Verschwörung gegen Amerika
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Verschwörung gegenAmerika von Philip Roth
LESEPROBE
Der republikanische Parteitag 1940. Als mein Bruder undich an diesem Abend - Donnerstag, der 27. Juni - schlafen gingen, lief inunserem Wohnzimmer das Radio, und unsere Eltern und unser älterer Vetter Alvinsaßen dort und hörten sich die Live-Übertragung aus Philadelphia an. Nach sechsWahlgängen hatten die Republikaner immer noch keinen Kandidaten aufgestellt.Ein Delegierter sollte noch Lindbergh vorschlagen, aber der weilte auf einergeheimen Sitzung in einer Fabrik im Mittleren Westen, um an der Planung einesneuen Kampfflugzeugs mitzuwirken, und konnte daher nicht selbst anwesend seinund wurde auch gar nicht erwartet. Als Sandy und
ich zu Bett gingen, war der Parteitag immer noch gespalten zwischen Dewey,Wilkie und zwei mächtigen republikanischen Senatoren, Vandenberg aus Michiganund Taft aus Ohio, und es sah nicht danach aus, als könnten Parteibonzen wieder ehemalige Präsident Hoover, den Roosevelts überwältigender Sieg 1932 ausdem Amt gefegt hatte, oder Gouverneur Alf Landon, den Roosevelt vier Jahrespäter beim größten Erdrutschsieg der Geschichte gar noch schmählichergeschlagen hatte, in absehbarer Zeit eine Lösung im Hinterzimmer ausklüngeln.
Es war der erste schwüle Abend in diesem Sommer, die Fenster in allen Zimmernstanden offen, und Sandy und ich konnten, ob wir wollten oder nicht, auch nochim Bett die Übertragung weiterverfolgen, und zwar sowohl aus dem Radio inunserem eigenen Wohnzimmer als auch aus dem Radio in der Wohnung unter uns und- da die Häuser lediglich durch enge Gassen, kaum breit genug für ein Auto,voneinander getrennt waren - den Radios unserer Nachbarn zur Linken und zurRechten und gegenüber. Das war lange vor der Zeit, als Fenster-Klimaanlagen intropischen Nächten die Geräusche der Nachbarschaft übertönten, und so bekam derganze Block von Keer bis Chancellor die Sendung mit - ein Block, in dem keineinziger Republikaner lebte, weder in den gut dreißig Zweieinhalbfamilienhäusernnoch in dem neuen kleinen Mietshaus an der Kreuzung Chancellor Avenue. InStraßen wie der unseren wählten die Juden stramm demokratisch, solange FDR dieKandidatenliste anführte.
Aber wir waren noch Kinder und schliefen trotzdem ein, und wahrscheinlich wärenwir erst am Morgen wieder aufgewacht, wäre nicht um 3.18 Uhr in der Nacht - dieRepublikaner hatten auch
im zwanzigsten Wahlgang noch keine Entscheidung herbeiführen können - ganz undgar unerwartet Lindbergh in den Saal gekommen. Der schlanke, große,gutaussehende Held, ein geschmeidiger, athletischer Mann von nicht einmalvierzig Jahren, trat, erst wenige Minuten zuvor mit seinem Privatflugzeug inPhiladelphia gelandet, noch in seiner Fliegermontur vor die Versammlung, undsein Anblick wirkte auf die erschöpften Delegierten wie eine Erlösung undversetzte sie in solche Begeisterung, daß sie von den Sitzen sprangen und volledreißig Minuten lang »Lindy! Lindy! Lindy!« skandierten, ohne daß derVorsitzende sie auch nur einmal zur Ordnung rief. Die erfolgreiche Aufführungdieses spontanen pseudoreligiösen Schauspiels ging auf die Machenschaften desSenators Gerald P. Nye aus North Dakota zurück, eines rechtsradikalenIsolationisten, der nun Charles A. Lindbergh aus Little Falls, Minnesota, alsKandidaten vorschlug, worauf zwei der reaktionärsten Kongreßabgeordneten -Thorkelson aus Montana und Mundt aus South Dakota - die Nominierungunterstützten, und exakt um vier Uhr morgens, am Freitag, dem 28. Juni, kürteder republikanische Parteitag per Akklamation jenen Eiferer zumPräsidentschaftskandidaten, der in einer landesweit ausgestrahltenRundfunkansprache die Juden als »andere Völker« angeprangert hatte, die sichihren enormen »Einfluß« zunutze machten, um »unser Land in die Vernichtung zu führen«,statt uns wahrheitsgemäß als kleine Minderheit von Bürgern darzustellen, dieden christlichen Landsleuten zahlenmäßig weit unterlegen waren,
im großen und ganzen durch religiöse Vorurteile vom Streben nach Machtabgehalten wurden und den Grundsätzen der amerikanischen Demokratie ganz gewißnicht weniger treu waren als ein Bewunderer Adolf Hitlers.
»Nein!« war das Wort, das uns weckte, »Nein!« brüllte aus jedem Haus im Blockeine Männerstimme. Das kann nicht sein. Nein. Nicht zum Präsidenten der VereinigtenStaaten.
Binnen Sekunden saßen mein Bruder und ich wieder im Kreis der Familie am Radio,und keinem fiel es ein, uns ins Bett zurückzuschicken. So heiß es war, hattemeine sittsame Mutter einen Morgenmantel über ihr dünnes Nachthemd gezogen -auch sie hatte geschlafen und war von dem Lärm geweckt worden -, und jetzt saßsie neben meinem Vater auf dem Sofa und hielt sich die Finger vor den Mund, alsmüßte sie sich gleich erbrechen. Unterdessen schritt mein Vetter Alvin, den esnicht mehr auf seinem Platz gehalten hatte, in dem sechs mal vier Meter großenZimmer auf und ab mit der Entschlossenheit eines Rächers, der die ganze Stadtabsucht, um seinen schlimmsten Feind zu erledigen.
Der Zorn jener Nacht war ein echtes Schmiedefeuer, ein Hochofen, der einenaufnimmt und verbiegt wie Stahl. Und er legte sich nicht - nicht, solangeLindbergh schweigend auf dem Podium in Philadelphia stand und sich wiedereinmal als Erlöser der Nation feiern ließ, und auch nicht, als er mit seinerRede die Nominierung durch die Partei und damit den Auftrag annahm, Amerika ausdem europäischen Krieg herauszuhalten. Mit Entsetzen warteten wir nur nochdarauf, daß er seine boshafte Verleumdung der Juden vor dem Parteitagwiederholte, aber daß er das nicht tat, änderte nichts an der Stimmung, diegegen fünf Uhr morgens jede einzelne Familie aus unserem Block auf die Straßejagte. Ganze Familien, die man bis dahin nur in Straßenkleidung gekannt hatte,ließen sich in Pyjamas und Nachthemden unter ihren Bademänteln blicken und liefenin Pantoffeln durch die Morgendämmerung, als hätte ein Erdbeben sie aus ihrenHäusern getrieben. Aber der größte Schock für ein Kind war der Zorn, der Zornvon Männern, die ich als unbeschwerte Kiebitzer oder wortkarge, pflichtbewußteBrotverdiener kannte, die den ganzen Tag Abflußrohre reinigten oder Heizkesselwarteten oder pfundweise Äpfel verkauften und abends in die Zeitung schautenund Radio hörten und im Wohnzimmer auf dem Sessel einschliefen, einfache Leute,bei denen es sich zufällig um Juden handelte und die jetzt unter Mißachtungaller Anstandsregeln lauthals fluchend auf der Straße herumrannten: mit einemSchlag wieder in den elenden Kampf geworfen, von dem sie ihre Familien durchdie vom Schicksal glücklich gefügte Auswanderung der Generation davor endgültigbefreit glaubten. (...)
© Hanser Buchverlage
Übersetzung: Werner Schmitz
- Autor: Philip Roth
- 2005, 3. Aufl., 432 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Schmitz, Werner
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446206620
- ISBN-13: 9783446206625
- Erscheinungsdatum: 19.08.2005
"Schwindelerregend ... wieder einmal der beste Roman, den er je geschrieben hat. Vielleicht sogar einer der allerallerbesten ... Der Intellektuelle Philip Roth hat sich mit dem Meister des Gefühls verbündet - und dieses Gemeinschaftswerk schafft die Überbietung eines der Besten durch sich selbst." Elke Schmitter, Der Spiegel, 29.08.05
"Dramaturgisch exzellent, wie Roth die Weltgeschichte und die Alltagskatastrophen schroff gegeneinander stellt." Hannes Stein, Die Welt, 27.08.05
"Wer dieses Buch liest, begreift besser, nein, spürt sinnlich und anschaulich, was es heißt, dass die Geschichte, die sich im Rückblick immer als das Notwendige darstellt, bei ihrem Eintreten als das Unvorhergesehene kommt ... Den größten anzunehmenden Unfall durch die Augen eines achtjährigen Jungen sehen zu lernen, darin liegt literarische Weisheit, die höher ist als historische Vernunft." Ulrich Raulff, Süddeutsche, 09./10.10.04
"Der relevanteste, brisanteste lebende Schriftsteller. ... Das ist eine so schonungslose, so krasse Auslotung kindlicher Ängste, dass man Lindbergh und Hitler ganz vergisst und nach der Lektüre auch nicht wirklich beruhigt ist darüber, dass alles anders kam." Nils Minkmar, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.09.04
"Denn nicht nur Familiengeschichten, sondern Vater-Sohn-Beziehungen und die dazugehörigen Autoritätsschlachten sind das geheime Thema des Rothschen Werks." Paul Ingendaay, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.04"Ein beklemmendes Gedankenspiel: der neue Roman von Philip Roth. Ihn interessieren die Menschen in den Schockwellen der Politik." Uwe Schmitt, Die Welt, 30.09.04
"In den berührendsten Passagen seines Buchs zeigt Roth, wie die Welt des kleinen
" ...in jedem Augenblick so plausibel und so greifbar wirklich wie die Angst des Kindes in der Nacht ..." Thomas David, Neue Zürcher Zeitung, 03.10.04
"Wenn Roths literarische Meisterschaft sich je fixieren ließ, dann in jenen Passagen, in denen er aus der Sicht eines Halbwüchsigen schildert, wie Geschichte den Alltag eines kleinen Jungen verändert..." Denis Scheck, Focus, Ausgabe 34/05
"Großartig und realistisch. Überhaupt ist es dramaturgisch exzellent, wie Roth die Weltgeschichte und die Alltagskatastrophen schroff gegeneinander stellt." Hannes Stein, Die Welt, 27.08.05
"Eine so kühn wie mitreißend erzählte Geschichtsfiktion, episch und bestechend..." Oliver vom Hove, Die Presse / Wien, 10.09.2005
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