Versucht / House of Night Bd.6
Roman
Nachdem Zoey und ihre Freunde Kalona und Neferet aus Tulsa vertrieben haben, hätten sie eigentlich eine Pause verdient. Aber leider ist ihnen allen keine Ruhe vergönnt. Stevie Rae glaubt, dass sie mit ihren außergewöhnlichen Kräften alles allein regeln kann...
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
17.00 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Versucht / House of Night Bd.6 “
Klappentext zu „Versucht / House of Night Bd.6 “
Nachdem Zoey und ihre Freunde Kalona und Neferet aus Tulsa vertrieben haben, hätten sie eigentlich eine Pause verdient. Aber leider ist ihnen allen keine Ruhe vergönnt. Stevie Rae glaubt, dass sie mit ihren außergewöhnlichen Kräften alles allein regeln kann und verheimlicht ihren Freunden, was in den Tunneln unter Tulsa vor sich geht. Dort breitet sich eine mysteriöse und beängstigende Macht aus, die ihnen allen gefährlich werden könnte. Zoey stellt sich mittlerweile die Frage, ob sie ihr überhaupt noch vertrauen kann. Werden die beiden Freundinnen die richtigen Entscheidungen treffen?»Versucht« ist der sechste Band der »House of Night«-Serie
Lese-Probe zu „Versucht / House of Night Bd.6 “
House of Night 6 - Versucht von P. C. und Kristin Cast EINS
Zoey
Am Nachthimmel über Tulsa strahlte wie verzaubert die schmale Sichel des Mondes. In ihrem Schein glänzte die Eishülle über der Stadt und dem Benediktinerinnenkloster, in dem wir gerade unseren Showdown gegen einen gefallenen Unsterblichen und eine abtrünnige Hohepriesterin gehabt hatten, so hell, als trüge alles ein bisschen was von unserer Göttin in sich. Ich sah zu dem in Mondlicht gebadeten runden Platz vor dem Marienschrein hinüber, dem Ort der Macht, wo kurz zuvor Geist, Blut, Erde, Menschlichkeit und Nacht Gestalt angenommen und mit vereinten Kräften über Hass und Finsternis triumphiert hatten. Das aus Stein gehauene, von Rosen umrankte Marienbildnis auf einem Sims schien das Licht zu bündeln wie ein Leuchtfeuer. Ich blickte zu ihm auf. Das Gesicht der Muttergottes war heiter; ihre eisbedeckten Wangen glitzerten, als weinte sie in stiller Freude.
Mein Blick glitt weiter aufwärts zum Himmel. Danke, sandte ich ein stummes Gebet zu der Mondsichel hinauf, die meine Göttin Nyx symbolisierte. Wir leben noch. Und Kalona und Neferet sind weg.
»Ich danke dir«, hauchte ich dem Mond zu.
Horch in dich hinein ...
Zart und süß wie Sommerwind, der im Laub spielte, tanzten die Worte durch mich hindurch und fächelten so leicht an mein Bewusstsein, dass mein wacher Geist sie kaum bemerkte, dennoch brannte Nyx' geflüsterter Befehl sich in meine Seele ein.
Vage war mir bewusst, dass ich von vielen Leuten (also Nonnen, Jungvampyren und ein paar Vampyren) umgeben war. Die Nacht war erfüllt von Reden, Rufen, Weinen und sogar Lachen, aber all das kam mir weit weg vor. Alles, was für mich im Augenblick real war, waren der Mond dort oben und die Narbe, die sich von meiner einen Schulter quer über die Brust bis zur anderen zog. Zur Antwort auf
... mehr
mein leises Gebet prickelte sie, aber nicht vor Schmerz. Jedenfalls nicht so richtig. Es war ein vertrautes warmes, kribbelndes Gefühl, das mir bestätigte, dass Nyx mich wieder einmal als die Ihre Gezeichnet hatte. Ich wusste: wenn ich in meinen Ausschnitt schielen würde, würde ich die hochrote Narbe von einem neuen Tattoo aus exotischen Saphirmustern umrahmt finden - ein Zeichen dafür, dass ich dem Weg meiner Göttin folgte.
»Erik und Heath, nehmt euch Stevie Rae, Johnny B und Dallas und sucht das Grundstück ab, damit wir sicher sein können, dass alle Rabenspötter mit Kalona und Neferet geflohen sind!« Darius' laut gerufener Befehl katapultierte mich aus meinem warmen, gemütlichen Gebetsmodus, und augenblicklich schlugen das Chaos und der Geräuschwirrwarr über mir zusammen, als hätte jemand meinen iPod voll aufgedreht.
»Aber Heath ist ein Mensch, den macht ein Rabenspötter doch in einer Sekunde fertig«, rutschte es mir heraus, bevor ich mir den Mund verbieten konnte, womit zweifelsfrei bewiesen war, dass meine Trotteligkeit sich nicht darauf beschränkte, wie ein Mondkalb herumzustehen.
Natürlich blies Heath sich auf wie ein Ochsenfrosch.
»Zo, ich bin doch kein verdammtes Weichei!«
Erik, der in diesem Moment sehr groß und erwachsen und vampyrmäßig-überlegen aussah, schnaubte höhnisch. »Nein, du bist ein verdammter Mensch. Oh, ich fürchte, da ist das Weichei leider mit eingeschlossen.«
»Da besiegen wir die Oberbösen, und keine fünf Minuten später sind Erik und Heath schon wieder dabei, sich die Köpfe einzuschlagen. War ja klar«, sagte Aphrodite, die sich zu Darius gesellte, mit ihrem hauseigenen verächtlichen Lächeln. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich aber vollkommen, als sie sich dem Sohn des Erebos zuwandte. »Hey, Süßer, alles okay?«
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen«, sagte Darius. Ihre Augen trafen sich, und fast konnte man die Chemie zwischen ihnen knistern hören. Aber statt sie wie sonst in den Arm zu nehmen und ausgiebig zu küssen, richtete Darius seine Aufmerksamkeit wieder auf Stark.
Auch Aphrodites Blick wanderte zu Stark. »Igitt. Deine Brust ist total verkohlt.«
James Stark stand zwischen Erik und Darius - okay, >stand‹ war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn er schwankte und sah ziemlich wackelig aus.
Ohne Aphrodite zu beachten, sagte Erik: »Darius, du solltest Stark wohl besser nach drinnen bringen. Ich übernehme mit Stevie Rae die Leitung der Aufklärungsmission und schaue, dass hier draußen alles glatt läuft.« Seine Worte waren in Ordnung, aber er klang ein bisschen zu sehr nach >ich bin hier der, der sagt, wo's langgeht‹, und als er das Ganze mit einem gönnerhaften »Und Heath lasse ich auch helfen« krönte, klang er einfach nur noch wie ein widerlicher Poser.
»Du lässt mich helfen?«, knurrte Heath. »Dir helf ich auch gleich!«
»Hey, welcher von denen ist denn nun dein angeblicher Freund?«, fragte Stark mich. Seine Stimme war rau, und er klang beängstigend schwach, aber in seinen Augen blitzte so etwas wie Humor auf.
»Ich!«, gaben Heath und Erik im Chor zurück.
»Himmelhölle, Zoey, was für Idioten!«, sagte Aphrodite.
Stark begann zu lachen, was in einen Hustenanfall überging, der wiederum zu einem gepeinigten Keuchen wurde. Seine Augäpfel drehten sich nach oben, und wie eine Magische Spirale klappte er zusammen.
Mit der typisch atemberaubenden Geschwindigkeit eines Sohns des Erebos fing Darius Stark auf, bevor er zu Boden krachte. »Er muss dringend nach drinnen.«
Ich hatte das Gefühl, mir zersprang gleich der Kopf. So leblos wie Stark in Darius' Armen hing, sah er aus, als würde er es nicht mehr lange machen. »Ich - ich weiß nicht mal, wo hier die Krankenstation ist«, stotterte ich.
»Kein Problem. Ich hol uns einen Pinguin«, sagte Aphrodite und schrie einer der schwarzweiß gekleideten Schwestern, die sich aus dem Klostergebäude gewagt hatten, nachdem das Kampfgetümmel dem Nachkampfgetümmel gewichen war, lauthals zu: »Hey, Sie da, Nonne!«
Darius schritt der Nonne bereits entgegen, Aphrodite eilte hinterher. Über die Schulter warf der Krieger noch einen Blick auf mich. »Kommst du nicht mit uns, Zoey?«
»Gleich. Muss noch was erledigen.« Aber bevor ich mich Erik und Heath zuwenden konnte, ertönte hinter mir eine rettende Stimme in breitem Okie-Singsang.
»Geh mit Darius und Aphrodite, Z. Ich kümmer mich um Dumm und Dümmer und prüf nach, dass auch wirklich keine Schreckgespenster mehr hier rumschwirren. «
»Ach Stevie Rae, du bist die allerbeste Freundin, die's gibt.« Ich drehte mich um und umarmte sie. Es war so tröstlich, wie normal und echt sie sich anfühlte. Tatsächlich wirkte sie so normal, dass mich ein komisches Gefühl durchzuckte, als sie zurücktrat und mich angrinste und ich, als wär's das erste Mal, die scharlachroten Tattoos erblickte, die sich von der ausgefüllten Mondsichel in der Mitte ihrer Stirn rund um ihr Gesicht ringelten. Ein Hauch Unbehagen überkam mich.
Sie missverstand mein Zögern. »Mach dir keinen Kopf um die zwei Blödmänner. Ich krieg langsam Übung darin, sie auseinanderzutreiben. « Als ich weiter nur dastand und sie anstarrte, trübte sich ihr breites Grinsen. »Hey, deiner Grandma geht's gut, das weißt du? Kramisha hat sie gleich, nachdem Kalona verbannt war, nach drinnen gebracht, und Schwester Mary Angela hat mir gerade Bescheid gesagt, dass sie reingeht und nach ihr schaut.«
»Ja, ich hab gesehen, wie Kramisha Grandma in den Rollstuhl geholfen hat. Ich bin nur ... « Ich brach ab. Was war ich nur? Wie konnte ich in Worte fassen, dass ich das Gefühl nicht loswurde, etwas mit meiner besten Freundin und der Gruppe Kids, mit denen sie rumhing, stimmte nicht - und wie sollte ich das auch noch meiner besten Freundin beibringen?
»Du bist nur müde und machst dir über alles Mögliche Sorgen«, sagte Stevie Rae leise.
War es Verständnis, was durch ihren Blick huschte? Oder war es etwas anderes, Finsteres?
»Schon kapiert, Z. Hey, überlass das hier draußen mir. Geh du zu Stark und kümmer dich darum, dass es ihm gutgeht. « Sie umarmte mich noch einmal und gab mir einen kleinen Schubs Richtung Kloster.
»'kay. Danke«, sagte ich matt, wandte mich um und schenkte den beiden Blödmännern, die dastanden und mich anstarrten, keine Beachtung.
»Hey«, rief Stevie Rae mir nach, »sag Darius oder irgendwem, dass er 'n Auge auf die Uhrzeit haben soll. In etwa 'ner Stunde wird's hell, und du weißt, dann müssen die roten Jungvampyre und ich drinnen sein.«
»Ja, klar, mach ich«, sagte ich.
Das Problem war, es wurde immer schwerer zu vergessen, dass Stevie Rae nicht mehr dieselbe war wie früher.
Zwei
Stevie Rae
Okay, ihr zwei, jetzt hört mir mal zu. Ich sag das nur einmal: benehmt euch.« Stevie Rae stellte
sich, die Hände in den Hüften, zwischen Erik und Heath und blitzte sie wütend an. Ohne sie aus den Augen zu lassen, rief sie: »Dallas!«
Der Kleine war sofort da. »Was gibt's?«
»Hol Johnny B. Sag ihm, er soll mit Heath die Vorderfront des Klosters an der Lewis Street abgehen und nachschauen, ob die Rabenspötter wirklich alle weg sind. Du und Erik nehmt euch die Südseite vor. Ich schau mich bei den Bäumen an der Einundzwanzigsten um.«
»Ganz allein?«, fragte Erik.
»Ja, ganz allein«, fauchte sie zurück. »Pass mal auf, wenn ich wollte, könnte ich jetzt mit'm Fuß aufstampfen und die Erde zum Beben bringen. Oder dich packen und wegschleudern, dass du auf deinen dämlichen Machohintern fällst. Ich glaub, ich krieg's ganz gut alleine hin, die Bäume abzusuchen.«
Neben ihr fing Dallas an zu lachen. »Klare Sache: roter Vampyr mit Erdaffinität schlägt blauen DramaVampyr. «
Heath prustete los. Natürlich schwoll Erik sofort wieder der Kamm.
»Nein!«, sagte Stevie Rae, bevor die zwei Blödmänner wieder anfangen konnten, sich verbale Tiefschläge zu verabreichen. »Entweder du sagst was Nettes oder du hältst die Klappe.«
»Brauchst du mich, Stevie Rae?« Neben ihr tauchte Johnny B auf. »Hab gerade Darius getroffen, als der den Typ mit dem Pfeil nach drinnen brachte. Er hat mich zu dir geschickt.«
»Ja«, sagte sie erleichtert. »Kannst du mit Heath die Vorderseite des Klosters bei der Lewis Street absuchen, ob sich noch irgendwo Rabenspötter verstecken?«
»Schon dabei!« Johnny B boxte Heath spielerisch an die Schulter. »Komm, Quarterback, schau'n wir mal, was du drauf hast.«
»Achtet vor allem auf die Bäume und dieses verflixte Schattenzeug«, sagte Stevie Rae und schüttelte den Kopf, als Heath sich duckte und Johnny B seinerseits tänzelnd ein paar Knüffe verpasste.
»Alles klar«, sagte Dallas und machte sich mit Erik in die andere Richtung auf.
»Beeilt euch«, rief Stevie Rae ihnen nach. »Bald wird's hell. Wir treffen uns in etwa 'ner halben Stunde bei dem Marienschrein. Schreit, wenn ihr was findet, dann kommen wir anderen euch zu Hilfe.«
Sie sah den vier Jungs nach, ob die auch wirklich dorthin verschwanden, wo sie sollten, dann drehte sie sich um und machte sich mit einem Seufzer in ihren eigenen Sektor auf. Mannomann, das kostete Nerven! Sicher, sie liebte Z mehr als alles auf der Welt, aber wenn man sich mit ihren Jungs rumstreiten musste, fühlte man sich 'n bisschen wie 'ne Kröte in einem Tornado. Früher hatte sie Erik mal für den tollsten Typen der Welt gehalten. Jetzt, wo sie ein paar Tage mit ihm verbracht hatte, kam er ihr eher vor wie ein lausiger Depp mit XXL-Ego. Heath war süß, aber nun mal nur ein Mensch. War schon richtig, dass Z sich Sorgen um ihn machte. Menschen gingen einfach leichter drauf als Vampyre oder auch Jungvampyre. Sie spähte noch mal über die Schulter, um vielleicht noch einen Blick auf Johnny B und Heath zu erhaschen, aber die frostige Dunkelheit und die Bäume hatten sich zwischen sie und die anderen geschoben, und sie sah niemanden mehr.
Nicht, dass sie was dagegen hatte, zur Abwechslung mal allein zu sein. Johnny B würde schon auf Heath aufpassen. Sie war heilfroh, ihn und Eifersucht-Erik eine Weile los zu sein. Wenn sie die zwei beobachtete, wurde ihr immer klarer, was sie an Dallas hatte. Er war geradlinig und unkompliziert. Und er war so was wie ihr Freund. Aber das, was sie mit ihm am Laufen hatte, kam ihr nicht bei ihrem anderen Kram in die Quere. Dallas wusste, dass sie sich um 'ne Menge Zeug kümmern musste, und ließ sie machen. Und in der Freizeit war er für sie da. Easypeasy-japanesy.
Z könnte sich 'n Beispiel an mir nehmen, was Jungs angeht, dachte sie, während sie durch das kleine Eichengehölz hinter dem Marienschrein stapfte, das das Kloster von der geschäftigen Einundzwanzigsten Straße abschirmte.
Also, eines war sicher: das Wetter war ein Jammer. Stevie Rae war kaum ein Dutzend Schritte gegangen, schon waren ihre kurzen blonden Locken total durchnässt. Mann, das Wasser tropfte ihr sogar von der Nase! Mit dem Handrücken wischte sie sich den nasskalten Mix aus Regen und Eis vom Gesicht. Und alles war so dunkel und still. Verrückt, dass an der Einundzwanzigsten keine einzige Straßenlampe brannte. Und nicht ein Auto fuhr vorbei - nicht mal eine Polizeistreife. Rutschend und schlitternd stolperte sie die Böschung hinunter, bis sie die Straße unter den Füßen spürte. Nur dank ihrer supercoolen Roter-VampyrNachtsicht behielt sie die Orientierung. Als hätte Kalona, als er verduftete, alles Licht und alle Geräusche mitgenommen.
Irgendwie war sie ganz schön angespannt. Sie schob sich das triefend nasse Haar aus dem Gesicht und nahm ihren Mut zusammen. »Hör auf, dich zu benehmen wie 'n Huhn! Hühner sind 'n feiges Pack! Schäm dich!« Aber beim Klang ihrer Stimme erschreckte sie sich nur noch mehr, weil die Worte in dem Eis und der Dunkelheit so seltsam hallten.
Warum in aller Welt war sie so schreckhaft? »Vielleicht, weil du was vor deiner allerbesten Freundin verbirgst«, brummte sie vor sich hin und presste dann schnell die Lippen zusammen. Ihre Stimme war einfach viel zu laut für die schwarze, eisverhüllte Nacht.
Aber sie würde Z davon erzählen. Wirklich! Bisher war nur keine Zeit gewesen. Und Z hatte selbst so viel zu tun, da musste sie ihr nicht noch mehr Stress bereiten. Und ... und ... darüber zu reden war halt nicht so leicht, nicht mal mit Zoey.
Sie kickte mit dem Fuß gegen einen abgebrochenen, eisverkleideten Zweig. Ihr war klar, dass es ist nicht leicht keine Entschuldigung war. Sie würde mit Zoey reden. Sie musste. Aber nicht gleich. Später. Irgendwann.
Besser, sie konzentrierte sich erst mal auf die Gegenwart.
Blinzelnd, die Hand als Schirm über den Augen, um den piekenden Eisregen abzuhalten, spähte sie nach oben in die Zweige. Selbst bei der Dunkelheit und dem Unwetter sah sie noch ganz gut, und ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie keine großen dunklen Leiber über sich lauern sah. Auf dem Asphalt der Einundzwanzigsten Straße, wo es leichter zu gehen war, schritt sie den Rand des Klostergeländes ab, die Augen unablässig nach oben gerichtet.
Sie war schon fast bei dem Zaun, der das Grundstück der Nonnen von dem des Luxuswohnhauses daneben trennte, als sie es roch.
Blut. Irgendwie falsches Blut.
Stevie Rae hielt an. In fast raubtierhafter Weise nahm sie Witterung auf. Die Luft war von dem feuchten, dumpfen Geruch von Eis auf Erde erfüllt, vom frischen zimtähnlichen Duft der winterlichen Bäume und von der menschengemachten Ausdünstung des Asphalts unter ihren Füßen. Sie blendete all diese Gerüche aus und konzentrierte sich allein auf das Blut. Es war kein menschliches Blut, auch keines von einem Jungvampyr - es roch nicht nach Frühling und Sonnenlicht, nach Honig und Schokolade, nach Leben und Liebe und allem, wovon sie je geträumt hatte. Nein, dieses Blut roch zu dunkel. Zu schwer. Zu viel war darin, was nicht menschlich war. Aber es war trotz allem Blut, und es zog sie an, auch wenn sie tief drinnen wusste, wie falsch es war.
Der fremde, anderweltliche Geruch führte sie zu den ersten scharlachroten Spritzern. In der stürmischen Dunkelheit vor dem ersten Tagesanbruch waren es selbst für ihre hochentwickelten Augen nur feuchte Tropfen auf der Eisfläche von Straße und Böschung. Aber Stevie Rae wusste: es war Blut. Viel Blut.
Aber nirgendwo war ein Mensch, Tier oder sonstiges Wesen zu sehen, von dem es hätte stammen können. Da war nur eine Spur aus flüssiger Dunkelheit, die sich auf der Eisdecke verdichtete und von der Straße weg ins dichteste Unterholz des Wäldchens hinter dem Kloster führte.
Sofort setzten ihre Raubtierinstinkte ein. Fast lautlos und ohne zu atmen bewegte sich Stevie Rae die Blutspur entlang.
Sie fand es unter einem der größten Bäume, zusammengekrümmt unter einem dicken, ausladenden, frisch heruntergefallenen Ast, als hätte es sich dorthin verkrochen, um zu sterben.
Stevie Rae durchlief ein Schauer des Entsetzens. Es war ein Rabenspötter.
Er war riesig. Größer, als die Dinger aus der Entfernung ausgesehen hatten. Er lag auf der Seite, das Gesicht zum Boden gedreht, daher konnte sie kaum etwas davon erkennen. Der gewaltige Flügel, der vor ihr lag, sah unnormal aus, offensichtlich gebrochen, und der menschliche Arm darunter war seltsam abgespreizt und blutig. Auch die Beine hatten menschliche Form. Im Tod hatte er sie an den Körper gezogen, wie bei einem Embryo. Sie erinnerte sich, wie sie die Schüsse gehört hatte, als Zoey und ihre Leute wie eine Höllenarmee die Einundzwanzigste Straße entlang zum Kloster gesprengt waren. Offenbar hatte Darius ihn vom Himmel geschossen.
»Mannomann«, sagte sie tonlos. »Muss 'n verflixt fieser Sturz gewesen sein.«
Sie formte die Hände zum Sprachrohr und wollte schon nach Dallas rufen, damit er und die anderen Jungs ihr halfen, die Leiche woandershin zu schaffen - da zuckte der Rabenspötter und öffnete die Augen.
Sie konnte kein Glied rühren. Sie starrte ihn an und er sie. Die Augen in dem Vogelgesicht weiteten sich überrascht und sahen plötzlich unwahrscheinlich menschlich aus. Sein Blick flitzte nach allen Seiten und hinter sie - er schien sich zu vergewissern, ob sie allein war. Automatisch duckte sich Stevie Rae, hob abwehrend die Hände und sammelte sich, um die Erde zu Hilfe zu rufen.
Da hörte sie seine leise gesprochenen Worte.
»Töte mich.« Er keuchte vor Schmerz. »Bring es zu Ende.«
Seine Stimme klang so menschlich, so völlig unerwartet, dass Stevie Rae die Hände sinken ließ und einen Schritt zurücktaumelte. »Du kannst reden!«, entfuhr es ihr.
Da tat der Rabenspötter etwas, was sie zutiefst erschütterte und den Lauf ihres Lebens unwiderruflich änderte.
Er lachte.
Es war ein trockener, sarkastischer Laut, der in einem Aufstöhnen des Schmerzes endete. Aber es war Lachen, und es verlieh seinen Worten Menschlichkeit.
»Ja«, sagte er und rang nach Luft. »Ich kann reden.
Bluten. Sterben. Töte mich. Mach's kurz.« Er versuchte sich aufzusetzen, als könnte er seinen Tod kaum erwarten, und die Bewegung ließ ihn vor Qual aufschreien. Seine viel zu menschlichen Augen drehten sich nach oben, und er brach bewusstlos auf dem vereisten Boden zusammen.
Stevie Rae handelte, bevor sie überhaupt merkte, dass sie sich dafür entschieden hatte. Bei ihm angekommen, zögerte sie nur eine Sekunde. Er war mit dem Gesicht nach unten niedergesunken, und es war ein Leichtes für sie, seine Flügel beiseitezuschieben und ihn unter den Armen zu packen. Er war verdammt groß - also, ungefähr so wie ein kräftiger Mann, und sie machte sich darauf gefasst, dass er schwer sein würde, aber das war er nicht. Tatsächlich war er so leicht, dass es ein Kinderspiel war, ihn wegzuschleifen. Was sie zu ihrem eigenen Erstaunen auch tat, während ihr Gewissen in ihr zeterte: Was soll denn das? Hast du sie noch alle? Was soll das?
Was bei allen guten Geistern tat sie da?
Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, was sie nicht tun würde.
Sie würde den Rabenspötter nicht töten.
Drei
Zoey
Wird er wieder gesund? « Ich bemühte mich zu üstern, um Stark nicht zu wecken. Offensicht-
lich erfolglos, denn seine geschlossenen Augenlider flatterten, und seine Lippen verzogen sich kaum merklich zu einem schmerzverzerrten Schatten seines flegelhaften halben Grinsens.
»Ich bin noch nicht tot«, sagte er.
»Und ich hab nicht mit dir geredet«, sagte ich viel verärgerter, als ich wollte.
»Nicht so aufbrausend, u-we-tsi a-ge-hu-tsa«, ermahnte mich Grandma sanft, während Schwester Mary Angela, die Priorin des Benediktinerinnenklosters, ihr in das kleine Krankenzimmer half.
»Grandma! Da bist du ja!« Ich eilte hin und half ihr gemeinsam mit Schwester Mary Angela zu einem Stuhl.
»Sie macht sich nur Sorgen um mich.« Stark hatte die Augen wieder geschlossen, aber auf seinen Lippen spielte noch immer die Spur eines Lächelns.
»Das weiß ich, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya. Aber Zoey ist eine Hohepriesterin in Ausbildung und muss lernen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.«
Tsi-ta-ga-a-s-ha-ya! Wenn Grandma nicht so bleich und zerbrechlich ausgesehen hätte und ich nicht, na ja, nicht generell so besorgt gewesen wäre, hätte ich laut losgelacht. »Sorry, Grandma. Ich sollte mich besser beherrschen, aber das ist nicht so einfach, wenn die Leute, die ich mag, ständig fast sterben!«, erklärte ich eilig und musste um Atem ringen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Und solltest du nicht im Bett sein?«
»Bald, u-we-tsi a-ge-hu-tsa, bald.«
»Was heißt denn tsi-ta-ga-s-was-auch-immer?« Stark bekam gerade von Darius eine dicke Salbe auf seine Brandwunde geschmiert, deshalb klang er etwas angestrengt vor Schmerz, aber trotzdem erheitert und neugierig.
»Tsi-ta-ga-a-s-ha-ya«, sprach Grandma das Wort sorgfältig richtig aus, »bedeutet Gockel.«
Seine Augen glommen belustigt auf. »Es wird behauptet, Sie seien eine weise Frau.«
»Was weit weniger von Interesse ist als das, was man von dir behauptet, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya. «
Stark lachte bellend auf und sog dann vor Schmerz die Luft ein. »Stillhalten!«, knurrte Darius.
»Schwester, ich dachte, bei euch Nonnen wäre auch eine Ärztin.« Ich versuchte mir meine Panik nicht anmerken zu lassen.
»Ein menschlicher Arzt kann ihm nicht helfen«, sagte Darius, bevor Schwester Mary Angela antworten konnte. »Er benötigt Ruhe und Erholung und -«
»Ruhe und Erholung reichen völlig aus«, unterbrach ihn Stark. »Wie schon gesagt, ich bin noch nicht tot.« Sein Blick suchte den von Darius, und ich sah, wie der Sohn des Erebos nickte und kurz mit den Schultern zuckte, als gäbe er dem jüngeren Vampyr in irgendeinem Punkt nach.
Ich hätte den stummen Austausch einfach ignorieren sollen, aber meine Geduld war schon seit Stunden am Ende. »Okay, was verschweigt ihr mir?«
Die Nonne, die Darius assistierte, bedachte mich mit einem langen, eisigen Blick. »Vielleicht sollte der verletzte Junge eine Bestätigung erhalten, dass sein Opfer nicht umsonst war.«
Die schroffen Worte der Nonne trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Meine Kehle verengte sich, und ich brachte dem harten Blick der Frau gegenüber keine Erwiderung heraus. Was Stark zu opfern bereit gewesen war, war sein Leben gegen meines. Ich zwang meine trockene Kehle, zu schlucken. Was war mein Leben wert? Ich war erst knapp siebzehn. Ich hatte immer wieder bittere Fehler gemacht. Ich war die Reinkarnation eines Mädchens, das erschaffen worden war, um einen gefallenen Engel in die Falle zu locken, und das bedeutete, tief in meinem Innern konnte ich nicht anders, als ihn zu lieben, auch wenn ich genau wusste, dass das nicht gut war ... überhaupt nicht gut ...
Nein. Ich war es nicht wert, dass Stark sein Leben für mich opferte.
»Das weiß ich schon.« Starks Stimme schwankte plötzlich überhaupt nicht mehr, er klang kraftvoll und sicher. Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen und suchte seinen Blick.
»Was ich getan habe, hat nur zu meinem Job gehört«, sagte er. »Ich bin ein Krieger. Ich habe mein Leben in den Dienst von Zoey Redbird, Hohepriesterin und Erwählte der Nyx, gestellt. Also arbeite ich für die Göttin. Umzufallen und ein bisschen verbrannt zu werden sind echt Kinkerlitzchen, wenn ich dafür Zoey geholfen habe, die Bösen zu besiegen.«
»Wohl gesprochen, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya«, sagte Grandma.
»Schwester Emily, ich entlasse dich für den Rest der Nacht vom Krankenpflegedienst«, sagte Schwester Mary Angela. »Bitte schick stattdessen Schwester Bianca her. Ich würde dir raten, einige Zeit in aller Stille über Lukas 6,37 zu meditieren.«
»Wie Sie wünschen, Schwester«, sagte die Nonne und beeilte sich, den Raum zu verlassen.
»Lukas 6,37? Was steht da?«, fragte ich.
»›Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben‹«, gab Grandma mir zur Antwort und tauschte ein Lächeln mit Schwester Mary Angela. In diesem Moment klopfte Damien an die halb offen stehende Tür.
»Können wir reinkommen? Da ist jemand, der Stark dringend sehen muss.« Damien warf einen Blick über die Schulter und machte eine Zurückbleiben!-Geste. Das leise wuff!, das ihm antwortete, ließ stark vermuten, dass der Jemand eigentlich ein Je-Hund war.
»Lass sie nicht rein.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte Stark den Kopf von Damien und der Tür weg. »Sag diesem Jack, sie gehört jetzt ihm.«
»Nein.« Ich bedeutete Damien, der schon den Rückzug antreten wollte, dazubleiben. »Jack soll Duchess reinbringen.«
»Zoey, nein, ich -«, fing Stark an, aber als ich die Hand hob, verstummte er.
»Bring sie einfach rein«, sagte ich und sah Stark in die Augen. »Vertraust du mir?«
Er sah mich sehr, sehr lange an. Ich konnte in ganzer Klarheit erkennen, wie verletzlich er war und wie sehr es ihn schmerzte, aber schließlich nickte er knapp und sagte: »Ich vertraue dir.«
»Dann kommt rein«, sagte ich.
Damien drehte sich halb um, sagte etwas zu jemandem hinter sich und trat beiseite. Zuerst trat Jack, Damiens Freund, ins Zimmer. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen schimmerten verdächtig. Nach ein paar Schritten hielt er an und schaute zurück zur Tür.
»Ja, komm. Alles in Ordnung. Er ist hier drin«, lockte er.
Da tappte die helle Labradorhündin herein. Ich staunte, wie leise sie sich für einen so großen Hund bewegte. Neben Jack blieb sie kurz stehen, sah zu ihm hoch und wedelte mit dem Schwanz.
»Alles in Ordnung«, wiederholte Jack. Er lächelte Duchess zu und wischte sich dann die Tränen ab, die er nicht hatte zurückhalten können und die ihm die Wangen hinunterliefen. »Ihm geht's jetzt besser.« Er machte eine Geste zum Bett hin. Duchess' Blick folgte der Bewegung und blieb auf Stark haften.
Ich schwör's, wir hielten alle den Atem an, während der verletzte Junge und der Hund sich betrachteten.
»Hi, Süße«, sagte Stark zögernd mit tränenerstickter Stimme.
Duchess stellte die Ohren auf und hob den Kopf. Stark hielt ihr die Hand hin und winkte sie her. »Komm her, Duch.«
Als hätten seine Worte einen Damm gebrochen, sprang Duchess jappend und bellend auf ihn zu und tollte herum und führte sich unterm Strich so welpenhaft auf, wie man es bei ihrem über einem Zentner Lebendgewicht nun wirklich nicht erwartet hätte.
»Nein!«, schimpfte Darius. »Nicht aufs Bett!«
Duchess gehorchte und begnügte sich damit, ihren Kopf an Stark zu schmiegen, die Nase in seiner Achselhöhle zu vergraben und mit dem ganzen Körper zu wedeln, und mit leuchtendem Gesicht schmuste Stark mit ihr und sagte ihr immer und immer wieder, was für ein klasse Mädchen sie sei.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte, bis Damien mir ein Taschentuch reichte.
»Danke«, murmelte ich und wischte mir das Gesicht ab.
Er lächelte mir flüchtig zu, trat dann zu Jack und tätschelte ihm die Schulter (und reichte ihm ebenfalls ein Taschentuch). Ich hörte ihn sagen: »Komm, lass uns mal schauen, wo die Schwestern uns untergebracht haben. Du brauchst dringend Schlaf.«
Jack machte ein halb schniefendes, halb schluckaufähnliches Geräusch, nickte und ließ zu, dass Damien ihn zur Tür geleitete.
»Wart mal, Jack«, rief Stark ihnen nach.
Jack sah zurück zu dem Bett, wo Duchess ihren Kopf immer noch an Stark schmiegte, der ihr den Arm um den Hals gelegt hatte.
»Danke, dass du auf Duchess aufgepasst hast, als ich nicht konnte.«
»War kein Problem. Ich hatte noch nie einen Hund, deshalb wusste ich gar nicht, was für tolle Tiere sie sind.« In Jacks Stimme schlich sich ein kleiner Knickser. Er räusperte sich und fuhr fort. »Ich - ich bin froh, dass du nicht mehr, äh, eklig und böse bist und so, und dass sie wieder zu dir kommen kann.«
»Oh, was das angeht.« Stark verstummte und verzog das Gesicht, weil all die Bewegungen wohl doch ihren Zoll forderten. »Wird noch ein Weilchen dauern, bis ich wieder voll einsatzfähig bin, und selbst dann weiß ich nicht, welche Pflichten auf mich warten. Ich denke, du würdest mir 'nen Riesengefallen tun, wenn du damit einverstanden wärst, dass wir uns Duchess teilen.«
Jacks Gesicht hellte sich auf. »Echt?«
Stark nickte matt. »Echt. Könnten du und Damien Duch mit in euer Zimmer nehmen und sie vielleicht später noch mal zu mir bringen?«
»Aber klar doch!«, sagte Jack. Dann räusperte er sich und sprach weiter. »Wie gesagt, sie hat mir überhaupt keine Mühe gemacht.«
»Gut.« Stark nahm Duchess' Schnauze in die Hand und sah dem Labrador in die Augen. »Mir geht's gut, meine Süße. Geh mit Jack, damit ich ganz gesund werden kann.«
Es musste ihm furchtbare Qualen bereiten, aber er setzte sich auf, beugte sich zu Duchess hinunter, gab ihr einen Kuss und ließ sie sein Gesicht ablecken. »Gutes Mädchen ... so ist's recht, meine Süße ... «, flüsterte er, küsste sie noch einmal und sagte dann: »Geh jetzt mit Jack! Na geh schon!« Dabei zeigte er auf Jack.
Die Hündin leckte ihm noch einmal übers Gesicht und gab ein unwilliges Winseln von sich, dann löste sie sich von dem Bett, trottete zu Jack hinüber und stupste ihn schwanzwedelnd mit der Schnauze an. Er wischte sich mit einer Hand die Tränen ab und streichelte sie mit der anderen.
»Ich pass gut auf sie auf und bring sie bei Sonnenuntergang wieder vorbei, okay?«
Stark brachte ein Lächeln zustande. »Okay. Danke, Jack. « Dann ließ er sich wieder in die Kissen zurückfallen.
»Er braucht jetzt Ruhe und Erholung«, erklärte Darius und fuhr fort, ihn zu verarzten.
»Zoey, vielleicht kannst du mir helfen, deine Grandma in ihr Zimmer zu bringen?«, fragte Schwester Mary Angela. »Sie sollte sich auch ausruhen. Es war für uns alle eine lange Nacht.«
Meine Sorge verlagerte sich von Stark auf Grandma, und mein Blick flog zwischen den beiden Personen, die mir so viel bedeuteten, hin und her.
Stark fing meinen Blick auf. »Hey, kümmer dich um deine Grandma. Die Sonne geht gleich auf, das spüre ich. Dann gehen bei mir sowieso die Lichter aus.«
»Okay ... von mir aus.« Ich trat an sein Bett und stand erst mal ein bisschen hilflos da. Wie sollte ich mich verhalten? Ihn küssen? Ihm die Hand drücken? Ein blödes Kopf-hoch-Zeichen machen und ihn angrinsen? Ich meine, er war zwar nicht mein offizieller Freund, aber zwischen uns bestand eine Verbindung, die weit über das Kumpelmäßige hinausging. Befangen und sorgenvoll und ziemlich aus dem Konzept gebacht legte ich ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«
Seine Augen funkelten mich an und der Rest des Zimmers schien unwirklich zu werden. »Ich werde dein Herz immer gut behüten, selbst wenn dafür meines aufhören muss zu schlagen«, sagte er leise.
Ich bückte mich, küsste ihn auf die Stirn und wisperte: »Lass uns alles dransetzen, damit das nicht passiert, 'kay? «
»Okay«, erwiderte er.
»Bis Sonnenuntergang«, verabschiedete ich mich dann von ihm und ging schnell wieder zu Grandma hinüber. Schwester Mary Angela und ich halfen ihr hoch und stützten sie -- eigentlich trugen wir sie fast - aus Starks Zimmer und einen kurzen Gang entlang zu einem weiteren Krankenzimmer. Wie ich sie so festhielt, kam Grandma mir winzig und zerbrechlich vor, und mein Magen verkrampfte sich mal wieder vor Sorge um sie.
»Hör auf, dich verrückt zu machen, u-we-tsi a-gehu-tsa«, sagte sie, während Schwester Mary Angela mehrere Kissen um sie herumdrapierte und ihr half, eine bequeme Lage zu finden.
»Ich hole Ihnen Ihre Schmerzmittel«, sagte Schwester Mary Angela dann. »Ich werde auch noch einmal nachprüfen, ob die Vorhänge und Rollläden in Starks Zimmer wirklich lichtdicht verschlossen sind. Währenddessen können Sie sich noch unterhalten, aber wenn ich zurückkomme, nehmen Sie Ihre Tabletten und schlafen.«
»Sie sind eine harte Zuchtmeisterin, Mary Angela«, sagte Grandma.
»Das sagen gerade Sie, Sylvia«, gab die Nonne zurück und verließ mit raschen Schritten den Raum.
Grandma lächelte mich an und klopfte auf ihren Bettrand. »Komm, setz dich zu mir, u-we-tsi a-ge-hutsa. «
Ich setzte mich zu Grandma, zog die Beine an und versuchte achtzugeben, dass ich nicht das Bett durcheinanderbrachte. Ihr Gesicht war voller Blutergüsse und Verbrennungen von dem Airbag, der ihr das Leben gerettet hatte. Auf ihrer Lippe und Wange war je eine kurze dunkle Naht zu sehen. Ihr Kopf war verbunden, und ihr rechter Arm steckte in einem furchteinflößenden Gipsverband.
»Welche Ironie, dass meine Wunden so schlimm aussehen, wo sie doch viel weniger schmerzhaft und tief sind als die unsichtbaren Wunden in dir, nicht wahr?«, fragte sie.
Ich wollte ihr versichern, dass es mir wirklich gutging, aber ihre nächsten Worte versetzten dem Rest meiner zähen Verleugnung den Todesstoß.
»Wie lange weißt du schon, dass du die Reinkarnation des Mädchens A-ya bist?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
»Erik und Heath, nehmt euch Stevie Rae, Johnny B und Dallas und sucht das Grundstück ab, damit wir sicher sein können, dass alle Rabenspötter mit Kalona und Neferet geflohen sind!« Darius' laut gerufener Befehl katapultierte mich aus meinem warmen, gemütlichen Gebetsmodus, und augenblicklich schlugen das Chaos und der Geräuschwirrwarr über mir zusammen, als hätte jemand meinen iPod voll aufgedreht.
»Aber Heath ist ein Mensch, den macht ein Rabenspötter doch in einer Sekunde fertig«, rutschte es mir heraus, bevor ich mir den Mund verbieten konnte, womit zweifelsfrei bewiesen war, dass meine Trotteligkeit sich nicht darauf beschränkte, wie ein Mondkalb herumzustehen.
Natürlich blies Heath sich auf wie ein Ochsenfrosch.
»Zo, ich bin doch kein verdammtes Weichei!«
Erik, der in diesem Moment sehr groß und erwachsen und vampyrmäßig-überlegen aussah, schnaubte höhnisch. »Nein, du bist ein verdammter Mensch. Oh, ich fürchte, da ist das Weichei leider mit eingeschlossen.«
»Da besiegen wir die Oberbösen, und keine fünf Minuten später sind Erik und Heath schon wieder dabei, sich die Köpfe einzuschlagen. War ja klar«, sagte Aphrodite, die sich zu Darius gesellte, mit ihrem hauseigenen verächtlichen Lächeln. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich aber vollkommen, als sie sich dem Sohn des Erebos zuwandte. »Hey, Süßer, alles okay?«
»Du musst dir keine Sorgen um mich machen«, sagte Darius. Ihre Augen trafen sich, und fast konnte man die Chemie zwischen ihnen knistern hören. Aber statt sie wie sonst in den Arm zu nehmen und ausgiebig zu küssen, richtete Darius seine Aufmerksamkeit wieder auf Stark.
Auch Aphrodites Blick wanderte zu Stark. »Igitt. Deine Brust ist total verkohlt.«
James Stark stand zwischen Erik und Darius - okay, >stand‹ war vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn er schwankte und sah ziemlich wackelig aus.
Ohne Aphrodite zu beachten, sagte Erik: »Darius, du solltest Stark wohl besser nach drinnen bringen. Ich übernehme mit Stevie Rae die Leitung der Aufklärungsmission und schaue, dass hier draußen alles glatt läuft.« Seine Worte waren in Ordnung, aber er klang ein bisschen zu sehr nach >ich bin hier der, der sagt, wo's langgeht‹, und als er das Ganze mit einem gönnerhaften »Und Heath lasse ich auch helfen« krönte, klang er einfach nur noch wie ein widerlicher Poser.
»Du lässt mich helfen?«, knurrte Heath. »Dir helf ich auch gleich!«
»Hey, welcher von denen ist denn nun dein angeblicher Freund?«, fragte Stark mich. Seine Stimme war rau, und er klang beängstigend schwach, aber in seinen Augen blitzte so etwas wie Humor auf.
»Ich!«, gaben Heath und Erik im Chor zurück.
»Himmelhölle, Zoey, was für Idioten!«, sagte Aphrodite.
Stark begann zu lachen, was in einen Hustenanfall überging, der wiederum zu einem gepeinigten Keuchen wurde. Seine Augäpfel drehten sich nach oben, und wie eine Magische Spirale klappte er zusammen.
Mit der typisch atemberaubenden Geschwindigkeit eines Sohns des Erebos fing Darius Stark auf, bevor er zu Boden krachte. »Er muss dringend nach drinnen.«
Ich hatte das Gefühl, mir zersprang gleich der Kopf. So leblos wie Stark in Darius' Armen hing, sah er aus, als würde er es nicht mehr lange machen. »Ich - ich weiß nicht mal, wo hier die Krankenstation ist«, stotterte ich.
»Kein Problem. Ich hol uns einen Pinguin«, sagte Aphrodite und schrie einer der schwarzweiß gekleideten Schwestern, die sich aus dem Klostergebäude gewagt hatten, nachdem das Kampfgetümmel dem Nachkampfgetümmel gewichen war, lauthals zu: »Hey, Sie da, Nonne!«
Darius schritt der Nonne bereits entgegen, Aphrodite eilte hinterher. Über die Schulter warf der Krieger noch einen Blick auf mich. »Kommst du nicht mit uns, Zoey?«
»Gleich. Muss noch was erledigen.« Aber bevor ich mich Erik und Heath zuwenden konnte, ertönte hinter mir eine rettende Stimme in breitem Okie-Singsang.
»Geh mit Darius und Aphrodite, Z. Ich kümmer mich um Dumm und Dümmer und prüf nach, dass auch wirklich keine Schreckgespenster mehr hier rumschwirren. «
»Ach Stevie Rae, du bist die allerbeste Freundin, die's gibt.« Ich drehte mich um und umarmte sie. Es war so tröstlich, wie normal und echt sie sich anfühlte. Tatsächlich wirkte sie so normal, dass mich ein komisches Gefühl durchzuckte, als sie zurücktrat und mich angrinste und ich, als wär's das erste Mal, die scharlachroten Tattoos erblickte, die sich von der ausgefüllten Mondsichel in der Mitte ihrer Stirn rund um ihr Gesicht ringelten. Ein Hauch Unbehagen überkam mich.
Sie missverstand mein Zögern. »Mach dir keinen Kopf um die zwei Blödmänner. Ich krieg langsam Übung darin, sie auseinanderzutreiben. « Als ich weiter nur dastand und sie anstarrte, trübte sich ihr breites Grinsen. »Hey, deiner Grandma geht's gut, das weißt du? Kramisha hat sie gleich, nachdem Kalona verbannt war, nach drinnen gebracht, und Schwester Mary Angela hat mir gerade Bescheid gesagt, dass sie reingeht und nach ihr schaut.«
»Ja, ich hab gesehen, wie Kramisha Grandma in den Rollstuhl geholfen hat. Ich bin nur ... « Ich brach ab. Was war ich nur? Wie konnte ich in Worte fassen, dass ich das Gefühl nicht loswurde, etwas mit meiner besten Freundin und der Gruppe Kids, mit denen sie rumhing, stimmte nicht - und wie sollte ich das auch noch meiner besten Freundin beibringen?
»Du bist nur müde und machst dir über alles Mögliche Sorgen«, sagte Stevie Rae leise.
War es Verständnis, was durch ihren Blick huschte? Oder war es etwas anderes, Finsteres?
»Schon kapiert, Z. Hey, überlass das hier draußen mir. Geh du zu Stark und kümmer dich darum, dass es ihm gutgeht. « Sie umarmte mich noch einmal und gab mir einen kleinen Schubs Richtung Kloster.
»'kay. Danke«, sagte ich matt, wandte mich um und schenkte den beiden Blödmännern, die dastanden und mich anstarrten, keine Beachtung.
»Hey«, rief Stevie Rae mir nach, »sag Darius oder irgendwem, dass er 'n Auge auf die Uhrzeit haben soll. In etwa 'ner Stunde wird's hell, und du weißt, dann müssen die roten Jungvampyre und ich drinnen sein.«
»Ja, klar, mach ich«, sagte ich.
Das Problem war, es wurde immer schwerer zu vergessen, dass Stevie Rae nicht mehr dieselbe war wie früher.
Zwei
Stevie Rae
Okay, ihr zwei, jetzt hört mir mal zu. Ich sag das nur einmal: benehmt euch.« Stevie Rae stellte
sich, die Hände in den Hüften, zwischen Erik und Heath und blitzte sie wütend an. Ohne sie aus den Augen zu lassen, rief sie: »Dallas!«
Der Kleine war sofort da. »Was gibt's?«
»Hol Johnny B. Sag ihm, er soll mit Heath die Vorderfront des Klosters an der Lewis Street abgehen und nachschauen, ob die Rabenspötter wirklich alle weg sind. Du und Erik nehmt euch die Südseite vor. Ich schau mich bei den Bäumen an der Einundzwanzigsten um.«
»Ganz allein?«, fragte Erik.
»Ja, ganz allein«, fauchte sie zurück. »Pass mal auf, wenn ich wollte, könnte ich jetzt mit'm Fuß aufstampfen und die Erde zum Beben bringen. Oder dich packen und wegschleudern, dass du auf deinen dämlichen Machohintern fällst. Ich glaub, ich krieg's ganz gut alleine hin, die Bäume abzusuchen.«
Neben ihr fing Dallas an zu lachen. »Klare Sache: roter Vampyr mit Erdaffinität schlägt blauen DramaVampyr. «
Heath prustete los. Natürlich schwoll Erik sofort wieder der Kamm.
»Nein!«, sagte Stevie Rae, bevor die zwei Blödmänner wieder anfangen konnten, sich verbale Tiefschläge zu verabreichen. »Entweder du sagst was Nettes oder du hältst die Klappe.«
»Brauchst du mich, Stevie Rae?« Neben ihr tauchte Johnny B auf. »Hab gerade Darius getroffen, als der den Typ mit dem Pfeil nach drinnen brachte. Er hat mich zu dir geschickt.«
»Ja«, sagte sie erleichtert. »Kannst du mit Heath die Vorderseite des Klosters bei der Lewis Street absuchen, ob sich noch irgendwo Rabenspötter verstecken?«
»Schon dabei!« Johnny B boxte Heath spielerisch an die Schulter. »Komm, Quarterback, schau'n wir mal, was du drauf hast.«
»Achtet vor allem auf die Bäume und dieses verflixte Schattenzeug«, sagte Stevie Rae und schüttelte den Kopf, als Heath sich duckte und Johnny B seinerseits tänzelnd ein paar Knüffe verpasste.
»Alles klar«, sagte Dallas und machte sich mit Erik in die andere Richtung auf.
»Beeilt euch«, rief Stevie Rae ihnen nach. »Bald wird's hell. Wir treffen uns in etwa 'ner halben Stunde bei dem Marienschrein. Schreit, wenn ihr was findet, dann kommen wir anderen euch zu Hilfe.«
Sie sah den vier Jungs nach, ob die auch wirklich dorthin verschwanden, wo sie sollten, dann drehte sie sich um und machte sich mit einem Seufzer in ihren eigenen Sektor auf. Mannomann, das kostete Nerven! Sicher, sie liebte Z mehr als alles auf der Welt, aber wenn man sich mit ihren Jungs rumstreiten musste, fühlte man sich 'n bisschen wie 'ne Kröte in einem Tornado. Früher hatte sie Erik mal für den tollsten Typen der Welt gehalten. Jetzt, wo sie ein paar Tage mit ihm verbracht hatte, kam er ihr eher vor wie ein lausiger Depp mit XXL-Ego. Heath war süß, aber nun mal nur ein Mensch. War schon richtig, dass Z sich Sorgen um ihn machte. Menschen gingen einfach leichter drauf als Vampyre oder auch Jungvampyre. Sie spähte noch mal über die Schulter, um vielleicht noch einen Blick auf Johnny B und Heath zu erhaschen, aber die frostige Dunkelheit und die Bäume hatten sich zwischen sie und die anderen geschoben, und sie sah niemanden mehr.
Nicht, dass sie was dagegen hatte, zur Abwechslung mal allein zu sein. Johnny B würde schon auf Heath aufpassen. Sie war heilfroh, ihn und Eifersucht-Erik eine Weile los zu sein. Wenn sie die zwei beobachtete, wurde ihr immer klarer, was sie an Dallas hatte. Er war geradlinig und unkompliziert. Und er war so was wie ihr Freund. Aber das, was sie mit ihm am Laufen hatte, kam ihr nicht bei ihrem anderen Kram in die Quere. Dallas wusste, dass sie sich um 'ne Menge Zeug kümmern musste, und ließ sie machen. Und in der Freizeit war er für sie da. Easypeasy-japanesy.
Z könnte sich 'n Beispiel an mir nehmen, was Jungs angeht, dachte sie, während sie durch das kleine Eichengehölz hinter dem Marienschrein stapfte, das das Kloster von der geschäftigen Einundzwanzigsten Straße abschirmte.
Also, eines war sicher: das Wetter war ein Jammer. Stevie Rae war kaum ein Dutzend Schritte gegangen, schon waren ihre kurzen blonden Locken total durchnässt. Mann, das Wasser tropfte ihr sogar von der Nase! Mit dem Handrücken wischte sie sich den nasskalten Mix aus Regen und Eis vom Gesicht. Und alles war so dunkel und still. Verrückt, dass an der Einundzwanzigsten keine einzige Straßenlampe brannte. Und nicht ein Auto fuhr vorbei - nicht mal eine Polizeistreife. Rutschend und schlitternd stolperte sie die Böschung hinunter, bis sie die Straße unter den Füßen spürte. Nur dank ihrer supercoolen Roter-VampyrNachtsicht behielt sie die Orientierung. Als hätte Kalona, als er verduftete, alles Licht und alle Geräusche mitgenommen.
Irgendwie war sie ganz schön angespannt. Sie schob sich das triefend nasse Haar aus dem Gesicht und nahm ihren Mut zusammen. »Hör auf, dich zu benehmen wie 'n Huhn! Hühner sind 'n feiges Pack! Schäm dich!« Aber beim Klang ihrer Stimme erschreckte sie sich nur noch mehr, weil die Worte in dem Eis und der Dunkelheit so seltsam hallten.
Warum in aller Welt war sie so schreckhaft? »Vielleicht, weil du was vor deiner allerbesten Freundin verbirgst«, brummte sie vor sich hin und presste dann schnell die Lippen zusammen. Ihre Stimme war einfach viel zu laut für die schwarze, eisverhüllte Nacht.
Aber sie würde Z davon erzählen. Wirklich! Bisher war nur keine Zeit gewesen. Und Z hatte selbst so viel zu tun, da musste sie ihr nicht noch mehr Stress bereiten. Und ... und ... darüber zu reden war halt nicht so leicht, nicht mal mit Zoey.
Sie kickte mit dem Fuß gegen einen abgebrochenen, eisverkleideten Zweig. Ihr war klar, dass es ist nicht leicht keine Entschuldigung war. Sie würde mit Zoey reden. Sie musste. Aber nicht gleich. Später. Irgendwann.
Besser, sie konzentrierte sich erst mal auf die Gegenwart.
Blinzelnd, die Hand als Schirm über den Augen, um den piekenden Eisregen abzuhalten, spähte sie nach oben in die Zweige. Selbst bei der Dunkelheit und dem Unwetter sah sie noch ganz gut, und ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie keine großen dunklen Leiber über sich lauern sah. Auf dem Asphalt der Einundzwanzigsten Straße, wo es leichter zu gehen war, schritt sie den Rand des Klostergeländes ab, die Augen unablässig nach oben gerichtet.
Sie war schon fast bei dem Zaun, der das Grundstück der Nonnen von dem des Luxuswohnhauses daneben trennte, als sie es roch.
Blut. Irgendwie falsches Blut.
Stevie Rae hielt an. In fast raubtierhafter Weise nahm sie Witterung auf. Die Luft war von dem feuchten, dumpfen Geruch von Eis auf Erde erfüllt, vom frischen zimtähnlichen Duft der winterlichen Bäume und von der menschengemachten Ausdünstung des Asphalts unter ihren Füßen. Sie blendete all diese Gerüche aus und konzentrierte sich allein auf das Blut. Es war kein menschliches Blut, auch keines von einem Jungvampyr - es roch nicht nach Frühling und Sonnenlicht, nach Honig und Schokolade, nach Leben und Liebe und allem, wovon sie je geträumt hatte. Nein, dieses Blut roch zu dunkel. Zu schwer. Zu viel war darin, was nicht menschlich war. Aber es war trotz allem Blut, und es zog sie an, auch wenn sie tief drinnen wusste, wie falsch es war.
Der fremde, anderweltliche Geruch führte sie zu den ersten scharlachroten Spritzern. In der stürmischen Dunkelheit vor dem ersten Tagesanbruch waren es selbst für ihre hochentwickelten Augen nur feuchte Tropfen auf der Eisfläche von Straße und Böschung. Aber Stevie Rae wusste: es war Blut. Viel Blut.
Aber nirgendwo war ein Mensch, Tier oder sonstiges Wesen zu sehen, von dem es hätte stammen können. Da war nur eine Spur aus flüssiger Dunkelheit, die sich auf der Eisdecke verdichtete und von der Straße weg ins dichteste Unterholz des Wäldchens hinter dem Kloster führte.
Sofort setzten ihre Raubtierinstinkte ein. Fast lautlos und ohne zu atmen bewegte sich Stevie Rae die Blutspur entlang.
Sie fand es unter einem der größten Bäume, zusammengekrümmt unter einem dicken, ausladenden, frisch heruntergefallenen Ast, als hätte es sich dorthin verkrochen, um zu sterben.
Stevie Rae durchlief ein Schauer des Entsetzens. Es war ein Rabenspötter.
Er war riesig. Größer, als die Dinger aus der Entfernung ausgesehen hatten. Er lag auf der Seite, das Gesicht zum Boden gedreht, daher konnte sie kaum etwas davon erkennen. Der gewaltige Flügel, der vor ihr lag, sah unnormal aus, offensichtlich gebrochen, und der menschliche Arm darunter war seltsam abgespreizt und blutig. Auch die Beine hatten menschliche Form. Im Tod hatte er sie an den Körper gezogen, wie bei einem Embryo. Sie erinnerte sich, wie sie die Schüsse gehört hatte, als Zoey und ihre Leute wie eine Höllenarmee die Einundzwanzigste Straße entlang zum Kloster gesprengt waren. Offenbar hatte Darius ihn vom Himmel geschossen.
»Mannomann«, sagte sie tonlos. »Muss 'n verflixt fieser Sturz gewesen sein.«
Sie formte die Hände zum Sprachrohr und wollte schon nach Dallas rufen, damit er und die anderen Jungs ihr halfen, die Leiche woandershin zu schaffen - da zuckte der Rabenspötter und öffnete die Augen.
Sie konnte kein Glied rühren. Sie starrte ihn an und er sie. Die Augen in dem Vogelgesicht weiteten sich überrascht und sahen plötzlich unwahrscheinlich menschlich aus. Sein Blick flitzte nach allen Seiten und hinter sie - er schien sich zu vergewissern, ob sie allein war. Automatisch duckte sich Stevie Rae, hob abwehrend die Hände und sammelte sich, um die Erde zu Hilfe zu rufen.
Da hörte sie seine leise gesprochenen Worte.
»Töte mich.« Er keuchte vor Schmerz. »Bring es zu Ende.«
Seine Stimme klang so menschlich, so völlig unerwartet, dass Stevie Rae die Hände sinken ließ und einen Schritt zurücktaumelte. »Du kannst reden!«, entfuhr es ihr.
Da tat der Rabenspötter etwas, was sie zutiefst erschütterte und den Lauf ihres Lebens unwiderruflich änderte.
Er lachte.
Es war ein trockener, sarkastischer Laut, der in einem Aufstöhnen des Schmerzes endete. Aber es war Lachen, und es verlieh seinen Worten Menschlichkeit.
»Ja«, sagte er und rang nach Luft. »Ich kann reden.
Bluten. Sterben. Töte mich. Mach's kurz.« Er versuchte sich aufzusetzen, als könnte er seinen Tod kaum erwarten, und die Bewegung ließ ihn vor Qual aufschreien. Seine viel zu menschlichen Augen drehten sich nach oben, und er brach bewusstlos auf dem vereisten Boden zusammen.
Stevie Rae handelte, bevor sie überhaupt merkte, dass sie sich dafür entschieden hatte. Bei ihm angekommen, zögerte sie nur eine Sekunde. Er war mit dem Gesicht nach unten niedergesunken, und es war ein Leichtes für sie, seine Flügel beiseitezuschieben und ihn unter den Armen zu packen. Er war verdammt groß - also, ungefähr so wie ein kräftiger Mann, und sie machte sich darauf gefasst, dass er schwer sein würde, aber das war er nicht. Tatsächlich war er so leicht, dass es ein Kinderspiel war, ihn wegzuschleifen. Was sie zu ihrem eigenen Erstaunen auch tat, während ihr Gewissen in ihr zeterte: Was soll denn das? Hast du sie noch alle? Was soll das?
Was bei allen guten Geistern tat sie da?
Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, was sie nicht tun würde.
Sie würde den Rabenspötter nicht töten.
Drei
Zoey
Wird er wieder gesund? « Ich bemühte mich zu üstern, um Stark nicht zu wecken. Offensicht-
lich erfolglos, denn seine geschlossenen Augenlider flatterten, und seine Lippen verzogen sich kaum merklich zu einem schmerzverzerrten Schatten seines flegelhaften halben Grinsens.
»Ich bin noch nicht tot«, sagte er.
»Und ich hab nicht mit dir geredet«, sagte ich viel verärgerter, als ich wollte.
»Nicht so aufbrausend, u-we-tsi a-ge-hu-tsa«, ermahnte mich Grandma sanft, während Schwester Mary Angela, die Priorin des Benediktinerinnenklosters, ihr in das kleine Krankenzimmer half.
»Grandma! Da bist du ja!« Ich eilte hin und half ihr gemeinsam mit Schwester Mary Angela zu einem Stuhl.
»Sie macht sich nur Sorgen um mich.« Stark hatte die Augen wieder geschlossen, aber auf seinen Lippen spielte noch immer die Spur eines Lächelns.
»Das weiß ich, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya. Aber Zoey ist eine Hohepriesterin in Ausbildung und muss lernen, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.«
Tsi-ta-ga-a-s-ha-ya! Wenn Grandma nicht so bleich und zerbrechlich ausgesehen hätte und ich nicht, na ja, nicht generell so besorgt gewesen wäre, hätte ich laut losgelacht. »Sorry, Grandma. Ich sollte mich besser beherrschen, aber das ist nicht so einfach, wenn die Leute, die ich mag, ständig fast sterben!«, erklärte ich eilig und musste um Atem ringen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Und solltest du nicht im Bett sein?«
»Bald, u-we-tsi a-ge-hu-tsa, bald.«
»Was heißt denn tsi-ta-ga-s-was-auch-immer?« Stark bekam gerade von Darius eine dicke Salbe auf seine Brandwunde geschmiert, deshalb klang er etwas angestrengt vor Schmerz, aber trotzdem erheitert und neugierig.
»Tsi-ta-ga-a-s-ha-ya«, sprach Grandma das Wort sorgfältig richtig aus, »bedeutet Gockel.«
Seine Augen glommen belustigt auf. »Es wird behauptet, Sie seien eine weise Frau.«
»Was weit weniger von Interesse ist als das, was man von dir behauptet, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya. «
Stark lachte bellend auf und sog dann vor Schmerz die Luft ein. »Stillhalten!«, knurrte Darius.
»Schwester, ich dachte, bei euch Nonnen wäre auch eine Ärztin.« Ich versuchte mir meine Panik nicht anmerken zu lassen.
»Ein menschlicher Arzt kann ihm nicht helfen«, sagte Darius, bevor Schwester Mary Angela antworten konnte. »Er benötigt Ruhe und Erholung und -«
»Ruhe und Erholung reichen völlig aus«, unterbrach ihn Stark. »Wie schon gesagt, ich bin noch nicht tot.« Sein Blick suchte den von Darius, und ich sah, wie der Sohn des Erebos nickte und kurz mit den Schultern zuckte, als gäbe er dem jüngeren Vampyr in irgendeinem Punkt nach.
Ich hätte den stummen Austausch einfach ignorieren sollen, aber meine Geduld war schon seit Stunden am Ende. »Okay, was verschweigt ihr mir?«
Die Nonne, die Darius assistierte, bedachte mich mit einem langen, eisigen Blick. »Vielleicht sollte der verletzte Junge eine Bestätigung erhalten, dass sein Opfer nicht umsonst war.«
Die schroffen Worte der Nonne trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Meine Kehle verengte sich, und ich brachte dem harten Blick der Frau gegenüber keine Erwiderung heraus. Was Stark zu opfern bereit gewesen war, war sein Leben gegen meines. Ich zwang meine trockene Kehle, zu schlucken. Was war mein Leben wert? Ich war erst knapp siebzehn. Ich hatte immer wieder bittere Fehler gemacht. Ich war die Reinkarnation eines Mädchens, das erschaffen worden war, um einen gefallenen Engel in die Falle zu locken, und das bedeutete, tief in meinem Innern konnte ich nicht anders, als ihn zu lieben, auch wenn ich genau wusste, dass das nicht gut war ... überhaupt nicht gut ...
Nein. Ich war es nicht wert, dass Stark sein Leben für mich opferte.
»Das weiß ich schon.« Starks Stimme schwankte plötzlich überhaupt nicht mehr, er klang kraftvoll und sicher. Ich blinzelte die Tränen aus meinen Augen und suchte seinen Blick.
»Was ich getan habe, hat nur zu meinem Job gehört«, sagte er. »Ich bin ein Krieger. Ich habe mein Leben in den Dienst von Zoey Redbird, Hohepriesterin und Erwählte der Nyx, gestellt. Also arbeite ich für die Göttin. Umzufallen und ein bisschen verbrannt zu werden sind echt Kinkerlitzchen, wenn ich dafür Zoey geholfen habe, die Bösen zu besiegen.«
»Wohl gesprochen, tsi-ta-ga-a-s-ha-ya«, sagte Grandma.
»Schwester Emily, ich entlasse dich für den Rest der Nacht vom Krankenpflegedienst«, sagte Schwester Mary Angela. »Bitte schick stattdessen Schwester Bianca her. Ich würde dir raten, einige Zeit in aller Stille über Lukas 6,37 zu meditieren.«
»Wie Sie wünschen, Schwester«, sagte die Nonne und beeilte sich, den Raum zu verlassen.
»Lukas 6,37? Was steht da?«, fragte ich.
»›Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben‹«, gab Grandma mir zur Antwort und tauschte ein Lächeln mit Schwester Mary Angela. In diesem Moment klopfte Damien an die halb offen stehende Tür.
»Können wir reinkommen? Da ist jemand, der Stark dringend sehen muss.« Damien warf einen Blick über die Schulter und machte eine Zurückbleiben!-Geste. Das leise wuff!, das ihm antwortete, ließ stark vermuten, dass der Jemand eigentlich ein Je-Hund war.
»Lass sie nicht rein.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte Stark den Kopf von Damien und der Tür weg. »Sag diesem Jack, sie gehört jetzt ihm.«
»Nein.« Ich bedeutete Damien, der schon den Rückzug antreten wollte, dazubleiben. »Jack soll Duchess reinbringen.«
»Zoey, nein, ich -«, fing Stark an, aber als ich die Hand hob, verstummte er.
»Bring sie einfach rein«, sagte ich und sah Stark in die Augen. »Vertraust du mir?«
Er sah mich sehr, sehr lange an. Ich konnte in ganzer Klarheit erkennen, wie verletzlich er war und wie sehr es ihn schmerzte, aber schließlich nickte er knapp und sagte: »Ich vertraue dir.«
»Dann kommt rein«, sagte ich.
Damien drehte sich halb um, sagte etwas zu jemandem hinter sich und trat beiseite. Zuerst trat Jack, Damiens Freund, ins Zimmer. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen schimmerten verdächtig. Nach ein paar Schritten hielt er an und schaute zurück zur Tür.
»Ja, komm. Alles in Ordnung. Er ist hier drin«, lockte er.
Da tappte die helle Labradorhündin herein. Ich staunte, wie leise sie sich für einen so großen Hund bewegte. Neben Jack blieb sie kurz stehen, sah zu ihm hoch und wedelte mit dem Schwanz.
»Alles in Ordnung«, wiederholte Jack. Er lächelte Duchess zu und wischte sich dann die Tränen ab, die er nicht hatte zurückhalten können und die ihm die Wangen hinunterliefen. »Ihm geht's jetzt besser.« Er machte eine Geste zum Bett hin. Duchess' Blick folgte der Bewegung und blieb auf Stark haften.
Ich schwör's, wir hielten alle den Atem an, während der verletzte Junge und der Hund sich betrachteten.
»Hi, Süße«, sagte Stark zögernd mit tränenerstickter Stimme.
Duchess stellte die Ohren auf und hob den Kopf. Stark hielt ihr die Hand hin und winkte sie her. »Komm her, Duch.«
Als hätten seine Worte einen Damm gebrochen, sprang Duchess jappend und bellend auf ihn zu und tollte herum und führte sich unterm Strich so welpenhaft auf, wie man es bei ihrem über einem Zentner Lebendgewicht nun wirklich nicht erwartet hätte.
»Nein!«, schimpfte Darius. »Nicht aufs Bett!«
Duchess gehorchte und begnügte sich damit, ihren Kopf an Stark zu schmiegen, die Nase in seiner Achselhöhle zu vergraben und mit dem ganzen Körper zu wedeln, und mit leuchtendem Gesicht schmuste Stark mit ihr und sagte ihr immer und immer wieder, was für ein klasse Mädchen sie sei.
Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weinte, bis Damien mir ein Taschentuch reichte.
»Danke«, murmelte ich und wischte mir das Gesicht ab.
Er lächelte mir flüchtig zu, trat dann zu Jack und tätschelte ihm die Schulter (und reichte ihm ebenfalls ein Taschentuch). Ich hörte ihn sagen: »Komm, lass uns mal schauen, wo die Schwestern uns untergebracht haben. Du brauchst dringend Schlaf.«
Jack machte ein halb schniefendes, halb schluckaufähnliches Geräusch, nickte und ließ zu, dass Damien ihn zur Tür geleitete.
»Wart mal, Jack«, rief Stark ihnen nach.
Jack sah zurück zu dem Bett, wo Duchess ihren Kopf immer noch an Stark schmiegte, der ihr den Arm um den Hals gelegt hatte.
»Danke, dass du auf Duchess aufgepasst hast, als ich nicht konnte.«
»War kein Problem. Ich hatte noch nie einen Hund, deshalb wusste ich gar nicht, was für tolle Tiere sie sind.« In Jacks Stimme schlich sich ein kleiner Knickser. Er räusperte sich und fuhr fort. »Ich - ich bin froh, dass du nicht mehr, äh, eklig und böse bist und so, und dass sie wieder zu dir kommen kann.«
»Oh, was das angeht.« Stark verstummte und verzog das Gesicht, weil all die Bewegungen wohl doch ihren Zoll forderten. »Wird noch ein Weilchen dauern, bis ich wieder voll einsatzfähig bin, und selbst dann weiß ich nicht, welche Pflichten auf mich warten. Ich denke, du würdest mir 'nen Riesengefallen tun, wenn du damit einverstanden wärst, dass wir uns Duchess teilen.«
Jacks Gesicht hellte sich auf. »Echt?«
Stark nickte matt. »Echt. Könnten du und Damien Duch mit in euer Zimmer nehmen und sie vielleicht später noch mal zu mir bringen?«
»Aber klar doch!«, sagte Jack. Dann räusperte er sich und sprach weiter. »Wie gesagt, sie hat mir überhaupt keine Mühe gemacht.«
»Gut.« Stark nahm Duchess' Schnauze in die Hand und sah dem Labrador in die Augen. »Mir geht's gut, meine Süße. Geh mit Jack, damit ich ganz gesund werden kann.«
Es musste ihm furchtbare Qualen bereiten, aber er setzte sich auf, beugte sich zu Duchess hinunter, gab ihr einen Kuss und ließ sie sein Gesicht ablecken. »Gutes Mädchen ... so ist's recht, meine Süße ... «, flüsterte er, küsste sie noch einmal und sagte dann: »Geh jetzt mit Jack! Na geh schon!« Dabei zeigte er auf Jack.
Die Hündin leckte ihm noch einmal übers Gesicht und gab ein unwilliges Winseln von sich, dann löste sie sich von dem Bett, trottete zu Jack hinüber und stupste ihn schwanzwedelnd mit der Schnauze an. Er wischte sich mit einer Hand die Tränen ab und streichelte sie mit der anderen.
»Ich pass gut auf sie auf und bring sie bei Sonnenuntergang wieder vorbei, okay?«
Stark brachte ein Lächeln zustande. »Okay. Danke, Jack. « Dann ließ er sich wieder in die Kissen zurückfallen.
»Er braucht jetzt Ruhe und Erholung«, erklärte Darius und fuhr fort, ihn zu verarzten.
»Zoey, vielleicht kannst du mir helfen, deine Grandma in ihr Zimmer zu bringen?«, fragte Schwester Mary Angela. »Sie sollte sich auch ausruhen. Es war für uns alle eine lange Nacht.«
Meine Sorge verlagerte sich von Stark auf Grandma, und mein Blick flog zwischen den beiden Personen, die mir so viel bedeuteten, hin und her.
Stark fing meinen Blick auf. »Hey, kümmer dich um deine Grandma. Die Sonne geht gleich auf, das spüre ich. Dann gehen bei mir sowieso die Lichter aus.«
»Okay ... von mir aus.« Ich trat an sein Bett und stand erst mal ein bisschen hilflos da. Wie sollte ich mich verhalten? Ihn küssen? Ihm die Hand drücken? Ein blödes Kopf-hoch-Zeichen machen und ihn angrinsen? Ich meine, er war zwar nicht mein offizieller Freund, aber zwischen uns bestand eine Verbindung, die weit über das Kumpelmäßige hinausging. Befangen und sorgenvoll und ziemlich aus dem Konzept gebacht legte ich ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.«
Seine Augen funkelten mich an und der Rest des Zimmers schien unwirklich zu werden. »Ich werde dein Herz immer gut behüten, selbst wenn dafür meines aufhören muss zu schlagen«, sagte er leise.
Ich bückte mich, küsste ihn auf die Stirn und wisperte: »Lass uns alles dransetzen, damit das nicht passiert, 'kay? «
»Okay«, erwiderte er.
»Bis Sonnenuntergang«, verabschiedete ich mich dann von ihm und ging schnell wieder zu Grandma hinüber. Schwester Mary Angela und ich halfen ihr hoch und stützten sie -- eigentlich trugen wir sie fast - aus Starks Zimmer und einen kurzen Gang entlang zu einem weiteren Krankenzimmer. Wie ich sie so festhielt, kam Grandma mir winzig und zerbrechlich vor, und mein Magen verkrampfte sich mal wieder vor Sorge um sie.
»Hör auf, dich verrückt zu machen, u-we-tsi a-gehu-tsa«, sagte sie, während Schwester Mary Angela mehrere Kissen um sie herumdrapierte und ihr half, eine bequeme Lage zu finden.
»Ich hole Ihnen Ihre Schmerzmittel«, sagte Schwester Mary Angela dann. »Ich werde auch noch einmal nachprüfen, ob die Vorhänge und Rollläden in Starks Zimmer wirklich lichtdicht verschlossen sind. Währenddessen können Sie sich noch unterhalten, aber wenn ich zurückkomme, nehmen Sie Ihre Tabletten und schlafen.«
»Sie sind eine harte Zuchtmeisterin, Mary Angela«, sagte Grandma.
»Das sagen gerade Sie, Sylvia«, gab die Nonne zurück und verließ mit raschen Schritten den Raum.
Grandma lächelte mich an und klopfte auf ihren Bettrand. »Komm, setz dich zu mir, u-we-tsi a-ge-hutsa. «
Ich setzte mich zu Grandma, zog die Beine an und versuchte achtzugeben, dass ich nicht das Bett durcheinanderbrachte. Ihr Gesicht war voller Blutergüsse und Verbrennungen von dem Airbag, der ihr das Leben gerettet hatte. Auf ihrer Lippe und Wange war je eine kurze dunkle Naht zu sehen. Ihr Kopf war verbunden, und ihr rechter Arm steckte in einem furchteinflößenden Gipsverband.
»Welche Ironie, dass meine Wunden so schlimm aussehen, wo sie doch viel weniger schmerzhaft und tief sind als die unsichtbaren Wunden in dir, nicht wahr?«, fragte sie.
Ich wollte ihr versichern, dass es mir wirklich gutging, aber ihre nächsten Worte versetzten dem Rest meiner zähen Verleugnung den Todesstoß.
»Wie lange weißt du schon, dass du die Reinkarnation des Mädchens A-ya bist?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
... weniger
Autoren-Porträt von P. C. Cast, Kristin Cast
P.C. Cast ist die Autorin der zwölfbändigen House of Night-Serie. Sie wuchs in Illinois und Oklahoma auf und arbeitete viele Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über zwanzig Millionen Exemplaren und erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren geliebten Katzen, Hunden und Pferden in Oregon. P.C. Cast ist die Autorin der zwölfbändigen House of Night-Serie. Sie wuchs in Illinois und Oklahoma auf und arbeitete viele Jahre als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ihre Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über zwanzig Millionen Exemplaren und erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und ihren geliebten Katzen, Hunden und Pferden in Oregon.Christine Blum, aufgewachsen am Kaiserstuhl, studierte Literatur- und Kulturwissenschaften und übersetzt seit über fünfzehn Jahren aus dem Englischen und Russischen. Christine Blum, aufgewachsen am Kaiserstuhl, studierte Literatur- und Kulturwissenschaften und übersetzt seit über fünfzehn Jahren aus dem Englischen und Russischen.
Bibliographische Angaben
- Autoren: P. C. Cast , Kristin Cast
- Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
- 2012, 7. Aufl., 552 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christine Blum
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596190606
- ISBN-13: 9783596190607
- Erscheinungsdatum: 21.05.2012
Kommentare zu "Versucht / House of Night Bd.6"
0 Gebrauchte Artikel zu „Versucht / House of Night Bd.6“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Versucht / House of Night Bd.6".
Kommentar verfassen