Was im Schatten blieb
Roman. Deutsche Erstausgabe
Als Lauren sechs Jahre alt war, wurde ihre Mutter ermordert und ihr Vater dafür verurteilt. Nun verschwindet ihr Bruder Alex spurlos und Lauren findet in seinen Sachen zufällig den Hinweis auf einen mysteriösen Jadeohrring, der am Tatort gefunden wurde. Was ist wirklich passiert?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Was im Schatten blieb “
Als Lauren sechs Jahre alt war, wurde ihre Mutter ermordert und ihr Vater dafür verurteilt. Nun verschwindet ihr Bruder Alex spurlos und Lauren findet in seinen Sachen zufällig den Hinweis auf einen mysteriösen Jadeohrring, der am Tatort gefunden wurde. Was ist wirklich passiert?
Klappentext zu „Was im Schatten blieb “
Der Preis des Vergessens.Lauren war gerade sechs Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde. Der Mörder: Laurens Vater, davon war das Gericht damals überzeugt. Seit über zwanzig Jahren sitzt er im Gefängnis. Seit über zwanzig Jahren hat Lauren den Kontakt zu ihm abgebrochen. Jede Erinnerung an die Mordnacht hat sie verdrängt. Doch als ihr Bruder Alex spurlos verschwindet, entdeckt Lauren in seinen Unterlagen einen Hinweis auf ein Schmuckstück, das am Tatort gefunden wurde. Laurens Mutter trug keine Jadeohrringe. Lauren wird klar, wenn sie erfahren will, was in jener Nacht wirklich geschah, muss sie sich ihren eigenen Erinnerungen stellen ...
"Literarische Spannung vom Feinsten -
atemberaubend und aufwühlend und hoffnungsvoll und wahr. Die Leute werden über dieses Buch sprechen." justin cronin
Der Preis des Vergessens.
Lauren war gerade sechs Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde. Der Mörder: Laurens Vater, davon war das Gericht damals überzeugt. Seit über zwanzig Jahren sitzt er im Gefängnis. Seit über zwanzig Jahren hat Lauren den Kontakt zu ihm abgebrochen. Jede Erinnerung an die Mordnacht hat sie verdrängt. Doch als ihr Bruder Alex spurlos verschwindet, entdeckt Lauren in seinen Unterlagen einen Hinweis auf ein Schmuckstück, das am Tatort gefunden wurde. Laurens Mutter trug keine Jadeohrringe. Lauren wird klar, wenn sie erfahren will, was in jener Nacht wirklich geschah, muss sie sich ihren eigenen Erinnerungen stellen ...
"Literarische Spannung vom Feinsten - atemberaubend und aufwühlend und hoffnungsvoll und wahr. Die Leute werden über dieses Buch sprechen." -- justin cronin
Lauren war gerade sechs Jahre alt, als ihre Mutter ermordet wurde. Der Mörder: Laurens Vater, davon war das Gericht damals überzeugt. Seit über zwanzig Jahren sitzt er im Gefängnis. Seit über zwanzig Jahren hat Lauren den Kontakt zu ihm abgebrochen. Jede Erinnerung an die Mordnacht hat sie verdrängt. Doch als ihr Bruder Alex spurlos verschwindet, entdeckt Lauren in seinen Unterlagen einen Hinweis auf ein Schmuckstück, das am Tatort gefunden wurde. Laurens Mutter trug keine Jadeohrringe. Lauren wird klar, wenn sie erfahren will, was in jener Nacht wirklich geschah, muss sie sich ihren eigenen Erinnerungen stellen ...
"Literarische Spannung vom Feinsten - atemberaubend und aufwühlend und hoffnungsvoll und wahr. Die Leute werden über dieses Buch sprechen." -- justin cronin
Lese-Probe zu „Was im Schatten blieb “
Was im Schatten blieb von Amanda Eyre WardProlog
August 1986
... mehr
Ich kann mich an den Geschmack des Meeres erinnern und den Duft bevorstehenden Regens. Unsere Eltern hatten uns nach einigem Zögern schließlich erlaubt, im Baumhaus zu übernachten. Von dort oben konnten wir den weit entfernten Umriss des Long Island Sounds erkennen. Fast kann ich mich selbst sehen - so wie ich damals war: ein niedliches Mädchen, gerade einmal acht Jahre alt. Kräftig wie mein Vater, hatte ich auch sein schwarzes Haar und den dunklen Teint von ihm geerbt. Meine Mutter hatte mir Zöpfe geflochten. Ich trug ein Sommerkleidchen und war barfuß, damit ich besser klettern konnte.
Mein Bruder Alex hatte eine Dose Cola aus der Vorratskammer mitgehen lassen. Die tranken wir aus Plastiktassen, die zu meinem Kindergeschirr gehörten. Mein Schlafsack war zu warm. Wolken zogen am Mond vorbei. Mitten in der Nacht streckte ich ein Bein heraus und berührte mit meinem Fuß den meines Bruders. Das Baumhaus war klein und sah aus wie ein Piratenschiff.
Meine Mutter scherzte immer, mein Vater hätte mehr Zeit gebraucht, dieses Ding zu bauen, als sie für die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes. Aber als ich zwei Jahre alt war und die Leiter hinaufklettern konnte, war es fertig.
Hinter unserem Haus befand sich eine riesige Rasenfläche; vom Baumhaus aus konnte man kaum die abblätternde Farbe an der Hintertür zum Garten erkennen. Ganz gleich, was drinnen geschah, wie wir feststellen sollten, drang kein Laut bis zur Baumkrone herauf.
An jenem Abend hatten meine Eltern eine kleine Party gegeben. Bei solchen Gelegenheiten versteckten Alex und ich uns oft und beobachteten die Erwachsenen dabei, wie sie Wein tranken und sich dann irgendwie seltsam benahmen. Mein Vater bereitete auf dem Grill aufwendige ägyptische Gerichte zu - mit Reis gefüllte Tauben, Kaninchen mit Minze -, während meine Mutter mit ihren Freunden draußen am Tisch saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte.
Eingeladen waren an diesem Abend Phil Salinas (Investmentbanker), Jessica Salinas (die neueste seiner Ehefrauen), Adam Schwickrath (orthopädischer Chirurg) und Donna Helsey (meine Klavierlehrerin).
Mein Vater zog meine Mutter immer mit Adam Schwickrath auf. Der wäre eigentlich der richtige Mann für sie gewesen, den hätte sie lieber heiraten sollen. Es war nicht wirklich scherzhaft gemeint, die Bemerkungen hatten einen bitteren Unterton. Dr. Schwickrath hatte Geld und war immer gut angezogen - meist in dezenten Khaki-Hosen und edlen Hemden. Manchmal redeten meine Mutter und er in sanftem Tom miteinander. Sie lachte viel dabei, warf den Kopf zurück und zeigte ihren bloßen Hals.
Dr. Schwickrath hatte meiner Mutter ein Geschenk mitgebracht, obwohl ihr Geburtstag schon Wochen zurücklag. «Besser spät als nie», sagte er und wirkte fast etwas verlegen dabei. Meine Mutter packte das Geschenk aus. Es war ein Paar hochhackiger Schuhe. Ich sah hinüber zu meinem Vater, der das Geschenk mit zusammengebissenen Zähnen anstarrte. Er hatte meiner Mutter
ein Gedicht zu ihrem Geburtstag geschrieben und ihr ein Blech Brownies gebacken. «Als ich die sah, habe ich gleich an dich gedacht, Jordan», sagte Mr. Schwickrath.
«Stimmt die Größe?», fragte mein Vater.
Meine Mutter musterte die hochhackigen Schuhe ebenfalls. Es waren silberfarbene Sandalen, sehr teuer. Für so etwas fehlte uns das Geld. «Adam, woher wusstest du, dass ich Größe sieben habe? Die sind wunderschön!», rief meine Mutter. Sie hielt einen der Schuhe hoch und bewunderte ihn. Als sie aber den Blick meines Vaters bemerkte, ließ sie die Hand sinken. «Ach, na ja», sagte sie dann fröhlich, legte die Schuhe zurück in den Karton und stellte ihn auf einen Stuhl. «Wie wäre es mit einer kleinen Vorspeise?»
Alex und ich knabberten Mais-Chips und beantworteten blöde Fragen über Fußball, schriftliches Dividieren und darüber, was wir einmal werden wollten, wenn wir groß wären. Alex, damals zehn, wollte Kampfflieger werden, ich Ballerina. Und dann endlich erlaubten uns meine Eltern zu verschwinden.
Wir stiegen schweigend die Leiter hinauf und zündeten oben eine Kerze an, die wir uns aus der Anrichte geholt hatten.
Im karamellfarbenen Licht wirkte das Baumhaus, als gehörte es zu einer anderen Welt. Es mochte gedauert haben, aber mein Vater hatte es mit viel Sorgfalt gebaut, ein Brett ans andere gefügt, die Fenster eingesetzt.
Mein Vater liebte es, in seinem Hobbykeller zu werkeln. Während meine Mutter das Geld für unser richtiges Haus verdiente, schuf er aus Treibholz und Brettern Behausungen anderer Art. Nicht nur draußen im Baum, nein, er hatte mir auch ein Puppenhaus gebaut, das ich die Märchenhöhle nannte. Er erzählte mir lange Geschichten über die Feen, die darin lebten. Manchmal, wenn ich von der Schule heimkam, entdeckte ich ein neues kleines Möbelstück: ein aus Gänseblümchen geflochtenes Bett oder eine geschnitzte Badewanne, die mit Blüten bemalt war. Mein Vater baute auch Vogelhäuschen und schenkte sie seinen Freunden.
Mein Vater. Er roch nach Zigaretten und Kardamom. Wenn ich als Kind Trost suchte, legte er stets den Holzlöffel weg, wenn er gerade kochte, oder den Stift beiseite, wenn er gerade schrieb. Ganz gleich, was er gerade tat, immer hockte er sich hin und drückte mich gegen seine warme Brust. In seinen Armen war ich sicher.
Die beiden Schlafsäcke bedeckten fast den ganzen Boden des Baumhauses. Alex schenkte uns Cola ein, und ich hörte meine Mutter lachen, während ich an meiner Tasse nippte. Manchmal, wenn ich mich ganz fest konzentriere, kann ich sie immer noch hören.
Wir taten so, als wären wir gerade mitten in einem Abenteuer, und besprachen, wohin wir denn nun segeln sollten. «Alexandria, Captain!», rief ich, und mein Bruder meinte, er würde durchs Fenster des Baumhauses einen großen Hafen sehen und ein Stückchen weiter weg die Pyramiden samt Sphinx. Irgendwann riefen unsere Eltern von unten. Ich weiß noch, dass meine Mutter sagte: «Gute Nacht, meine beiden Schätze!»
«Gute Nacht!», antworteten wir und winkten. Die beiden standen nebeneinander unter dem Baum. Mein Vater wirkte wie immer etwas zerknautscht und zerzaust und griff meiner Mutter ins Haar. Als sie zum Haus gingen, wickelte er sich eine dicke Strähne ums Handgelenk: ein goldenes Armband auf dunkler Haut.
Es sollte die letzte Nacht werden, in der ich träumte. Oder doch die letzte Nacht, an deren Träume ich mich erinnere. Heute leide ich unter Schlafstörungen und fürchte die Bilder der Nacht. Ich nehme Tabletten, um in den Schlaf zu sinken, um bis zum Morgen nicht zu erwachen, und wenn ich es dann tue, bin ich angenehm betäubt, bis ich ein paar Tassen Kaffee getrunken habe.
Doch in jener Nacht träumte ich. Ich träumte von Delfinen in einem warmen Meer. Ich versank darin und stieg wieder auf. Ein Blitz zuckte über den Himmel, und mein Delfin verschwand in den Wellen, ließ mich allein zurück. Regen peitschte das Meer; ich spürte Wasser auf meinem Kopf, es drückte mich unter die Oberfläche.
Unser Haus stand unter Wasser. Ich schwamm über den Rasen und die Treppe hinauf Aus dem Zimmer meiner Eltern drangen schreckliche Geräusche. Ich sah schlimme Dinge - heute ist das alles ausgelöscht, ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis - und floh aus dem Haus, zurück zu Alex.
Als ich aufwachte, saßen mein Bruder und mein Vater links und rechts neben mir auf dem Boden im Baumhaus und aßen Cinnamon Buns. Mein Vater kaufte uns oft Kuchen und Gebäck in der Konditorei von Holt - heute sei er früh aufgestanden und gleich losgegangen, sagte er. Er hielt mir die offene Papiertüte hin. Ich nahm mir eine der süßen glasierten Schnecken und biss hinein.
Nach dem Frühstück gingen wir ins Haus, um unsere Schwimmsachen zu holen. Ich suchte gerade in meinem Zimmer nach meinem roten Badeanzug, als ich einen schrecklichen Laut hörte - einen Schrei wie von einer wütenden Katze. In unserem Haus an der Ocean Avenue gab es eine lange, mit Teppich ausgelegte Treppe. Ich war schon halb oben, als Alex die Tür des Schlafzimmers unserer Eltern hinter sich zuknallte, zu mir gerannt kam und mich bei den Schultern packte.
«Dreh dich um», sagte er. Sein Gesicht war weiß wie Milch. «Was ...»
«Dreh dich um!», schrie er.
Ich wehrte mich, wollte herausfinden, was passiert war, aber Alex war zu stark. Er packte mein Handgelenk und zog mich nach draußen. Ich fragte ihn, was überhaupt los sei. «Sei still! Sei still!», fuhr er mich an.
Mir wurde heiß und schwindelig. Ich umklammerte den Badeanzug in meiner Hand.
Dann hielt ein Polizeiwagen vor dem Haus - mit Rotlicht und Sirene. Dahinter ein Krankenwagen. Bullige Männer mit versteinerten Gesichtern rannten in unser Haus. Als sie wieder herauskamen, hatten sie es nicht mehr eilig. Sie schleppten eine schwere Trage.
Mein Vater wurde von zwei Polizisten aus dem Haus geführt. «Wo sind meine Kinder? Suchen Sie meine Kinder!», hörte ich ihn rufen. Die Polizisten setzten ihn in ihren Wagen, schlossen die Tür und fuhren davon. Alex und ich warteten ab, was als Nächstes geschehen würde.
Erstes Buch
August 2010
1
Wir fahren mit dem Auto», sagte Alex und klang zum ersten Mal seit langer Zeit optimistisch. «Und besuchen Oma. Danach Badeurlaub am Meer. Wir können uns in Galveston ein Cottage mieten. Oder eine Wohnung.»
«Eine Wohnung?», wiederholte ich und klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, um mir in der Gemüseabteilung des Supermarkts ein paar Tomaten auszusuchen.
«Es gibt Neuigkeiten, Lauren. Kannst du dir das Wochenende freinehmen, damit wir miteinander reden können?»
«Ich weiß nicht. Wir haben hier fast vierzig Grad. Am Sonntag stehen drei Hausbesichtigungen an. Was sollen denn das für Neuigkeiten sein?»
«Tja, an deinen Prioritäten besteht ja wohl kein Zweifel.» Mein Bruder klang beleidigt. Ich erinnerte mich daran, wie er als Kind unterm Tisch gesessen und sich geweigert hatte herauszukommen, wenn unsere Eltern sich stritten.
Ich legte die Tomaten auf die Waage, druckte das Preisschild aus und klebte es auf die Plastiktüte. Wie immer im August war es sengend heiß in Austin, und die Tomatenpreise stiegen mit den Temperaturen. «Ach, ich weiß nicht, Alex. Erzähl mir doch einfach jetzt, was es Neues gibt. Sind es wenigstens gute Nachrichten?»
«Verstehe», sagte Alex. «Dein Geizhals ist wohl nicht gewillt, dich auch nur kurz aus den Augen zu lassen.»
Ich stellte das Handy aus und verstaute es in meiner Handtasche. Dann holte ich noch ein paar leicht grüne Bananen, Bio-Spinat, frischen Thymian und neue Kartoffeln. An der Fleischtheke fragte ich nach Lamm und Rinderhack. Dann ging ich am Aquarium mit den Hummern vorbei, holte ein Sixpack Bier und eine Flasche billigen Weißwein. Anschließend legte ich noch zwei Packungen Granola und eine Packung Vanilleeis in den Wagen. Außerdem Cheddar, fettarme Milch, Bagels, Baguette, warme Tortillas, Schokoladenkekse. Es sah aus wie der Einkauf für eine fünfköpfige Familie, tatsächlich jedoch lebten Gerry und ich allein in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung. Ich lächelte, als ich an Gerry dachte, an sein leicht gewelltes, kastanienbraunes Haar, seine breiten Schultern. Gerry war als Jugendlicher Ringer gewesen und noch immer ziemlich muskulös. Wir waren gleich groß, und wenn wir in der Küche zusammen zu langsamer Musik tanzten, fügten sich unsere Körper aneinander wie zwei passende Puzzleteile.
An der Kasse schnappte ich mir noch eine Zitronenlimonade und einen Strauß Tulpen. Ich zahlte mit der Mastercard. Mein Schock über die Höhe der Gesamtsumme wurde etwas von dem Gedanken an die vielen Flugmeilen gemildert, die ich damit sammelte. Und wofür war Geld schließlich da, wenn nicht für ein romantisches Dinner mit meinem Freund? Wenn Gerry nachher mit seiner sogenannten «Arbeit» fertig sein würde, lag ich bestimmt schon längst schlafend im Bett, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Und Romantik bedeutete für mich nun einmal Hoffnung und luxuriöse Lebensmittel.
Ich war schon um vier Uhr mit der Besichtigung mit den Gelthorps fertig gewesen. (Die beiden hatten sich danach ins Vier Jahreszeiten zum Dinner zurückgezogen und wollten dort entscheiden, ob es nun der toskanische Palast in Pemberton Heights oder die provenzalische Villa in Westlake werden sollte.) Trotzdem war es bereits dunkel, als ich meine Beute schließlich aus dem Supermarkt schleppte. Ich schob den Einkaufswagen hinüber zu meinem Dodge Neon. Eigentlich hatte ich mir ja einen schicken Flitzer mit Gangschaltung gewünscht, aber Gerry war fest geblieben und hatte mit einem Stapel Testberichte gewedelt. Ich schloss das Auto auf und schrie erschrocken, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte.
«Oh, entschuldige», sagte mein Bruder keuchend.
«Woher ...?»
«Du klangst so ruhig und entspannt. War klar, dass du gerade im Supermarkt bist», sagte Alex. «Also bin ich schnell hergeradelt.»
«Vom Krankenhaus?»
Alex nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Ich wollte mich entschuldigen, weil ich Gerry einen Geizhals genannt habe. Das war nicht so gemeint.»
«Schon okay. Er ist ja wirklich einer.»
«Wir hätten bestimmt Spaß bei so einer Reise. Nur du und ich. Wir müssen Oma besuchen ... und ich reserviere uns was auf dem Campingplatz - oder eben eine Ferienwohnung, wie du willst. Campen waren wir ewig nicht mehr. Zum letzten Mal, als ... als wir klein waren. Ach ja, die Zeit vergeht.»
Wie immer schaffte mein Bruder es, mich zu verwirren und zu verärgern, während ich gleichzeitig Dankbarkeit empfand, dass es ihn gab. Er hatte sich niemals wirklich von jenem Morgen erholt. Ich hatte es ja nicht ganz hinauf in den ersten Stock geschafft und war so im Vergleich zu ihm geschont worden. Als ich meine Mutter dann sah, hatte man sie gewaschen und geschminkt und ihr ihr Lieblingskleid angezogen. Seitdem kümmerte Alex sich um mich. Statt Eltern hatte ich ihn.
«Wann wolltest du denn los?», fragte ich.
«Wie wäre es mit morgen? Wir können ganz früh losfahren.» «Morgen! Sag mal, könntest du mir eben mit den Tüten helfen?» «Die Zeit rennt, Schwesterlein.» Alex packte ein paar Tüten
und warf sie in den Kofferraum.
«Was soll das denn bitte heißen? Und sei bitte etwas vorsichtiger, da ist auch der Wein drin.»
Alex setzte die Tüte sanft ab, drehte sich um und legte mir die Hände auf die Schultern. «Hast du schon mal was von Ärzte ohne Grenzen gehört?», wollte er wissen.
«Oh Gott», stöhnte ich. «Mich beschleicht gerade das Gefühl, dass mir deine Neuigkeiten nicht gefallen werden.»
«Da habe ich mich letztes Jahr beworben», sagte Alex. «Und jetzt habe ich gerade erfahren, wo man mich hinschicken will. Ich gehe in den Irak, nach Bagdad.»
«Du ...» Ich verstummte, weil es mir vorkam, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen. «Du kannst hier nicht einfach abhauen.»
«In ein paar Wochen geht es los.»
«Und was ist mit mir?»
«Lauren, hier geht es nicht um dich.»
Mitten auf dem Parkplatz des Supermarktes brach ich in Tränen aus. «Dann bin ich ja ganz allein.»
«Lauren, du bist zweiunddreißig Jahre alt», sagte Alex. «Reiß dich mal zusammen.»
«Dann hau doch ab, verdammt.» Ich warf die letzte Tüte ins Auto, knallte die Kofferraumhaube zu und rannte zur Fahrertür. Dabei wischte ich mir mit dem Ärmel über die Nase. Ich hatte Angst und war ganz durcheinander. Beim Aufschließen der Autotür bemühte ich mich, ruhig zu atmen.
Alex kam hinter mir her und packte mich beim Ellbogen. «Ich wusste, dass du ausflippst.»
«Das kommt so plötzlich.»
Alex umarmte mich. Er roch nach Schweiß und Fastfood. «Ich schließe eben das Fahrrad an, und dann komme ich mit zum Essen.»
Gerry und ich wohnten in French Place, einem historischen Viertel auf der falschen Seite der Interstate. Durch die tektonischen Verschiebungen hatten die Fundamente der Gebäude Risse, und wenn die Häuser auch an sich gut aussahen, war es unterirdisch eher schlecht um sie bestellt. Ganz anders als am Hyde Park, wo Akademiker und reiche Hippies lebten, wurde French Place von jungen Leuten und der Arbeiterklasse bevölkert. Ich liebte das Viertel. Unser Vermieter hatte die Holzverkleidung des Hauses violett gestrichen - ich persönlich war eher für krautiges Grün -, aber die Tür- und Fensterrahmen leuchteten in beruhigendem Gelb. Einige unserer Nachbarn hatten große Kupferhähne im Garten stehen oder hielten sogar echte Hühner, wir beschränkten uns auf zwei zitronengelbe Stühle und einen Bistrotisch. Bei unserer jährlichen legendären Kürbisschnitz-Party vor Halloween hatte es noch nie einem Gast etwas ausgemacht, auf der Treppe oder den im Garten ausgelegten Decken zu sitzen.
Maplewood Avenue, die Straße, in der wir wohnten, lag hinter einer Grundschule. Morgens konnte ich auf unserer abgesackten Veranda sitzen und beobachten, wie die Kinder, noch ganz zerzaust und verschlafen, ankamen und sich mit ihren kleinen Fäusten die Augen rieben. Nebenan wohnten mehrere Fahrradkuriere und auf der anderen Seite ein älteres Ehepaar. Gerry und ich trafen uns oft mit den Nachbarn und tranken zusammen das eine oder andere Bier.
Ich bog in die Maplewood Avenue ein. In unserem ebenfalls violetten Schuppen brannte noch Licht. Inzwischen war er hochtrabend in «das Studio» umgetauft worden. «Wie läuft es denn so bei Gerry?», fragte Alex. «Also sein Podcast oder was er da macht.»
Ich zuckte mit den Schultern. Gerry hatte vor einem halben Jahr seinen Job bei Dell verloren und nach einer Woche Erholungsphase beschlossen, nun seinen großen Lebenstraum Wirklichkeit werden zu lassen. Ich dachte, sein Lebenstraum wäre es, mich endlich zu heiraten (er drängelte damit schon seit Jahren), aber Irrtum. In Boxershorts und Dell-T-Shirt hatte Gerry vor mir im Wohnzimmer gestanden und verkündet, dass er ein Blog namens Geizhals gründen würde. Voller Begeisterung zeigte er mir seine Notizen, die er sich mitten in der Nacht zur Umsetzung seines großen Plans gemacht hatte.
«Es gibt da einen Weinliebhaber», hatte Gerry am nächsten Morgen gesagt, als ich verschlafen in die Küche stolperte, um Kaffee aufzusetzen.
«Okay.» Ich musste zugeben, dass er so unrasiert und mit leuchtenden Augen ausgesprochen attraktiv wirkte.
«Der macht auch Podcasts und Videos für YouTube, also alles, was dazugehört. Immer über Wein. Und jetzt ist er reich! Und du weißt ja, dass ich eigentlich immer Comedian werden wollte?»
«Ich dachte, du wolltest neuronale Netzwerke entwickeln.»
«Ja schon, aber davor», erklärte Gerry genervt. «In der Highschool habe ich Stand-up-Comedy gemacht. Und sogar ein paar Talentshows gewonnen.»
«Aber du kannst nicht mal Witze erzählen.»
«Ist ja auch egal.» Gerry wirkte gereizt. «Ich habe jedenfalls eine Menge Persönlichkeit. Mehr wollte ich damit gar nicht sagen ...»
«Gut, das stimmt.» Ich stellte den Kessel auf den Herd.
«Und ich bin geizig», sagte Gerry. Und ob! Daran konnte wirklich kein Zweifel bestehen. Im Coffee-Shop zum Beispiel weigerte er sich, seinen eigenen Kaffee zu bestellen. Er konnte ja bei mir mittrinken. Außerdem zog er weggeworfene Zeitungen aus Mülleimern, und beim Fliegen suchte er die Sitzrücken nach gratis verteilten Zeitschriften ab. Er hatte ein Sammelalbum für Coupons und kannte jedes Sonderangebot auswendig. Gerry war immer bereit, drei Dosensuppen zu erstehen, wenn es die vierte umsonst dazu gab, selbst wenn er die Geschmacksrichtung nicht sonderlich mochte (Broccoli-Käse). Im Portemonnaie hatte er stets einen Teebeutel dabei; er wusste, wo man in der Innenstadt gebührenfrei parken konnte (auch wenn ich dann zwanzig Minuten zum Konzert laufen musste). Und unsere Wohnung stand voll mit Sachen vom Sperrmüll. Oh ja, mein Liebling war geizig!
«Ich werde der Geizhals», verkündete Gerry. «Ich habe sogar schon die Domain gekauft.»
«Du willst also ein Blog übers ... Sparen schreiben?», fasste ich zusammen.
«Vertrau mir, Süße», sagte Gerry. «Das ist erst der Anfang!» Ich trank meinen Kaffee und knabberte an einem trockenen Scone, während Gerry über professionelle Blogs, Webcasts, soziale Netzwerke und zukünftiges Merchandising für den Geizhals referierte. Nicht zu vergessen seine zu erwartenden Fernsehauftritte. Unser heruntergekommener Schuppen sollte die Schaltzentrale des Geiz-Imperiums werden. Gerry würde nie wieder für das System arbeiten, sondern nur noch gegen das System!
Ich nickte und lächelte. Innerlich betete ich inständig darum, dass vielleicht ein Wunder geschehen und der Immobilienmarkt sich erholen möge. Gleichzeitig befürchtete ich, dass mein Freund sich gerade in einen Loser wie mein Vater verwandelte.
Trotzdem war ich auch ein bisschen stolz, als Alex und ich die Auffahrt erreichten und Gerry hinter dem schmutzigen erleuchteten Schuppenfenster erkannten. «Noch immer dabei, was?», fragte Alex.
Ich seufzte. «Ja, er arbeitet wirklich hart.»
Mein Bruder und ich lehnten uns, die Arme voller Tüten, gegen den Wagen und beobachteten, wie Gerry im Schuppen gestikulierte. Seine Stimme drang heraus in die milde Nacht.
«Und natürlich heißt es dann: Nein, Sie müssen zweimal den gleichen Burger bestellen für unseren Sparpreis. Aber was ist, wenn deine Frau auf Cheeseburger steht, und du bist für die klassische Variante? Dann bring einfach eine Scheibe Käse mit! Und das ist der Knallertipp des Tages von eurem Geizhals. Also, Freunde - erst die Arbeit, dann das Vergnügen, und immer schön knausern!»
«Aber hallo», sagte Alex.
«Er hat tatsächlich ein gar nicht so kleines Publikum», stellte ich fest.
«Ist ja toll.» Alex nickte und ging mit den Tüten zum Haus.
«Ja, das ist es wirklich», bekräftigte ich. Mein Hund, Handsome, sprang nach draußen, um uns zu begrüßen. Ich kniete mich hin und kraulte ihn hinter den Ohren.
Drinnen erzählte Alex Gerry die großen Neuigkeiten, entkorkte den Wein und schenkte sich ein Glas ein. «Bevor ich allerdings verschwinde, schleppe ich Lauren noch mit auf eine kleine Reise.» Gerry, der gerade die Tüten auspackte, drehte sich um und schaute mich fragend an.
«Das ist sozusagen mein letzter Wunsch», erklärte Alex, nahm Gerry eine Schachtel Kekse aus der Hand und bediente sich. «Den kann sie mir nicht abschlagen. Außerdem haben wir unsere Großmutter seit dem Astros-Spiel im letzten Frühjahr nicht mehr gesehen.» «Jetzt bitte keine morbiden Anwandlungen», sagte ich, «oder heißt es moribund?»
«Alex», mischte sich Gerry ein. «Also, ich habe wirklich Respekt vor dem, was du da vorhast.»
«Hört, hört. Danke, Gerry», sagte Alex.
«Ich nicht, ich finde, es ist eine bescheuerte Idee», widersprach ich meinem Freund. «Ärzte ohne Grenzen? Was haben die denn gegen Grenzen, bitte? Würde ich echt gern wissen. Ich bin ein echter Fan von Grenzen.»
Die beiden Männer ignorierten meine Bemerkung. Bei dem von mir aufwendig zubereiteten Dinner unterhielten sie sich darüber, wie Alex überhaupt in den Irak kommen würde (von Austin über New York nach Jordanien, englisch Jordan. Das war der Vorname meiner Mutter gewesen, und es wirkte fast wie eine düstere Warnung). Was mein Bruder mitnehmen wollte (Klamotten, Medikamente und viel Musik). Ich aß schweigend und verkündete dann, dass ich jetzt ins Bett gehen würde, was mit Gleichmut quittiert wurde.
Ich schluckte zwei Pillen, legte mich auf die Memory-Foam-Matratze, die ich nach meinem ersten Hausverkauf angeschafft hatte, und lauschte den Stimmen meines Bruders und meines Freundes: ein sanftes Wiegenlied.
«Du bist nicht ausgezogen», sagte Gerry und knöpfte meine Bluse auf.
«Wird er sterben?», fragte ich. «Glaubst du, er will sterben?»
«Er hat sich den Irak nicht ausgesucht», antwortete Gerry. «Man hätte ihn genauso gut nach Mexiko oder Thailand schicken können.» Er legte mir seine warme Hand auf den Bauch.
«Hat man aber nicht.»
Gerry küsste mich. «Ich finde, der Trip ist eine tolle Idee.» «Ehrlich?»
«Dein Bruder freut sich wahnsinnig darauf.»
«Ich weiß.»
«Außerdem habe ich eben ein bisschen recherchiert. Es gibt ein super Angebot für die Beachview Cabins in Galveston. Du könntest einen Artikel darüber für den Geizhals schreiben.»
«Vergiss es.»
«Wenn der Geizhals Urlaub macht?»
Ich strich ihm über die Wange. «Du liebst dein neues Projekt einfach.»
«Stimmt.»
«Das freut mich.»
«Also installierst du ein Stativ und eine Kamera auf deinem Dodge?»
Während ich über eine besonders schlagfertige Erwiderung nachdachte, fiel ich in tiefen Schlaf.
...
Übersetzung: Alexandra Hinrichsen
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Ich kann mich an den Geschmack des Meeres erinnern und den Duft bevorstehenden Regens. Unsere Eltern hatten uns nach einigem Zögern schließlich erlaubt, im Baumhaus zu übernachten. Von dort oben konnten wir den weit entfernten Umriss des Long Island Sounds erkennen. Fast kann ich mich selbst sehen - so wie ich damals war: ein niedliches Mädchen, gerade einmal acht Jahre alt. Kräftig wie mein Vater, hatte ich auch sein schwarzes Haar und den dunklen Teint von ihm geerbt. Meine Mutter hatte mir Zöpfe geflochten. Ich trug ein Sommerkleidchen und war barfuß, damit ich besser klettern konnte.
Mein Bruder Alex hatte eine Dose Cola aus der Vorratskammer mitgehen lassen. Die tranken wir aus Plastiktassen, die zu meinem Kindergeschirr gehörten. Mein Schlafsack war zu warm. Wolken zogen am Mond vorbei. Mitten in der Nacht streckte ich ein Bein heraus und berührte mit meinem Fuß den meines Bruders. Das Baumhaus war klein und sah aus wie ein Piratenschiff.
Meine Mutter scherzte immer, mein Vater hätte mehr Zeit gebraucht, dieses Ding zu bauen, als sie für die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes. Aber als ich zwei Jahre alt war und die Leiter hinaufklettern konnte, war es fertig.
Hinter unserem Haus befand sich eine riesige Rasenfläche; vom Baumhaus aus konnte man kaum die abblätternde Farbe an der Hintertür zum Garten erkennen. Ganz gleich, was drinnen geschah, wie wir feststellen sollten, drang kein Laut bis zur Baumkrone herauf.
An jenem Abend hatten meine Eltern eine kleine Party gegeben. Bei solchen Gelegenheiten versteckten Alex und ich uns oft und beobachteten die Erwachsenen dabei, wie sie Wein tranken und sich dann irgendwie seltsam benahmen. Mein Vater bereitete auf dem Grill aufwendige ägyptische Gerichte zu - mit Reis gefüllte Tauben, Kaninchen mit Minze -, während meine Mutter mit ihren Freunden draußen am Tisch saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte.
Eingeladen waren an diesem Abend Phil Salinas (Investmentbanker), Jessica Salinas (die neueste seiner Ehefrauen), Adam Schwickrath (orthopädischer Chirurg) und Donna Helsey (meine Klavierlehrerin).
Mein Vater zog meine Mutter immer mit Adam Schwickrath auf. Der wäre eigentlich der richtige Mann für sie gewesen, den hätte sie lieber heiraten sollen. Es war nicht wirklich scherzhaft gemeint, die Bemerkungen hatten einen bitteren Unterton. Dr. Schwickrath hatte Geld und war immer gut angezogen - meist in dezenten Khaki-Hosen und edlen Hemden. Manchmal redeten meine Mutter und er in sanftem Tom miteinander. Sie lachte viel dabei, warf den Kopf zurück und zeigte ihren bloßen Hals.
Dr. Schwickrath hatte meiner Mutter ein Geschenk mitgebracht, obwohl ihr Geburtstag schon Wochen zurücklag. «Besser spät als nie», sagte er und wirkte fast etwas verlegen dabei. Meine Mutter packte das Geschenk aus. Es war ein Paar hochhackiger Schuhe. Ich sah hinüber zu meinem Vater, der das Geschenk mit zusammengebissenen Zähnen anstarrte. Er hatte meiner Mutter
ein Gedicht zu ihrem Geburtstag geschrieben und ihr ein Blech Brownies gebacken. «Als ich die sah, habe ich gleich an dich gedacht, Jordan», sagte Mr. Schwickrath.
«Stimmt die Größe?», fragte mein Vater.
Meine Mutter musterte die hochhackigen Schuhe ebenfalls. Es waren silberfarbene Sandalen, sehr teuer. Für so etwas fehlte uns das Geld. «Adam, woher wusstest du, dass ich Größe sieben habe? Die sind wunderschön!», rief meine Mutter. Sie hielt einen der Schuhe hoch und bewunderte ihn. Als sie aber den Blick meines Vaters bemerkte, ließ sie die Hand sinken. «Ach, na ja», sagte sie dann fröhlich, legte die Schuhe zurück in den Karton und stellte ihn auf einen Stuhl. «Wie wäre es mit einer kleinen Vorspeise?»
Alex und ich knabberten Mais-Chips und beantworteten blöde Fragen über Fußball, schriftliches Dividieren und darüber, was wir einmal werden wollten, wenn wir groß wären. Alex, damals zehn, wollte Kampfflieger werden, ich Ballerina. Und dann endlich erlaubten uns meine Eltern zu verschwinden.
Wir stiegen schweigend die Leiter hinauf und zündeten oben eine Kerze an, die wir uns aus der Anrichte geholt hatten.
Im karamellfarbenen Licht wirkte das Baumhaus, als gehörte es zu einer anderen Welt. Es mochte gedauert haben, aber mein Vater hatte es mit viel Sorgfalt gebaut, ein Brett ans andere gefügt, die Fenster eingesetzt.
Mein Vater liebte es, in seinem Hobbykeller zu werkeln. Während meine Mutter das Geld für unser richtiges Haus verdiente, schuf er aus Treibholz und Brettern Behausungen anderer Art. Nicht nur draußen im Baum, nein, er hatte mir auch ein Puppenhaus gebaut, das ich die Märchenhöhle nannte. Er erzählte mir lange Geschichten über die Feen, die darin lebten. Manchmal, wenn ich von der Schule heimkam, entdeckte ich ein neues kleines Möbelstück: ein aus Gänseblümchen geflochtenes Bett oder eine geschnitzte Badewanne, die mit Blüten bemalt war. Mein Vater baute auch Vogelhäuschen und schenkte sie seinen Freunden.
Mein Vater. Er roch nach Zigaretten und Kardamom. Wenn ich als Kind Trost suchte, legte er stets den Holzlöffel weg, wenn er gerade kochte, oder den Stift beiseite, wenn er gerade schrieb. Ganz gleich, was er gerade tat, immer hockte er sich hin und drückte mich gegen seine warme Brust. In seinen Armen war ich sicher.
Die beiden Schlafsäcke bedeckten fast den ganzen Boden des Baumhauses. Alex schenkte uns Cola ein, und ich hörte meine Mutter lachen, während ich an meiner Tasse nippte. Manchmal, wenn ich mich ganz fest konzentriere, kann ich sie immer noch hören.
Wir taten so, als wären wir gerade mitten in einem Abenteuer, und besprachen, wohin wir denn nun segeln sollten. «Alexandria, Captain!», rief ich, und mein Bruder meinte, er würde durchs Fenster des Baumhauses einen großen Hafen sehen und ein Stückchen weiter weg die Pyramiden samt Sphinx. Irgendwann riefen unsere Eltern von unten. Ich weiß noch, dass meine Mutter sagte: «Gute Nacht, meine beiden Schätze!»
«Gute Nacht!», antworteten wir und winkten. Die beiden standen nebeneinander unter dem Baum. Mein Vater wirkte wie immer etwas zerknautscht und zerzaust und griff meiner Mutter ins Haar. Als sie zum Haus gingen, wickelte er sich eine dicke Strähne ums Handgelenk: ein goldenes Armband auf dunkler Haut.
Es sollte die letzte Nacht werden, in der ich träumte. Oder doch die letzte Nacht, an deren Träume ich mich erinnere. Heute leide ich unter Schlafstörungen und fürchte die Bilder der Nacht. Ich nehme Tabletten, um in den Schlaf zu sinken, um bis zum Morgen nicht zu erwachen, und wenn ich es dann tue, bin ich angenehm betäubt, bis ich ein paar Tassen Kaffee getrunken habe.
Doch in jener Nacht träumte ich. Ich träumte von Delfinen in einem warmen Meer. Ich versank darin und stieg wieder auf. Ein Blitz zuckte über den Himmel, und mein Delfin verschwand in den Wellen, ließ mich allein zurück. Regen peitschte das Meer; ich spürte Wasser auf meinem Kopf, es drückte mich unter die Oberfläche.
Unser Haus stand unter Wasser. Ich schwamm über den Rasen und die Treppe hinauf Aus dem Zimmer meiner Eltern drangen schreckliche Geräusche. Ich sah schlimme Dinge - heute ist das alles ausgelöscht, ein schwarzes Loch in meinem Gedächtnis - und floh aus dem Haus, zurück zu Alex.
Als ich aufwachte, saßen mein Bruder und mein Vater links und rechts neben mir auf dem Boden im Baumhaus und aßen Cinnamon Buns. Mein Vater kaufte uns oft Kuchen und Gebäck in der Konditorei von Holt - heute sei er früh aufgestanden und gleich losgegangen, sagte er. Er hielt mir die offene Papiertüte hin. Ich nahm mir eine der süßen glasierten Schnecken und biss hinein.
Nach dem Frühstück gingen wir ins Haus, um unsere Schwimmsachen zu holen. Ich suchte gerade in meinem Zimmer nach meinem roten Badeanzug, als ich einen schrecklichen Laut hörte - einen Schrei wie von einer wütenden Katze. In unserem Haus an der Ocean Avenue gab es eine lange, mit Teppich ausgelegte Treppe. Ich war schon halb oben, als Alex die Tür des Schlafzimmers unserer Eltern hinter sich zuknallte, zu mir gerannt kam und mich bei den Schultern packte.
«Dreh dich um», sagte er. Sein Gesicht war weiß wie Milch. «Was ...»
«Dreh dich um!», schrie er.
Ich wehrte mich, wollte herausfinden, was passiert war, aber Alex war zu stark. Er packte mein Handgelenk und zog mich nach draußen. Ich fragte ihn, was überhaupt los sei. «Sei still! Sei still!», fuhr er mich an.
Mir wurde heiß und schwindelig. Ich umklammerte den Badeanzug in meiner Hand.
Dann hielt ein Polizeiwagen vor dem Haus - mit Rotlicht und Sirene. Dahinter ein Krankenwagen. Bullige Männer mit versteinerten Gesichtern rannten in unser Haus. Als sie wieder herauskamen, hatten sie es nicht mehr eilig. Sie schleppten eine schwere Trage.
Mein Vater wurde von zwei Polizisten aus dem Haus geführt. «Wo sind meine Kinder? Suchen Sie meine Kinder!», hörte ich ihn rufen. Die Polizisten setzten ihn in ihren Wagen, schlossen die Tür und fuhren davon. Alex und ich warteten ab, was als Nächstes geschehen würde.
Erstes Buch
August 2010
1
Wir fahren mit dem Auto», sagte Alex und klang zum ersten Mal seit langer Zeit optimistisch. «Und besuchen Oma. Danach Badeurlaub am Meer. Wir können uns in Galveston ein Cottage mieten. Oder eine Wohnung.»
«Eine Wohnung?», wiederholte ich und klemmte mir das Handy zwischen Ohr und Schulter, um mir in der Gemüseabteilung des Supermarkts ein paar Tomaten auszusuchen.
«Es gibt Neuigkeiten, Lauren. Kannst du dir das Wochenende freinehmen, damit wir miteinander reden können?»
«Ich weiß nicht. Wir haben hier fast vierzig Grad. Am Sonntag stehen drei Hausbesichtigungen an. Was sollen denn das für Neuigkeiten sein?»
«Tja, an deinen Prioritäten besteht ja wohl kein Zweifel.» Mein Bruder klang beleidigt. Ich erinnerte mich daran, wie er als Kind unterm Tisch gesessen und sich geweigert hatte herauszukommen, wenn unsere Eltern sich stritten.
Ich legte die Tomaten auf die Waage, druckte das Preisschild aus und klebte es auf die Plastiktüte. Wie immer im August war es sengend heiß in Austin, und die Tomatenpreise stiegen mit den Temperaturen. «Ach, ich weiß nicht, Alex. Erzähl mir doch einfach jetzt, was es Neues gibt. Sind es wenigstens gute Nachrichten?»
«Verstehe», sagte Alex. «Dein Geizhals ist wohl nicht gewillt, dich auch nur kurz aus den Augen zu lassen.»
Ich stellte das Handy aus und verstaute es in meiner Handtasche. Dann holte ich noch ein paar leicht grüne Bananen, Bio-Spinat, frischen Thymian und neue Kartoffeln. An der Fleischtheke fragte ich nach Lamm und Rinderhack. Dann ging ich am Aquarium mit den Hummern vorbei, holte ein Sixpack Bier und eine Flasche billigen Weißwein. Anschließend legte ich noch zwei Packungen Granola und eine Packung Vanilleeis in den Wagen. Außerdem Cheddar, fettarme Milch, Bagels, Baguette, warme Tortillas, Schokoladenkekse. Es sah aus wie der Einkauf für eine fünfköpfige Familie, tatsächlich jedoch lebten Gerry und ich allein in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung. Ich lächelte, als ich an Gerry dachte, an sein leicht gewelltes, kastanienbraunes Haar, seine breiten Schultern. Gerry war als Jugendlicher Ringer gewesen und noch immer ziemlich muskulös. Wir waren gleich groß, und wenn wir in der Küche zusammen zu langsamer Musik tanzten, fügten sich unsere Körper aneinander wie zwei passende Puzzleteile.
An der Kasse schnappte ich mir noch eine Zitronenlimonade und einen Strauß Tulpen. Ich zahlte mit der Mastercard. Mein Schock über die Höhe der Gesamtsumme wurde etwas von dem Gedanken an die vielen Flugmeilen gemildert, die ich damit sammelte. Und wofür war Geld schließlich da, wenn nicht für ein romantisches Dinner mit meinem Freund? Wenn Gerry nachher mit seiner sogenannten «Arbeit» fertig sein würde, lag ich bestimmt schon längst schlafend im Bett, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Und Romantik bedeutete für mich nun einmal Hoffnung und luxuriöse Lebensmittel.
Ich war schon um vier Uhr mit der Besichtigung mit den Gelthorps fertig gewesen. (Die beiden hatten sich danach ins Vier Jahreszeiten zum Dinner zurückgezogen und wollten dort entscheiden, ob es nun der toskanische Palast in Pemberton Heights oder die provenzalische Villa in Westlake werden sollte.) Trotzdem war es bereits dunkel, als ich meine Beute schließlich aus dem Supermarkt schleppte. Ich schob den Einkaufswagen hinüber zu meinem Dodge Neon. Eigentlich hatte ich mir ja einen schicken Flitzer mit Gangschaltung gewünscht, aber Gerry war fest geblieben und hatte mit einem Stapel Testberichte gewedelt. Ich schloss das Auto auf und schrie erschrocken, als mir plötzlich jemand auf die Schulter tippte.
«Oh, entschuldige», sagte mein Bruder keuchend.
«Woher ...?»
«Du klangst so ruhig und entspannt. War klar, dass du gerade im Supermarkt bist», sagte Alex. «Also bin ich schnell hergeradelt.»
«Vom Krankenhaus?»
Alex nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Ich wollte mich entschuldigen, weil ich Gerry einen Geizhals genannt habe. Das war nicht so gemeint.»
«Schon okay. Er ist ja wirklich einer.»
«Wir hätten bestimmt Spaß bei so einer Reise. Nur du und ich. Wir müssen Oma besuchen ... und ich reserviere uns was auf dem Campingplatz - oder eben eine Ferienwohnung, wie du willst. Campen waren wir ewig nicht mehr. Zum letzten Mal, als ... als wir klein waren. Ach ja, die Zeit vergeht.»
Wie immer schaffte mein Bruder es, mich zu verwirren und zu verärgern, während ich gleichzeitig Dankbarkeit empfand, dass es ihn gab. Er hatte sich niemals wirklich von jenem Morgen erholt. Ich hatte es ja nicht ganz hinauf in den ersten Stock geschafft und war so im Vergleich zu ihm geschont worden. Als ich meine Mutter dann sah, hatte man sie gewaschen und geschminkt und ihr ihr Lieblingskleid angezogen. Seitdem kümmerte Alex sich um mich. Statt Eltern hatte ich ihn.
«Wann wolltest du denn los?», fragte ich.
«Wie wäre es mit morgen? Wir können ganz früh losfahren.» «Morgen! Sag mal, könntest du mir eben mit den Tüten helfen?» «Die Zeit rennt, Schwesterlein.» Alex packte ein paar Tüten
und warf sie in den Kofferraum.
«Was soll das denn bitte heißen? Und sei bitte etwas vorsichtiger, da ist auch der Wein drin.»
Alex setzte die Tüte sanft ab, drehte sich um und legte mir die Hände auf die Schultern. «Hast du schon mal was von Ärzte ohne Grenzen gehört?», wollte er wissen.
«Oh Gott», stöhnte ich. «Mich beschleicht gerade das Gefühl, dass mir deine Neuigkeiten nicht gefallen werden.»
«Da habe ich mich letztes Jahr beworben», sagte Alex. «Und jetzt habe ich gerade erfahren, wo man mich hinschicken will. Ich gehe in den Irak, nach Bagdad.»
«Du ...» Ich verstummte, weil es mir vorkam, als hätte ich einen Schlag in die Magengrube bekommen. «Du kannst hier nicht einfach abhauen.»
«In ein paar Wochen geht es los.»
«Und was ist mit mir?»
«Lauren, hier geht es nicht um dich.»
Mitten auf dem Parkplatz des Supermarktes brach ich in Tränen aus. «Dann bin ich ja ganz allein.»
«Lauren, du bist zweiunddreißig Jahre alt», sagte Alex. «Reiß dich mal zusammen.»
«Dann hau doch ab, verdammt.» Ich warf die letzte Tüte ins Auto, knallte die Kofferraumhaube zu und rannte zur Fahrertür. Dabei wischte ich mir mit dem Ärmel über die Nase. Ich hatte Angst und war ganz durcheinander. Beim Aufschließen der Autotür bemühte ich mich, ruhig zu atmen.
Alex kam hinter mir her und packte mich beim Ellbogen. «Ich wusste, dass du ausflippst.»
«Das kommt so plötzlich.»
Alex umarmte mich. Er roch nach Schweiß und Fastfood. «Ich schließe eben das Fahrrad an, und dann komme ich mit zum Essen.»
Gerry und ich wohnten in French Place, einem historischen Viertel auf der falschen Seite der Interstate. Durch die tektonischen Verschiebungen hatten die Fundamente der Gebäude Risse, und wenn die Häuser auch an sich gut aussahen, war es unterirdisch eher schlecht um sie bestellt. Ganz anders als am Hyde Park, wo Akademiker und reiche Hippies lebten, wurde French Place von jungen Leuten und der Arbeiterklasse bevölkert. Ich liebte das Viertel. Unser Vermieter hatte die Holzverkleidung des Hauses violett gestrichen - ich persönlich war eher für krautiges Grün -, aber die Tür- und Fensterrahmen leuchteten in beruhigendem Gelb. Einige unserer Nachbarn hatten große Kupferhähne im Garten stehen oder hielten sogar echte Hühner, wir beschränkten uns auf zwei zitronengelbe Stühle und einen Bistrotisch. Bei unserer jährlichen legendären Kürbisschnitz-Party vor Halloween hatte es noch nie einem Gast etwas ausgemacht, auf der Treppe oder den im Garten ausgelegten Decken zu sitzen.
Maplewood Avenue, die Straße, in der wir wohnten, lag hinter einer Grundschule. Morgens konnte ich auf unserer abgesackten Veranda sitzen und beobachten, wie die Kinder, noch ganz zerzaust und verschlafen, ankamen und sich mit ihren kleinen Fäusten die Augen rieben. Nebenan wohnten mehrere Fahrradkuriere und auf der anderen Seite ein älteres Ehepaar. Gerry und ich trafen uns oft mit den Nachbarn und tranken zusammen das eine oder andere Bier.
Ich bog in die Maplewood Avenue ein. In unserem ebenfalls violetten Schuppen brannte noch Licht. Inzwischen war er hochtrabend in «das Studio» umgetauft worden. «Wie läuft es denn so bei Gerry?», fragte Alex. «Also sein Podcast oder was er da macht.»
Ich zuckte mit den Schultern. Gerry hatte vor einem halben Jahr seinen Job bei Dell verloren und nach einer Woche Erholungsphase beschlossen, nun seinen großen Lebenstraum Wirklichkeit werden zu lassen. Ich dachte, sein Lebenstraum wäre es, mich endlich zu heiraten (er drängelte damit schon seit Jahren), aber Irrtum. In Boxershorts und Dell-T-Shirt hatte Gerry vor mir im Wohnzimmer gestanden und verkündet, dass er ein Blog namens Geizhals gründen würde. Voller Begeisterung zeigte er mir seine Notizen, die er sich mitten in der Nacht zur Umsetzung seines großen Plans gemacht hatte.
«Es gibt da einen Weinliebhaber», hatte Gerry am nächsten Morgen gesagt, als ich verschlafen in die Küche stolperte, um Kaffee aufzusetzen.
«Okay.» Ich musste zugeben, dass er so unrasiert und mit leuchtenden Augen ausgesprochen attraktiv wirkte.
«Der macht auch Podcasts und Videos für YouTube, also alles, was dazugehört. Immer über Wein. Und jetzt ist er reich! Und du weißt ja, dass ich eigentlich immer Comedian werden wollte?»
«Ich dachte, du wolltest neuronale Netzwerke entwickeln.»
«Ja schon, aber davor», erklärte Gerry genervt. «In der Highschool habe ich Stand-up-Comedy gemacht. Und sogar ein paar Talentshows gewonnen.»
«Aber du kannst nicht mal Witze erzählen.»
«Ist ja auch egal.» Gerry wirkte gereizt. «Ich habe jedenfalls eine Menge Persönlichkeit. Mehr wollte ich damit gar nicht sagen ...»
«Gut, das stimmt.» Ich stellte den Kessel auf den Herd.
«Und ich bin geizig», sagte Gerry. Und ob! Daran konnte wirklich kein Zweifel bestehen. Im Coffee-Shop zum Beispiel weigerte er sich, seinen eigenen Kaffee zu bestellen. Er konnte ja bei mir mittrinken. Außerdem zog er weggeworfene Zeitungen aus Mülleimern, und beim Fliegen suchte er die Sitzrücken nach gratis verteilten Zeitschriften ab. Er hatte ein Sammelalbum für Coupons und kannte jedes Sonderangebot auswendig. Gerry war immer bereit, drei Dosensuppen zu erstehen, wenn es die vierte umsonst dazu gab, selbst wenn er die Geschmacksrichtung nicht sonderlich mochte (Broccoli-Käse). Im Portemonnaie hatte er stets einen Teebeutel dabei; er wusste, wo man in der Innenstadt gebührenfrei parken konnte (auch wenn ich dann zwanzig Minuten zum Konzert laufen musste). Und unsere Wohnung stand voll mit Sachen vom Sperrmüll. Oh ja, mein Liebling war geizig!
«Ich werde der Geizhals», verkündete Gerry. «Ich habe sogar schon die Domain gekauft.»
«Du willst also ein Blog übers ... Sparen schreiben?», fasste ich zusammen.
«Vertrau mir, Süße», sagte Gerry. «Das ist erst der Anfang!» Ich trank meinen Kaffee und knabberte an einem trockenen Scone, während Gerry über professionelle Blogs, Webcasts, soziale Netzwerke und zukünftiges Merchandising für den Geizhals referierte. Nicht zu vergessen seine zu erwartenden Fernsehauftritte. Unser heruntergekommener Schuppen sollte die Schaltzentrale des Geiz-Imperiums werden. Gerry würde nie wieder für das System arbeiten, sondern nur noch gegen das System!
Ich nickte und lächelte. Innerlich betete ich inständig darum, dass vielleicht ein Wunder geschehen und der Immobilienmarkt sich erholen möge. Gleichzeitig befürchtete ich, dass mein Freund sich gerade in einen Loser wie mein Vater verwandelte.
Trotzdem war ich auch ein bisschen stolz, als Alex und ich die Auffahrt erreichten und Gerry hinter dem schmutzigen erleuchteten Schuppenfenster erkannten. «Noch immer dabei, was?», fragte Alex.
Ich seufzte. «Ja, er arbeitet wirklich hart.»
Mein Bruder und ich lehnten uns, die Arme voller Tüten, gegen den Wagen und beobachteten, wie Gerry im Schuppen gestikulierte. Seine Stimme drang heraus in die milde Nacht.
«Und natürlich heißt es dann: Nein, Sie müssen zweimal den gleichen Burger bestellen für unseren Sparpreis. Aber was ist, wenn deine Frau auf Cheeseburger steht, und du bist für die klassische Variante? Dann bring einfach eine Scheibe Käse mit! Und das ist der Knallertipp des Tages von eurem Geizhals. Also, Freunde - erst die Arbeit, dann das Vergnügen, und immer schön knausern!»
«Aber hallo», sagte Alex.
«Er hat tatsächlich ein gar nicht so kleines Publikum», stellte ich fest.
«Ist ja toll.» Alex nickte und ging mit den Tüten zum Haus.
«Ja, das ist es wirklich», bekräftigte ich. Mein Hund, Handsome, sprang nach draußen, um uns zu begrüßen. Ich kniete mich hin und kraulte ihn hinter den Ohren.
Drinnen erzählte Alex Gerry die großen Neuigkeiten, entkorkte den Wein und schenkte sich ein Glas ein. «Bevor ich allerdings verschwinde, schleppe ich Lauren noch mit auf eine kleine Reise.» Gerry, der gerade die Tüten auspackte, drehte sich um und schaute mich fragend an.
«Das ist sozusagen mein letzter Wunsch», erklärte Alex, nahm Gerry eine Schachtel Kekse aus der Hand und bediente sich. «Den kann sie mir nicht abschlagen. Außerdem haben wir unsere Großmutter seit dem Astros-Spiel im letzten Frühjahr nicht mehr gesehen.» «Jetzt bitte keine morbiden Anwandlungen», sagte ich, «oder heißt es moribund?»
«Alex», mischte sich Gerry ein. «Also, ich habe wirklich Respekt vor dem, was du da vorhast.»
«Hört, hört. Danke, Gerry», sagte Alex.
«Ich nicht, ich finde, es ist eine bescheuerte Idee», widersprach ich meinem Freund. «Ärzte ohne Grenzen? Was haben die denn gegen Grenzen, bitte? Würde ich echt gern wissen. Ich bin ein echter Fan von Grenzen.»
Die beiden Männer ignorierten meine Bemerkung. Bei dem von mir aufwendig zubereiteten Dinner unterhielten sie sich darüber, wie Alex überhaupt in den Irak kommen würde (von Austin über New York nach Jordanien, englisch Jordan. Das war der Vorname meiner Mutter gewesen, und es wirkte fast wie eine düstere Warnung). Was mein Bruder mitnehmen wollte (Klamotten, Medikamente und viel Musik). Ich aß schweigend und verkündete dann, dass ich jetzt ins Bett gehen würde, was mit Gleichmut quittiert wurde.
Ich schluckte zwei Pillen, legte mich auf die Memory-Foam-Matratze, die ich nach meinem ersten Hausverkauf angeschafft hatte, und lauschte den Stimmen meines Bruders und meines Freundes: ein sanftes Wiegenlied.
«Du bist nicht ausgezogen», sagte Gerry und knöpfte meine Bluse auf.
«Wird er sterben?», fragte ich. «Glaubst du, er will sterben?»
«Er hat sich den Irak nicht ausgesucht», antwortete Gerry. «Man hätte ihn genauso gut nach Mexiko oder Thailand schicken können.» Er legte mir seine warme Hand auf den Bauch.
«Hat man aber nicht.»
Gerry küsste mich. «Ich finde, der Trip ist eine tolle Idee.» «Ehrlich?»
«Dein Bruder freut sich wahnsinnig darauf.»
«Ich weiß.»
«Außerdem habe ich eben ein bisschen recherchiert. Es gibt ein super Angebot für die Beachview Cabins in Galveston. Du könntest einen Artikel darüber für den Geizhals schreiben.»
«Vergiss es.»
«Wenn der Geizhals Urlaub macht?»
Ich strich ihm über die Wange. «Du liebst dein neues Projekt einfach.»
«Stimmt.»
«Das freut mich.»
«Also installierst du ein Stativ und eine Kamera auf deinem Dodge?»
Während ich über eine besonders schlagfertige Erwiderung nachdachte, fiel ich in tiefen Schlaf.
...
Übersetzung: Alexandra Hinrichsen
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
... weniger
Autoren-Porträt von Amanda Eyre Ward
Amanda Eyre Ward wurde in New York City geboren und lebt heute mit ihrem Mann in Austin, Texas.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amanda Eyre Ward
- 2012, 2. Aufl., 282 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hinrichsen, Alexandra
- Übersetzer: Alexandra Hinrichsen
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499258625
- ISBN-13: 9783499258626
Rezension zu „Was im Schatten blieb “
Literarische Spannung vom Feinsten - atemberaubend und aufwühlend und hoffnungsvoll und wahr. Die Leute werden über dieses Buch sprechen. Justin Cronin
Kommentar zu "Was im Schatten blieb"
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