Verleumdung
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Die junge Kriminalexpertin Linnea Kirkegaard wird zu einem schaurigen Fund im Wald gerufen. Ein halbzerfallenes Skelett liegt im modrigen Laub. Linnea kann das Gesicht des Toten rekonstruieren. Als seine Identität bekannt wird, treten mächtige...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Verleumdung “
Die junge Kriminalexpertin Linnea Kirkegaard wird zu einem schaurigen Fund im Wald gerufen. Ein halbzerfallenes Skelett liegt im modrigen Laub. Linnea kann das Gesicht des Toten rekonstruieren. Als seine Identität bekannt wird, treten mächtige Gegenspieler auf den Plan. Sie schicken die toughe Auftragskillerin Peggy-Lee Wu. Das Teufelsspiel beginnt. Nach einer atemberaubenden Jagd quer durch Kopenhagen stehen sich Linnea und Peggy- Lee gegenüber. Zwei Frauen und der Kampf zwischen Gut und Böse.
Klappentext zu „Verleumdung “
Die junge Kriminalexpertin Linnea Kirkegaard wirdzu einem schaurigen Fund im Wald gerufen. Einhalbzerfallenes Skelett liegt im modrigen Laub.Linnea kann das Gesicht des Toten rekonstruieren.Als seine Identität bekannt wird, treten mächtigeGegenspieler auf den Plan. Sie schicken die tougheAuftragskillerin Peggy-Lee Wu. Das Teufelsspielbeginnt. Nach einer atemberaubenden Jagd querdurch Kopenhagen stehen sich Linnea und Peggy-Lee gegenüber. Zwei Frauen und der Kampfzwischen Gut und Böse.
Lese-Probe zu „Verleumdung “
Verleumdung von Benni Bodker und Karen V. Ruun1
... mehr
Bereits kurz nach Roskilde waren sie auf der Autobahn in einen Stau geraten. Seither hatten sie es lediglich bis
zur nächsten Abfahrt geschafft, und jetzt bewegten sie sich kaum noch vorwärts. Nach mehreren Stockungen kam der Verkehr ganz zum Erliegen, und Linnea Kirkegaard sah irritiert von ihrem Blackberry auf. Es war unmöglich einzuschätzen, wie weit sich die Blechlawine nach vorn hin erstreckte. Der Polizeibeamte am Steuer des Fords warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, als sei er persönlich dafür verantwortlich, dass sich der Verkehr auf der Holbaek-Autobahn in den Sommerferien staute.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es sonntags so schlimm ist.«
»Gibt es denn keine Abkürzung?«
Linnea wollte bereits nach dem Navi greifen, um nach alternativen Routen zu suchen, aber ihr Fahrer schüttelte den Kopf. Er zeigte nach rechts, wo die Abfahrt nach Roskilde ebenfalls mit Autos verstopft war, die sich nicht vom Fleck rührten.
»Das kommt aufs selbe raus. Die Landstraße ist zu schmal, und die Autobahn wird nun schon seit Jahren ausgebaut. Die Strecke nach Nykøbing Sjxlland ist die reinste Hölle. Wie gut, dass man sich dort oben sowieso kein Ferienhaus leisten kann ... «
Linnea nickte resigniert und öffnete das Beifahrerfenster. So konnten sie wenigstens ein bisschen frische Luft schnappen, statt in der Nachmittagssonne zu schmoren. Der Polizist hieß Boserup, mehr wusste sie nicht über ihn. Sie war ihm heute zum ersten Mal begegnet, als er sie in Kopenhagen am Panum Institut abgeholt hatte. Sie war schon wieder für den Wochenenddienst am Rechtsmedizinischen Institut eingeteilt gewesen und hatte exakt neunzehn Minuten, bevor sich Boserup pflichtschuldig auf dem Parkplatz am Fælledvej einfand, vom bevorstehenden Einsatz erfahren. Ein Kommissar der mobilen Einheit der Kriminalpolizei hatte sie in der Abteilung für Forensische Anthropologie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass man irgendwo im Westen von Seeland eine Leiche gefunden hatte. Viel mehr wusste er nicht, oder er wollte es ihr nicht erzählen. Sie kannte ihn nicht, aber es war deutlich, dass er genau wusste, wer sie war.
»Wir haben einen Mann geschickt, um Sie abzuholen«, hatte er ihr am Telefon gesagt. »Bitte stehen Sie in zwanzig Minuten bereit.«
Linnea hatte die Stirn gerunzelt.
»Wir sind hier nicht im Selbstbedienungsladen! Ich habe heute als Einzige Dienst. Warum können Sie den Toten nicht einfach mit dem Knochenexpress hierherbringen lassen? Soweit ich weiß, ist das das Standardverfahren.«
Möglicherweise war ihr Tonfall etwas zu scharf gewesen. Aber die Aussicht, weniger als zwei Stunden vor Schichtende in irgendein Provinznest kutschiert zu werden, war alles andere als verlockend. Sie hatte gerade darauf spekuliert, dass sie diesen ungewöhnlich friedlichen Sommersonntag nutzen konnte, endlich ein paar Berichte fertig zu schreiben und sich einen Überblick über all die eiligen Arbeitsaufgaben zu verschaffen, die sich trotz des üblichen Sommerlochs angesammelt hatten. Sie hatte den leisen Verdacht, dass die Auftraggeber ohnehin im Urlaub waren und die eiligen Ergebnisse, die sie per Mail verschickte oder auf Anrufbeantworter sprach, in Wirklichkeit darauf warteten, dass der Empfänger nach zwei Wochen im Süden erholt und sonnengebräunt an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Entweder verursachte die Hitzewelle mehr Gewalttaten und Tötungsdelikte als normal - was vermutlich zutraf, die dänischen Statistiken auf diesem Gebiet kannte sie nicht -, oder aber einige der festangestellten Institutsmitarbeiter nutzten die Gelegenheit, der Vertretung so viel Arbeit wie möglich aufzubürden, was mit hundertprozentiger Sicherheit zutraf. Die kollegiale Solidarität umfasste selten Zeitarbeiter wie sie, ganz gleich, wie qualifiziert sie war.
»Ach, habe ich etwa vergessen, das zu erwähnen?«, hatte der Vizekommissar gefragt. »Von dem Toten sind nur noch die Knochen übrig, der Rest ist verwest. Die Leiche muss aus der Erde geborgen werden und so weiter. Ist das nicht Ihr Spezialgebiet? Wie lautet noch mal Ihr Spitzname? Die Skelettfrau, stimmt's?«
Sie hatte die Frage geflissentlich überhört und sich stattdessen nach den näheren Umständen erkundigt.
»Wie gesagt, ich weiß auch nicht mehr. Ich bin noch auf dem Weg dorthin. Wir sind gerade erst angefordert worden. Aber die Dorfpolizei hat die Leiche immerhin gefunden, zu irgendwas ist sie also doch gut.«
»Was soll das denn heißen?«
Diesmal sparte er sich die Antwort.
Noch immer schlängelte sich der Stau vor ihnen auf der Autobahn, so weit das Auge reichte. Linnea wurde plötzlich an einen anderen heißen Tag erinnert, den sie nie vergessen würde; wegen des Leichengestanks und des überwältigenden Gefühls von Grauen und Ohnmacht, in das er sie versetzt hatte.
Vielleicht tauchte die Erinnerung gerade jetzt auf, weil alles gewissermaßen an jenem Tag begonnen hatte: die lange Reise, die sie schließlich nach Dänemark geführt hatte. Nur einen Monat nach der Katastrophe, deren Ausmaß sich bis heute nicht abschließend einordnen ließ, hatte Linnea sich im New York Office of Chief Medical Examiner in der 1st Avenue nahe dem East River eingefunden. Sie hatte erst ein halbes Jahr ihrer Doktorandenausbildung absolviert, als sie die Gelegenheit nutzte, bei der erdrückenden Identifikationsarbeit am Ground Zero zu helfen. Wie alle anderen hatte sie ihr Leben bereits in ein Vorher und Nachher eingeteilt, als sie am 11. September 2001 wie versteinert vor dem Fernsehschirm saß. Und sie konnte sich nichts Erfüllenderes vorstellen, als ihre Ausbildung genau hier einzusetzen, ihr Wissen und ihre Erfahrung im Epizentrum der Katastrophe anzuwenden.
Als sie am Ground Zero ankam, sah es dort aus, als wären die todbringenden Flugzeuge erst wenige Sekunden zuvor in die Türme gekracht. Noch immer stieg aus den Ruinen Rauch auf, und die großen Stahlbalken ragten zerklüftet und anklagend aus der Mondlandschaft heraus. Man hatte in den Trümmern mehr als sechstausend Leichenteile gefunden. Überall um sie herum arbeiteten Rechtsmediziner, Pathologen und Anthropologen an Tischen und in Zelten, um so viele Opfer wie möglich zu identifizieren. In den ersten Tagen hatte sie noch das Gefühl, etwas beitragen zu können. Sie fand einen Sinn darin, aktiv mitzuwirken. Aber schon nach kurzer Zeit begann das unvorstellbare Ausmaß des Grauens an ihr zu zehren.
Kaum ein Toter konnte direkt identifiziert werden. Die Opfer waren verbrannt, in Stücke gesprengt oder auf unvorstellbare Weise verstümmelt worden. Die Temperatur ganz oben in den Türmen, wo die Flugzeuge eingeschlagen waren, hatte Berechnungen zufolge bei rund tausend Grad gelegen und war somit höher als bei einer Kremierung. Es gab Tausende von Toten, und für Linnea wurde der Sinn des Ganzen immer unfassbarer. Als sie damals in einer Pause vor einem Zelt der Heilsarmee auf der East 30th Street gestanden hatte, den Kaffeebecher in der einen, die Beatmungsmaske in der anderen Hand, war ihr bewusst geworden, dass sie nicht einfach an die Universität zu ihren Lehrbüchern zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Sie musste in die wirkliche Welt hinaus.
Der Tod, die Hoffnungslosigkeit, das Grauen - all das war ein Teil von ihr geworden.
2
Lnea nahm ihren Blackberry aus der Tasche und wählte. inSie hatte das Bedürfnis, die düsteren Gedanken abzu-
schütteln, und klappte den Sonnenschutz mit dem Makeup-Spiegel herunter. Während sie auf die Verbindung wartete, begutachtete sie sich kritisch. Das brachte sie normalerweise auf andere Gedanken.
Die Sonne hatte ihr Haar bereits ein wenig ausgebleicht. An sich war es dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer, doch jetzt dominierten die helleren Töne, was ihr eigentlich recht gut gefiel. Andererseits musste sie dringend zum Friseur. Normalerweise trug sie ihr Haar kurz, weil das am praktischsten war, obwohl sie sich hin und wieder ihr langes Haar von früher herbeisehnte.
Endlich meldete sich jemand am anderen Ende.
»Ich möchte bitte mit dem Leiter der Voruntersuchung sprechen«, bat sie, »wenn er inzwischen angekommen ist.«
»Das ist Bodilsen. Aber der hat keine Zeit. Die Hunde sind gerade angekommen, und er ist ziemlich im Stress.«
Der Polizist war außer Atem, als wäre er gerannt, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Können Sie mich dann vielleicht in den Fall einweisen, damit ich gleich mit der Arbeit anfangen kann, sobald ich ankomme?«
»Ich weiß nicht, wie viel ich Ihnen da helfen kann. Aber die Leiche liegt in der Nähe eines verlassenen Hauses. Der Besitzer hat vor zwanzig Jahren das umliegende Ackerland erworben, und das Haus gehörte dazu. Ich habe vorhin kurz mit ihm gesprochen. Seither habe niemand mehr dort gewohnt, sagt er. Doch als ich ein bisschen nachgebohrt habe, hat er zugegeben, dass sein Haus ein Treffpunkt für allerlei lichtscheues Gesindel ist, und er meinte, das wäre auch hinlänglich bekannt. Offenbar sucht die Polizei hier immer als Erstes nach gestohlenen Autos und anderem Diebesgut. Das Haus liegt ja schön einsam. Und es ist ganz sicher noch vor kurzem jemand da gewesen, denn außer Kleidungsstücken haben wir auch Lebensmittel gefunden. Na ja ... und ein paar Pornohefte.«
Linnea lächelte sich selbst im Spiegel an.
»Also nur das Allernötigste«, sagte sie. »Aber ich wollte eigentlich wissen, ob man den Fundort bereits abgesperrt hat, damit er nicht kontaminiert ist, wenn ich anfange zu graben?«
Der Polizist am anderen Ende der Leitung gluckste.
»Jetzt verstehe ich, wovon Bodilsen sprach. Als er hörte, dass man Sie angefordert hat, sagte er: ›Eigentlich haben wir unsere Fälle bisher immer ganz gut allein aufgeklärt, auch ohne Experten aus den USA.‹«
Linnea lachte über die Parodie des Polizisten, der Bodilsens übertriebenen Kopenhagener Dialekt nachgeahmt hatte. Sie konnte sehen, dass sich Boserup, der nur Bruchstücke des Telefonats mitbekam, vor Neugier kaum halten konnte. Offenbar war Linnea ihr Ruf wieder einmal vorausgeeilt.
»Dann nehme ich mal stark an, er hat schon untersucht, ob man einen Suizid ausschließen kann? Ich gehe davon aus, dass er weiß, was man als Erstes überprüft, wenn man eine Leiche im Wald findet.«
»Bodilsen sagt, dass die Leiche in der Erde vergraben lag. Sie gehen doch wohl nicht davon aus, dass sich ein Selbstmörder auch noch selbst beerdigt? Mich würde es wundern, wenn es sich hierbei nicht um Mord handelt.«
Linnea seufzte.
»Und Bodilsen weiß mit Sicherheit, dass der Tote nicht von irgendjemand anderem, der zufällig vorbeikam, beerdigt wurde, aus irgendeinem Grund, der uns noch nicht bekannt ist? Kann er das zum jetzigen Zeitpunkt bereits ausschließen?«
Am anderen Ende wurde es still, und Linnea bedankte sich bei dem Polizeibeamten für seine Hilfe und bat ihn, Bodilsen mitzuteilen, dass er sie schnellstmöglich zurückrufen solle. Dann beendete sie das Telefonat. Es war immer wieder verlockend und unterhaltsam, die Provinzpolizisten zu foppen, obwohl der arme Mann natürlich nichts dafür konnte, dass sein Chef ein Trottel war. Nachdem Linnea eine Weile ihren Kopf aus dem Fenster gestreckt und die leichte Brise genossen hatte, schrieb sie auf ihrem Blackberry eine Mail.
Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass Boserup sie noch immer verstohlen von der Seite beobachtete.
»Sie grübeln über die Sache mit dem Suizid?«, fragte sie. Er nickte.
»Das ist ganz banal: Nach oben schauen, ob dort Reste eines Seils hängen. Und nach unten, ob auf dem Boden ein Tablettenröhrchen oder eine Pistole liegen. Jedes Jahr verschwinden Tausende von Menschen. Und viele von ihnen bringen sich um. Die häufigste Todesursache bei einer Leiche, die man im Wald findet, ist Suizid. Und es gibt unzählige Gründe dafür, warum es auf den ersten Blick nicht danach aussieht. Das Seil ist längst verrottet. Jemand hat einfach die Waffe mitgenommen, ohne den Leichenfund bei der Polizei zu melden. Die Waldtiere und der Lauf der Zeit haben alle Spuren verwischt. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«
Kaum war Jonas im Vorgarten angelangt und außer Sichtweite, erstarb sein Lächeln. Seine Erinnerungen hatten ihn mitten im Meeting überfallen, und es war ein Kraftakt gewesen, das Geschäft abzuschließen, ohne seine innere Verfassung preiszugeben.
Er ließ sich schwer auf den Sitz seines Volvos fallen und drehte den Zündschlüssel, während er sich bemühte, wieder ruhig zu atmen. Er redete sich selbst gut zu, legte wie ferngesteuert den Gang ein und löste die Handbremse. Überlegte, ob er das Radio anmachen sollte, um sich abzulenken, entschied sich dann jedoch dagegen und ließ den Wagen langsam davonrollen. Dann schaltete er einen Gang höher, fuhr aber nur bis zur nächsten Straße. In diesem Moment brauchte er vor allem Ruhe, und in Skodsborg war das Risiko äußerst gering, an einem Sonntag jemand anderem als einer Haushaltshilfe oder einer Nanny von internationalem Format zu begegnen.
Er zog die Handbremse an und stellte den Motor aus. Als er aufsah, begegnete er seinem eigenen, erschrockenen Blick im Rückspiegel. Merkwürdigerweise war er das Einzige, was Jonas' aufgewühlten Zustand verriet. Das kurze dunkelblonde Haar saß perfekt, und seine Jacke verbarg die Schweißflecke unter seinen Armen. Doch sobald er die Augen schloss, kam alles zurück:
Der Schrei des Jugendlichen hallte im Raum wider und machte den Aufenthalt in der Baracke noch unerträglicher, als er es durch den stechenden Gestank von Schweiß, Erbrochenem und Blut ohnehin schon war. Das Thermometer war am Nachmittag auf 49 Grad geklettert. Aus der Ferne drang gedämpft der Lärm einiger Soldaten vom Camp Dannevang herein, die sich mit nackten Oberkörpern und ihren Hundemarken um den Hals zu einem improvisierten Beachvolleyball-Turnier mitten im Camp getroffen hatten. Hier drinnen war der Krieg dagegen ganz nah. Sie waren dabei, eine Grenze zu überschreiten, aber nun gab es keinen Weg mehr zurück. Der irakische Dolmetscher meinte, sie seien kurz davor, ihn zu brechen. Und als Jonas vor mehr als einer Stunde vorsichtig angedeutet hatte, dass es jetzt genug sei, hatte er eine deutliche Antwort erhalten: »Wessen Leben war es doch gleich, das hier am meisten zählt?«
Der Blick, mit dem Overbye seine gezischten Worte begleitet hatte, war noch deutlicher gewesen. Als stellvertretender Kompaniechef durfte Jonas es nicht wagen, die Autorität seines Hauptmanns in Frage zu stellen. Und schon gar nicht im Beisein zweier Untergebener, die genau in diesem Moment vor allem erfahren sollten, dass es der Nation diente, wenn sie den Kopf eines misshandelten Siebzehnjährigen nach oben hielten, damit ihr Hauptmann ihm ins Gesicht spucken konnte.
Jonas richtete sich auf, nahm die Zurechtweisung entgegen und wunderte sich einmal mehr darüber, wie leicht es ihm fiel, Befehlen zu gehorchen. Natürlich fügte er sich gerade deshalb so gut in die Armee ein und hatte es wohl immer schon getan. Doch obwohl er sich sofort wohlgefühlt hatte, als er vor fast zehn Jahren die Kaserne der Leibgarde betreten und zum ersten Mal die dort herrschende Disziplin und Struktur erlebt hatte, hätte er es sich nie träumen lassen, dass er einmal beim Militär Karriere machen würde. Eine Karriere, die ihn mit Lex' Worten »aus der gewöhnlichen Masse herausheben würde«. Beim Gedanken an ihre hochtrabende Ausdrucksweise musste er unwillkürlich lächeln. Sie war nie vor großen Worten zurückgescheut, seine Lex. Oft bewahrheiteten sich ihre Prophezeiungen tatsächlich, als wäre allein der Wille, den sie in ihre Worte legte, stark genug, um die Dinge Wirklichkeit werden zu lassen. Zumindest, was ihn betraf.
Während der Grundausbildung hatte er sich zum ersten Mal seit vielen Jahren entspannt gefühlt, da er sich nicht mehr um all die versteckten Codes und Hierarchien kümmern musste, die zu durchschauen ihn während seiner Schulzeit so viel Energie gekostet hatte. In einem Vorstadtghetto tat ein intelligenter Junge gut daran, seine Talente nicht zu sehr zu zeigen. Das hatte er schnell begriffen und verwendete seine Begabung stattdessen darauf, sich in einem sozialen Balanceakt den tonangebenden Gruppen in der Schule, auf der Straße und im Jugendzentrum anzupassen. Natürlich war die Hierarchie im Militär ziemlich dominierend. Aber sie war auf eine so befreiende Weise unmissverständlich, dass er nichts anderes tun musste, als seinen Platz im System einzunehmen. Jonas wusste, wer wem etwas zu sagen hatte, und bekam jeden Tag klare Ansagen darüber, was von ihm erwartet wurde. Trotzdem hatte er nach dem Ende seines Wehrdienstes eine Rückkehr nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Er war eine nötige Verschnaufpause für ihn gewesen, aber er sah die Armee nicht als den Ort an, wo er die Höhen erreichen konnte, zu denen er sich selbst berufen fühlte. Diese Überzeugung war nur eins von vielen Dingen, an denen Lex etwas ändern sollte.
Der irakische Dolmetscher fuhr fort, in rasantem Tempo die Drohungen und Anschuldigungen des Hauptmanns zu übersetzen. Jonas registrierte, dass er sich seiner Aufgabe mit ungewöhnlicher Leidenschaft widmete. Sein Tonfall klang fast genauso bedrohlich wie Overbyes, und seine Übersetzung schien oft bedeutend länger als das Original. Mit einem Mal fiel Jonas auf, welch eine Macht ein solcher Mann erlangen konnte - in einer Welt, in der Angst und Paranoia bei den Truppen mit jedem Selbstmordanschlag und jedem am Straßenrand versteckten Sprengsatz wuchsen.
Vor einer Woche erst war ein dänischer Soldat von einem ferngesteuerten Sprengsatz getötet und ein weiterer verletzt worden. Im Camp Dannevang waren die Flaggen nicht länger aufHalbmast gesetzt, aber alle waren noch immer spürbar betroffen. Die beiden Soldaten waren unterwegs gewesen, um zivile Mitarbeiter des dänischen Außenministeriums zu schützen, die in Basra stationiert waren, um beim Aufbau des Landes zu helfen. Nach dem Angriff war sofort der Umzug aller dänischen Zivilisten ins Camp der Shaibah Logistics Base organisiert worden. Und in Dänemark hatte der Außenminister das Geschehen im Fernsehen mit »ein weiterer Scheißtag im Irak« kommentiert.
Die Stimmung im Camp bei Basra war auf dem Siedepunkt. Als der Dolmetscher frische Informationen darüber lieferte, dass eine Gruppe junger irakischer Männer mit einer größeren Menge Sprengstoff gesichtet worden war, meldeten sich viele Freiwillige, um hinauszufahren und sie zu verhaften. Nach einer dreistündigen Fahrt fanden sie nur einen Jugendlichen, aber keinen Sprengstoff Und das war der Grund für dieses endlose Verhör, das vor allem zwischen dem Dolmetscher und dem Siebzehnjährigen stattzufinden schien.
Jetzt schrie der Jugendliche erneut auf. Jonas drehte sich weg und versuchte, seine Übelkeit zu bekämpfen. Dann wurde es still. Allzu still, bis Overbye begann, ein paar kurze Kommandos zu blaffen.
»Neergaard, du bringst den Dolmetscher nach draußen. Für den haben wir jetzt keinen Bedarf mehr. Dann bleibst du dort stehen, bis du wieder von mir hörst. Niemand kommt hier rein, verstanden?«
Jonas warf einen kurzen Blick auf den Jungen, bevor er den Dolmetscher nach draußen begleitete. Der Junge lag stumm auf der Seite, mit dem Rücken zum Raum, das Gesicht verborgen.
Dann knallte Overbye die Tür hinter ihnen zu, und sie befanden sich mitten im Camp in der grellen Sonne. Vereinzelt standen Soldaten herum und versuchten, sich nach dem Turnier mit dem Strahl einer Wasserflasche abzuduschen. Jonas erschien es irreal, dass alles einfach weiterging, als sei nichts geschehen. Als Jonas' Augen sich wieder ganz an das Licht gewöhnt hatten, war der Dolmetscher bereits im Aufbruch begriffen. Dann wandte er sich doch noch einmal um, lächelte kalt und klopfte Jonas auf die Schulter.
»Be seeing you, my man. Always happy to oblige.«
Danach überquerte er den Weg und schloss sich einer Gruppe Einheimischer an, die gerade dabei waren, den Kasernenverantwortlichen Lebensmittel zu verkaufen. Ein letztes Mal drehte er sich um und begegnete Jonas' Blick, noch immer lächelnd. Dann machte er das Victory -Zeichen und spuckte auf den Boden.
Jonas stützte sich gegen die Mauer und erbrach sein Frühstück.
Bereits kurz nach Roskilde waren sie auf der Autobahn in einen Stau geraten. Seither hatten sie es lediglich bis
zur nächsten Abfahrt geschafft, und jetzt bewegten sie sich kaum noch vorwärts. Nach mehreren Stockungen kam der Verkehr ganz zum Erliegen, und Linnea Kirkegaard sah irritiert von ihrem Blackberry auf. Es war unmöglich einzuschätzen, wie weit sich die Blechlawine nach vorn hin erstreckte. Der Polizeibeamte am Steuer des Fords warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, als sei er persönlich dafür verantwortlich, dass sich der Verkehr auf der Holbaek-Autobahn in den Sommerferien staute.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es sonntags so schlimm ist.«
»Gibt es denn keine Abkürzung?«
Linnea wollte bereits nach dem Navi greifen, um nach alternativen Routen zu suchen, aber ihr Fahrer schüttelte den Kopf. Er zeigte nach rechts, wo die Abfahrt nach Roskilde ebenfalls mit Autos verstopft war, die sich nicht vom Fleck rührten.
»Das kommt aufs selbe raus. Die Landstraße ist zu schmal, und die Autobahn wird nun schon seit Jahren ausgebaut. Die Strecke nach Nykøbing Sjxlland ist die reinste Hölle. Wie gut, dass man sich dort oben sowieso kein Ferienhaus leisten kann ... «
Linnea nickte resigniert und öffnete das Beifahrerfenster. So konnten sie wenigstens ein bisschen frische Luft schnappen, statt in der Nachmittagssonne zu schmoren. Der Polizist hieß Boserup, mehr wusste sie nicht über ihn. Sie war ihm heute zum ersten Mal begegnet, als er sie in Kopenhagen am Panum Institut abgeholt hatte. Sie war schon wieder für den Wochenenddienst am Rechtsmedizinischen Institut eingeteilt gewesen und hatte exakt neunzehn Minuten, bevor sich Boserup pflichtschuldig auf dem Parkplatz am Fælledvej einfand, vom bevorstehenden Einsatz erfahren. Ein Kommissar der mobilen Einheit der Kriminalpolizei hatte sie in der Abteilung für Forensische Anthropologie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass man irgendwo im Westen von Seeland eine Leiche gefunden hatte. Viel mehr wusste er nicht, oder er wollte es ihr nicht erzählen. Sie kannte ihn nicht, aber es war deutlich, dass er genau wusste, wer sie war.
»Wir haben einen Mann geschickt, um Sie abzuholen«, hatte er ihr am Telefon gesagt. »Bitte stehen Sie in zwanzig Minuten bereit.«
Linnea hatte die Stirn gerunzelt.
»Wir sind hier nicht im Selbstbedienungsladen! Ich habe heute als Einzige Dienst. Warum können Sie den Toten nicht einfach mit dem Knochenexpress hierherbringen lassen? Soweit ich weiß, ist das das Standardverfahren.«
Möglicherweise war ihr Tonfall etwas zu scharf gewesen. Aber die Aussicht, weniger als zwei Stunden vor Schichtende in irgendein Provinznest kutschiert zu werden, war alles andere als verlockend. Sie hatte gerade darauf spekuliert, dass sie diesen ungewöhnlich friedlichen Sommersonntag nutzen konnte, endlich ein paar Berichte fertig zu schreiben und sich einen Überblick über all die eiligen Arbeitsaufgaben zu verschaffen, die sich trotz des üblichen Sommerlochs angesammelt hatten. Sie hatte den leisen Verdacht, dass die Auftraggeber ohnehin im Urlaub waren und die eiligen Ergebnisse, die sie per Mail verschickte oder auf Anrufbeantworter sprach, in Wirklichkeit darauf warteten, dass der Empfänger nach zwei Wochen im Süden erholt und sonnengebräunt an seinen Schreibtisch zurückkehrte. Entweder verursachte die Hitzewelle mehr Gewalttaten und Tötungsdelikte als normal - was vermutlich zutraf, die dänischen Statistiken auf diesem Gebiet kannte sie nicht -, oder aber einige der festangestellten Institutsmitarbeiter nutzten die Gelegenheit, der Vertretung so viel Arbeit wie möglich aufzubürden, was mit hundertprozentiger Sicherheit zutraf. Die kollegiale Solidarität umfasste selten Zeitarbeiter wie sie, ganz gleich, wie qualifiziert sie war.
»Ach, habe ich etwa vergessen, das zu erwähnen?«, hatte der Vizekommissar gefragt. »Von dem Toten sind nur noch die Knochen übrig, der Rest ist verwest. Die Leiche muss aus der Erde geborgen werden und so weiter. Ist das nicht Ihr Spezialgebiet? Wie lautet noch mal Ihr Spitzname? Die Skelettfrau, stimmt's?«
Sie hatte die Frage geflissentlich überhört und sich stattdessen nach den näheren Umständen erkundigt.
»Wie gesagt, ich weiß auch nicht mehr. Ich bin noch auf dem Weg dorthin. Wir sind gerade erst angefordert worden. Aber die Dorfpolizei hat die Leiche immerhin gefunden, zu irgendwas ist sie also doch gut.«
»Was soll das denn heißen?«
Diesmal sparte er sich die Antwort.
Noch immer schlängelte sich der Stau vor ihnen auf der Autobahn, so weit das Auge reichte. Linnea wurde plötzlich an einen anderen heißen Tag erinnert, den sie nie vergessen würde; wegen des Leichengestanks und des überwältigenden Gefühls von Grauen und Ohnmacht, in das er sie versetzt hatte.
Vielleicht tauchte die Erinnerung gerade jetzt auf, weil alles gewissermaßen an jenem Tag begonnen hatte: die lange Reise, die sie schließlich nach Dänemark geführt hatte. Nur einen Monat nach der Katastrophe, deren Ausmaß sich bis heute nicht abschließend einordnen ließ, hatte Linnea sich im New York Office of Chief Medical Examiner in der 1st Avenue nahe dem East River eingefunden. Sie hatte erst ein halbes Jahr ihrer Doktorandenausbildung absolviert, als sie die Gelegenheit nutzte, bei der erdrückenden Identifikationsarbeit am Ground Zero zu helfen. Wie alle anderen hatte sie ihr Leben bereits in ein Vorher und Nachher eingeteilt, als sie am 11. September 2001 wie versteinert vor dem Fernsehschirm saß. Und sie konnte sich nichts Erfüllenderes vorstellen, als ihre Ausbildung genau hier einzusetzen, ihr Wissen und ihre Erfahrung im Epizentrum der Katastrophe anzuwenden.
Als sie am Ground Zero ankam, sah es dort aus, als wären die todbringenden Flugzeuge erst wenige Sekunden zuvor in die Türme gekracht. Noch immer stieg aus den Ruinen Rauch auf, und die großen Stahlbalken ragten zerklüftet und anklagend aus der Mondlandschaft heraus. Man hatte in den Trümmern mehr als sechstausend Leichenteile gefunden. Überall um sie herum arbeiteten Rechtsmediziner, Pathologen und Anthropologen an Tischen und in Zelten, um so viele Opfer wie möglich zu identifizieren. In den ersten Tagen hatte sie noch das Gefühl, etwas beitragen zu können. Sie fand einen Sinn darin, aktiv mitzuwirken. Aber schon nach kurzer Zeit begann das unvorstellbare Ausmaß des Grauens an ihr zu zehren.
Kaum ein Toter konnte direkt identifiziert werden. Die Opfer waren verbrannt, in Stücke gesprengt oder auf unvorstellbare Weise verstümmelt worden. Die Temperatur ganz oben in den Türmen, wo die Flugzeuge eingeschlagen waren, hatte Berechnungen zufolge bei rund tausend Grad gelegen und war somit höher als bei einer Kremierung. Es gab Tausende von Toten, und für Linnea wurde der Sinn des Ganzen immer unfassbarer. Als sie damals in einer Pause vor einem Zelt der Heilsarmee auf der East 30th Street gestanden hatte, den Kaffeebecher in der einen, die Beatmungsmaske in der anderen Hand, war ihr bewusst geworden, dass sie nicht einfach an die Universität zu ihren Lehrbüchern zurückkehren konnte, als wäre nichts geschehen. Sie musste in die wirkliche Welt hinaus.
Der Tod, die Hoffnungslosigkeit, das Grauen - all das war ein Teil von ihr geworden.
2
Lnea nahm ihren Blackberry aus der Tasche und wählte. inSie hatte das Bedürfnis, die düsteren Gedanken abzu-
schütteln, und klappte den Sonnenschutz mit dem Makeup-Spiegel herunter. Während sie auf die Verbindung wartete, begutachtete sie sich kritisch. Das brachte sie normalerweise auf andere Gedanken.
Die Sonne hatte ihr Haar bereits ein wenig ausgebleicht. An sich war es dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer, doch jetzt dominierten die helleren Töne, was ihr eigentlich recht gut gefiel. Andererseits musste sie dringend zum Friseur. Normalerweise trug sie ihr Haar kurz, weil das am praktischsten war, obwohl sie sich hin und wieder ihr langes Haar von früher herbeisehnte.
Endlich meldete sich jemand am anderen Ende.
»Ich möchte bitte mit dem Leiter der Voruntersuchung sprechen«, bat sie, »wenn er inzwischen angekommen ist.«
»Das ist Bodilsen. Aber der hat keine Zeit. Die Hunde sind gerade angekommen, und er ist ziemlich im Stress.«
Der Polizist war außer Atem, als wäre er gerannt, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Können Sie mich dann vielleicht in den Fall einweisen, damit ich gleich mit der Arbeit anfangen kann, sobald ich ankomme?«
»Ich weiß nicht, wie viel ich Ihnen da helfen kann. Aber die Leiche liegt in der Nähe eines verlassenen Hauses. Der Besitzer hat vor zwanzig Jahren das umliegende Ackerland erworben, und das Haus gehörte dazu. Ich habe vorhin kurz mit ihm gesprochen. Seither habe niemand mehr dort gewohnt, sagt er. Doch als ich ein bisschen nachgebohrt habe, hat er zugegeben, dass sein Haus ein Treffpunkt für allerlei lichtscheues Gesindel ist, und er meinte, das wäre auch hinlänglich bekannt. Offenbar sucht die Polizei hier immer als Erstes nach gestohlenen Autos und anderem Diebesgut. Das Haus liegt ja schön einsam. Und es ist ganz sicher noch vor kurzem jemand da gewesen, denn außer Kleidungsstücken haben wir auch Lebensmittel gefunden. Na ja ... und ein paar Pornohefte.«
Linnea lächelte sich selbst im Spiegel an.
»Also nur das Allernötigste«, sagte sie. »Aber ich wollte eigentlich wissen, ob man den Fundort bereits abgesperrt hat, damit er nicht kontaminiert ist, wenn ich anfange zu graben?«
Der Polizist am anderen Ende der Leitung gluckste.
»Jetzt verstehe ich, wovon Bodilsen sprach. Als er hörte, dass man Sie angefordert hat, sagte er: ›Eigentlich haben wir unsere Fälle bisher immer ganz gut allein aufgeklärt, auch ohne Experten aus den USA.‹«
Linnea lachte über die Parodie des Polizisten, der Bodilsens übertriebenen Kopenhagener Dialekt nachgeahmt hatte. Sie konnte sehen, dass sich Boserup, der nur Bruchstücke des Telefonats mitbekam, vor Neugier kaum halten konnte. Offenbar war Linnea ihr Ruf wieder einmal vorausgeeilt.
»Dann nehme ich mal stark an, er hat schon untersucht, ob man einen Suizid ausschließen kann? Ich gehe davon aus, dass er weiß, was man als Erstes überprüft, wenn man eine Leiche im Wald findet.«
»Bodilsen sagt, dass die Leiche in der Erde vergraben lag. Sie gehen doch wohl nicht davon aus, dass sich ein Selbstmörder auch noch selbst beerdigt? Mich würde es wundern, wenn es sich hierbei nicht um Mord handelt.«
Linnea seufzte.
»Und Bodilsen weiß mit Sicherheit, dass der Tote nicht von irgendjemand anderem, der zufällig vorbeikam, beerdigt wurde, aus irgendeinem Grund, der uns noch nicht bekannt ist? Kann er das zum jetzigen Zeitpunkt bereits ausschließen?«
Am anderen Ende wurde es still, und Linnea bedankte sich bei dem Polizeibeamten für seine Hilfe und bat ihn, Bodilsen mitzuteilen, dass er sie schnellstmöglich zurückrufen solle. Dann beendete sie das Telefonat. Es war immer wieder verlockend und unterhaltsam, die Provinzpolizisten zu foppen, obwohl der arme Mann natürlich nichts dafür konnte, dass sein Chef ein Trottel war. Nachdem Linnea eine Weile ihren Kopf aus dem Fenster gestreckt und die leichte Brise genossen hatte, schrieb sie auf ihrem Blackberry eine Mail.
Als sie wieder aufsah, bemerkte sie, dass Boserup sie noch immer verstohlen von der Seite beobachtete.
»Sie grübeln über die Sache mit dem Suizid?«, fragte sie. Er nickte.
»Das ist ganz banal: Nach oben schauen, ob dort Reste eines Seils hängen. Und nach unten, ob auf dem Boden ein Tablettenröhrchen oder eine Pistole liegen. Jedes Jahr verschwinden Tausende von Menschen. Und viele von ihnen bringen sich um. Die häufigste Todesursache bei einer Leiche, die man im Wald findet, ist Suizid. Und es gibt unzählige Gründe dafür, warum es auf den ersten Blick nicht danach aussieht. Das Seil ist längst verrottet. Jemand hat einfach die Waffe mitgenommen, ohne den Leichenfund bei der Polizei zu melden. Die Waldtiere und der Lauf der Zeit haben alle Spuren verwischt. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«
Kaum war Jonas im Vorgarten angelangt und außer Sichtweite, erstarb sein Lächeln. Seine Erinnerungen hatten ihn mitten im Meeting überfallen, und es war ein Kraftakt gewesen, das Geschäft abzuschließen, ohne seine innere Verfassung preiszugeben.
Er ließ sich schwer auf den Sitz seines Volvos fallen und drehte den Zündschlüssel, während er sich bemühte, wieder ruhig zu atmen. Er redete sich selbst gut zu, legte wie ferngesteuert den Gang ein und löste die Handbremse. Überlegte, ob er das Radio anmachen sollte, um sich abzulenken, entschied sich dann jedoch dagegen und ließ den Wagen langsam davonrollen. Dann schaltete er einen Gang höher, fuhr aber nur bis zur nächsten Straße. In diesem Moment brauchte er vor allem Ruhe, und in Skodsborg war das Risiko äußerst gering, an einem Sonntag jemand anderem als einer Haushaltshilfe oder einer Nanny von internationalem Format zu begegnen.
Er zog die Handbremse an und stellte den Motor aus. Als er aufsah, begegnete er seinem eigenen, erschrockenen Blick im Rückspiegel. Merkwürdigerweise war er das Einzige, was Jonas' aufgewühlten Zustand verriet. Das kurze dunkelblonde Haar saß perfekt, und seine Jacke verbarg die Schweißflecke unter seinen Armen. Doch sobald er die Augen schloss, kam alles zurück:
Der Schrei des Jugendlichen hallte im Raum wider und machte den Aufenthalt in der Baracke noch unerträglicher, als er es durch den stechenden Gestank von Schweiß, Erbrochenem und Blut ohnehin schon war. Das Thermometer war am Nachmittag auf 49 Grad geklettert. Aus der Ferne drang gedämpft der Lärm einiger Soldaten vom Camp Dannevang herein, die sich mit nackten Oberkörpern und ihren Hundemarken um den Hals zu einem improvisierten Beachvolleyball-Turnier mitten im Camp getroffen hatten. Hier drinnen war der Krieg dagegen ganz nah. Sie waren dabei, eine Grenze zu überschreiten, aber nun gab es keinen Weg mehr zurück. Der irakische Dolmetscher meinte, sie seien kurz davor, ihn zu brechen. Und als Jonas vor mehr als einer Stunde vorsichtig angedeutet hatte, dass es jetzt genug sei, hatte er eine deutliche Antwort erhalten: »Wessen Leben war es doch gleich, das hier am meisten zählt?«
Der Blick, mit dem Overbye seine gezischten Worte begleitet hatte, war noch deutlicher gewesen. Als stellvertretender Kompaniechef durfte Jonas es nicht wagen, die Autorität seines Hauptmanns in Frage zu stellen. Und schon gar nicht im Beisein zweier Untergebener, die genau in diesem Moment vor allem erfahren sollten, dass es der Nation diente, wenn sie den Kopf eines misshandelten Siebzehnjährigen nach oben hielten, damit ihr Hauptmann ihm ins Gesicht spucken konnte.
Jonas richtete sich auf, nahm die Zurechtweisung entgegen und wunderte sich einmal mehr darüber, wie leicht es ihm fiel, Befehlen zu gehorchen. Natürlich fügte er sich gerade deshalb so gut in die Armee ein und hatte es wohl immer schon getan. Doch obwohl er sich sofort wohlgefühlt hatte, als er vor fast zehn Jahren die Kaserne der Leibgarde betreten und zum ersten Mal die dort herrschende Disziplin und Struktur erlebt hatte, hätte er es sich nie träumen lassen, dass er einmal beim Militär Karriere machen würde. Eine Karriere, die ihn mit Lex' Worten »aus der gewöhnlichen Masse herausheben würde«. Beim Gedanken an ihre hochtrabende Ausdrucksweise musste er unwillkürlich lächeln. Sie war nie vor großen Worten zurückgescheut, seine Lex. Oft bewahrheiteten sich ihre Prophezeiungen tatsächlich, als wäre allein der Wille, den sie in ihre Worte legte, stark genug, um die Dinge Wirklichkeit werden zu lassen. Zumindest, was ihn betraf.
Während der Grundausbildung hatte er sich zum ersten Mal seit vielen Jahren entspannt gefühlt, da er sich nicht mehr um all die versteckten Codes und Hierarchien kümmern musste, die zu durchschauen ihn während seiner Schulzeit so viel Energie gekostet hatte. In einem Vorstadtghetto tat ein intelligenter Junge gut daran, seine Talente nicht zu sehr zu zeigen. Das hatte er schnell begriffen und verwendete seine Begabung stattdessen darauf, sich in einem sozialen Balanceakt den tonangebenden Gruppen in der Schule, auf der Straße und im Jugendzentrum anzupassen. Natürlich war die Hierarchie im Militär ziemlich dominierend. Aber sie war auf eine so befreiende Weise unmissverständlich, dass er nichts anderes tun musste, als seinen Platz im System einzunehmen. Jonas wusste, wer wem etwas zu sagen hatte, und bekam jeden Tag klare Ansagen darüber, was von ihm erwartet wurde. Trotzdem hatte er nach dem Ende seines Wehrdienstes eine Rückkehr nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Er war eine nötige Verschnaufpause für ihn gewesen, aber er sah die Armee nicht als den Ort an, wo er die Höhen erreichen konnte, zu denen er sich selbst berufen fühlte. Diese Überzeugung war nur eins von vielen Dingen, an denen Lex etwas ändern sollte.
Der irakische Dolmetscher fuhr fort, in rasantem Tempo die Drohungen und Anschuldigungen des Hauptmanns zu übersetzen. Jonas registrierte, dass er sich seiner Aufgabe mit ungewöhnlicher Leidenschaft widmete. Sein Tonfall klang fast genauso bedrohlich wie Overbyes, und seine Übersetzung schien oft bedeutend länger als das Original. Mit einem Mal fiel Jonas auf, welch eine Macht ein solcher Mann erlangen konnte - in einer Welt, in der Angst und Paranoia bei den Truppen mit jedem Selbstmordanschlag und jedem am Straßenrand versteckten Sprengsatz wuchsen.
Vor einer Woche erst war ein dänischer Soldat von einem ferngesteuerten Sprengsatz getötet und ein weiterer verletzt worden. Im Camp Dannevang waren die Flaggen nicht länger aufHalbmast gesetzt, aber alle waren noch immer spürbar betroffen. Die beiden Soldaten waren unterwegs gewesen, um zivile Mitarbeiter des dänischen Außenministeriums zu schützen, die in Basra stationiert waren, um beim Aufbau des Landes zu helfen. Nach dem Angriff war sofort der Umzug aller dänischen Zivilisten ins Camp der Shaibah Logistics Base organisiert worden. Und in Dänemark hatte der Außenminister das Geschehen im Fernsehen mit »ein weiterer Scheißtag im Irak« kommentiert.
Die Stimmung im Camp bei Basra war auf dem Siedepunkt. Als der Dolmetscher frische Informationen darüber lieferte, dass eine Gruppe junger irakischer Männer mit einer größeren Menge Sprengstoff gesichtet worden war, meldeten sich viele Freiwillige, um hinauszufahren und sie zu verhaften. Nach einer dreistündigen Fahrt fanden sie nur einen Jugendlichen, aber keinen Sprengstoff Und das war der Grund für dieses endlose Verhör, das vor allem zwischen dem Dolmetscher und dem Siebzehnjährigen stattzufinden schien.
Jetzt schrie der Jugendliche erneut auf. Jonas drehte sich weg und versuchte, seine Übelkeit zu bekämpfen. Dann wurde es still. Allzu still, bis Overbye begann, ein paar kurze Kommandos zu blaffen.
»Neergaard, du bringst den Dolmetscher nach draußen. Für den haben wir jetzt keinen Bedarf mehr. Dann bleibst du dort stehen, bis du wieder von mir hörst. Niemand kommt hier rein, verstanden?«
Jonas warf einen kurzen Blick auf den Jungen, bevor er den Dolmetscher nach draußen begleitete. Der Junge lag stumm auf der Seite, mit dem Rücken zum Raum, das Gesicht verborgen.
Dann knallte Overbye die Tür hinter ihnen zu, und sie befanden sich mitten im Camp in der grellen Sonne. Vereinzelt standen Soldaten herum und versuchten, sich nach dem Turnier mit dem Strahl einer Wasserflasche abzuduschen. Jonas erschien es irreal, dass alles einfach weiterging, als sei nichts geschehen. Als Jonas' Augen sich wieder ganz an das Licht gewöhnt hatten, war der Dolmetscher bereits im Aufbruch begriffen. Dann wandte er sich doch noch einmal um, lächelte kalt und klopfte Jonas auf die Schulter.
»Be seeing you, my man. Always happy to oblige.«
Danach überquerte er den Weg und schloss sich einer Gruppe Einheimischer an, die gerade dabei waren, den Kasernenverantwortlichen Lebensmittel zu verkaufen. Ein letztes Mal drehte er sich um und begegnete Jonas' Blick, noch immer lächelnd. Dann machte er das Victory -Zeichen und spuckte auf den Boden.
Jonas stützte sich gegen die Mauer und erbrach sein Frühstück.
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Autoren-Porträt von Benni Bødker, Karen V. Bruun
Ursel Allenstein, geb. 1978, Studium der Skandinavistik, Germanistik und Anglistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Schwedischen und Dänischen. Für die Arbeit an Sara Stridsbergs Roman erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Benni Bødker , Karen V. Bruun
- 2011, 400 Seiten, Maße: 12 x 18,9 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Allenstein, Ursel
- Übersetzer: Ursel Allenstein
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283721
- ISBN-13: 9783548283722
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