Vier Äpfel
Tiefkühlkost und Frauenhaar - ein Mann geht einkaufen, verirrt sich im Supermarkt und begegnet einer verlorenen Liebe.
«Mit David Wagner ist einer der scharfsichtigsten Beobachter des Alltags wieder da.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung
«The...
«Mit David Wagner ist einer der scharfsichtigsten Beobachter des Alltags wieder da.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vier Äpfel “
Klappentext zu „Vier Äpfel “
Tiefkühlkost und Frauenhaar - ein Mann geht einkaufen, verirrt sich im Supermarkt und begegnet einer verlorenen Liebe.«Mit David Wagner ist einer der scharfsichtigsten Beobachter des Alltags wieder da.»
Frankfurter Allgemeine Zeitung
«The Proust-inspired West German stylist.»
The New York Times
Mit vier Äpfeln fängt alles an. Ein Mann, der weniger zu tun hat, als ihm lieb ist, erlebt an der Obst- und Gemüsewaage seines Supermarkts einen magischen Moment: Die grüne Leuchtanzeige zeigt
Vier Äpfel, die zusammen genau tausend Gramm wiegen? Er ist, er weiß selbst nicht genau, wieso, gerührt, klebt das Etikett mit der Strichcodezeichnung vorsichtig auf die Tüte und schiebt seinen Wagen durch eine so bisher kaum beachtete Welt. Seine Gedanken schweifen ab in eine Zeit, als man noch in kleineren Läden andere Dinge kaufte, zu "Frühergerüchen", zum Einkaufsverhalten überhaupt, und er erinnert sich an L., die Frau, die ihn verlassen hat. "Vier Äpfel" erzählt von tieftraurigen Produkten und ihren Konsumenten, erzählt die Geschichte einer alten Liebe, einer Gegenwart, die immer schon vergangen ist. David Wagner hat einen Roman geschrieben, der Wahrnehmungsweisen schärft, sie vielleicht sogar verändert. Darin liegt seine große Kunst.
Vier Äpfel, die zusammen genau tausend Gramm wiegen? Er ist, er weiß selbst nicht genau, wieso, gerührt, klebt das Etikett mit der Strichcodezeichnung vorsichtig auf die Tüte und schiebt seinen Wagen durch eine so bisher kaum beachtete Welt. Seine Gedanken schweifen ab in eine Zeit, als man noch in kleineren Läden andere Dinge kaufte, zu "Frühergerüchen", zum Einkaufsverhalten überhaupt, und er erinnert sich an L., die Frau, die ihn verlassen hat. "Vier Äpfel" erzählt von tieftraurigen Produkten und ihren Konsumenten, erzählt die Geschichte einer alten Liebe, einer Gegenwart, die immer schon vergangen ist. David Wagner hat einen Roman geschrieben, der Wahrnehmungsweisen schärft, sie vielleicht sogar verändert. Darin liegt seine große Kunst.
Lese-Probe zu „Vier Äpfel “
Vier Äpfel von David Wagner Lange bin ich gar nicht gern in Supermärkte gegangen. Heute aber trete ich durch die leise zur Seite gleitende Schiebetür und sehe gleich den Rücken meiner Lieblingskassiererin an der Kasse links, ich erkenne sie an ihrem langen, blonden, gewellten Haar. Ich bleibe stehen, suche in meiner Hosentasche nach einer Münze für das Einkaufswagenschloß und schaue zu, wie sie das Strichcode-Etikett einer Käse- oder Fleischwarentüte mit unnachahmlicher Handbewegung über das Scannerfeld ihrer Computerkasse schwenkt. Dann durchquere ich den Raum vor den Kassen, löse einen Einkaufswagen von der Kette, ziehe ihn heraus, wende Richtung Drehkreuz und schiebe ihn durch den Vorhang aus den drei signalorangefarbenen Plastikelementen, die mich immer an ihre entfernten Verwandten, die Fliegenvorhänge aus bunten Plastikstreifen, erinnern. Hinter solchen Strandhüttenvorhängen liegt das Meer, hier, im Supermarkt, zeigen sie nur an, wo der Verkaufsraum beginnt.
Ich gebe dem Einkaufswagen einen Stoß, er rollt unter der Sperre hindurch, die schmalen Plastikzungen klappen nach hinten und schwingen schon wieder vor, während ich durch das Drehkreuz gehe, in dem ich mich, wie immer, für einen kurzen Augenblick gefangen fühle, bevor ich die Verkaufsfläche betrete und in ein großes, gut ausgeleuchtetes Stillleben gelange, aus Äpfeln, Birnen, Pfirsichen und Bananen, Gurken, Möhren, Paprikaschoten und Tomaten. Vor dem Obst reiße ich eine transparente Plastiktüte von einer der senkrecht angebrachten, drehbar gelagerten Tütenrollen und suche unter all den angebotenen Apfelsorten nach einer, die mir weniger künstlich erscheint als die anderen.
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Natürlich muß ich dabei berücksichtigen, daß die Züchter, die heute womöglich Produktdesigner heißen, sicher längst einen Apfel entwickelt haben, der den Anschein erweckt, gerade erst von einer naturbelassenen Streuobstwiese gepflückt worden zu sein, tatsächlich aber schon Wochen im Bauch eines Schiffes oder in der kontrollierten Atmosphäre eines Lagerhauses bei abgesenktem Sauerstoffgehalt gelegen hat. Die Züchter haben die Abweichung, den kleinen Makel, die Apfelschönheitsflecken wahrscheinlich schon in den perfekten Apfel hineingezüchtet, was mich nun nach Äpfeln greifen läßt, die ihre Perfektion nicht tarnen. Ich wähle italienische aus Südtirol, weil die so viele tausend Kilometer weniger unterwegs gewesen sind als die aus Chile oder Neuseeland, und suche mir vier schöne, aber nicht zu schöne Exemplare aus. Einen nach dem anderen lege ich in die Tüte, die dabei so raschelt, wie die Blätter des Baumes, an dem die Äpfel gewachsen sind, vielleicht geraschelt haben.
Als ich den letzten in die Tüte stecke, bin ich mir allerdings gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt an einem Baum gewachsen sind. Vielleicht sind sie ja auch, wie die im Märchen von Schneewittchen, das Erzeugnis einer bösen Stiefmutter und, feil, feil, schöne Ware, dem Supermarkt geliefert worden. Mit der Tüte in der Hand gehe ich zur Waage, lege sie auf die Wiegefläche und drücke die Apfeltaste. Auf allen Wahltasten der Obst- und Gemüsewaage befinden sich Abbildungen, die mich immer an Kinderbuchillustrationen und Memory-Kärtchen erinnern. Kurz warte ich, daß sich das mit dem Strichcode bedruckte Klebeetikett aus dem Schlitz des Thermodruckers schiebt, dann muß ich staunen. Erst halte ich es für einen Fehler, aber nein, die grüne Leuchtanzeige zeigt 1 0 0 0 an, die vier Äpfel wiegen zusammen genau tausend Gramm. Ganz vorsichtig entnehme ich das Etikett, auf dem ich die Zahl noch
einmal lese, klebe es auf die Apfeltüte, knote sie zu und lege sie in den noch leeren Einkaufswagen. Vielleicht ist heute ein besonderer Tag. Ich nehme auch zwei unbehandelte Zitronen, die ich nicht wiegen muß, weil sie pro Stück verkauft werden, lege sie neben die Äpfel und schwenke mit dem Wagen hinüber zu den Kartoffeln, die hinter den Salaten in durchsichtigen Plastikbehältern liegen. Ich mutmaße, daß ohnehin nur fast perfekte, um die zweihundertfünfzig Gramm wiegende Äpfel in die Supermarktregale gelangen. Hier liegt die Apfelelite, während andere, weniger ansehnliche Exemplare in Fertigkuchen verbacken oder zu naturtrübem Saft gepreßt werden oder, Apfelschicksale, in heißen Apfeltaschen enden.
Die Kartoffeln gibt es lose und in Netzen, es gibt Biound Nicht-Biokartoffeln, es gibt welche, an denen noch Erde klebt, und sehr saubere andere, gewaschen, gebürstet und geschrubbt, die in ihren Kilonetzen aussehen, als wären sie eben erst aus dem Meer gefischt und nicht aus dem Boden gegraben worden. Ich kann mich nicht entscheiden. Brauche ich überhaupt Kartoffeln? Ich kaufe heute keine. Ich bin im Paradies. Ich sehe rote, gelbe und grüne Äpfel, blaue, grüne und weiße Trauben, Mangos, Feigen, Melonen und Orangen.
Ich sehe Bananen und Biobananen, Zitronen und unbehandelte Zitronen, Biogurken und ganz gewöhnliche, wahrscheinlich pestizidbelastete Gurken, ich sehe kandierte und getrocknete Früchte, aufgeschnittene, auf Styroporträgern arrangierte und mit Klarsichtfolie überzogene Ananas, ich sehe Obstsalate in transparenten Plastikbechern und kühlgestellte, frischgepreßte Säfte, ich sehe Salate mit Käse oder Putenfleisch, denen kleine, manchmal leicht, manchmal weniger leicht aufzureißende Vinaigrette- Päckchen beigegeben sind, ich sehe Blätterteigpasteten, Fleischterrinen, Forellen, Hummer, Hammelkeulen, Wachteln, Wildschweine und Käseräder, ich bin im Schlaraffenland, alles ist da.
So viel zu essen, und ich habe gar keinen Hunger, so viel zu trinken, und ich habe gar keinen Durst. Mein Einkaufswagen ist ein EL 240. Er ist siebenundzwanzig Kilogramm schwer, hundertzehn Zentimeter lang und sechzig Zentimeter breit, er hat vier selbstlenkende Rollen mit jeweils zwölfeinhalb Zentimetern Durchmesser und ein Fassungsvermögen von zweihundertachtunddreißig Litern. Könnte ich Milchtüten entsprechend stapeln, ließen sich in ihm zweihundertachtunddreißig davon unterbringen. Ich schiebe den Wagen und schiebe mich hinterher; nicht zum Vergnügen, sondern zum Einkaufen bin ich hier, und für einen Moment bilde ich mir ein, mich daran erinnern zu können, wie es war, als ich im Kinderwagen lag und so geschoben wurde, wie ich jetzt diesen Einkaufswagen schiebe.
Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Als ich den letzten in die Tüte stecke, bin ich mir allerdings gar nicht mehr so sicher, ob sie überhaupt an einem Baum gewachsen sind. Vielleicht sind sie ja auch, wie die im Märchen von Schneewittchen, das Erzeugnis einer bösen Stiefmutter und, feil, feil, schöne Ware, dem Supermarkt geliefert worden. Mit der Tüte in der Hand gehe ich zur Waage, lege sie auf die Wiegefläche und drücke die Apfeltaste. Auf allen Wahltasten der Obst- und Gemüsewaage befinden sich Abbildungen, die mich immer an Kinderbuchillustrationen und Memory-Kärtchen erinnern. Kurz warte ich, daß sich das mit dem Strichcode bedruckte Klebeetikett aus dem Schlitz des Thermodruckers schiebt, dann muß ich staunen. Erst halte ich es für einen Fehler, aber nein, die grüne Leuchtanzeige zeigt 1 0 0 0 an, die vier Äpfel wiegen zusammen genau tausend Gramm. Ganz vorsichtig entnehme ich das Etikett, auf dem ich die Zahl noch
einmal lese, klebe es auf die Apfeltüte, knote sie zu und lege sie in den noch leeren Einkaufswagen. Vielleicht ist heute ein besonderer Tag. Ich nehme auch zwei unbehandelte Zitronen, die ich nicht wiegen muß, weil sie pro Stück verkauft werden, lege sie neben die Äpfel und schwenke mit dem Wagen hinüber zu den Kartoffeln, die hinter den Salaten in durchsichtigen Plastikbehältern liegen. Ich mutmaße, daß ohnehin nur fast perfekte, um die zweihundertfünfzig Gramm wiegende Äpfel in die Supermarktregale gelangen. Hier liegt die Apfelelite, während andere, weniger ansehnliche Exemplare in Fertigkuchen verbacken oder zu naturtrübem Saft gepreßt werden oder, Apfelschicksale, in heißen Apfeltaschen enden.
Die Kartoffeln gibt es lose und in Netzen, es gibt Biound Nicht-Biokartoffeln, es gibt welche, an denen noch Erde klebt, und sehr saubere andere, gewaschen, gebürstet und geschrubbt, die in ihren Kilonetzen aussehen, als wären sie eben erst aus dem Meer gefischt und nicht aus dem Boden gegraben worden. Ich kann mich nicht entscheiden. Brauche ich überhaupt Kartoffeln? Ich kaufe heute keine. Ich bin im Paradies. Ich sehe rote, gelbe und grüne Äpfel, blaue, grüne und weiße Trauben, Mangos, Feigen, Melonen und Orangen.
Ich sehe Bananen und Biobananen, Zitronen und unbehandelte Zitronen, Biogurken und ganz gewöhnliche, wahrscheinlich pestizidbelastete Gurken, ich sehe kandierte und getrocknete Früchte, aufgeschnittene, auf Styroporträgern arrangierte und mit Klarsichtfolie überzogene Ananas, ich sehe Obstsalate in transparenten Plastikbechern und kühlgestellte, frischgepreßte Säfte, ich sehe Salate mit Käse oder Putenfleisch, denen kleine, manchmal leicht, manchmal weniger leicht aufzureißende Vinaigrette- Päckchen beigegeben sind, ich sehe Blätterteigpasteten, Fleischterrinen, Forellen, Hummer, Hammelkeulen, Wachteln, Wildschweine und Käseräder, ich bin im Schlaraffenland, alles ist da.
So viel zu essen, und ich habe gar keinen Hunger, so viel zu trinken, und ich habe gar keinen Durst. Mein Einkaufswagen ist ein EL 240. Er ist siebenundzwanzig Kilogramm schwer, hundertzehn Zentimeter lang und sechzig Zentimeter breit, er hat vier selbstlenkende Rollen mit jeweils zwölfeinhalb Zentimetern Durchmesser und ein Fassungsvermögen von zweihundertachtunddreißig Litern. Könnte ich Milchtüten entsprechend stapeln, ließen sich in ihm zweihundertachtunddreißig davon unterbringen. Ich schiebe den Wagen und schiebe mich hinterher; nicht zum Vergnügen, sondern zum Einkaufen bin ich hier, und für einen Moment bilde ich mir ein, mich daran erinnern zu können, wie es war, als ich im Kinderwagen lag und so geschoben wurde, wie ich jetzt diesen Einkaufswagen schiebe.
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Autoren-Porträt von David Wagner
David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt), der Roman «Vier Äpfel», der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, und «Ein Zimmer im Hotel». 2013 wurde ihm für sein Buch «Leben» der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen, 2014 erhielt er den Kranichsteiner Literaturpreis und war erster «Friedrich-Dürrenmatt-Gastprofessor für Weltliteratur» an der Universität Bern. «Der vergessliche Riese» brachte ihm 2019 den Bayerischen Buchpreis und eine Platzierung auf der Shortlist für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis ein. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Wagner
- 2010, 4. Aufl., 160 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498073680
- ISBN-13: 9783498073688
- Erscheinungsdatum: 16.09.2009
Pressezitat
Zu Tränen rührend, aber auch voller Humor und Lebensfreude (...), ein Buch der Erinnerung, das aus ständigem Vergessen entsteht. Richard Kämmerlings Welt am Sonntag 20190825
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