Vom Krebs gebissen
Ein Buch, das Mut macht.
Ein Buch, das Mut macht.
Vom Krebs gebissen von MarionKnaths
LESEPROBE
Der Affe, die Maus und derSozialstaat
Sie sind fünfzig Meter von mirentfernt: Affen, Mäuse, Ratten, Kaninchen. Ihre Augen starren mich stumpf undeindringlich durch Gitterstäbe hindurch an. Sie warten darauf, ob ich den Knopfunter meinen Händen drücke, der für sie Folter und Tod und für mich das Lebenbedeutet. Drücke ich nicht, öffnen sich die Käfigtüren, und kein Tier muss dieQualen der Versuchsmedizin erleiden - und ich sterbe.
Bevor ich mich endgültig für dieTherapie entschied, beschäftigte mich dieses Bild. Welches Recht hatte ich,mein Leben über das dieser Tiere zu stellen? Keins. Und für mich lief es aufgenau diese Frage hinaus: Wenn ich Ja zur Intensivmedizin sagte, dann sagteich mit Sicherheit Ja zu dem qualvollen Tod vieler Tiere. Zumindest in meinerVorstellung. Das Schlimmste an diesem Bild war, dass es mir nicht wirklichdarum ging, durch meinen Verzicht auf die Intensivmedizin ein politischesZeichen zu setzen. Ich wollte einfach nicht für den Tod dieser Tiere verantwortlichsein. Ich fühlte mich verlogen.
Eine Kollegin baute mir die Brücke,über die ich schließlich dankbar ging. »All die Tiere, die du ständig vor dirsiehst, sind doch bereits gestorben. Indem du jetzt ebenfalls stirbst, wirdnicht eins dieser Tiere wieder lebendig. Aber wenn du überlebst, dann hatte ihrTod einen Sinn. - Zumindest für mich.« Pause. »Und wenn es dir hilft«, sprachsie weiter in mein Schweigen hinein, »ich würde den Knopf für dich drücken.« Ich weinte. Auch wenn ihre Argumente einen dicken Pferdefußhatten, so half sie mir doch einen entscheidenden Schritt weiter. Ich hattemich bereits über alternative Behandlungsmethoden informiert und entschieden, dasssie für mich nicht in Frage kamen. Jetzt hielt ich mich an das Argument, dassdie Versuchstiere schon nicht mehr lebten, und verbannte erleichtert das Bildaus meinen Gedanken; und ließ mich ohne weiteres Wenn und Aber und mit allenKonsequenzen auf die Intensivmedizin ein.
Allerdings habe ich mich oftgefragt, was denn eigentlich gewesen wäre, wenn ich gestorben wäre. Wenn esdiese ganze Medizin mit ihren Maschinen und hochwirksamen Medikamenten nichtgäbe. - Die Welt hätte mein Ableben wohl kaum bemerkt. Einige Menschen hättenmich mit Sicherheit schmerzlich vermisst; hätten vielleicht noch Jahre um michgetrauert und an mich gedacht. Aber rechtfertigt das die Qual von MillionenWirbeltieren, die in den so genannten sinnvollen Versuchen für medizinischeZwecke leiden und sterben? Und wenn diese Versuche einen so genannten »Sinn«haben, was bedeutet es für mich, wenn ich überlebe? Welchen Sinn soll es dennhaben, dass ich weiter existiere? Muss ich meiner Existenz anschließend einenbesonderen Sinn verleihen, oder besteht dieser Sinn in meinem Sein an sich?
Einer meiner Mitarbeiter hatte Jahrespäter eine ganz klare Meinung zu diesem Thema. Er war auf dem Weg zur Firma anTierschützer geraten, die ihm eine Diskussion aufgedrängt hatten. Und er warfür die Forschung an Tieren eingetreten und hatte nicht »gegen die Krebsmaus«unterzeichnet, da auch er Dank der an Tieren erprobten Medizin seinen Krebs überlebthatte. Und sein Sinn bestand schlicht darin, dass er Vater war. Vielleicht warer der Ehrlichere von uns beiden. Ich würde mich noch immer gegen Tierversucheaussprechen, verdanke diesen aber mein Leben.
Als ich mich für die Behandlungentschieden hatte, dachte ich auch darüber nach, warum die Gemeinschaft mireinfach so half. Niemand fragte nach meiner politischen oder moralischenGesinnung, meiner Leistungsfähigkeit, was ich im Falle meines Überlebens ausmeinem Leben machen wollte. Ich war krank, und ohne zu zögern und ohne jedeAnforderung an mich war diese Gesellschaft bereit, mir zu helfen, bereit, eineMillion Mark für mein Überleben zu bezahlen - ohne zu wissen, ob ich danach aufdie Straße gehe und Steine schmeiße, ob ich Großmüttern Handtaschen klaue,kleine Kinder quäle, andere um Millionen betrüge oder durch mein Leben und Wirkendie Gemeinschaft bereichere. Das fand ich erstaunlich. Beeindruckend! Diewahre Größe und die eigentliche Bedeutung der Begriffe »soziale Gemeinschaft«oder »Sozialstaat« wurden mir erst in diesem Moment richtig klar.
Sollten Sie 1994 Beiträge in dieKrankenversicherung eingezahlt haben, dann danke ich Ihnen, dass Sie meinÜberleben finanziert haben.
Marion Knaths- die Eine-Million-D-Mark-Frau.
© Hoffmannund Campe
- Autor: Marion Knaths
- 2006, 142 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455095461
- ISBN-13: 9783455095463
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