Vipernbrut
Weihnachtszeit in Grizzly Falls
Festliche Stimmung - doch einer im Ort zelebriert den Advent auf perverse Weise: Er verwandelt seine weiblichen Mordopfer in Eisskulpturen. Mit grauenhafter Perfektion integriert der Serienkiller seine...
Festliche Stimmung - doch einer im Ort zelebriert den Advent auf perverse Weise: Er verwandelt seine weiblichen Mordopfer in Eisskulpturen. Mit grauenhafter Perfektion integriert der Serienkiller seine...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vipernbrut “
Weihnachtszeit in Grizzly Falls
Festliche Stimmung - doch einer im Ort zelebriert den Advent auf perverse Weise: Er verwandelt seine weiblichen Mordopfer in Eisskulpturen. Mit grauenhafter Perfektion integriert der Serienkiller seine „Kunstwerke" in weihnachtliche Dekorationen - ein weiterer Fall für die Detectives Regan Pescoli und Selena Alvarez. Vor allem Alvarez ist verstört über die albtraumhaften Morde, denn der Täter weiß viel über ihre geheimen Ängste und Schwächen. Und dann gerät die attraktive Polizistin selbst in die Fänge des grausamen Psychopathen, dem es um persönliche Rache zu gehen scheint.
Festliche Stimmung - doch einer im Ort zelebriert den Advent auf perverse Weise: Er verwandelt seine weiblichen Mordopfer in Eisskulpturen. Mit grauenhafter Perfektion integriert der Serienkiller seine „Kunstwerke" in weihnachtliche Dekorationen - ein weiterer Fall für die Detectives Regan Pescoli und Selena Alvarez. Vor allem Alvarez ist verstört über die albtraumhaften Morde, denn der Täter weiß viel über ihre geheimen Ängste und Schwächen. Und dann gerät die attraktive Polizistin selbst in die Fänge des grausamen Psychopathen, dem es um persönliche Rache zu gehen scheint.
Klappentext zu „Vipernbrut “
Vor ihrem neuen Haus stößt Detective Selena Alvarez in der Dunkelheit auf einen bewaffneten Mann, der einem Jungen nachstellt. Der Bewaffnete entpuppt sich als Dylan O'Keefe, Alvarez‘ attraktiver ehemaliger Partner bei der Polizei von Kalifornien. Einst hatte sie eine kurze, heiße Affäre mit ihm. Der Junge, Gabriel Reeve, der sich offenbar Zutritt zu Alvarez‘ Apartment verschafft hat, entwischt. Die Polizistin kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass es sich um ihren leiblichen Sohn handelt, den sie vor sechzehn Jahren zur Adoption freigegeben hat.
Doch zunächst kommt sie nicht dazu, sich näher mit dem Jungen zu befassen, denn eine seit längerer Zeit vermisste Frau taucht vor der presbyterianischen Kirche auf: integriert in ein Weihnachtskrippenszenario, nackt eingefroren in einen kunstvoll bearbeiteten Eisblock.
Pescoli und Alvarez glauben von Anfang an nicht an einen Einzelfall, denn eine weitere Frau gilt als vermisst: Alvarez‘ Fitnesstrainerin. Auch diese Frau taucht kurze Zeit später wieder auf: ebenfalls in ein weihnachtliches Ensemble eingebunden, diesmal in einem Vorgarten. Die Frau trägt ein Brustpiercing, doch der Ring ist eigentlich ein Ohrring und gehört Alvarez. Das Piercing in der Zunge der Toten ist ebenfalls ein Schmuckstück der Polizistin - offenbar eine Botschaft an die Latina. Geht es dem Täter um persönliche Rache? Hat der Junge etwas damit zu tun? Und da verschwindet auch schon die nächste Frau ...
Lese-Probe zu „Vipernbrut “
Vipernbrut von Lisa Jackson Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp
Prolog
San Bernardino County
Sechs Jahre zuvor
Was zum Teufel hat sie hier zu suchen?
Angestrengt spähte Dylan O'Keefe aus seinem ramponierten Zivilfahrzeug hinaus in die Nacht, die zusammengekniffenen Augen auf eine Gestalt geheftet, die im Schutz der Dunkelheit über das unbebaute Grundstück auf der anderen Straßenseite huschte. Wässriges, bläuliches Licht einer einzelnen Laterne an der Straßenecke erhellte eine grasüberwucherte Stelle, an der mehrere stillgelegte Fahrzeuge vor sich hin rosteten. Die Luft war dick, roch nach Abgasen und Holzfeuern, obwohl weder Verkehr herrschte noch Feuer brannten.
Doch es waren Fahrzeuge unterwegs gewesen in dieser kleinen Stadt am Fuße der Berge, und noch vor kurzem hatten hier in der Nähe des De-Maestro-Verstecks mehrere Allrad- wagen geparkt, wie sich unschwer an den Reifenspuren erkennen ließ.
Der Boden war trocken und staubig, obwohl es Dezember war, ertragsarm, unbedeutend für die Landwirtschaft, die Stadt eine Geisterstadt, zum Großteil verlassen, nachdem das Gold in den umliegenden Hügeln im vergangenen Jahrhundert abgebaut worden war. Lediglich eine Handvoll Bewohner nannten diese Gegend noch ihr Zuhause. Doch es war offensichtlich, dass jemand in dem heruntergekommenen Bungalow mit dem durchhängenden Dach und dem schmutzigen Putz wohnte. Die verrottete Veranda war repariert worden, der Krempel im Garten - Kinderspielzeug und Weihnachtsdekoration - diente zweifelsohne als Fassade, damit das Haus zur Nachbarschaft passte und es so aussah, als würde eine Familie darin leben.
Doch das war nichts als Tarnung.
Die gleich auffliegen würde.
... mehr
Nur dass jetzt, mitten während der Observierung - die sicherstellen sollte, dass sich tatsächlich Alberto De Maestro in diesen schmuddeligen vier Wänden befand -, eine Gestalt durch die Dunkelheit schlich, eine Gestalt, die, so erkannte er jetzt, niemand anders war als Detective Selena Alvarez. Plötzlich drohte die gesamte Operation, mit der er seit über sechzehn Monaten befasst war, aus dem Ruder zu laufen.
Verdammt!
»Siehst du sie?«, flüsterte er seinem Partner zu.
»Hmmhmm.« Rico, wie immer eher verhalten, nickte langsam, ohne den Blick von dem unbebauten Grundstück zu wenden. Im Licht der Taschenlampe bemerkte O'Keefe einen glänzenden Schweißfilm auf seinem Gesicht.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Bleib ruhig.« Doch auch Ricos Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als Selena über den durchhängenden Zaun zwischen den beiden Grundstücken kletterte. Jetzt war sie schon drüben bei De Maestro und schlich auf den heruntergekommenen Bungalow zu. Die Weihnachtsbeleuchtung im Garten spendete nicht viel Licht, da der Großteil der Lämpchen durchgebrannt war, genau wie bei der Lichterkette, die um den Stamm einer einzelnen Palme geschlungen war.
O'Keefe griff nach oben, stellte die Innenbeleuchtung des Zivilfahrzeugs an und öffnete die Beifahrertür.
»Warte! Was tust du da?«, fragte Rico, doch O'Keefe kümmerte sich nicht um seine Einwände. Eilig stieg er aus und blieb mit gezogener Dienstwaffe auf dem rissigen Asphalt stehen. Er musste zu ihr, musste sie zurückpfeifen.
Das Ganze lief aus dem Ruder, ging völlig daneben.
Wenn De Maestro Wind davon bekam, dass sie da draußen war ...
Lautlos überquerte er die Straße, nahm den Wind wahr, der über den Asphalt strich und trockene Blätter und Plastikmüll an den wenigen Autos vorbeitrieb, die hier parkten. Ein Hund, in einem der dunklen Höfe angekettet, fi ng plötzlich an, wie verrückt zu bellen.
Alvarez blieb trotzdem nicht stehen.
Geh nicht weiter!, flehte er stumm und spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Was dachte sie sich nur dabei? Warum war sie hier? Der Hund begann zu heulen. Dreh um! Das ist doch Wahnsinn ...
Wumm! Eine Seitentür flog auf.
»Schnauze!«, brüllte ein Mann, die dunklen Umrisse seines Körpers hoben sich gegen den Lichtschein aus dem Innern des Bungalows ab. O'Keefe sah, dass er eine Waffe in der Hand hielt. Alberto De Maestro. Ziel der Undercoveroperation. Dreh- und Angelpunkt des De-Maestro-Drogenkartells. Da stand er, leibhaftig!
Nein!
O'Keefes Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.
Ein weiterer Mann erschien in der Tür; anscheinend versuchte er, De Maestro zur Vernunft zu bringen, ihn zurück ins Haus zu zerren, doch De Maestro war größer, kräftiger und rührte sich nicht vom Fleck. Der Hund beruhigte sich. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene. Er drehte sich um und blickte direkt in Alvarez' Gesicht.
Ein Lächeln, finster wie die Hölle, trat auf seine Lippen, weiße Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. De Maestro hob die Waffe.
»Perra«, sagte er und zielte.
Alvarez erstarrte.
Zu spät.
Mit erhobener Pistole stürmte O'Keefe los und schrie: »Waffe fallen lassen! Polizei! Policía! Alberto De Maestro, lassen Sie die Waffe fallen!«
»Du kannst mich mal!« Blitzschnell wirbelte De Maestro herum und richtete die Waffe auf O'Keefe. Sein bösartiges Grinsen wurde noch breiter. Der Teufel höchstpersönlich.
»Feliz Navidad, bastardo! - Frohe Weihnachten!«
Und mit diesen Worten drückte er ab.
Kapitel eins
Ihre Haut nahm eine bläuliche Färbung an.
Ihr Fleisch wurde starr - was perfekt war.
Ihre Augen blickten durch das Eis nach oben, obwohl sie nichts mehr sahen, leider, denn so würde sie nicht zu würdigen wissen, wie viel Liebe, Hingabe und Überlegung er in sein Werk steckte.
Ihr Atem brachte das Eis über ihrer Nase nicht länger zum Schmelzen, auch ihr Mund blieb zum Glück geschlossen, die perfekten Lippen, nunmehr von einem dunkleren Blau ... wie Schneewittchen, dachte er, nur nicht in einem gläsernen Sarg, sondern in einem Sarg aus Eis. Sorgfältig verteilte er einen weiteren Eimer Wasser über die gefrorene Schicht.
Eiskristalle bildeten sich über ihrem nackten, jugendlichen Körper, glitzerten und funkelten im gedämpften Licht seiner Höhle.
Es sah schön aus.
Wunderschön.
Perfekt.
Tot.
Summend fing er an zu meißeln. Aus dem batteriebetriebenen Radio ertönte Weihnachtsmusik und erfüllte sein ganz privates, geheimes Refugium. Er arbeitete sorgfältig, genau bis ins kleinste Detail. Perfektion, das war sein Ziel. Absolute Perfektion würde er erreichen.
Die Temperatur in seiner unterirdischen »Werkstatt« lag konstant bei minus 1,1 Grad Celsius, knapp unter dem Gefrierpunkt; sein Atem bildete bei der Arbeit weiße Wölkchen. Obwohl gerade ein Schneesturm über diesen Teil der Bitterroot Mountains hinwegfegte, war die Luft hier unten, tief in den Höhlen, unbewegt; nicht der kleinste Luftzug war zu spüren.
Er trug einen Neoprenanzug, Handschuhe, Stiefel und eine Skimaske, auch wenn er sich insgeheim wünschte, nackt zu arbeiten. Es wäre herrlich zu spüren, wie ihm die Kälte ins Fleisch schnitt, sich lebendiger zu fühlen, doch das würde warten müssen. Er durfte nicht leichtsinnig werden, durfte nicht zulassen, dass ein winziger Hautpartikel, ein Haar oder auch nur ein Schweißtropfen sein Werk beeinträchtigte.
Doch es ging nicht nur um die perfekte Schönheit, es gab auch noch das Problem mit der DNA, sobald die Polizei sich einschaltete. Lange würde das nicht mehr dauern, denn sein Kunstwerk war beinahe fertig. Hier noch ein bisschen schnitzen, dort noch ein bisschen schleifen.
»Oh, the weather outside is frightful«, sang er zur Musik mit. Seine Stimme hallte durch die durch Gänge miteinander verbundenen Höhlen, die tief unten in den Gebirgsausläufern der Bitterroot Mountains versteckt lagen. Eine natürliche Quelle lieferte ihm das Wasser, das er für seine Arbeit brauchte, batteriebetriebene Lampen spendeten bläu liches Licht. Wenn er es heller haben wollte, schaltete er zusätzliche Scheinwerfer an.
Weiter hinten in der riesigen Höhle ertönte ein jämmerliches Wimmern. Er runzelte die Stirn. Warum starb diese Frau nicht endlich? Er hatte ihr eine Dosis Beruhigungsmittel verabreicht, die einen Elefanten umgehauen hätte, und trotzdem schwankte sie noch immer zwischen Leben und Tod. Stöhnte. Mit gefurchten Augenbrauen schlug er den Hammer auf den Meißel, der rutschte ab und schnitt durch den Handschuh in den Finger. »Verdammt!« Ein einzelner Blutstropfen rollte über das Eis und gefror. Anstatt ihn wegzuwischen, meißelte er die Stelle aus, um sicherzugehen, dass sein perfektes Kunstwerk nicht ruiniert wurde.
Als er damit fertig war, schwitzte er. »Hab Geduld«, schärfte er sich ein, als er die Kerbe vorsichtig, nach und nach, mit klarem Wasser aus der Quelle füllte, um den Makel unsichtbar zu machen.
»Perfekt«, murmelte er, endlich zufrieden.
Er blickte auf sein Kunstwerk hinab, betrachtete die nackte Frau, umschlossen von Eis, dann beugte er sich vor, gerade so weit, um ihr über eine eisige Brustwarze zu lecken. Seine Zunge kribbelte, die Kälte im Mund bereitete ihm pure, heiße Lust, und er malte sich aus, wie er seinen Körper an ihrem eiskalten Fleisch reiben würde. Sein Schwanz zuckte. Er glitt mit der Zunge über das Eis, stellte sich ihren salzigen Geschmack vor, nahm ihre harte Brustwarze in den Mund. Er wollte seine Zähne darin versenken, nur ein wenig, bis sich Lust und Schmerz vermischten. Seine Phantasie entlockte ihm ein leises Stöhnen.
Vor seinem inneren Auge sah er eine weitere schöne Frau, deren Haar ungebändigt hinter ihr herwehte, während sie lief, lachend, ihre Stimme hallte durch den Winterwald. Die schuppigen Stämme der Kiefern waren voller Schnee, zwischen den langen Nadeln hingen dünne Eiszapfen.
Er rannte durch den dicken Pulverschnee, jagte ihr hinterher, sah erregt zu, wie sie ihre Kleidung abwarf, Stück für Stück, Mantel, Bluse, Rock, Schal, bis sie in BH und Höschen dastand und wieder vor ihm davonlief.
Bald schloss er zu ihr auf und fing an, seine eigene Kleidung abzustreifen, Stiefel, Jacke, Jeans, dann fummelte er mit klammen Fingern an den Knöpfen seines Hemds, die sich nur schwer öffnen ließen. Der Abstand zu ihr wurde größer, und er musste angestrengt rennen, um sie einzuholen.
Er malte sich aus, was er mit ihr anstellen würde, wie er in sie stoßen, den vom Himmel rieselnden Schnee auf ihrer nackten Haut zum Schmelzen bringen würde.
Doch er hielt sein Messer in der Hand. Das Messer mit dem Griff, der aus dem Geweih des Hirsches gefertigt war, den er vor drei Jahren getötet hatte. Er erinnerte sich genau daran, wie er das Tier erlegt hatte, mit einem einzigen Pfeil ...
Jetzt hatte er sie fast eingeholt ... sein Herz pochte, seine Finger schlossen sich um den Griff des Messers.
Sie wirbelte herum, als er nur noch einen halben Schritt hinter ihr war, ihre Augen glänzten wie zwei Eiskristalle, die Wangen leuchteten gerötet von der frostigen Winterluft. Ein neckisches Lächeln umspielte ihre perfekten Lippen. Lippen wie die eines Engels.
Dann sah sie das Messer.
Ihr Lächeln verblasste. In ihrem schönen Gesicht spiegelte sich Erschrecken, dann Entsetzen wider. Sie stolperte, stürzte beinahe, dann lief sie weiter, schneller als zuvor, wobei sie noch mehr Schnee aufwirbelte. Jetzt hatte ihre Flucht nichts Spielerisches mehr, jetzt rannte sie aus nackter Angst.
Mit geblähten Nasenflügeln nahm er die Verfolgung auf, war mit ein paar Schritten bei ihr, bekam mit der freien Hand ihr offenes Haar zu fassen und dann ...
Verschwommen.
Alles, woran er sich erinnerte, war die Wunde, aus der warmes rotes Blut auf den blendend weißen Schnee spritzte. Nein! Abrupt kehrte er in die Gegenwart zurück. Er durfte es nicht zulassen, dass ihn derlei Gedanken von der Arbeit ablenkten.
Das Eis um die Brustwarze schmolz in seinem Mund. Seine Erektion war nun steinhart und drückte gegen den engen Neoprenanzug. Er richtete sich auf und verspürte einen Anflug von Abscheu wegen seiner Schwäche. Mit aller Kraft zwang er seinen stets bereiten Schwanz, wieder abzuschwellen.
Was war nur in ihn gefahren?
Er blickte auf die nackte Frau hinab und betrachtete die Stelle, an der sein Mund das Eis geschmolzen und jede Menge DNA-Spuren hinterlassen hatte. Das war nicht klug, ganz und gar nicht, und bestimmt nicht das, was man von einem Menschen mit dem IQ eines Genies erwartete.
Rasch fing er an, auch diesen Fleck aus dem Eis zu meißeln.
Im hinteren Teil der Höhle fing die Schlampe erneut an zu stöhnen. Er biss die Zähne zusammen. Sie würde noch früh genug sterben, und ihr makelloser Körper würde keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung aufweisen, kein Hämatom, keine Schnittwunde, nichts. Dann würde er auch sie in einen eisigen Sarg stecken und ein weiteres perfektes Kunstwerk erschaffen.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass ihm noch genug Zeit blieb, um die begonnene Arbeit zu Ende zu bringen. Seine Frau erwartete ihn nicht vor einer Stunde zurück.
Jede Menge Zeit.
Er holte Wasser aus der Quelle und goss es über sein Werk.
Es ist noch nicht ganz fertig, dachte er, als er in die weit aufgerissenen Augen der eingefrorenen Frau blickte.
Doch es würde nicht mehr lange dauern.
Dankbar, dass das Stöhnen aus dem hinteren Teil der Höhle endlich verstummt war und er sich wieder konzentrieren konnte, schöpfte er wieder und wieder Wasser, wobei er leise das Lied im Radio mitsang: »Let it snow, let it snow ...«
»... let it ... « Klick!
Selena Alvarez drückte auf die Schlummertaste ihres Radioweckers, dann stellte sie ihn, ohne zu überlegen, ganz aus und rollte sich aus dem Bett. Mein Gott, sie hasste das Lied. Überhaupt hatte sie mit Weihnachten rein gar nichts am Hut.
Und das hatte seine Gründe.
Nicht, dass sie jetzt wieder darüber nachdenken wollte.
Das wollte sie nie.
Obwohl es draußen noch stockdunkel war, teilte ihr die leuchtend rote Digitalanzeige mit, dass es halb fünf war, die Zeit, zu der sie für gewöhnlich aufstand und langsam in Fahrt kam. Die meiste Zeit des Jahres nahm sie jeden einzelnen Tag in Angriff, als stellte er eine besondere Herausforderung dar, doch sobald sich der Herbst dem Ende näherte und der November in den Dezember überging, verspürte sie den ewig gleichen Überdruss, der die Vorweihnachtszeit begleitete, die mangelnde Begeisterung, die ihr die Kraft raubte und ihre Stimmung trübte. Im Winter schwand ihre üb liche Ich-stelle-mich-dem-Leben-Haltung, und sie musste sich doppelt zusammenreißen, um sich nicht hängen zu lassen.
»Dummkopf«, murmelte sie und streckte sich.
Sie kannte natürlich den Grund für diesen alljährlichen Stimmungswechsel, doch sie sprach nie darüber, nicht einmal mit ihrer Partnerin. Schon gar nicht mit ihrer Partnerin. Pescoli würde sie doch nicht verstehen.
Und Alvarez würde jetzt ganz bestimmt nicht darüber nachdenken.
Der Welpe, den sie vor kurzem zu sich genommen hatte, eine Mischung aus Schäferhund und entweder Boxer oder Labrador, regte sich in seinem verschließbaren Hundekorb, streckte sich und bellte, um herausgelassen zu werden, während ihre Katze, Mrs. Smith, die stets auf dem zweiten Kopfkissen in Selenas Bett schlief, den Kopf hob und blinzelte.
Der Hund bellte und winselte lauter, dann jaulte er aufgeregt, als wollte er sagen: »Nun lass mich endlich raus, ich habe ein dringendes Geschäft zu erledigen!« Der Kleine zeigte genau die Begeisterung, die Alvarez gerade fehlte.
»He, du weißt, dass du das nicht darfst«, tadelte sie den Welpen, dann öffnete sie das Gitter seines Hundekorbs und ließ ihn heraus. Sofort fing er an, bellend um sie herumzuspringen, trotz ihrer Bemühungen, ihn im Zaum zu halten. »Nein, Roscoe! Aus! Sitz!« Er stürmte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer ihres Reihenhauses, dicht gefolgt von seiner Herrin und der Katze. Unten angekommen, umkreiste er Couch und Couchtisch, dann rannte er schwanzwedelnd zur Terrassentür.
Alvarez sah zu Mrs. Smith hinüber, die unterdessen auf ein Regal gesprungen war und die ganze Szene mit katzenhafter Verachtung beobachtete. »Ja, ich weiß. Du musst mir das nicht extra unter die Nase reiben!« Sekunden später ließ sie den Hund in ihren kleinen, umzäunten Garten, wo er sofort in den dunkelsten Ecken verschwand, um zweifelsohne das Bein an jedem Baum, Busch und Pfosten zu heben, den er finden konnte. Es schneite immer noch, stellte sie fest, als sie rasch die Schiebetür schloss, um die Kälte draußen zu lassen, die unangenehm durch ihren Flanellschlafanzug zog. Durch die Scheibe sah sie, dass die Töpfe mit den größeren Pfl anzen, die sie auf der Terrasse stehen gelassen hatte, mit einer zehn Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt waren, auch auf dem Rasen lag eine unberührte weiße Decke - ein friedlicher Anblick, bis Roscoe hineinsprang und alles zerwühlte. Doch Schnee brachte ihr ohnehin weder Ruhe noch Frieden. Roscoe aufzunehmen war eine überstürzte Entscheidung gewesen, zumal sie das Reihenhaus gerade erst gekauft hatte, doch jetzt war es zu spät - der lebenslustige Welpe hatte längst einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen erobert. Trotz seiner Schwächen.
»Zum Heulen!«, murmelte sie.
Roscoe sprang zurück auf die kleine Betonfl äche ihrer Terrasse und kratzte an der Scheibe. Sie öffnete die Schiebetür ein Stückchen, und er versuchte, sich durch den Spalt ins Wohnzimmer zu zwängen, doch sie erwischte ihn am Halsband. »Kommt gar nicht in Frage, Kumpel«, brummte sie, schnappte sich das Handtuch, das sie zu diesem Zweck an den Fenstergriff gehängt hatte, und putzte ihm die mächtigen Pfoten ab, bevor sie ihn hineinließ.
Momentan ging sie nur selten ins Fitnessstudio; stattdessen joggte sie mit dem Hund, um ihn auszupowern, dann nahm sie eine Dusche, zog sich an und ließ ihn so lange im Hauswirtschaftsraum. Das war keine optimale Lösung, doch sobald er ganz stubenrein wäre, würde sie eine Hundeklappe einbauen lassen und die Nachbarin bitten, am Nachmittag mit ihm Gassi zu gehen. In letzter Zeit blieb sie abends nicht mehr lange im Department, nahm die Arbeit lieber mit nach Hause.
Was an und für sich eine gute Sache war.
Leider führte es ihr nur noch deut licher vor Augen, dass sie außer ihren Haustieren niemanden hatte, der zu Hause auf sie wartete.
Nicht dass sie es während des vergangenen Jahres nicht versucht hätte, sie hatte sich sogar ein paarmal verabredet, war mit Kevin Miller ausgegangen, einem Pharmavertreter, der in seiner Freizeit häufig ins Fitnessstudio ging und ständig über seine Arbeit redete. Er hatte sie zu Tode gelangweilt. Auch mit Terry Longstrom hatte sie sich getroffen. Terry war Psychologe und arbeitete mit jugendlichen Straftätern; er hatte sie ein paarmal ausgeführt, doch obwohl er sehr nett war, fühlte sie sich einfach nicht zu ihm hingezogen, und so tun, als ob es anders wäre, wollte sie auch nicht. Am schlimmsten war es mit Grover Pankretz gewesen. Er hatte früher im ortsansässigen DNA-Labor gearbeitet, doch als die Firma schrumpfte, war seine Stelle gestrichen worden. Grover war ein geistreicher Mann, doch von Anfang an für ihren Geschmack viel zu besitzergreifend. Schon beim zweiten Date wollte er etwas Festes, deshalb hatte sie das Ganze beendet, noch bevor es richtig beginnen konnte. Zum Glück waren all diese Männer weitergezogen, entweder in eine andere Gegend oder zu anderen Frauen. Terry und Grover, so war ihr zu Ohren gekommen, hatten geheiratet.
Die Wahrheit war simpel: Sie war einfach nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung, wie ihre alberne Schwärmerei für den älteren, unerreichbaren Dan Grayson bewiesen hatte, der rein zufällig ihr Boss war. Typisch.
»Gib's zu«, sagte sie zu sich selbst, »im Grunde willst du gar keinen Mann in deinem Leben.«
Nachdem sie ihre morgendliche Routine hinter sich gebracht hatte, machte sie sich auf den Weg zum Büro des Sheriffs auf dem Boxer Bluff. Grizzly Falls war im Grunde zweigeteilt: Eine Hälfte des städtischen Lebens spielte sich oben auf dem steilen Hügel ab, an dessen Hängen die besser Betuchten ihre großzügigen Anwesen errichtet hatten, die andere unten, entlang des Flusses. Die spektakulären Wasserfälle, die der Stadt ihren Namen gaben, stürzten sich tosend vom Boxer Bluff in die Tiefe.
Der Verkehr hügelaufwärts staute sich an den üb lichen Stellen und wurde zusätzlich durch einen querstehenden Wagen kurz vor dem Bahnübergang behindert. Die ganze Zeit über schneite es, und sie musste die Scheibenwischer auf Stufe zwei schalten, um die Windschutzscheibe frei zu halten.
Mein Gott, wie sie diese Jahreszeit hasste!
Es hatte den Anschein, als ginge die Vorweihnachtszeit hier in Grizzly Falls stets mit irgendwelchen Katastrophen einher. Trotz der Weihnachtskränze an den Türen, der festlich geschmückten Tannen und Fenster, ganz zu schweigen von der Dauerberieselung mit Weihnachtsliedern, die sämt liche Radiosender rund um die Uhr zu spielen schienen, lauerte Unheil im Schatten dieser lichterglänzenden Fröhlichkeit. Die Fälle von häus licher Gewalt nahmen rapide zu, und in den letzten Jahren waren einige durchgeknallte Serienkiller dazugekommen, welche die Einheimischen in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Nicht gerade eine Zeit des Friedens und der Freude.
Abschnittweise war es ziemlich glatt, doch Alvarez' zehn Jahre alter Subaru Outback schraubte sich mühelos die vereisten Straßen hinauf. Auch der Wagen, sie hatte ihn ge braucht günstig bekommen, war neu in ihrem Leben. Dennoch wusste sie natürlich, dass selbst alle Autos und Reihenhäuser der Welt nicht die Leere in ihrem Innern würden füllen können. Die Haustiere waren ein Schritt in die richtige Richtung, dachte sie, als sie auf den Parkplatz des Departments einbog. Die Katze, deren Besitzerin einem teuflischen Mörder zum Opfer gefallen war, hatte sie vergangenes Jahr im Zuge der Ermittlungen zu sich genommen, doch der Welpe war eine spontane, unüberlegte Entscheidung gewesen.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
Vielmehr: Was hatte sie nicht bedacht?
Sie hatte ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass Roscoe auf den Teppich pinkeln oder ihre Möbel anknabbern würde, ganz zu schweigen von den Tierarztrechnungen. Nein, sie hatte nur ein warmes, kuscheliges Knäuel gesehen, mit glänzenden Augen, einer feuchten Nase und einem Schwanz, der nicht aufhörte zu wedeln, als sie dem örtlichen Tierheim einen Besuch abstattete.
»Albern«, murmelte sie und hielt vor dem Büro des Sheriffs an, doch sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie hatte gedacht, Roscoe würde sie schützen, Einbrecher verjagen.
Ach ja? Und warum hast du dann das Gefühl, jemand wäre letzte Woche in deinem Haus gewesen, auch wenn du nicht genau beschreiben kannst, warum? Wo war Roscoe, der Wachhund, da?
Vermutlich täuschte sie sich, spielten ihre Nerven verrückt, weil sie Neil Freeman vernommen hatte, einen Psychopathen, der seine Augen während des gesamten Verhörs unablässig über ihren Körper hatte gleiten lassen, dabei hatte sie ihn zum Tod seiner Mutter befragt ... Es stellte sich heraus, dass diese eines natürlichen Todes gestorben war, doch sein Gehabe und die Art, wie er jede Antwort in schlüpfrige Anspielungen verwandelt hatte, wie er sich mit der Zunge über die Lippen gefahren war, war ihr ziemlich an die Nieren gegangen. Was er vermutlich beabsichtigt hatte. Perverser Fiesling! Sie redete sich ein, dass Freeman nicht in ihrem Haus gewesen war, und wenn doch, dann hätte Roscoe ihr das schon irgendwie mitgeteilt.
Und wie sollte er das, bitte schön, tun? Mach dir doch nichts vor, Alvarez, du wirst langsam, aber sicher eine von diesen typischen, durchgeknallten Hundefreunden und Katzennarren. Der Gedanke ließ sie erschaudern.
Ja, sie liebte diesen Hund, und vielleicht war Roscoe genau das, was sie brauchte. Auf keinen Fall würde sie ihn wieder hergeben.
Während sie ausstieg, den Wagen absperrte und im Schneegestöber aufs Gebäude zueilte, wandten sich ihre Gedanken den vor ihr liegenden Wochen zu. Im Büro würde die alljährliche Weihnachtsfeier stattfinden, und Joelle Fisher, die Empfangssekretärin mit ihrem Weihnachtswahn, würde wie jedes Jahr das gesamte Department in ein Weihnachtswunderland verwandeln und über nichts anderes mehr reden als über die Wichtelaktion. Alvarez konnte keine Begeisterung dafür aufbringen; sie wusste, dass während der Feiertage jede Menge Überstunden auf sie zukämen. Das war für sie an Weihnachten Tradition: Sie arbeitete, damit die Kollegen mit Familie zu Hause bleiben konnten.
So war es leichter.
Auf der Schwelle des Hintereingangs klopfte sie den schmelzenden Schnee von den Stiefeln, trat ein und machte einen Abstecher zum Aufenthaltsraum, wo sie stirnrunzelnd feststellte, dass noch niemand Kaffee gekocht hatte. Widerwillig setzte sie eine Kanne auf, dann begab sie sich auf die Suche nach ihrer Lieblingstasse, erhitzte Wasser in der Mikrowelle und nahm sich den letzten Beutel Orange Pekoe.
Auf dem Tisch stand eine offene knallrosafarbene Schachtel, in der ein paar übrig gebliebene Plätzchen lagen. Alvarez beschloss, diese vorerst zu ignorieren - um diese Jahreszeit schleppte Joelle nahezu stündlich frische Leckereien an.
Sie nahm ihren Schal ab und machte sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch, verstaute Handtasche und Dienstwaffe und hängte ihre Jacke an den Garderobenhaken. Anschließend ging sie ihre Post und E-Mails durch, hörte den Anrufbeantworter ab, vergewisserte sich, dass sämt liche Berichte zu einem Fall, an dem sie gerade arbeitete, abgeheftet waren, dann wandte sie sich einem weiteren zu und sah nach, ob der Obduktionsbericht zu Len Bradshaw eingegangen war, ein einheimischer Farmer, der bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war. Sein Freund, Martin Zwolski, war mit ihm unterwegs gewesen, und während er sich durch einen Stacheldrahtzaun hindurchgezwängt hatte, war seine Waffe losgegangen. Die Kugel hatte Len in den Rücken getroffen und tödlich verletzt.
Unfall oder vorsätzliche Tötung?
Alvarez glaubte an die Unfallversion. Martin war in Tränen aufgelöst gewesen, umringt von Lens Freunden und Familie. Alles sprach zwar für einen Unfall, doch sie war nicht hundertprozentig überzeugt, nicht, solange die Ermittlungen noch liefen. Es gab drei lose Enden, die sie an Martins Geschichte zweifeln ließen.
Zunächst einmal hatten die beiden Männer auf Privatbesitz gewildert, keiner von ihnen hatte eine Jagderlaubnis für Rotwild besessen, außerdem hatten sie gemeinsam einen Landwirtschaftshandel betrieben. Das Geschäft war vor zwei Jahren pleitegegangen, hauptsächlich deshalb, weil sich Len einen Großteil der Einkünfte »geborgt« hatte. Es kursierten auch Gerüchte, nach denen Len früher einmal etwas mit Martins Frau gehabt haben sollte. Martin und Ezzie lebten zu der Zeit zwar bereits getrennt, trotzdem ... Das Ganze war für Alvarez' Geschmack ein kleines bisschen zu chaotisch.
Sie ging ihre E-Mails durch.
Noch immer kein Obduktionsbericht.
Vielleicht später. Sie überflog die Angaben zu den vermissten Personen, um herauszufinden, ob man Lissa Parsons gefunden hatte.
Selena kannte sie aus dem Fitnessstudio, hatte gemeinsam mit ihr mehrere Kurse besucht. Lissa, eine Sechsundzwanzigjährige mit kurzen schwarzen Haaren und einem Wahnsinnskörper, arbeitete als Rezeptionistin in einer ortsansässigen Anwaltskanzlei und war vor einer Woche als vermisst gemeldet worden. Als die Detectives nachhakten, stellte sich heraus, dass Lissa schon länger nicht mehr gesehen worden war. Ihr Freund und sie hatten eine schwere Zeit hinter sich, und er hatte beschlossen »dass sie etwas Abstand bräuchten «. Ihre Mitbewohnerin war vor einigen Wochen zu einer ausgedehnten Floridareise aufgebrochen und hatte bei ihrer Rückkehr eine leere Wohnung mit vergammelnden Bioprodukten im Kühlschrank vorgefunden. Lissas Handtasche, ihr Handy, Auto und Laptop waren ebenfalls verschwunden, doch in ihrem Schrank fehlte nichts; sämt liche Kleidungsstücke hingen auf Bügeln oder lagen ordentlich zusammengefaltet in den Fächern, der Wäschekorb im Schlafzimmer war voller verschwitzter Sportsachen.
Die Mitbewohnerin, der Freund und ein Ex-Freund hatten absolut wasserdichte Alibis. Es gab keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen in die Wohnung oder auf einen Kampf. Alles sah so aus, als hätte Lissa das Apartment für den Tag verlassen, um am Abend dorthin zurückzukehren. Nach ihrem Verschwinden hatte sie weder mit ihrem Handy telefoniert noch ihre Kreditkarte benutzt.
Alvarez gefiel das absolut nicht. Vor allem nicht die Tatsache, dass sie offenbar seit rund zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Und es sah ganz danach aus, dass es noch immer keine Spur von ihr gab.
Keine Leiche. Keinen Tatort. Kein Verbrechen.
Noch nicht.
Verdammt.
Man hatte sämtliche umliegenden Krankenhäuser überprüft, doch Lissa Parsons war nicht eingeliefert worden, auch keine unbekannte Frau. Nachfragen bei weiteren Behörden führten ebenfalls zu keinem Ergebnis.
Sie war einfach ... verschwunden.
»Wo zum Teufel steckst du?«, fragte Alvarez laut und nahm einen Schluck von ihrem jetzt schon abgekühlten, aber noch lauwarmen Tee. Sie rechnete frühestens in einer Stunde mit ihrer Partnerin, doch erstaun licherweise tauchte Regan Pescoli heute früher als üblich im Büro auf, einen Pappbecher Kaffee aus einem der auf dem Weg liegenden Coffeeshops in der Hand, das Gesicht gerötet, schmelzende Schnee flocken in den mühsam gebändigten roten Locken.
»Was tust du denn hier - um diese Uhrzeit?« Alvarez wirbelte auf ihrem Schreibtischstuhl herum und blickte ihre Partnerin fragend an. »Ist jemand gestorben?«
»Sehr komisch.« Pescoli nahm einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. »Ich musste Bianca wegen ihres Tanztrainings früher an der Schule absetzen.« Bianca war Pescolis sechzehnjährige Tochter, die die Highschool besuchte und so eigensinnig wie schön war. Eine gefähr liche Kombination, zudem war es nicht gerade förderlich, dass das Mädchen seine getrennt lebenden Eltern geschickt gegeneinander auszuspielen wusste. Was jedes Mal funktionierte. Obwohl Pescoli und ihr Ex seit Jahren geschieden waren, herrschte zwischen ihnen noch immer jede Menge Feindseligkeit, vor allem wenn es um die Kinder ging. Bianca und ihr älterer Bruder Jeremy, ein Dann-und-wann-College-Student, der zwischen seinen wiederholten Versuchen, auszuziehen und auf eigenen Beinen zu stehen, immer wieder Regans Wohnung belagerte, rieben sie beide auf.
»Ich dachte, die Tanztruppe würde nach der Schule üben.«
»Dann ist die Sporthalle belegt.« Pescoli blickte aus dem Fenster. »Basketball, Ringen, die Cheerleader, die Tanztruppe ... was auch immer, alle beanspruchen die Halle für sich, und momentan hat meines Wissens Basketball oberste Priorität. Also muss Bianca in den beiden kommenden Wochen um sechs Uhr fünfundvierzig in der Schule sein. Das bedeutet, dass sie um sechs aufstehen muss, was sie fast umbringt, wie du dir sicher vorstellen kannst.« Pescolis Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln bei dem Gedanken an den allmorgend lichen Kampf ihrer Tochter. »Und das ist erst Tag eins. Es ist wirklich sehr hart, eine Prinzessin zu sein, wenn man zu solch nachtschlafender Stunde aus den Federn muss, ›wenn jeder, der halbwegs bei Verstand ist, im Bett liegt‹.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, wir ziehen eine Generation von Vampiren groß!«
»Vampire sind gerade total angesagt.«
»Da soll mal einer schlau draus werden!« Sie wurde ernst und deutete auf das Foto von Lissa Parsons, das gerade auf dem Monitor von Alvarez' Computer zu sehen war. »Ist der Obduktionsbericht im Bradshaw-Fall reingekommen?«
»Noch nicht.«
Pescoli furchte die Augenbrauen. »Du weißt, dass ich Zwolski die Sache mit dem Unfall wirklich gern glauben würde, aber es will mir einfach nicht gelingen.«
»Das verstehe ich.«
»Irgendetwas passt da nicht ins Bild. Gibt es Neuigkeiten im Fall der vermissten Lissa Parsons?«
»Noch nicht.«
»Mist.« Pescoli nahm einen weiteren Schluck. »Schwer zu sagen, was da los ist«, überlegte sie laut. »Ein fl atterhaftes Mädchen, das sich für eine Weile aus dem Staub gemacht hat, oder steckt mehr dahinter?« Offenbar gefiel ihr Letzteres gar nicht, denn die Furchen zwischen ihren Brauen vertieften sich. »Was ist mit ihrem Wagen?«
»Keine Ahnung. Ich gehe gleich mal rüber in die Vermisstenabteilung und rede mit Taj, mal sehen, ob sie was Neues weiß.«
»Sag mir Bescheid.« Pescoli wandte sich gerade zum Gehen, als das vertraute Klackern von High Heels ihre Aufmerksamkeit erweckte. Klick, klick, klick.
»Tüt, tüt! Ich komme!«, warnte Joelle mit ihrer Kleinmädchenstimme. Alvarez erspähte die zier liche Empfangssekretärin, die mehrere aufeinandergestapelte Plastikdosen in Richtung Aufenthaltsraum trug. Heute hatte sie ihre platinblonden, toupierten Löckchen mit rotem und grünem Glitzerspray verschönert, ihre Schneemannohrringe funkelten im grellen Neonlicht.
»Frühstück«, bemerkte Pescoli. »Komm, ich besorge dir einen Kaffee.«
Zusammen folgten sie dem übereifrigen Dynamo, der erst zufrieden zu sein schien, wenn jeder Quadratzentimeter der Polizeistation weihnachtlich dekoriert war. Papierschneeflocken, besprüht mit silbernem Glitzer, hingen von der Decke, künstliche Tannengirlanden schlängelten sich durch die Flure, ein rotierender Weihnachtsbaum verschönerte den Empfangsbereich, und selbst das Kopiergerät war mit einer roten Samtschleife verziert. Dahinter an der Wand war ein Mistelzweig befestigt. Als ob jemand versuchen würde, einen Kuss unter dem Mistelzweig zu stehlen, während er Festnahmeprotokolle fotokopierte. Es gibt doch nichts Romantischeres als ein Küsschen beim Summen und Klappern der Bürogeräte, dachte Alvarez zynisch.
»Das hätten wir!« Joelle stellte die Plastikdosen ab und legte eine grün-rot karierte Decke auf einen der runden Tische, bevor sie die erste Dose öffnete. »Voilà!«
Drinnen befanden sich sorgfältig aufgereihte runde kleine Kuchen, jeder einzelne mit Santa-Claus-, Schneemann- oder Rentiergesichtern verziert. »Die habe ich vom Bäcker mitgebracht «, verkündete sie, als sei das eine Sünde, »aber ich habe auch meine berühmten Weihnachtsmakronen und die russischen Teeplätzchen gebacken.« Eine weitere Dose wurde geöffnet. »Und das pièce de résistance«, flötete sie mit neckischer Stimme, »Großmutter Maxies göttliche Buttertoffees! Hmm!« Sie sauste zum Schrank, worin sie zuvor mehrere Tabletts verstaut hatte, und verteilte, zufrieden, dass alle noch glänzten, ihre Lieblingsleckereien darauf.
»Ich kriege schon einen Zuckerschock, wenn ich das Zeug nur ansehe«, seufzte Pescoli.
Joelle kicherte begeistert. Obwohl sie bereits über sechzig war, sah sie gut zehn Jahre jünger aus und schien über eine schier grenzenlose Energie zu verfügen - zumindest während der Weihnachtszeit. »Nun, bedient euch!« Als die Tabletts fertig waren, sammelte sie die Dosen ein und eilte den Gang hinunter zu ihrem Schreibtisch im Eingangsbereich des Departments. »Und denkt daran, um vier findet die Auslosung für das Weihnachtswichteln statt!«, rief sie Regan und Selena über die Schulter zu. »Detective Pescoli, ich erwarte, dass auch du daran teilnimmst!«
Pescoli hatte bereits in ein Plätzchen gebissen und verdrehte verzückt die Augen. Kauend lehnte sie sich zu Alvarez hinüber und murmelte: »Diese Frau treibt mich zwar in den Wahnsinn mit ihrer Weihnachtsbesessenheit, aber eins muss man ihr lassen: Sie weiß, wie man Makronen backt!«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Nur dass jetzt, mitten während der Observierung - die sicherstellen sollte, dass sich tatsächlich Alberto De Maestro in diesen schmuddeligen vier Wänden befand -, eine Gestalt durch die Dunkelheit schlich, eine Gestalt, die, so erkannte er jetzt, niemand anders war als Detective Selena Alvarez. Plötzlich drohte die gesamte Operation, mit der er seit über sechzehn Monaten befasst war, aus dem Ruder zu laufen.
Verdammt!
»Siehst du sie?«, flüsterte er seinem Partner zu.
»Hmmhmm.« Rico, wie immer eher verhalten, nickte langsam, ohne den Blick von dem unbebauten Grundstück zu wenden. Im Licht der Taschenlampe bemerkte O'Keefe einen glänzenden Schweißfilm auf seinem Gesicht.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Bleib ruhig.« Doch auch Ricos Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als Selena über den durchhängenden Zaun zwischen den beiden Grundstücken kletterte. Jetzt war sie schon drüben bei De Maestro und schlich auf den heruntergekommenen Bungalow zu. Die Weihnachtsbeleuchtung im Garten spendete nicht viel Licht, da der Großteil der Lämpchen durchgebrannt war, genau wie bei der Lichterkette, die um den Stamm einer einzelnen Palme geschlungen war.
O'Keefe griff nach oben, stellte die Innenbeleuchtung des Zivilfahrzeugs an und öffnete die Beifahrertür.
»Warte! Was tust du da?«, fragte Rico, doch O'Keefe kümmerte sich nicht um seine Einwände. Eilig stieg er aus und blieb mit gezogener Dienstwaffe auf dem rissigen Asphalt stehen. Er musste zu ihr, musste sie zurückpfeifen.
Das Ganze lief aus dem Ruder, ging völlig daneben.
Wenn De Maestro Wind davon bekam, dass sie da draußen war ...
Lautlos überquerte er die Straße, nahm den Wind wahr, der über den Asphalt strich und trockene Blätter und Plastikmüll an den wenigen Autos vorbeitrieb, die hier parkten. Ein Hund, in einem der dunklen Höfe angekettet, fi ng plötzlich an, wie verrückt zu bellen.
Alvarez blieb trotzdem nicht stehen.
Geh nicht weiter!, flehte er stumm und spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Was dachte sie sich nur dabei? Warum war sie hier? Der Hund begann zu heulen. Dreh um! Das ist doch Wahnsinn ...
Wumm! Eine Seitentür flog auf.
»Schnauze!«, brüllte ein Mann, die dunklen Umrisse seines Körpers hoben sich gegen den Lichtschein aus dem Innern des Bungalows ab. O'Keefe sah, dass er eine Waffe in der Hand hielt. Alberto De Maestro. Ziel der Undercoveroperation. Dreh- und Angelpunkt des De-Maestro-Drogenkartells. Da stand er, leibhaftig!
Nein!
O'Keefes Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.
Ein weiterer Mann erschien in der Tür; anscheinend versuchte er, De Maestro zur Vernunft zu bringen, ihn zurück ins Haus zu zerren, doch De Maestro war größer, kräftiger und rührte sich nicht vom Fleck. Der Hund beruhigte sich. Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene. Er drehte sich um und blickte direkt in Alvarez' Gesicht.
Ein Lächeln, finster wie die Hölle, trat auf seine Lippen, weiße Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. De Maestro hob die Waffe.
»Perra«, sagte er und zielte.
Alvarez erstarrte.
Zu spät.
Mit erhobener Pistole stürmte O'Keefe los und schrie: »Waffe fallen lassen! Polizei! Policía! Alberto De Maestro, lassen Sie die Waffe fallen!«
»Du kannst mich mal!« Blitzschnell wirbelte De Maestro herum und richtete die Waffe auf O'Keefe. Sein bösartiges Grinsen wurde noch breiter. Der Teufel höchstpersönlich.
»Feliz Navidad, bastardo! - Frohe Weihnachten!«
Und mit diesen Worten drückte er ab.
Kapitel eins
Ihre Haut nahm eine bläuliche Färbung an.
Ihr Fleisch wurde starr - was perfekt war.
Ihre Augen blickten durch das Eis nach oben, obwohl sie nichts mehr sahen, leider, denn so würde sie nicht zu würdigen wissen, wie viel Liebe, Hingabe und Überlegung er in sein Werk steckte.
Ihr Atem brachte das Eis über ihrer Nase nicht länger zum Schmelzen, auch ihr Mund blieb zum Glück geschlossen, die perfekten Lippen, nunmehr von einem dunkleren Blau ... wie Schneewittchen, dachte er, nur nicht in einem gläsernen Sarg, sondern in einem Sarg aus Eis. Sorgfältig verteilte er einen weiteren Eimer Wasser über die gefrorene Schicht.
Eiskristalle bildeten sich über ihrem nackten, jugendlichen Körper, glitzerten und funkelten im gedämpften Licht seiner Höhle.
Es sah schön aus.
Wunderschön.
Perfekt.
Tot.
Summend fing er an zu meißeln. Aus dem batteriebetriebenen Radio ertönte Weihnachtsmusik und erfüllte sein ganz privates, geheimes Refugium. Er arbeitete sorgfältig, genau bis ins kleinste Detail. Perfektion, das war sein Ziel. Absolute Perfektion würde er erreichen.
Die Temperatur in seiner unterirdischen »Werkstatt« lag konstant bei minus 1,1 Grad Celsius, knapp unter dem Gefrierpunkt; sein Atem bildete bei der Arbeit weiße Wölkchen. Obwohl gerade ein Schneesturm über diesen Teil der Bitterroot Mountains hinwegfegte, war die Luft hier unten, tief in den Höhlen, unbewegt; nicht der kleinste Luftzug war zu spüren.
Er trug einen Neoprenanzug, Handschuhe, Stiefel und eine Skimaske, auch wenn er sich insgeheim wünschte, nackt zu arbeiten. Es wäre herrlich zu spüren, wie ihm die Kälte ins Fleisch schnitt, sich lebendiger zu fühlen, doch das würde warten müssen. Er durfte nicht leichtsinnig werden, durfte nicht zulassen, dass ein winziger Hautpartikel, ein Haar oder auch nur ein Schweißtropfen sein Werk beeinträchtigte.
Doch es ging nicht nur um die perfekte Schönheit, es gab auch noch das Problem mit der DNA, sobald die Polizei sich einschaltete. Lange würde das nicht mehr dauern, denn sein Kunstwerk war beinahe fertig. Hier noch ein bisschen schnitzen, dort noch ein bisschen schleifen.
»Oh, the weather outside is frightful«, sang er zur Musik mit. Seine Stimme hallte durch die durch Gänge miteinander verbundenen Höhlen, die tief unten in den Gebirgsausläufern der Bitterroot Mountains versteckt lagen. Eine natürliche Quelle lieferte ihm das Wasser, das er für seine Arbeit brauchte, batteriebetriebene Lampen spendeten bläu liches Licht. Wenn er es heller haben wollte, schaltete er zusätzliche Scheinwerfer an.
Weiter hinten in der riesigen Höhle ertönte ein jämmerliches Wimmern. Er runzelte die Stirn. Warum starb diese Frau nicht endlich? Er hatte ihr eine Dosis Beruhigungsmittel verabreicht, die einen Elefanten umgehauen hätte, und trotzdem schwankte sie noch immer zwischen Leben und Tod. Stöhnte. Mit gefurchten Augenbrauen schlug er den Hammer auf den Meißel, der rutschte ab und schnitt durch den Handschuh in den Finger. »Verdammt!« Ein einzelner Blutstropfen rollte über das Eis und gefror. Anstatt ihn wegzuwischen, meißelte er die Stelle aus, um sicherzugehen, dass sein perfektes Kunstwerk nicht ruiniert wurde.
Als er damit fertig war, schwitzte er. »Hab Geduld«, schärfte er sich ein, als er die Kerbe vorsichtig, nach und nach, mit klarem Wasser aus der Quelle füllte, um den Makel unsichtbar zu machen.
»Perfekt«, murmelte er, endlich zufrieden.
Er blickte auf sein Kunstwerk hinab, betrachtete die nackte Frau, umschlossen von Eis, dann beugte er sich vor, gerade so weit, um ihr über eine eisige Brustwarze zu lecken. Seine Zunge kribbelte, die Kälte im Mund bereitete ihm pure, heiße Lust, und er malte sich aus, wie er seinen Körper an ihrem eiskalten Fleisch reiben würde. Sein Schwanz zuckte. Er glitt mit der Zunge über das Eis, stellte sich ihren salzigen Geschmack vor, nahm ihre harte Brustwarze in den Mund. Er wollte seine Zähne darin versenken, nur ein wenig, bis sich Lust und Schmerz vermischten. Seine Phantasie entlockte ihm ein leises Stöhnen.
Vor seinem inneren Auge sah er eine weitere schöne Frau, deren Haar ungebändigt hinter ihr herwehte, während sie lief, lachend, ihre Stimme hallte durch den Winterwald. Die schuppigen Stämme der Kiefern waren voller Schnee, zwischen den langen Nadeln hingen dünne Eiszapfen.
Er rannte durch den dicken Pulverschnee, jagte ihr hinterher, sah erregt zu, wie sie ihre Kleidung abwarf, Stück für Stück, Mantel, Bluse, Rock, Schal, bis sie in BH und Höschen dastand und wieder vor ihm davonlief.
Bald schloss er zu ihr auf und fing an, seine eigene Kleidung abzustreifen, Stiefel, Jacke, Jeans, dann fummelte er mit klammen Fingern an den Knöpfen seines Hemds, die sich nur schwer öffnen ließen. Der Abstand zu ihr wurde größer, und er musste angestrengt rennen, um sie einzuholen.
Er malte sich aus, was er mit ihr anstellen würde, wie er in sie stoßen, den vom Himmel rieselnden Schnee auf ihrer nackten Haut zum Schmelzen bringen würde.
Doch er hielt sein Messer in der Hand. Das Messer mit dem Griff, der aus dem Geweih des Hirsches gefertigt war, den er vor drei Jahren getötet hatte. Er erinnerte sich genau daran, wie er das Tier erlegt hatte, mit einem einzigen Pfeil ...
Jetzt hatte er sie fast eingeholt ... sein Herz pochte, seine Finger schlossen sich um den Griff des Messers.
Sie wirbelte herum, als er nur noch einen halben Schritt hinter ihr war, ihre Augen glänzten wie zwei Eiskristalle, die Wangen leuchteten gerötet von der frostigen Winterluft. Ein neckisches Lächeln umspielte ihre perfekten Lippen. Lippen wie die eines Engels.
Dann sah sie das Messer.
Ihr Lächeln verblasste. In ihrem schönen Gesicht spiegelte sich Erschrecken, dann Entsetzen wider. Sie stolperte, stürzte beinahe, dann lief sie weiter, schneller als zuvor, wobei sie noch mehr Schnee aufwirbelte. Jetzt hatte ihre Flucht nichts Spielerisches mehr, jetzt rannte sie aus nackter Angst.
Mit geblähten Nasenflügeln nahm er die Verfolgung auf, war mit ein paar Schritten bei ihr, bekam mit der freien Hand ihr offenes Haar zu fassen und dann ...
Verschwommen.
Alles, woran er sich erinnerte, war die Wunde, aus der warmes rotes Blut auf den blendend weißen Schnee spritzte. Nein! Abrupt kehrte er in die Gegenwart zurück. Er durfte es nicht zulassen, dass ihn derlei Gedanken von der Arbeit ablenkten.
Das Eis um die Brustwarze schmolz in seinem Mund. Seine Erektion war nun steinhart und drückte gegen den engen Neoprenanzug. Er richtete sich auf und verspürte einen Anflug von Abscheu wegen seiner Schwäche. Mit aller Kraft zwang er seinen stets bereiten Schwanz, wieder abzuschwellen.
Was war nur in ihn gefahren?
Er blickte auf die nackte Frau hinab und betrachtete die Stelle, an der sein Mund das Eis geschmolzen und jede Menge DNA-Spuren hinterlassen hatte. Das war nicht klug, ganz und gar nicht, und bestimmt nicht das, was man von einem Menschen mit dem IQ eines Genies erwartete.
Rasch fing er an, auch diesen Fleck aus dem Eis zu meißeln.
Im hinteren Teil der Höhle fing die Schlampe erneut an zu stöhnen. Er biss die Zähne zusammen. Sie würde noch früh genug sterben, und ihr makelloser Körper würde keinerlei Anzeichen von Gewaltanwendung aufweisen, kein Hämatom, keine Schnittwunde, nichts. Dann würde er auch sie in einen eisigen Sarg stecken und ein weiteres perfektes Kunstwerk erschaffen.
Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass ihm noch genug Zeit blieb, um die begonnene Arbeit zu Ende zu bringen. Seine Frau erwartete ihn nicht vor einer Stunde zurück.
Jede Menge Zeit.
Er holte Wasser aus der Quelle und goss es über sein Werk.
Es ist noch nicht ganz fertig, dachte er, als er in die weit aufgerissenen Augen der eingefrorenen Frau blickte.
Doch es würde nicht mehr lange dauern.
Dankbar, dass das Stöhnen aus dem hinteren Teil der Höhle endlich verstummt war und er sich wieder konzentrieren konnte, schöpfte er wieder und wieder Wasser, wobei er leise das Lied im Radio mitsang: »Let it snow, let it snow ...«
»... let it ... « Klick!
Selena Alvarez drückte auf die Schlummertaste ihres Radioweckers, dann stellte sie ihn, ohne zu überlegen, ganz aus und rollte sich aus dem Bett. Mein Gott, sie hasste das Lied. Überhaupt hatte sie mit Weihnachten rein gar nichts am Hut.
Und das hatte seine Gründe.
Nicht, dass sie jetzt wieder darüber nachdenken wollte.
Das wollte sie nie.
Obwohl es draußen noch stockdunkel war, teilte ihr die leuchtend rote Digitalanzeige mit, dass es halb fünf war, die Zeit, zu der sie für gewöhnlich aufstand und langsam in Fahrt kam. Die meiste Zeit des Jahres nahm sie jeden einzelnen Tag in Angriff, als stellte er eine besondere Herausforderung dar, doch sobald sich der Herbst dem Ende näherte und der November in den Dezember überging, verspürte sie den ewig gleichen Überdruss, der die Vorweihnachtszeit begleitete, die mangelnde Begeisterung, die ihr die Kraft raubte und ihre Stimmung trübte. Im Winter schwand ihre üb liche Ich-stelle-mich-dem-Leben-Haltung, und sie musste sich doppelt zusammenreißen, um sich nicht hängen zu lassen.
»Dummkopf«, murmelte sie und streckte sich.
Sie kannte natürlich den Grund für diesen alljährlichen Stimmungswechsel, doch sie sprach nie darüber, nicht einmal mit ihrer Partnerin. Schon gar nicht mit ihrer Partnerin. Pescoli würde sie doch nicht verstehen.
Und Alvarez würde jetzt ganz bestimmt nicht darüber nachdenken.
Der Welpe, den sie vor kurzem zu sich genommen hatte, eine Mischung aus Schäferhund und entweder Boxer oder Labrador, regte sich in seinem verschließbaren Hundekorb, streckte sich und bellte, um herausgelassen zu werden, während ihre Katze, Mrs. Smith, die stets auf dem zweiten Kopfkissen in Selenas Bett schlief, den Kopf hob und blinzelte.
Der Hund bellte und winselte lauter, dann jaulte er aufgeregt, als wollte er sagen: »Nun lass mich endlich raus, ich habe ein dringendes Geschäft zu erledigen!« Der Kleine zeigte genau die Begeisterung, die Alvarez gerade fehlte.
»He, du weißt, dass du das nicht darfst«, tadelte sie den Welpen, dann öffnete sie das Gitter seines Hundekorbs und ließ ihn heraus. Sofort fing er an, bellend um sie herumzuspringen, trotz ihrer Bemühungen, ihn im Zaum zu halten. »Nein, Roscoe! Aus! Sitz!« Er stürmte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer ihres Reihenhauses, dicht gefolgt von seiner Herrin und der Katze. Unten angekommen, umkreiste er Couch und Couchtisch, dann rannte er schwanzwedelnd zur Terrassentür.
Alvarez sah zu Mrs. Smith hinüber, die unterdessen auf ein Regal gesprungen war und die ganze Szene mit katzenhafter Verachtung beobachtete. »Ja, ich weiß. Du musst mir das nicht extra unter die Nase reiben!« Sekunden später ließ sie den Hund in ihren kleinen, umzäunten Garten, wo er sofort in den dunkelsten Ecken verschwand, um zweifelsohne das Bein an jedem Baum, Busch und Pfosten zu heben, den er finden konnte. Es schneite immer noch, stellte sie fest, als sie rasch die Schiebetür schloss, um die Kälte draußen zu lassen, die unangenehm durch ihren Flanellschlafanzug zog. Durch die Scheibe sah sie, dass die Töpfe mit den größeren Pfl anzen, die sie auf der Terrasse stehen gelassen hatte, mit einer zehn Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt waren, auch auf dem Rasen lag eine unberührte weiße Decke - ein friedlicher Anblick, bis Roscoe hineinsprang und alles zerwühlte. Doch Schnee brachte ihr ohnehin weder Ruhe noch Frieden. Roscoe aufzunehmen war eine überstürzte Entscheidung gewesen, zumal sie das Reihenhaus gerade erst gekauft hatte, doch jetzt war es zu spät - der lebenslustige Welpe hatte längst einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen erobert. Trotz seiner Schwächen.
»Zum Heulen!«, murmelte sie.
Roscoe sprang zurück auf die kleine Betonfl äche ihrer Terrasse und kratzte an der Scheibe. Sie öffnete die Schiebetür ein Stückchen, und er versuchte, sich durch den Spalt ins Wohnzimmer zu zwängen, doch sie erwischte ihn am Halsband. »Kommt gar nicht in Frage, Kumpel«, brummte sie, schnappte sich das Handtuch, das sie zu diesem Zweck an den Fenstergriff gehängt hatte, und putzte ihm die mächtigen Pfoten ab, bevor sie ihn hineinließ.
Momentan ging sie nur selten ins Fitnessstudio; stattdessen joggte sie mit dem Hund, um ihn auszupowern, dann nahm sie eine Dusche, zog sich an und ließ ihn so lange im Hauswirtschaftsraum. Das war keine optimale Lösung, doch sobald er ganz stubenrein wäre, würde sie eine Hundeklappe einbauen lassen und die Nachbarin bitten, am Nachmittag mit ihm Gassi zu gehen. In letzter Zeit blieb sie abends nicht mehr lange im Department, nahm die Arbeit lieber mit nach Hause.
Was an und für sich eine gute Sache war.
Leider führte es ihr nur noch deut licher vor Augen, dass sie außer ihren Haustieren niemanden hatte, der zu Hause auf sie wartete.
Nicht dass sie es während des vergangenen Jahres nicht versucht hätte, sie hatte sich sogar ein paarmal verabredet, war mit Kevin Miller ausgegangen, einem Pharmavertreter, der in seiner Freizeit häufig ins Fitnessstudio ging und ständig über seine Arbeit redete. Er hatte sie zu Tode gelangweilt. Auch mit Terry Longstrom hatte sie sich getroffen. Terry war Psychologe und arbeitete mit jugendlichen Straftätern; er hatte sie ein paarmal ausgeführt, doch obwohl er sehr nett war, fühlte sie sich einfach nicht zu ihm hingezogen, und so tun, als ob es anders wäre, wollte sie auch nicht. Am schlimmsten war es mit Grover Pankretz gewesen. Er hatte früher im ortsansässigen DNA-Labor gearbeitet, doch als die Firma schrumpfte, war seine Stelle gestrichen worden. Grover war ein geistreicher Mann, doch von Anfang an für ihren Geschmack viel zu besitzergreifend. Schon beim zweiten Date wollte er etwas Festes, deshalb hatte sie das Ganze beendet, noch bevor es richtig beginnen konnte. Zum Glück waren all diese Männer weitergezogen, entweder in eine andere Gegend oder zu anderen Frauen. Terry und Grover, so war ihr zu Ohren gekommen, hatten geheiratet.
Die Wahrheit war simpel: Sie war einfach nicht bereit für eine ernsthafte Beziehung, wie ihre alberne Schwärmerei für den älteren, unerreichbaren Dan Grayson bewiesen hatte, der rein zufällig ihr Boss war. Typisch.
»Gib's zu«, sagte sie zu sich selbst, »im Grunde willst du gar keinen Mann in deinem Leben.«
Nachdem sie ihre morgendliche Routine hinter sich gebracht hatte, machte sie sich auf den Weg zum Büro des Sheriffs auf dem Boxer Bluff. Grizzly Falls war im Grunde zweigeteilt: Eine Hälfte des städtischen Lebens spielte sich oben auf dem steilen Hügel ab, an dessen Hängen die besser Betuchten ihre großzügigen Anwesen errichtet hatten, die andere unten, entlang des Flusses. Die spektakulären Wasserfälle, die der Stadt ihren Namen gaben, stürzten sich tosend vom Boxer Bluff in die Tiefe.
Der Verkehr hügelaufwärts staute sich an den üb lichen Stellen und wurde zusätzlich durch einen querstehenden Wagen kurz vor dem Bahnübergang behindert. Die ganze Zeit über schneite es, und sie musste die Scheibenwischer auf Stufe zwei schalten, um die Windschutzscheibe frei zu halten.
Mein Gott, wie sie diese Jahreszeit hasste!
Es hatte den Anschein, als ginge die Vorweihnachtszeit hier in Grizzly Falls stets mit irgendwelchen Katastrophen einher. Trotz der Weihnachtskränze an den Türen, der festlich geschmückten Tannen und Fenster, ganz zu schweigen von der Dauerberieselung mit Weihnachtsliedern, die sämt liche Radiosender rund um die Uhr zu spielen schienen, lauerte Unheil im Schatten dieser lichterglänzenden Fröhlichkeit. Die Fälle von häus licher Gewalt nahmen rapide zu, und in den letzten Jahren waren einige durchgeknallte Serienkiller dazugekommen, welche die Einheimischen in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Nicht gerade eine Zeit des Friedens und der Freude.
Abschnittweise war es ziemlich glatt, doch Alvarez' zehn Jahre alter Subaru Outback schraubte sich mühelos die vereisten Straßen hinauf. Auch der Wagen, sie hatte ihn ge braucht günstig bekommen, war neu in ihrem Leben. Dennoch wusste sie natürlich, dass selbst alle Autos und Reihenhäuser der Welt nicht die Leere in ihrem Innern würden füllen können. Die Haustiere waren ein Schritt in die richtige Richtung, dachte sie, als sie auf den Parkplatz des Departments einbog. Die Katze, deren Besitzerin einem teuflischen Mörder zum Opfer gefallen war, hatte sie vergangenes Jahr im Zuge der Ermittlungen zu sich genommen, doch der Welpe war eine spontane, unüberlegte Entscheidung gewesen.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
Vielmehr: Was hatte sie nicht bedacht?
Sie hatte ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass Roscoe auf den Teppich pinkeln oder ihre Möbel anknabbern würde, ganz zu schweigen von den Tierarztrechnungen. Nein, sie hatte nur ein warmes, kuscheliges Knäuel gesehen, mit glänzenden Augen, einer feuchten Nase und einem Schwanz, der nicht aufhörte zu wedeln, als sie dem örtlichen Tierheim einen Besuch abstattete.
»Albern«, murmelte sie und hielt vor dem Büro des Sheriffs an, doch sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sie hatte gedacht, Roscoe würde sie schützen, Einbrecher verjagen.
Ach ja? Und warum hast du dann das Gefühl, jemand wäre letzte Woche in deinem Haus gewesen, auch wenn du nicht genau beschreiben kannst, warum? Wo war Roscoe, der Wachhund, da?
Vermutlich täuschte sie sich, spielten ihre Nerven verrückt, weil sie Neil Freeman vernommen hatte, einen Psychopathen, der seine Augen während des gesamten Verhörs unablässig über ihren Körper hatte gleiten lassen, dabei hatte sie ihn zum Tod seiner Mutter befragt ... Es stellte sich heraus, dass diese eines natürlichen Todes gestorben war, doch sein Gehabe und die Art, wie er jede Antwort in schlüpfrige Anspielungen verwandelt hatte, wie er sich mit der Zunge über die Lippen gefahren war, war ihr ziemlich an die Nieren gegangen. Was er vermutlich beabsichtigt hatte. Perverser Fiesling! Sie redete sich ein, dass Freeman nicht in ihrem Haus gewesen war, und wenn doch, dann hätte Roscoe ihr das schon irgendwie mitgeteilt.
Und wie sollte er das, bitte schön, tun? Mach dir doch nichts vor, Alvarez, du wirst langsam, aber sicher eine von diesen typischen, durchgeknallten Hundefreunden und Katzennarren. Der Gedanke ließ sie erschaudern.
Ja, sie liebte diesen Hund, und vielleicht war Roscoe genau das, was sie brauchte. Auf keinen Fall würde sie ihn wieder hergeben.
Während sie ausstieg, den Wagen absperrte und im Schneegestöber aufs Gebäude zueilte, wandten sich ihre Gedanken den vor ihr liegenden Wochen zu. Im Büro würde die alljährliche Weihnachtsfeier stattfinden, und Joelle Fisher, die Empfangssekretärin mit ihrem Weihnachtswahn, würde wie jedes Jahr das gesamte Department in ein Weihnachtswunderland verwandeln und über nichts anderes mehr reden als über die Wichtelaktion. Alvarez konnte keine Begeisterung dafür aufbringen; sie wusste, dass während der Feiertage jede Menge Überstunden auf sie zukämen. Das war für sie an Weihnachten Tradition: Sie arbeitete, damit die Kollegen mit Familie zu Hause bleiben konnten.
So war es leichter.
Auf der Schwelle des Hintereingangs klopfte sie den schmelzenden Schnee von den Stiefeln, trat ein und machte einen Abstecher zum Aufenthaltsraum, wo sie stirnrunzelnd feststellte, dass noch niemand Kaffee gekocht hatte. Widerwillig setzte sie eine Kanne auf, dann begab sie sich auf die Suche nach ihrer Lieblingstasse, erhitzte Wasser in der Mikrowelle und nahm sich den letzten Beutel Orange Pekoe.
Auf dem Tisch stand eine offene knallrosafarbene Schachtel, in der ein paar übrig gebliebene Plätzchen lagen. Alvarez beschloss, diese vorerst zu ignorieren - um diese Jahreszeit schleppte Joelle nahezu stündlich frische Leckereien an.
Sie nahm ihren Schal ab und machte sich auf den Weg zu ihrem Schreibtisch, verstaute Handtasche und Dienstwaffe und hängte ihre Jacke an den Garderobenhaken. Anschließend ging sie ihre Post und E-Mails durch, hörte den Anrufbeantworter ab, vergewisserte sich, dass sämt liche Berichte zu einem Fall, an dem sie gerade arbeitete, abgeheftet waren, dann wandte sie sich einem weiteren zu und sah nach, ob der Obduktionsbericht zu Len Bradshaw eingegangen war, ein einheimischer Farmer, der bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war. Sein Freund, Martin Zwolski, war mit ihm unterwegs gewesen, und während er sich durch einen Stacheldrahtzaun hindurchgezwängt hatte, war seine Waffe losgegangen. Die Kugel hatte Len in den Rücken getroffen und tödlich verletzt.
Unfall oder vorsätzliche Tötung?
Alvarez glaubte an die Unfallversion. Martin war in Tränen aufgelöst gewesen, umringt von Lens Freunden und Familie. Alles sprach zwar für einen Unfall, doch sie war nicht hundertprozentig überzeugt, nicht, solange die Ermittlungen noch liefen. Es gab drei lose Enden, die sie an Martins Geschichte zweifeln ließen.
Zunächst einmal hatten die beiden Männer auf Privatbesitz gewildert, keiner von ihnen hatte eine Jagderlaubnis für Rotwild besessen, außerdem hatten sie gemeinsam einen Landwirtschaftshandel betrieben. Das Geschäft war vor zwei Jahren pleitegegangen, hauptsächlich deshalb, weil sich Len einen Großteil der Einkünfte »geborgt« hatte. Es kursierten auch Gerüchte, nach denen Len früher einmal etwas mit Martins Frau gehabt haben sollte. Martin und Ezzie lebten zu der Zeit zwar bereits getrennt, trotzdem ... Das Ganze war für Alvarez' Geschmack ein kleines bisschen zu chaotisch.
Sie ging ihre E-Mails durch.
Noch immer kein Obduktionsbericht.
Vielleicht später. Sie überflog die Angaben zu den vermissten Personen, um herauszufinden, ob man Lissa Parsons gefunden hatte.
Selena kannte sie aus dem Fitnessstudio, hatte gemeinsam mit ihr mehrere Kurse besucht. Lissa, eine Sechsundzwanzigjährige mit kurzen schwarzen Haaren und einem Wahnsinnskörper, arbeitete als Rezeptionistin in einer ortsansässigen Anwaltskanzlei und war vor einer Woche als vermisst gemeldet worden. Als die Detectives nachhakten, stellte sich heraus, dass Lissa schon länger nicht mehr gesehen worden war. Ihr Freund und sie hatten eine schwere Zeit hinter sich, und er hatte beschlossen »dass sie etwas Abstand bräuchten «. Ihre Mitbewohnerin war vor einigen Wochen zu einer ausgedehnten Floridareise aufgebrochen und hatte bei ihrer Rückkehr eine leere Wohnung mit vergammelnden Bioprodukten im Kühlschrank vorgefunden. Lissas Handtasche, ihr Handy, Auto und Laptop waren ebenfalls verschwunden, doch in ihrem Schrank fehlte nichts; sämt liche Kleidungsstücke hingen auf Bügeln oder lagen ordentlich zusammengefaltet in den Fächern, der Wäschekorb im Schlafzimmer war voller verschwitzter Sportsachen.
Die Mitbewohnerin, der Freund und ein Ex-Freund hatten absolut wasserdichte Alibis. Es gab keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen in die Wohnung oder auf einen Kampf. Alles sah so aus, als hätte Lissa das Apartment für den Tag verlassen, um am Abend dorthin zurückzukehren. Nach ihrem Verschwinden hatte sie weder mit ihrem Handy telefoniert noch ihre Kreditkarte benutzt.
Alvarez gefiel das absolut nicht. Vor allem nicht die Tatsache, dass sie offenbar seit rund zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Das war nicht gut. Gar nicht gut.
Und es sah ganz danach aus, dass es noch immer keine Spur von ihr gab.
Keine Leiche. Keinen Tatort. Kein Verbrechen.
Noch nicht.
Verdammt.
Man hatte sämtliche umliegenden Krankenhäuser überprüft, doch Lissa Parsons war nicht eingeliefert worden, auch keine unbekannte Frau. Nachfragen bei weiteren Behörden führten ebenfalls zu keinem Ergebnis.
Sie war einfach ... verschwunden.
»Wo zum Teufel steckst du?«, fragte Alvarez laut und nahm einen Schluck von ihrem jetzt schon abgekühlten, aber noch lauwarmen Tee. Sie rechnete frühestens in einer Stunde mit ihrer Partnerin, doch erstaun licherweise tauchte Regan Pescoli heute früher als üblich im Büro auf, einen Pappbecher Kaffee aus einem der auf dem Weg liegenden Coffeeshops in der Hand, das Gesicht gerötet, schmelzende Schnee flocken in den mühsam gebändigten roten Locken.
»Was tust du denn hier - um diese Uhrzeit?« Alvarez wirbelte auf ihrem Schreibtischstuhl herum und blickte ihre Partnerin fragend an. »Ist jemand gestorben?«
»Sehr komisch.« Pescoli nahm einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher. »Ich musste Bianca wegen ihres Tanztrainings früher an der Schule absetzen.« Bianca war Pescolis sechzehnjährige Tochter, die die Highschool besuchte und so eigensinnig wie schön war. Eine gefähr liche Kombination, zudem war es nicht gerade förderlich, dass das Mädchen seine getrennt lebenden Eltern geschickt gegeneinander auszuspielen wusste. Was jedes Mal funktionierte. Obwohl Pescoli und ihr Ex seit Jahren geschieden waren, herrschte zwischen ihnen noch immer jede Menge Feindseligkeit, vor allem wenn es um die Kinder ging. Bianca und ihr älterer Bruder Jeremy, ein Dann-und-wann-College-Student, der zwischen seinen wiederholten Versuchen, auszuziehen und auf eigenen Beinen zu stehen, immer wieder Regans Wohnung belagerte, rieben sie beide auf.
»Ich dachte, die Tanztruppe würde nach der Schule üben.«
»Dann ist die Sporthalle belegt.« Pescoli blickte aus dem Fenster. »Basketball, Ringen, die Cheerleader, die Tanztruppe ... was auch immer, alle beanspruchen die Halle für sich, und momentan hat meines Wissens Basketball oberste Priorität. Also muss Bianca in den beiden kommenden Wochen um sechs Uhr fünfundvierzig in der Schule sein. Das bedeutet, dass sie um sechs aufstehen muss, was sie fast umbringt, wie du dir sicher vorstellen kannst.« Pescolis Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln bei dem Gedanken an den allmorgend lichen Kampf ihrer Tochter. »Und das ist erst Tag eins. Es ist wirklich sehr hart, eine Prinzessin zu sein, wenn man zu solch nachtschlafender Stunde aus den Federn muss, ›wenn jeder, der halbwegs bei Verstand ist, im Bett liegt‹.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage dir, wir ziehen eine Generation von Vampiren groß!«
»Vampire sind gerade total angesagt.«
»Da soll mal einer schlau draus werden!« Sie wurde ernst und deutete auf das Foto von Lissa Parsons, das gerade auf dem Monitor von Alvarez' Computer zu sehen war. »Ist der Obduktionsbericht im Bradshaw-Fall reingekommen?«
»Noch nicht.«
Pescoli furchte die Augenbrauen. »Du weißt, dass ich Zwolski die Sache mit dem Unfall wirklich gern glauben würde, aber es will mir einfach nicht gelingen.«
»Das verstehe ich.«
»Irgendetwas passt da nicht ins Bild. Gibt es Neuigkeiten im Fall der vermissten Lissa Parsons?«
»Noch nicht.«
»Mist.« Pescoli nahm einen weiteren Schluck. »Schwer zu sagen, was da los ist«, überlegte sie laut. »Ein fl atterhaftes Mädchen, das sich für eine Weile aus dem Staub gemacht hat, oder steckt mehr dahinter?« Offenbar gefiel ihr Letzteres gar nicht, denn die Furchen zwischen ihren Brauen vertieften sich. »Was ist mit ihrem Wagen?«
»Keine Ahnung. Ich gehe gleich mal rüber in die Vermisstenabteilung und rede mit Taj, mal sehen, ob sie was Neues weiß.«
»Sag mir Bescheid.« Pescoli wandte sich gerade zum Gehen, als das vertraute Klackern von High Heels ihre Aufmerksamkeit erweckte. Klick, klick, klick.
»Tüt, tüt! Ich komme!«, warnte Joelle mit ihrer Kleinmädchenstimme. Alvarez erspähte die zier liche Empfangssekretärin, die mehrere aufeinandergestapelte Plastikdosen in Richtung Aufenthaltsraum trug. Heute hatte sie ihre platinblonden, toupierten Löckchen mit rotem und grünem Glitzerspray verschönert, ihre Schneemannohrringe funkelten im grellen Neonlicht.
»Frühstück«, bemerkte Pescoli. »Komm, ich besorge dir einen Kaffee.«
Zusammen folgten sie dem übereifrigen Dynamo, der erst zufrieden zu sein schien, wenn jeder Quadratzentimeter der Polizeistation weihnachtlich dekoriert war. Papierschneeflocken, besprüht mit silbernem Glitzer, hingen von der Decke, künstliche Tannengirlanden schlängelten sich durch die Flure, ein rotierender Weihnachtsbaum verschönerte den Empfangsbereich, und selbst das Kopiergerät war mit einer roten Samtschleife verziert. Dahinter an der Wand war ein Mistelzweig befestigt. Als ob jemand versuchen würde, einen Kuss unter dem Mistelzweig zu stehlen, während er Festnahmeprotokolle fotokopierte. Es gibt doch nichts Romantischeres als ein Küsschen beim Summen und Klappern der Bürogeräte, dachte Alvarez zynisch.
»Das hätten wir!« Joelle stellte die Plastikdosen ab und legte eine grün-rot karierte Decke auf einen der runden Tische, bevor sie die erste Dose öffnete. »Voilà!«
Drinnen befanden sich sorgfältig aufgereihte runde kleine Kuchen, jeder einzelne mit Santa-Claus-, Schneemann- oder Rentiergesichtern verziert. »Die habe ich vom Bäcker mitgebracht «, verkündete sie, als sei das eine Sünde, »aber ich habe auch meine berühmten Weihnachtsmakronen und die russischen Teeplätzchen gebacken.« Eine weitere Dose wurde geöffnet. »Und das pièce de résistance«, flötete sie mit neckischer Stimme, »Großmutter Maxies göttliche Buttertoffees! Hmm!« Sie sauste zum Schrank, worin sie zuvor mehrere Tabletts verstaut hatte, und verteilte, zufrieden, dass alle noch glänzten, ihre Lieblingsleckereien darauf.
»Ich kriege schon einen Zuckerschock, wenn ich das Zeug nur ansehe«, seufzte Pescoli.
Joelle kicherte begeistert. Obwohl sie bereits über sechzig war, sah sie gut zehn Jahre jünger aus und schien über eine schier grenzenlose Energie zu verfügen - zumindest während der Weihnachtszeit. »Nun, bedient euch!« Als die Tabletts fertig waren, sammelte sie die Dosen ein und eilte den Gang hinunter zu ihrem Schreibtisch im Eingangsbereich des Departments. »Und denkt daran, um vier findet die Auslosung für das Weihnachtswichteln statt!«, rief sie Regan und Selena über die Schulter zu. »Detective Pescoli, ich erwarte, dass auch du daran teilnimmst!«
Pescoli hatte bereits in ein Plätzchen gebissen und verdrehte verzückt die Augen. Kauend lehnte sie sich zu Alvarez hinüber und murmelte: »Diese Frau treibt mich zwar in den Wahnsinn mit ihrer Weihnachtsbesessenheit, aber eins muss man ihr lassen: Sie weiß, wie man Makronen backt!«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Lisa Jackson
Lisa Jackson zählt zu den amerikanischen Top-Autorinnen, deren Romane regelmäßig die Bestsellerlisten der "New York Times", der "USA Today" und der "Publishers Weekly" erobern. Ihre Hochspannungsthriller wurden in 25 Länder verkauft. Auch in Deutschland hat sie mit ihrer in New Orleans angesiedelten Detective-Rick-Bentz-Serie erfolgreich den Sprung auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Lisa Jackson lebt in Oregon.Mehr Infos über die Autorin und ihre Romane unter: www.lisajackson.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Jackson
- 2013, 1, 480 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652428
- ISBN-13: 9783863652425
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