Die Verwaltung des Nichts
In siebzehn thematisch eng verknüpften Essays resümiert Martin Walser seine Position als Schriftsteller heute: eine philosophische, künstlerische und gesellschaftliche Standortbestimmung, die in ihrer Erkenntnisschärfe, ihrer unbestechlichen Wahrnehmung und stilistischen Schönheit ihresgleichen sucht.
DieVerwaltung des Nichts von MartinWalser
LESEPROBE
Mehrere Vorreden zur Verwaltung des Nichts
Der Roman ist aus dem Mangel der Geschichte entstanden. Novalis
Wer zur Zeit nach dem Herkommen fragt, der erfährt, wenner die Naturwissenschaft fragt, zwei Milliarden Jahre lang seien Nukleinsäurenund Proteinbausteine aufeinander gestoßen, ohne daß dadurch eine lebende Zellezustande gekommen sei. Dann aber, nach zwei Milliarden Jahren, klappte es, dieerste Zelle, die lebendig genannt werden darf, entstand: Fortpflanzung warmöglich geworden. Evolution konnte beginnen. Jetzt dauerte es nur noch eineMilliarde Jahre, bis der Mensch entstand. Es habe aber ungeheurer Zufällebedurft, daß es so weit kam. Der Mensch sei das äußerste Unwahrscheinliche gewesen.Die Zufälle, die das Entstehen des Menschen begünstigten, werden bezeichnet alsAblesefehler bei der Codierung der Proteinbausteine durch die Nukleinsäuresequenzen.
Der Mensch hat sein Herkommen zuerst nur bildlich gefaßt.Mit Schöpfungsmythen der wunderbarsten Art hat er auf die Unwahrscheinlichkeitseines Zur-Welt-Kommens reagiert. Die Mutanten-Abenteuer und Evolutionseskapadenwaren da nur mit Gott und Göttern zu fassen. Der Mensch war damals ein Dichter.Und ist es geblieben. Allerdings ist er dann empfindlich geworden gegenüberden wunderbaren Geschichten, mit denen er sein Dasein erklärt bekam. Nehmen wirgleich Hölderlin, er war einer der frömmsten Dichter überhaupt, aber auch einerder empfindlichsten. Und schrieb in seinem <Hyperion>: «O ihr Armen, dieihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung,die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet,... so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben einNichts, glauben an Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mählich überzugehenins Nichts - was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihrs ernstlichbedenkt? ... Wenn ich hinsehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts.Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts.» Hölderlinverwendet Nichts am liebsten ohne bestimmten Artikel. SeineSprachempfindlichkeit hätte es offenbar nicht erlaubt zu sagen: das Nichts.Auch wenn wir inzwischen abgebrüht genug, das heißt unempfindlich genug sind,fort und fort das Nichts zu sagen, sollten wir wenigstensmanchmal daran denken, daß es besser und schöner wäre, vom Nichts artikellos zusprechen. Das heißt vom Nichts sprechen, ohne es dem Vokabular auszuliefern, indem Un-Wörter wie Nihilismus gang und gäbe sind. «So ist denn alles nichts»,läßt Goethe gelegentlich seinen Wilhelm Meister empfinden.
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© 2004 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
- Autor: Martin Walser
- 2004, 1. Auflage, 288 Seiten, Maße: 12,8 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498073540
- ISBN-13: 9783498073541
- Erscheinungsdatum: 24.09.2004
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