jungfrau Maria wandte, war sicher die pure Höflichkeit. Am Ende betete sie immer das Vaterunser, morgens, auf dem Hocker neben dem Gasherd, während sie Kaffee mahlte. Die beiden schienen im Morgenkaffee ein gemeinsames Interesse gefunden zu haben. Er saß in seinem Himmel und wartete darauf, dass das Wasser kochte, damit die Mutter es auf das Kaffeepulver gießen konnte. Wenn es kalt war, musste Gott sich gedulden. Dann zog die Mutter ihren verschlissenen Morgenrock mit dem Webpelz an und lag noch lange unter der Decke auf dem Ausziehsofa. Oft ging es in den Gebeten darum, wie dankbar sie sein mussten, weil Onkel Josef sie bei sich wohnen ließ. Die Mutter erwähnte dabei nicht, dass sie dem alten Mann alle mögliche Arbeit abnahm. Besonders viel war es, wenn sie die Miete nicht bezahlen konnten. Sie wusch und putzte, sie flickte Kleider, kochte, kümmerte sich um den Küchengarten und das Schneeschippen. Die Hühner mussten gefüttert und ab und zu geschlachtet und gerupft werden. Es kam vor, dass die Mutter mit Gott über Dinge sprach, die sie streng genommen gar nicht wusste. Zum Beispiel, dass Dorte mit Nikolai, dem Sohn des Bäckers, hinter dem Bretterzaun gestanden und vorgegeben hatte, nicht zu merken, dass er sie um die Taille fasste und fest an sich zog. Aber Dorte hatte es gespürt! Sie war sich vorgekommen wie flüssig. Als habe ihre Haut nur die eine Funktion, nämlich, berührt zu werden. Der Onkel des Vaters, Josef, war ein magerer und sehniger Mann, der meistens am Fenster auf einem Stuhl saß und darauf wartete, dass sein Sohn aus Vilnius kam. Dieser Sohn kassierte die Miete. Der Alte wünschte sich vor allem Hilfe und nahm es mit dem Geld nicht so genau. »Die Zimmer sind ja ohnehin da«, sagte Josef oft. Die Leute hier im Dorf nannten ihn »Litvak«, den Juden. Es waren schreckliche Geschichten darüber im Umlauf, wie er kreuz und quer geflohen war und die Gefangenschaft überlebt hatte. Ein Lehrer hatte - ohne es direkt auszusprechen - angedeutet, die Juden seien schuld daran gewesen, dass 44 die Russen gekommen waren. Er nannte sie Kommunisten. Sie hatten bei dem Lehrer
auch von Romas Kalantas gehört, dem jungen Helden, der sich 1972 selbst angezündet hatte, um gegen die Rückkehr der Russen zu protestieren. Sich selbst zu verbrennen war zweifellos eine große Tat, aber für Dorte wäre es keine Lösung. Onkel Josef selbst erzählte nichts, deshalb begriff Dorte nicht, wie jemand so sicher wissen konnte, wie alles gewesen war. Seine Frau, Anna, erkannte die anderen nicht immer. In ihrem Kopf war irgendetwas zerbrochen. Oft verfiel sie in Angst oder wurde unfreundlich, wenn man ihr die Wäsche brachte, die die Mutter geflickt, oder das Essen, das sie gekocht hatte. Vera weigerte sich, zu ihr zu gehen, deshalb blieb diese Aufgabe immer an Dorte hängen. So war es auch an diesem Abend. Dorte balancierte mit dem Topf die Treppe hinunter und half den alten Leuten, die Kartoffelsuppe aufzuwärmen. Im ganzen Haus verbreitete sich der Geruch nach gegorener Gurke in Dilllake, die in dem Tongefäß auf dem Gang lagerte. Die Mutter füllte später bläuliche Dreilitergläser ab, drehte blanke Metalldeckel darauf und stellte sie in den Keller. Aber trotzdem schlug der Dillgeruch allen entgegen, die die Tür öffneten.
Josef bat Dorte, aus einer abgegriffenen Nummer der Zeitung »Lietuvos rytas« vorzulesen. Das tat sie gern, weil sie sich auf diese Weise darin üben konnte, Litauisch zu lesen. Eine Sprache zu sprechen war das eine, sie zu lesen und zu schreiben etwas ganz anderes. Das war ihr sofort aufgegangen, als sie in die litauische Schule gekommen war. Die weißen Haare des alten Josef lagen in feuchten Locken um seinen eiförmigen Kopf. Wenn er nicht so runzlig gewesen wäre und wenn er keinen so ungelenkigen alten Körper gehabt hätte, hätte man ihn für neugeboren halten können. Sein Kopf war immer ein wenig gesenkt, und oft hatte er irgendeinen Fleck auf seiner Hemdenbrust. Die Mutter glaubte, er passe nicht genau auf, wenn er seinen Kautabak ausspuckte. Seine Brille saß so, dass er sowohl über als auch durch die Gläser schauen konnte. Wenn Dorte ihn nicht so gut gekannt hätte, hätte sie gedacht, er sei böse. »Ich habe vorhin gehört, wie Vera wieder so hart mit der Tür geknallt hat«, erklärte er, als sie im Vorlesen eine Pause einlegte. »Ach ...« »Deine Mutter hat es nicht leicht!« Dazu hatte Dorte nichts zu sagen, deshalb fragte sie nur, ob sie weiterlesen sollte. Josef nickte und faltete auf seinem Schoß die Hände. Dann schloss er die Augen und ließ sie lesen. Anna saß meistens mit gesenktem Kopf da. Der Tisch fungierte als solider Holzzaun und hinderte sie daran zu fallen, wenn sie es sich in den Kopf setzte, einen Spaziergang zu machen, ohne daran zu denken, dass sie zuerst aufstehen musste. Ab und zu richtete sie sich auf und öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen. Aber fast immer vergaß sie es dann und saß nur da und saugte an ihren Zähnen. Meistens hielt sie ihren Zopf fest, der über eine Schulter hing. Dick und glänzend, als habe sie Fußbodenlack benutzt, um ihn haltbar zu machen. Ihr Gesicht zeigte stets dieselbe Miene: Pass auf, sonst hau ich dich! Dorte hatte nie erlebt, dass sie das getan hätte, aber sie sah die Tante nur ungern an. Es war schon gut, sich an die Zeitung halten zu können. Aber plötzlich, mitten im Artikel über Präsident Paksas, der vor Gericht gestellt werden sollte, musste sie daran denken, wie ungerecht es war, dass ihr Vater gestorben war, während Anna mit ihrem zerstörten Kopf leben durfte. Und deshalb las sie zu schnell weiter. »Nein, nein ... was hast du jetzt gesagt?«, tadelte Josef mit der Stimme dessen, der ewig zu kurz kommt.
Und sie musste alles wiederholen, ohne so richtig zu erfassen, ob der Präsident diese Anklage nun verdient hatte oder nicht. »Onkel Josef«, sagte sie endlich. »Das ist eine alte Zeitung. Die hab ich dir schon vorgelesen.« »Das weiß ich ja wohl! Ich höre es nur so gern noch einmal«, erklärte er triumphierend. Aber gleich darauf wurde Anna so unruhig, dass er ihr ins Bett helfen musste. Dorte faltete die Zeitung zusammen, nahm den Kochtopf und wünschte eine gute Nacht. Als sie nach oben kam, bügelte die Mutter gerade die Hemden des Pfarrers. Sie spitzte den Mund nach links und blies sich die Haare aus dem heißen Gesicht. Dann lächelte sie Dorte kurz zu. »Sie haben gegessen?« »Ja.« »Hast du die Teller gespült und in den Schrank gestellt?« »Ja.« »Hast du Josef vorgelesen?« »Ja, über den Präsidenten.« »Hat er etwas darüber gesagt, dass sein Sohn kommt?« Die Mutter nannte diesen Sohn niemals beim Namen. So konnte sie von sich fernhalten, dass er bisweilen ziemlich unangenehm wurde, wenn sie kein Geld für die Miete hatten. »Nein, das hat er nicht erwähnt.« Dorte nahm Wäsche aus dem Korb und legte sie zusammen, ohne dass die Mutter sie darum gebeten hätte. »Ich bin froh, dass du diese Ruhe hast. Dass du nicht alles so schwer nimmst«, sagte die Mutter und faltete den zweiten Ärmel am Hemd des Pfarrers zusammen. Er musste ganz akkurat liegen, mit der Manschette auf der Hemdenbrust, der Rest hinter dem Rücken versteckt. »Soll ich das Laken sprengen?« »Ja, tu das.« Dorte füllte die Sprengflasche und breitete das Laken auf dem Tisch aus. »Vera hat so schlechte Nerven. Sie nimmt es schwer, dass wir kein Geld haben«, sagte die Mutter. Dorte wusste nicht so recht, ob die Mutter mit ihr sprach oder mit Gott. Deshalb sagte sie nichts. Um zehn Uhr hatten sie nach ihrem Tagewerk aufgeräumt, und die Mutter gähnte. Sie zog die Uhr auf und machte sich bereit, um ins Bett zu gehen. Aber gegen Mitternacht lief sie noch immer zwischen den beiden Fenstern hin und her, ohne darüber zu sprechen,
woran sie beide dachten. Dass Vera noch nicht zu Hause war. Für Dorte war es unerträglich, das beobachten zu müssen, auch wenn sie bequem im Sessel des Vaters saß und einen Atlas über den Knien liegen hatte. »Mama! Sollen wir sie nicht lieber suchen gehen?«
»Doch!«, sagte die Mutter und griff nach ihrem schwarzen Tuch. Manchmal war sie wie eine Aufziehpuppe, man musste ihr nur das Stichwort geben, und schon setzte sie sich in Bewegung. Gerade als sie ihre Mäntel angezogen hatten, hörten sie Vera auf der Treppe. Leichte Schritte, ganz anders als vorhin, als sie gegangen war. Dann stand sie in der Tür. Ihr Gesicht glühte, und ihre Bluse war vorn ein wenig zerknüllt. Ihr Mund ähnelte den Rosen im Pfarrgarten. Denen, die so schwer und rot waren, dass sie sich auf den Zaun stützen mussten. »Papa hätte das niemals zugelassen«, sagte die Mutter. »Was weißt du denn darüber? Er ist seit zwei Jahren tot. Ich bin achtzehn und mache, was ich will!« Statt Vera weiter zu tadeln, stand die Mutter plötzlich mit dem Tuch in der Hand da, wie ein Vogel, der auf einem Bein steht und Würmern auflauert. »Ist das so lange her?«, fragte sie verwundert und hängte das Tuch wieder an den Haken. Gleich darauf klappte sie das Sofa auf - ohne noch mehr zu sagen. Einmal, als Dorte der Mutter geholfen hatte, im Pfarrhaus zu putzen, hatte der Pfarrer erklärt, man könne der Sprache der Mutter anhören, dass sie einer gebildeten Familie entstamme. Das war sicher ehrlich gemeint gewesen, aber eigentlich missbilligte er alles, was russisch war. Obwohl er nach Schnaps roch. Und er hatte recht. Die Mutter war in einem großen Haus mit Vorgarten am Rand der Stadt aufgewachsen, die damals Leningrad geheißen hatte. Aber sie sprach fast nie darüber. Als Vera und Dorte im Bett hinter dem Schrank lagen, war die Stimme der Mutter sanft und leise, aber doch deutlich zu hören. »Liebe Maria, Mutter Gottes, du weißt, dass es Vera hier zu eng wird, wenn draußen Mond und Sterne leuchten. Und Musik und Tanz locken! Wir haben nichts dagegen, dass sie Freunde hat und lacht und das Leben genießt. Aber sie sieht die vielen Gefahren
nicht. Sie ist unschuldig und weiß nicht, was ein Mensch manchmal erdulden muss. Deshalb passt es ihr nicht, wenn ich andeute, dass ich mehr weiß und sie beschützen möchte. Du, mein Gott, weißt es noch besser als ich und erinnerst Dich sicher daran, dass auch ich in meiner Jugend eine Aufrührerin war, eine, die sich für unverletzlich hielt. Aber ich bin billig davongekommen, weil Du in Deinem Erbarmen Liebe zu mir gesandt hast. Du hast meinen Geliebten zu Dir genommen, aber Du hast mir auch den Verstand gegeben zu erkennen, dass Verbitterung wehtut. Ich habe nicht so viel gebetet, wie es richtig gewesen wäre, bevor die Trauer sich einstellte. Die Trauer hat mich geadelt. Also danke ich Dir und bitte: Lass Vera billig davonkommen! Mach ihre monatlichen Tage ein wenig leichter. Gib ihr keinen größeren Kummer, als sie ertragen kann. Aber Liebe! Und wenn Du eine Möglichkeit siehst - dann braucht sie auch Arbeit. Amen!« Voller Verachtung in der Stimme nannte Vera den Ort, in dem sie wohnten, eine Häuserzeile am Straßenrand. In der Mitte stand eine römisch-katholische Kirche, die nichts für die Mutter war. Die Mutter war russisch-orthodox. Es gab eine Schule, zwei Gaststätten und einen Frisiersalon. Ein Begräbnisunternehmen
mit Gittern vor allen Fenstern, sodass man glauben konnte, der Inhaber fürchte, dass man ihm die Leichen stahl. Es gab einen Bäcker, der mit seinem alten Auto seine Waren in die Nachbardörfer fuhr. Eine Tankstelle, umgeben von Altmetall, einen Kiosk, in dem auch Wodka verkauft wurde, und einen sogenannten Supermarkt, in dem Vera ab und zu aushalf. Sie hatten niemanden gekannt, als sie mit dem scheppernden Möbelwagen hier angekommen waren, sie hatten nur die Briefe des alten Onkel Josef gehabt.
Die Frau des Bäckers betrieb die eine Gaststätte. Da man dort Schnaps kaufen konnte, wollte die Mutter nicht, dass die Mädchen Abends hingingen. Die Frau des Bäckers verkaufte außerdem Limonade und Kaffee. Ja, und Gebäck natürlich. Die Brote waren grau und rochen nach Kümmel und Bierhefe. Da die Frau Russin war, servierte sie goldene Watruschki gefüllt mit süßer Käsemasse. Das schmeckte gut zu einem Glas Milch. Die Frau des Bäckers verbreitete einen leichten Zimtgeruch. An manchen Abenden war die Gaststätte voll. Jugendliche und erwachsene Männer versammelten sich hier. Die meisten jungen Leute fanden keine Beschäftigung, wenn sie mit der Schule fertig waren. Nur wenige hatten Verwandte in der Stadt, bei denen sie wohnen konnten, während sie eine Lehre machten oder studierten. Also blieben sie zu Hause und übernahmen Aushilfsjobs, wenn sich die Gelegenheit bot. Die Gaststätte lag im Haus des Bäckers, zwei Treppenstufen unter dem Straßenniveau. Ab und zu konnte man die Knetmaschine durch die Wände der Bäckerei hören, die ebenfalls dort unten lag. Es roch nach Keller und Tabak, obwohl die Türen der Bäckerei oft offen standen und die Frau des Bäckers sich bemühte, zu lüften und alles sauber zu halten. Die eine Wand wies eine Tapete mit einem braunroten, in sich verschlungenen Muster auf. Zwei Fenster ließen Licht herein und hatten normale Zimmergardinen. Die Gardinen hingen an zerschlissenen Schlaufen, die ursprünglich nicht dazugehört hatten. Manchmal stand dort der Sohn, Nikolai. Oder er half aus. Wie seine Mutter hatte er ein Gesicht, aus dem die Sonne leuchtete, egal wie das Wetter sein mochte. Er sagte selten etwas, aber seine Blicke glitten mit solcher Deutlichkeit über Dorte, dass sie das Gefühl hatte, er spreche freundlich mit ihr. Ihrer Mutter zuliebe ging Dorte nur tagsüber hin. Jetzt war es fast Abend, aber als sie sah, dass Nikolai allein dort war, trugen sie ihre Füße von selbst hinein. Sie nickte und glitt auf den Stuhl, der mit dem Rücken zur Tür dem Tresen am nächsten stand. Er ging in den Verschlag, der als Küche diente, und kam mit einem Glas Milch zurück, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Sein Gesicht war tiefernst, trotzdem konnte sie sehen, dass er zu lächeln glaubte. Sie sagte »tausend Dank« und lächelte schnell zurück.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Knaur Verlag.
Übersetzung: Gabriele Haefs
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Autoren-Porträt von Herbjorg Wassmo
Herbjørg Wassmo wurde 1942 im Norden Norwegens geboren. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Literaturpreis des Nordischen Rates. Das Buch Dina, im Jahre 1989 erschienen und erfolgreich verfilmt, wurde von den norwegischen Buch-händlern zum besten Roman der achtziger Jahre gekürt. Wassmos Werke sind in viele Sprachen übersetzt worden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Herbjorg Wassmo
- 432 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009809
- ISBN-13: 9783868009804
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