Was kostet die Welt
Roman
Fear and loathing im Moseltal.
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu...
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Was kostet die Welt “
Fear and loathing im Moseltal.
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz - auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.
Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern - mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz - auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.
Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern - mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Klappentext zu „Was kostet die Welt “
Fear and loathing im Moseltal.Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz - auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.
Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern - mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Fear and loathing im Moseltal.
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz - auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern - mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Wohin mit dem plötzlichen Geld?
Als sein Vater stirbt, nimmt der Taugenichts Meise das unerwartete Erbe und begibt sich auf Reisen. Die Devise: Ausgeben statt horten. Er hat sich geschworen, alles anders zu machen als sein Vater. Doch zurück in Berlin findet er nicht mehr in sein altes Großstadtleben zurück.
Von dem verbliebenen Geld unternimmt Meise eine letzte Reise: in die tiefste westdeutsche Provinz - auf ein Weingut im Moseltal. Dort erwartet ihn ein Kulturschock sondergleichen, auf den er nicht vorbereitet ist. Und er muss sich ein paar unbequemen Fragen stellen, die sich nicht mehr beiseite schieben lassen. Wie will ich (nicht) leben, wie will ich (nicht) arbeiten, welche Beziehungen will ich (nicht) führen? Auf dem dörflichen Großereignis des Sommers, dem Weinfest, kommt es schließlich zum großen Showdown.Tragisch und komisch, mit präzisen Beobachtungen und jeder Menge schwarzen Humor lässt Nagel seinen Helden Meise scheitern - mal an sich selbst, mal an den Anderen.
Lese-Probe zu „Was kostet die Welt “
Was kostet die Welt von Nagel »Bitte schalten Sie jetzt alle elektronischen Geräte ab, bringen Sie Ihren Sitz in die aufrechte Position, klappen Sie Ihre Tische hoch und stellen Sie sicher, dass Ihr Sitzgurt fest angezogen ist. Danke.«
»Bitte!«, ruft die Frau im Sitz vor mir und lacht wiehernd über ihren eigenen Scherz.
Sie hat offensichtlich einen Eid geschworen: Sie darf niemals aufhören zu sprechen. Seit wir hier sitzen, kommentiert sie alles, was sie sieht, liest oder hört. Noch auf dem Rollfeld müssen die fünf Reihen vor und hinter ihr unfreiwillig ihren lautstarken Exkursen lauschen. Über den Sonnenuntergang, die Temperatur, das schwüle Wetter. Den geilen Dollarkurs und den Ami an sich. Beim Durchblättern der Frankfurter Allgemeinen, die die Stewardess ausgeteilt hat, kommentiert sie jede Seite, wie ein Kind, das gerade erst lesen gelernt hat.
»Oh, Shopping! Oh, Reise!«, und dann: »Wat iss'n ditte für 'ne Scheißzeitung, sind ja nur Stellenanzeigen drinne!«
Sobald wir in der Luft sind und die Anschnallzeichen erlöschen, klappt sie ihren Sitz zurück. Rammt ihn mir ohne Vorwarnung fast ins Gesicht. Wälzt sich ungelenk hin und her und beschwert sich über das Wackeln des Flugzeugs.
»Bin ich hier im Karussell, oder was!«
... mehr
Sie trägt eine Kurzhaarfrisur mit blonden Strähnchen, geordnet strubbelig, wie es deutsche Frauen über fünfzig mögen, die gerne von sich selbst behaupten, für ihr Alter noch »ganz flott unterwegs« zu sein. Ihr Gesicht ist stark geschminkt. Augen, Nase und Mund schwimmen in einer Pfütze aus Fett und Talg. Über diesem unappetitlichen See aus Farben thront eine randlose Brille mit kleinen eckigen Gläsern und neongrünen Schnörkeln am Gestell. Drum herum spannt sich die verbrannte Haut wie ein alter Lederlappen.
Mit den Fingern wühlt sie sich in den Haaren, und damit mir fast im Gesicht herum. Ihre Fingernägel glänzen, als wären sie mit Zuckerglasur überzogen. Lang und manikürt wuchern sie aus stumpigen Fingern, die ihrerseits ohne Übergang an den Armen sitzen. Man sieht nicht mal Handgelenke, nur am rechten Arm eine winzige goldene Uhr, die fast in den Wülsten ihres speckigen Unterarms verschwindet.
Ihre Kapuzenjacke ziert ein eBay-Logo. Vielleicht arbeitet sie dort, das würde zu ihrem Akzent passen, der nach Büro- job in Kleinmachnow klingt, nach Doppelhaushälfte in Ludwigsfelde, nach Wohnwagenurlaub am Zeuthener See, das New-York-Wochenende für zwei bei Antenne Brandenburg gewonnen.
Ihr Mann sitzt daneben und verhält sich still. Er ist das Gegenteil seiner Frau: unauffällig, grau, dünn, leise. Das Haar schütter, der Pullover ein paar Nummern zu groß, so dass er darin verschwindet wie ein Erstklässler in Mamas Bademantel. Sogar der Oberlippenbart wirkt irgendwie zu schmal.
Die Frau hat hier eindeutig die Hosen an. Es sind weiße Jeansshorts. Ihre Beine stecken in pinken Socken mit der Aufschrift Princess, aus denen fast gleichfarbig ihre Waden hervorquillen.
Auch das Essen wird ausgiebig kommentiert. Wie erwartet kommt es nicht gut weg.
»Das ist doch 'ne Zumutung, ist doch wahr!«
Sie stößt ihrem Mann verschwörerisch den Ellbogen in die Rippen.
»Jau.«
Niemand hat ihr je den Punkt gezeigt, an dem Dummheit in Penetranz umschlägt. Ich würde gerne eine rauchen. Bestelle noch ein Bier. Einen Wodka dazu.
Das amerikanische Ehepaar neben mir blättert in einem Lonely Planet für Germany. Die Frau ist hübsch und geschmackvoll gekleidet. Anfang vierzig. Typ erfolgreiche Geschäftsfrau. Vielleicht Inhaberin einer Casting-Agentur. Oder Staatsanwältin? Von Zeit zu Zeit schaut sie sich irritiert um, wenn vor uns wieder eine laute Wolke Unsinn durch das Flugzeug gejagt wird. Ihr erster Eindruck vom originär deutschen Lifestyle, das ist jetzt nicht gerade die sanfte Einführung.
Ich verspüre ein leichtes Ziehen in den Schultern. Auch ich hätte mir den ersten Kontakt mit meiner Heimat nach der langen Zeit etwas weniger brutal gewünscht.
»Schönheit!«, bellt Frau Randlos, als ihr Mann niest, und kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Ein nach Luft schnappendes Gequieke, wie eine kaputte Sirene. Bis sie einen schlimmen Hustenanfall bekommt. Der Mann klopft ihr mit seinen schmalen Fingerchen zaghaft auf den Rücken. Es sieht aus wie ein Dackel, der ein Nilpferd massiert. Kurz darauf beginnt sie zu schnarchen.
Es ist dunkel und ruhig. Frau Randlos schläft, das Ehepaar neben mir schläft, und Verena schläft vermutlich auch. Sie sitzt einige Reihen hinter mir, wir haben zu spät eingecheckt, es waren nebeneinander keine Plätze mehr frei. Ich kann damit leben, nach den mehr als zwei Monaten, die wir auf einandergehangen haben. Es war gut, aber es reicht jetzt auch.
Ich frage mich, ob sie ahnt, was ich weiß. Nämlich dass wir zwar ein paar schöne Wochen hinter uns, aber keine Zukunft vor uns haben. Zumindest keine gemeinsame. Wenn wir um neun Uhr Berliner Zeit landen, werden wir zu mir fahren, noch ein paar Stunden in meinem Bett schlafen, vielleicht ein letztes Mal miteinander, und abends wird sie ein Taxi zum Bahnhof nehmen und den Zug nach Hannover. Ich werde sie nicht begleiten, sondern mich leise und unaufgeregt auf der Straße von ihr verabschieden, weil es so einfacher für alle ist. Sie wird in ihr Leben zurückfahren, und ich werde in meinem bleiben, bis wir uns vielleicht irgendwann mal wiedersehen. Und dann mal gucken.
Ich versuche einzuschlafen, doch es klappt nicht. Ich ziehe die Kapuze über den Kopf, klappe den Sitz nach hinten und setze mir sogar zum ersten Mal in meinem Leben eine Schlafbrille auf, so ein dämliches rotes Ding, das sie einem mit Kopfhörer und Ohrstöpsel in die Hand drücken und das einen aussehen lässt wie einen dieser gestörten Typen aus Eyes Wide Shut.
Es geht einfach nicht. Müde und aufgedreht zugleich schalte ich das Licht wieder ein und blättere in einem amerikanischen Frauenmagazin, das ich am Flug hafen gekauft habe. Es geht um Mode, um Style, um Musik und um Anzeigen. Eigentlich sind die Anzeigen das Beste am ganzen Heft, besonders die mit den gut gekleideten hübschen Frauen, von namhaften Fotografen in interessanten Posen abgelichtet.
Als ich die Klotür schließe, wird die enge Parzelle von einem breiten Strahl aus weißem Licht überflutet. Ich lasse meine Hose auf die Knöchel sacken, breite die Zeitschrift auf dem zahnarztpraxisfarbenen Waschbecken aus und onaniere mit dem Blick auf das magersüchtige Model aus der HugoBoss- Werbung, das sich mit halboffenem Mund und den Beinen auf der Lehne eines weißen Designersofas räkelt. In meinem Kopf räkelt sich dort meine amerikanische Sitznachbarin.
In 10.965 Metern Höhe über dem Atlantischen Ozean, bei 876 km/h und minus 58 Grad Celsius Außentemperatur, tropft mein warmer Samen in die Toilette und wird mit Hochdruck weggesaugt.
Mein Nachbar hat seinen Wecker auf 05:44 Uhr stehen, und ich somit zwangsläufig auch. Zwar höre ich kein Klingeln, Piepen oder irgendein anderes Weckgeräusch, aber es kann kein Zufall sein, dass der Mann jeden Morgen um die gleiche Zeit anfängt zu husten. Und er hustet sich die Lunge aus dem Leib, so laut und exzessiv, dass ich wach im Bett liege und gar nicht glauben kann, dass da überhaupt noch eine Wand zwischen uns ist.
Ich weiß nicht, wie mein Nachbar aussieht, habe aber ein Bild im Kopf. Es beinhaltet schlechte Haut und jede Menge Körperbehaarung.
Seine morgendlichen Hustorgien jedenfalls klingen nach achtunddreißig Jahren Kohlebergwerk, nach zweiundvierzig Jahren Reval ohne Filter, ein Röcheln und Würgen aus den tiefsten Tiefen seines Körpers, der einem rostigen alten Kahn zu ähneln scheint. Er macht sich keine besondere Mühe, das zu verstecken. Es klingt eher, als ob er extra laut hustet, damit er nicht als Einziger darunter leiden muss.
So geht das in unregelmäßigen Abständen bis ungefähr halb sieben. Dann scheint er aufzustehen, das Husten entfernt sich. Seit ich wieder hier bin, werde ich jeden Morgen so geweckt. Ich weiß nicht, ob das neu ist oder ob ich es früher nur nicht gehört habe.
Nachdem ich mich eine Weile im Halbschlaf hin und her gewälzt habe, stehe ich schließlich auf. Ich koche mir einen starken Kaffee und setze mich in den schmutzigen Plastikstuhl auf dem Balkon. Die Junisonne klettert gerade über die Hausdächer. Es ist noch ziemlich frisch, aber die Straße sieht schon erstaunlich belebt aus. Leere Gesichter auf dem Weg zur Arbeit, oder zur Schule, oder zur Uni, was weiß ich, wo die alle hinwollen. Vielleicht auch alle nur zum Jobcenter Neukölln, um sich dort mit den anderen Hartz-IV-Empfängern die Beine in den Bauch zu stehen.
Meine Straße um sieben Uhr morgens, eine Welt, von der ich selten etwas mitbekomme. Wenn ich überhaupt mal um diese Uhrzeit unterwegs bin, dann auf dem Heimweg vom Feiern. Das zählt nicht. Es ist dann zwar hell, aber eigentlich noch Nacht, weil ich besoffen bin und der nächste Tag erst beginnt, wenn man geschlafen hat.
Jetzt habe ich sogar diesen Rest an Lebensrhythmus verloren. Nach all den verschiedenen Zeitzonen, in denen ich die letzten Monate verbracht habe, ist meine innere Uhr nicht um soundso viele Stunden verschoben - sie ist schlicht und einfach nicht existent.
Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist.
Na gut, das passiert mir sonst auch schon mal. Wenn ich zum Beispiel nachts im Radetzky hinterm Tresen stehe und mich wundere, warum es plötzlich um zwei Uhr nochmal so voll wird, bis ich registriere, dass schon wieder Wochenende oder der nächste Tag ein Feiertag ist.
Aber jetzt ist alles durcheinander. Ich schlafe, wenn ich schlafen kann, und bin wach, wenn ich nicht schlafen kann. Ich esse selten und rauche ständig. Trinke einen starken, zuckrigen Kaffee nach dem anderen. Ich versuche zu lesen, kann mich aber kaum auf zwei aufeinanderfolgende Sätze konzentrieren. Mein Hirn ist ein poröser Klumpen hinter einer Wand aus Watte, und mein Körper hat sich zu einem tauben Brei zusammengeschoben. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Wirbelsäule wäre aus hartem Gummi, dann wieder spüre ich meine Füße nicht mehr. Irgendetwas zieht mich zu Boden, als hätte ich einen schweren Stein verschluckt. Und ständig verwechsle ich, was ich gesehen, gelesen oder geträumt habe.
Ich müsste eigentlich mal meine Sachen waschen gehen. Staubsaugen könnte ich auch mal wieder, und wischen, und die Fenster müssen auch mal geputzt werden, man kann kaum noch durchgucken. Kein Bock. Später vielleicht.
Es wird ein schöner Tag werden, freundlich und warm. Mir fallen die Augen zu, also schlurfe ich zurück ins Schlafzimmer und lege mich nochmal hin.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es schon fast Mittag. Ich gehe ins Badezimmer, wasche mir mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und setze mich auf den Badewannenrand. Dort bleibe ich ein paar Minuten sitzen. Wenn die Balkontür und das Badezimmerfenster offen stehen, entsteht genau an dieser Stelle so ein warmer Luftzug, es hat etwas von Südsee. Ich war noch nie in der Südsee, aber so stelle ich mir das vor - immer eine warme Brise, die einen einlullt. Der Badewannenrand ist im Sommer auf jeden Fall der beste Platz in meiner Wohnung.
Irgendwann hat sich aber auch das erschöpft. Außerdem knurrt mein Magen, also verlasse ich die Wohnung in Richtung Siebenbürgen.
Wie in den letzten Tagen staune ich auch heute wieder darüber, wie sehr sich dieses Viertel in meiner Abwesenheit verändert hat. Das Sonnenstudio gegenüber ist nicht mehr da, stattdessen gibt es dort jetzt ein Café, das auf seiner Scheibe mit kostenlosem Internetzugang wirbt.
Verschwunden ist auch der Second-Hand-Ramschladen, der auf dem Bürgersteig wacklige Stühle, kaputte Spiegel und alte Bongotrommeln feilbot, nicht zu vergessen die zwei Bilderrahmen mit welligen Livefotos von Howard Carpendale, selbst geschossen aus der ersten Reihe vor einer schmucklosen Bühne, obsessiv und überbelichtet. Nun befindet sich an gleicher Stelle ein Fahrradladen, dessen Betreiber mit ihren sorgfältig zerzausten Frisuren aussehen wie Schauspieler. In der schmierigen Videothek daneben gibt es neuerdings eine kleine Ecke, in der die Filme nach Regisseuren geordnet sind, und wenige Hundert Meter weiter die Straße runter hat die erste linke Kneipe des Viertels eröffnet. Wo vor meinem Abflug noch schnurrbärtige alte Türken in grellem Neonlicht Karten gekloppt und um die Wette geraucht haben, wird nun in schummrigem Kerzenschein bei einem Glas Merlot die Gentrifizierung des Kiezes diskutiert. Der Laden heißt VeränderBar. Abends gehen dort Typen ein und aus, deren Frisuren Protest signalisieren und auf deren Klamotten meistens irgendwo irgendwas mit »Capitalism«, »Fascism« oder »Sexism« steht. Antifa rein, Türken raus.
Im Café Siebenbürgen machen sie einen ganz hervorra genden Espresso, und es gibt Frühstück bis siebzehn Uhr. Vor einem halben Jahr stand diese ehemalige Eck- kneipe noch leer. »Zu vermieten« konnte man wochenlang in Krakelschrift auf einer Pommesschale lesen, die mit Tesafilm ins Fenster geklebt war. Darunter eine Telefonnummer.
Ich habe die Nummer damals angerufen und mich erkundigt. Die Miete betrug keine Tausend Euro im Monat, als Abstand wollten die Vorbesitzer fünfzehntausend Euro haben, für Theke, Zapfanlage, Schanklizenz und alles. Das war genau der Betrag, den ich auf dem Konto hatte, nachdem Silvia mir meinen Anteil von unserem Erbe überwiesen hatte.
Ein eigener Laden, das war ein reizvoller Gedanke. Holger wollte gleich einsteigen. Er war völlig aus dem Häuschen, so kannte ich ihn gar nicht.
Einen Namen für die Pinte hatte ich auch schon: »Alter Vatter«.
Holger präferierte »Bredouille«.
»Klingt doch super: Gestern war ich in der Bredouille und hab zu viel Schnaps getrunken!«, rief er, als wir im Radetzky standen und uns ausmalten, wie das alles werden würde: die Musik, die Werbung, die Wände, die Gäste.
»Los, wir gehen zum Alten Vatter und saufen uns einen an!«, entgegnete ich, und wir lachten und umarmten uns und tanzten auf der Stelle, bis einer von uns dem nächsten Gast ein Bier zapfte, denn man weiß oft nicht so genau, wer von uns beiden gerade Schicht hat und wer nur zum Trinken da ist.
An diesen feuchtfröhlichen Abenden verliebte ich mich in die Idee, einen eigenen Laden zu haben - nach all den Jahren, die ich in den Kneipen anderer malocht hatte.
Alter Vatter oder Bredouille - dass es eine Goldgrube werden würde, galt uns hier, in diesem boomenden Viertel, als absolut sicher. Yolandas Segen hatten wir auch. Sie sagte, sie würde ihre beiden besten Barkeeper zwar vermissen, uns aber auf jeden Fall bei dem ganzen Behördenquatsch helfen, den sie mit dem Radetzky vor Jahren schon hinter sich gebracht hatte.
Nachdem sich die erste Euphorie gelegt hatte, wurde mir aber klar, dass ich die Verantwortung für einen eigenen Laden eigentlich gar nicht wollte. Mir wäre ja schon das Haus meines Vaters zu viel gewesen. Allein die Idee, Hausbesitzer zu sein, jagte mir richtig Angst ein.
Mieter suchen? Renovierungen anleiern? Kostenvoranschläge prüfen? Noch bevor die Formalitäten für den Erb- antritt geklärt waren, brachte ich Silvia dazu, alles für den Verkauf des Hauses vorzubereiten.
Außerdem war da noch so eine Ahnung, die immer mehr zur Gewissheit wurde: Ich durfte das geerbte Geld nicht investieren. Es war einzig und allein dazu da, verschleudert zu werden. Nichts übrig behalten von dem Besitz, der immer nur für Streit und Hass gesorgt hatte. Ich sah es als meine Pflicht an, aus den Fehlern meines Vaters zu lernen und gar nicht erst in Versuchung zu kommen, diese zu wiederholen. Nichts sparen, nichts auf die hohe Kante legen und auf keinen Fall versuchen, das Geld anzulegen oder zu vermehren. Ich musste es benutzen, es ausgeben - und zwar alles, bis auf den letzten Cent.
Weihnachten in Portugal wurde mir dann endgültig klar, was ich mit meinem Erbanteil zu tun hatte. Holger hatte drauf bestanden, dass ich die Feiertage mit ihm und Anne an der Algarve verbringe. Er dachte ver mutlich, er müsste sich um mich kümmern. Ich wie derum dachte, ich müsste ihm einen Gefallen tun, als Dankeschön dafür, dass er sich so um mich gekümmert hatte. Allein die ganzen Schichten, die er für mich übernommen hatte. Die Hilfe mit dem Steuerberater und das alles.
Wir kraxelten gerade die Felsen des Cabo de São Vicente entlang. Der südwestlichste Punkt Europas, das sogenannte Ende der Welt. Über uns stand ein großer Leuchtturm, unter uns tobte der Atlantik, und als ich die beiden eingeholt hatte, zeigte Holger schweigend auf eine Steinplatte, die in einen Felsen gehauen war.
In Erinnerung an unseren Sohn und Freund, zur Warnung an alle, die sich hier nicht auskennen.
Wir setzten uns hin und schauten aufs Meer hinaus. Vor ein paar Jahrhunderten war hier für die Menschen die Welt zu Ende gewesen, weil sie nichts ahnten von Amerika und Indien und so. Ich dachte darüber nach, wie beschwerlich die Reisen damals gewesen sein mussten, wie einfach sie dagegen jetzt waren. Dann dachte ich an meinen Vater, der so gut wie nichts von der Welt gesehen hat. Und mir fiel auf, dass es bei mir ja bisher nicht viel anders aussah. Ich war sechsundzwanzigeinhalb Jahre alt und hatte den Kontinent noch nie verlassen. Ich war noch nicht mal in Paris, London oder Rom gewesen.
Die Liste der Orte, die ich nicht gesehen hatte, war endlos. Und es war keine sehr exotische Liste.
Warum eigentlich?
Weil ich mein ganzes Erwachsenenleben lang notorisch pleite war?
Vielleicht, aber das Argument zog jetzt nicht mehr. Ich kam mir plötzlich so klein vor, und das war genau der Moment, in dem mir klarwurde, dass ich das Geld meines Vaters benutzen musste, um zu reisen.
»Holger, das mit dem Alten Vatter ...«
»Du meinst die Bredouille?«
»Wie auch immer. Jedenfalls, das wird nichts.«
»Ich weiß.«
Als ich abends in unserem Häuschen in Albufeira ins Bett fiel - ich hatte das Kinderzimmer und konnte meine Beine nie ganz ausstrecken -, fühlte es sich an, als hätte ich gerade Tag eins meines neuen Lebens hinter mich gebracht.
Ich weiß noch, wie ich erschrak, weil mir so ein Gedanke eigentlich viel zu kitschig war.
Aber so fühlte es sich nun mal an.
Und nun trage ich mein Geld in genau den Laden, der meiner hätte sein können. Ich sitze zwischen mit Zeitungen, Laptops und Babys bewaffneten Menschen an einem Tisch in der Sonne und kaue apathisch auf meinem Croissant herum, und Weihnachten an der Algarve kommt mir irre weit weg vor. Obwohl es gerade mal ein halbes Jahr her ist.
Nachdem ich bei dem hübschen Mädchen mit den kurzen dunklen Haaren bezahlt habe, mache ich mich auf zum Kanal, mit einem kurzen Schlenker zum Späti an der Ecke.
»Morgen, Frau Schenk. Einmal Benson & Hedges Lights, bitte.«
»Es ist nicht Morgen, sondern Mittag, Herr Meise. Und das heißt auch nicht Lights, das heißt Silver!«, sagt Frau Schenk. Frau Schenk ist die Besitzerin dieses Spätkaufs, der den guten Namen »Spätkauf« trägt. Seit ich vor drei Jahren in dieses Viertel gezogen bin, habe ich es noch nicht erlebt, dass sie nicht selbst hinter der Kasse saß.
»Ach ja, Silver!«, sage ich, gucke an die Decke und schlage mir leicht die flache Hand vor die Stirn. Meine »Was bin ich nur für ein Dummerchen«-Geste. Frau Schenk lacht, und ich lache auch. Es ist so ein Ritual zwischen uns. Manchmal ärgere ich sie und verlange von vornherein eine Schachtel Benson & Hedges Silver, dann gibt sie mir jedes Mal einen beleidigten »Spielverderber!«-Blick, bevor sie umso lauter loslacht.
Als Verena und ich vor einer Woche vom Flughafen kamen, ging ich gleich rüber zu Frau Schenk. Ihre Augen leuchteten, als sie mich sah. »Ach, sieh einer an!«, rief sie freudig erregt. »Ich dachte schon, ich könnte die Silvers ganz aus dem Sortiment nehmen!«
Ich glaube, sie hatte mich in den letzten Wochen und Monaten wirklich vermisst. Kein Wunder, vergeht doch kaum ein Tag, an dem ich nicht mindestens eine Schachtel Kippen bei ihr kaufe.
»Bis später«, sagt Frau Schenk.
»Bis später«, sage ich, öffne die Schachtel und zünde mir eine an. Ich rauche nicht nur sehr viel, sondern vor allem sehr gerne. Es ist mehr als eine Sucht. Zum Beispiel diese Zigarette jetzt gerade, die erste nach dem Frühstück, wie gut die schmeckt! Der erste Zug, dieses bewusste, tiefe Inhalieren des Rauchs, das kurze Innehalten und Wiederausatmen. Wie schön betäubt dann alles für einen kurzen Moment ist. Herrlich.
»Du bist ein Gelegenheitsraucher - du rauchst bei jeder Gelegenheit«, sagt Silvia immer. Meine Schwester war noch nie die lustigste Person auf dem Planeten. Ich mag sie trotzdem. Weil sie so schlau ist. Oder eher: klug. Ich weiß gar nicht, ob es da einen Unterschied gibt, aber klug, das passt irgendwie noch besser. Wenn man in einem Lexikon nach dem Begriff »klug« sucht, ist da bestimmt ein Foto von meiner Schwester.
Manchmal schießt sie aber auch übers Ziel hinaus. Seit ein paar Jahren versucht sie mir ständig eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung unterzujubeln. ADS. Ihrer Meinung nach leide ich an Dopaminmangel oder so was. Ihre Theorie ist, dass dieser Botenstoff in meinem Körper zu schnell abgebaut wird, womit sie mein angebliches Suchtverhalten und mein Verlangen nach neuen Kicks durch Nikotin, Kaffee, Alkohol, Drogen und Sex erklären will. Schon mehrmals wollte sie mich zum Neurologen schleppen. Sie als Akademikerin will die Dinge immer benennen, alles muss erklärbar sein, nichts passiert einfach so, und wenn ich sie nicht stoppe, schmeißt sie so lange mit Begriffen wie »Neurotransmitter «, »Impulsivität« und »Dysfunktion« um sich, bis mir ganz schwindelig wird und ich mich tatsächlich völlig labil und hilfsbedürftig fühle. Irgendwann hat sie sogar mal meinen angeblich so hohen »Frauenverschleiß« damit begründet.
So klug meine Schwester auch ist, aber das hört sich für mich eher nach einer dieser hilflosen Erklärungen für alles und nichts an. Modekrankheiten, Verlegenheitsdiagnosen, Zeitgeistquatsch.
Da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht bei ihr gemeldet, seit ich zurück bin. Na ja, mache ich später mal. Jetzt erst mal ans Wasser, ein bisschen abhängen.
Diese Parkbank ist so was wie mein Stammplatz geworden. In den letzten sieben Tagen habe ich jeden Tag mehrere Stunden im Schatten der großen Buche am Paul-Lincke- Ufer verbracht. Morgens, mittags, abends, nachts. Der Boden ist gesäumt von Kronkorken, ausgespuckten Kaugummis und Zigarettenkippen. Die meisten sind wahrscheinlich von mir.
Ich habe hier mehrere Sonnenuntergänge erlebt. Auch einen Sonnenaufgang. Vor ein paar Tagen gab es abends ein plötzliches Wärmegewitter. Ich blieb einfach sitzen und ließ die dicken Tropfen mein Gesicht hinunterlaufen. Ich habe einen Ehestreit beobachtet, eine Schlägerei zwischen drei arabischen Kids mit dunklem Flaum auf den Oberlippen und einen Unfall mit zwei Fahrrädern und einem Hund.
»Können Sie mal Ihren Scheißköter von mir entfernen!«
»Ich entfern gleich deine Scheißzähne, Alter.«
Ein Mann schrie eine Frau an, die ein Kind anschrie. Das Kind weinte, woraufhin ein anderes Kind in seinem Kinderwagen vor Schreck aufhörte zu weinen. Einmal bin ich in der Abenddämmerung auf der Bank eingeschlafen, und als ich im Dunkeln wieder wach wurde, saß zwei Meter neben mir ein Fuchs und starrte mich an. Vorgestern, oder vorvorgestern, sank ein schlafender Mann auf der Bank neben mir zu Boden und schiffte sich komplett ein. Dem Geruch nach hatte er drei Wochen lang nichts anderes als Benzin getrunken.
Manchmal duftet es vom Kanal her ein bisschen nach Kloake, und aus den Büschen weht ein Hauch von Müllhalde herüber. Man gewöhnt sich dran.
Heute ist es ziemlich windstill, da riecht man gar nichts. Ein traumhaftes Wetter. Trocken, freundlich und heiß. Normalerweise stehe ich ja nicht besonders auf Hitze, aber nach den letzten zwei Wochen in New York kommt mir hier alles absolut erträglich vor. Besonders Manhattan war tagsüber kaum zu ertragen.
Ich lockere die Schnürsenkel meiner Turnschuhe, stelle die Füße auf die kleine Mauer vor mir, zünde mir eine Zigarette an und betrachte, was mein Blickfeld kreuzt.
Jogger und Radfahrer. Raver, Hippies, Punks. Schüler und Studenten, Eltern und Kinder, Arbeitslose und Künstler, Rentner und Jugendliche. Paare und Schwangere. Schwule und Lesben. Boulespieler und Gitarristen. Kiffer und Pillenfresser. Säufer der verschiedensten Schattierungen, manche alt und melancholisch, andere jung und albern. Pfandgeier und Landeier. Wochenend-Berlin-Besucher, die in Stadtpläne oder Reiseführer vertieft den Joggern im Weg rumstehen. Betrunkene, die vor Fahrräder torkeln. Halbnackte und komplett Verschleierte. Frauen in Kopftüchern und Frauen unter Burkas, ganz in Schwarz in der prallen Sonne. Streitende, Küssende, Feiernde, Fluchende und Verwirrte, die wild gestikulierend mit sich selbst reden. Ein junges Mädchen weint in ihr Telefon, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es gibt Hunde, Ratten, Mäuse, Katzen, Schwäne, Enten, Spinnen, Vögel. Und Schiffe. Ausflugsdampfer voller Menschen mit Sonnenbrillen und Schlapphüten. Und eine Ansagerin, die ihnen vom Wasser aus die Stadt erklärt. Die Bootsgäste gaffen die Menschen am Ufer an wie Affen im Zoo. Die Menschen am Ufer gaffen genauso zurück. Da ist die Kreuzberg, die Schöneberg, die Charlottenburg, die Prenzlauer Berg, die Rixdorf. Die Brasil und die Sanssouci, die Spree Athen, die Spree Comtess, die Spree- Prinzessin, die Spree-Perle, da sind Schlauchboote, Tretboote, Motorboote - beladen mit jungen Leuten, die den Sommer in der Stadt genießen.
Das sollte ich vielleicht auch mal machen.
Aber irgendwie werde ich einfach nicht richtig wach. Es erscheint mir viel zu anstrengend, mich zu amüsieren.
Plötzlich eine vertraute Stimme.
»Meise, alte Hütte!«
Es ist Heiko. Heiko ist einer der Stammgäste im Radetzky. Wenn er nicht da ist, nennen wir ihn Psycho-Heiko. Manchmal auch, wenn er da ist. Er hatte wohl mal eine Psychose. Ich habe aber nie mitbekommen, wie sich das äußert. Ich kenne ihn nur als stillen und ausdauernden Zecher mit gut
Copyright © 2010 by Nagel Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Sie trägt eine Kurzhaarfrisur mit blonden Strähnchen, geordnet strubbelig, wie es deutsche Frauen über fünfzig mögen, die gerne von sich selbst behaupten, für ihr Alter noch »ganz flott unterwegs« zu sein. Ihr Gesicht ist stark geschminkt. Augen, Nase und Mund schwimmen in einer Pfütze aus Fett und Talg. Über diesem unappetitlichen See aus Farben thront eine randlose Brille mit kleinen eckigen Gläsern und neongrünen Schnörkeln am Gestell. Drum herum spannt sich die verbrannte Haut wie ein alter Lederlappen.
Mit den Fingern wühlt sie sich in den Haaren, und damit mir fast im Gesicht herum. Ihre Fingernägel glänzen, als wären sie mit Zuckerglasur überzogen. Lang und manikürt wuchern sie aus stumpigen Fingern, die ihrerseits ohne Übergang an den Armen sitzen. Man sieht nicht mal Handgelenke, nur am rechten Arm eine winzige goldene Uhr, die fast in den Wülsten ihres speckigen Unterarms verschwindet.
Ihre Kapuzenjacke ziert ein eBay-Logo. Vielleicht arbeitet sie dort, das würde zu ihrem Akzent passen, der nach Büro- job in Kleinmachnow klingt, nach Doppelhaushälfte in Ludwigsfelde, nach Wohnwagenurlaub am Zeuthener See, das New-York-Wochenende für zwei bei Antenne Brandenburg gewonnen.
Ihr Mann sitzt daneben und verhält sich still. Er ist das Gegenteil seiner Frau: unauffällig, grau, dünn, leise. Das Haar schütter, der Pullover ein paar Nummern zu groß, so dass er darin verschwindet wie ein Erstklässler in Mamas Bademantel. Sogar der Oberlippenbart wirkt irgendwie zu schmal.
Die Frau hat hier eindeutig die Hosen an. Es sind weiße Jeansshorts. Ihre Beine stecken in pinken Socken mit der Aufschrift Princess, aus denen fast gleichfarbig ihre Waden hervorquillen.
Auch das Essen wird ausgiebig kommentiert. Wie erwartet kommt es nicht gut weg.
»Das ist doch 'ne Zumutung, ist doch wahr!«
Sie stößt ihrem Mann verschwörerisch den Ellbogen in die Rippen.
»Jau.«
Niemand hat ihr je den Punkt gezeigt, an dem Dummheit in Penetranz umschlägt. Ich würde gerne eine rauchen. Bestelle noch ein Bier. Einen Wodka dazu.
Das amerikanische Ehepaar neben mir blättert in einem Lonely Planet für Germany. Die Frau ist hübsch und geschmackvoll gekleidet. Anfang vierzig. Typ erfolgreiche Geschäftsfrau. Vielleicht Inhaberin einer Casting-Agentur. Oder Staatsanwältin? Von Zeit zu Zeit schaut sie sich irritiert um, wenn vor uns wieder eine laute Wolke Unsinn durch das Flugzeug gejagt wird. Ihr erster Eindruck vom originär deutschen Lifestyle, das ist jetzt nicht gerade die sanfte Einführung.
Ich verspüre ein leichtes Ziehen in den Schultern. Auch ich hätte mir den ersten Kontakt mit meiner Heimat nach der langen Zeit etwas weniger brutal gewünscht.
»Schönheit!«, bellt Frau Randlos, als ihr Mann niest, und kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen. Ein nach Luft schnappendes Gequieke, wie eine kaputte Sirene. Bis sie einen schlimmen Hustenanfall bekommt. Der Mann klopft ihr mit seinen schmalen Fingerchen zaghaft auf den Rücken. Es sieht aus wie ein Dackel, der ein Nilpferd massiert. Kurz darauf beginnt sie zu schnarchen.
Es ist dunkel und ruhig. Frau Randlos schläft, das Ehepaar neben mir schläft, und Verena schläft vermutlich auch. Sie sitzt einige Reihen hinter mir, wir haben zu spät eingecheckt, es waren nebeneinander keine Plätze mehr frei. Ich kann damit leben, nach den mehr als zwei Monaten, die wir auf einandergehangen haben. Es war gut, aber es reicht jetzt auch.
Ich frage mich, ob sie ahnt, was ich weiß. Nämlich dass wir zwar ein paar schöne Wochen hinter uns, aber keine Zukunft vor uns haben. Zumindest keine gemeinsame. Wenn wir um neun Uhr Berliner Zeit landen, werden wir zu mir fahren, noch ein paar Stunden in meinem Bett schlafen, vielleicht ein letztes Mal miteinander, und abends wird sie ein Taxi zum Bahnhof nehmen und den Zug nach Hannover. Ich werde sie nicht begleiten, sondern mich leise und unaufgeregt auf der Straße von ihr verabschieden, weil es so einfacher für alle ist. Sie wird in ihr Leben zurückfahren, und ich werde in meinem bleiben, bis wir uns vielleicht irgendwann mal wiedersehen. Und dann mal gucken.
Ich versuche einzuschlafen, doch es klappt nicht. Ich ziehe die Kapuze über den Kopf, klappe den Sitz nach hinten und setze mir sogar zum ersten Mal in meinem Leben eine Schlafbrille auf, so ein dämliches rotes Ding, das sie einem mit Kopfhörer und Ohrstöpsel in die Hand drücken und das einen aussehen lässt wie einen dieser gestörten Typen aus Eyes Wide Shut.
Es geht einfach nicht. Müde und aufgedreht zugleich schalte ich das Licht wieder ein und blättere in einem amerikanischen Frauenmagazin, das ich am Flug hafen gekauft habe. Es geht um Mode, um Style, um Musik und um Anzeigen. Eigentlich sind die Anzeigen das Beste am ganzen Heft, besonders die mit den gut gekleideten hübschen Frauen, von namhaften Fotografen in interessanten Posen abgelichtet.
Als ich die Klotür schließe, wird die enge Parzelle von einem breiten Strahl aus weißem Licht überflutet. Ich lasse meine Hose auf die Knöchel sacken, breite die Zeitschrift auf dem zahnarztpraxisfarbenen Waschbecken aus und onaniere mit dem Blick auf das magersüchtige Model aus der HugoBoss- Werbung, das sich mit halboffenem Mund und den Beinen auf der Lehne eines weißen Designersofas räkelt. In meinem Kopf räkelt sich dort meine amerikanische Sitznachbarin.
In 10.965 Metern Höhe über dem Atlantischen Ozean, bei 876 km/h und minus 58 Grad Celsius Außentemperatur, tropft mein warmer Samen in die Toilette und wird mit Hochdruck weggesaugt.
Mein Nachbar hat seinen Wecker auf 05:44 Uhr stehen, und ich somit zwangsläufig auch. Zwar höre ich kein Klingeln, Piepen oder irgendein anderes Weckgeräusch, aber es kann kein Zufall sein, dass der Mann jeden Morgen um die gleiche Zeit anfängt zu husten. Und er hustet sich die Lunge aus dem Leib, so laut und exzessiv, dass ich wach im Bett liege und gar nicht glauben kann, dass da überhaupt noch eine Wand zwischen uns ist.
Ich weiß nicht, wie mein Nachbar aussieht, habe aber ein Bild im Kopf. Es beinhaltet schlechte Haut und jede Menge Körperbehaarung.
Seine morgendlichen Hustorgien jedenfalls klingen nach achtunddreißig Jahren Kohlebergwerk, nach zweiundvierzig Jahren Reval ohne Filter, ein Röcheln und Würgen aus den tiefsten Tiefen seines Körpers, der einem rostigen alten Kahn zu ähneln scheint. Er macht sich keine besondere Mühe, das zu verstecken. Es klingt eher, als ob er extra laut hustet, damit er nicht als Einziger darunter leiden muss.
So geht das in unregelmäßigen Abständen bis ungefähr halb sieben. Dann scheint er aufzustehen, das Husten entfernt sich. Seit ich wieder hier bin, werde ich jeden Morgen so geweckt. Ich weiß nicht, ob das neu ist oder ob ich es früher nur nicht gehört habe.
Nachdem ich mich eine Weile im Halbschlaf hin und her gewälzt habe, stehe ich schließlich auf. Ich koche mir einen starken Kaffee und setze mich in den schmutzigen Plastikstuhl auf dem Balkon. Die Junisonne klettert gerade über die Hausdächer. Es ist noch ziemlich frisch, aber die Straße sieht schon erstaunlich belebt aus. Leere Gesichter auf dem Weg zur Arbeit, oder zur Schule, oder zur Uni, was weiß ich, wo die alle hinwollen. Vielleicht auch alle nur zum Jobcenter Neukölln, um sich dort mit den anderen Hartz-IV-Empfängern die Beine in den Bauch zu stehen.
Meine Straße um sieben Uhr morgens, eine Welt, von der ich selten etwas mitbekomme. Wenn ich überhaupt mal um diese Uhrzeit unterwegs bin, dann auf dem Heimweg vom Feiern. Das zählt nicht. Es ist dann zwar hell, aber eigentlich noch Nacht, weil ich besoffen bin und der nächste Tag erst beginnt, wenn man geschlafen hat.
Jetzt habe ich sogar diesen Rest an Lebensrhythmus verloren. Nach all den verschiedenen Zeitzonen, in denen ich die letzten Monate verbracht habe, ist meine innere Uhr nicht um soundso viele Stunden verschoben - sie ist schlicht und einfach nicht existent.
Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist.
Na gut, das passiert mir sonst auch schon mal. Wenn ich zum Beispiel nachts im Radetzky hinterm Tresen stehe und mich wundere, warum es plötzlich um zwei Uhr nochmal so voll wird, bis ich registriere, dass schon wieder Wochenende oder der nächste Tag ein Feiertag ist.
Aber jetzt ist alles durcheinander. Ich schlafe, wenn ich schlafen kann, und bin wach, wenn ich nicht schlafen kann. Ich esse selten und rauche ständig. Trinke einen starken, zuckrigen Kaffee nach dem anderen. Ich versuche zu lesen, kann mich aber kaum auf zwei aufeinanderfolgende Sätze konzentrieren. Mein Hirn ist ein poröser Klumpen hinter einer Wand aus Watte, und mein Körper hat sich zu einem tauben Brei zusammengeschoben. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Wirbelsäule wäre aus hartem Gummi, dann wieder spüre ich meine Füße nicht mehr. Irgendetwas zieht mich zu Boden, als hätte ich einen schweren Stein verschluckt. Und ständig verwechsle ich, was ich gesehen, gelesen oder geträumt habe.
Ich müsste eigentlich mal meine Sachen waschen gehen. Staubsaugen könnte ich auch mal wieder, und wischen, und die Fenster müssen auch mal geputzt werden, man kann kaum noch durchgucken. Kein Bock. Später vielleicht.
Es wird ein schöner Tag werden, freundlich und warm. Mir fallen die Augen zu, also schlurfe ich zurück ins Schlafzimmer und lege mich nochmal hin.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist es schon fast Mittag. Ich gehe ins Badezimmer, wasche mir mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und setze mich auf den Badewannenrand. Dort bleibe ich ein paar Minuten sitzen. Wenn die Balkontür und das Badezimmerfenster offen stehen, entsteht genau an dieser Stelle so ein warmer Luftzug, es hat etwas von Südsee. Ich war noch nie in der Südsee, aber so stelle ich mir das vor - immer eine warme Brise, die einen einlullt. Der Badewannenrand ist im Sommer auf jeden Fall der beste Platz in meiner Wohnung.
Irgendwann hat sich aber auch das erschöpft. Außerdem knurrt mein Magen, also verlasse ich die Wohnung in Richtung Siebenbürgen.
Wie in den letzten Tagen staune ich auch heute wieder darüber, wie sehr sich dieses Viertel in meiner Abwesenheit verändert hat. Das Sonnenstudio gegenüber ist nicht mehr da, stattdessen gibt es dort jetzt ein Café, das auf seiner Scheibe mit kostenlosem Internetzugang wirbt.
Verschwunden ist auch der Second-Hand-Ramschladen, der auf dem Bürgersteig wacklige Stühle, kaputte Spiegel und alte Bongotrommeln feilbot, nicht zu vergessen die zwei Bilderrahmen mit welligen Livefotos von Howard Carpendale, selbst geschossen aus der ersten Reihe vor einer schmucklosen Bühne, obsessiv und überbelichtet. Nun befindet sich an gleicher Stelle ein Fahrradladen, dessen Betreiber mit ihren sorgfältig zerzausten Frisuren aussehen wie Schauspieler. In der schmierigen Videothek daneben gibt es neuerdings eine kleine Ecke, in der die Filme nach Regisseuren geordnet sind, und wenige Hundert Meter weiter die Straße runter hat die erste linke Kneipe des Viertels eröffnet. Wo vor meinem Abflug noch schnurrbärtige alte Türken in grellem Neonlicht Karten gekloppt und um die Wette geraucht haben, wird nun in schummrigem Kerzenschein bei einem Glas Merlot die Gentrifizierung des Kiezes diskutiert. Der Laden heißt VeränderBar. Abends gehen dort Typen ein und aus, deren Frisuren Protest signalisieren und auf deren Klamotten meistens irgendwo irgendwas mit »Capitalism«, »Fascism« oder »Sexism« steht. Antifa rein, Türken raus.
Im Café Siebenbürgen machen sie einen ganz hervorra genden Espresso, und es gibt Frühstück bis siebzehn Uhr. Vor einem halben Jahr stand diese ehemalige Eck- kneipe noch leer. »Zu vermieten« konnte man wochenlang in Krakelschrift auf einer Pommesschale lesen, die mit Tesafilm ins Fenster geklebt war. Darunter eine Telefonnummer.
Ich habe die Nummer damals angerufen und mich erkundigt. Die Miete betrug keine Tausend Euro im Monat, als Abstand wollten die Vorbesitzer fünfzehntausend Euro haben, für Theke, Zapfanlage, Schanklizenz und alles. Das war genau der Betrag, den ich auf dem Konto hatte, nachdem Silvia mir meinen Anteil von unserem Erbe überwiesen hatte.
Ein eigener Laden, das war ein reizvoller Gedanke. Holger wollte gleich einsteigen. Er war völlig aus dem Häuschen, so kannte ich ihn gar nicht.
Einen Namen für die Pinte hatte ich auch schon: »Alter Vatter«.
Holger präferierte »Bredouille«.
»Klingt doch super: Gestern war ich in der Bredouille und hab zu viel Schnaps getrunken!«, rief er, als wir im Radetzky standen und uns ausmalten, wie das alles werden würde: die Musik, die Werbung, die Wände, die Gäste.
»Los, wir gehen zum Alten Vatter und saufen uns einen an!«, entgegnete ich, und wir lachten und umarmten uns und tanzten auf der Stelle, bis einer von uns dem nächsten Gast ein Bier zapfte, denn man weiß oft nicht so genau, wer von uns beiden gerade Schicht hat und wer nur zum Trinken da ist.
An diesen feuchtfröhlichen Abenden verliebte ich mich in die Idee, einen eigenen Laden zu haben - nach all den Jahren, die ich in den Kneipen anderer malocht hatte.
Alter Vatter oder Bredouille - dass es eine Goldgrube werden würde, galt uns hier, in diesem boomenden Viertel, als absolut sicher. Yolandas Segen hatten wir auch. Sie sagte, sie würde ihre beiden besten Barkeeper zwar vermissen, uns aber auf jeden Fall bei dem ganzen Behördenquatsch helfen, den sie mit dem Radetzky vor Jahren schon hinter sich gebracht hatte.
Nachdem sich die erste Euphorie gelegt hatte, wurde mir aber klar, dass ich die Verantwortung für einen eigenen Laden eigentlich gar nicht wollte. Mir wäre ja schon das Haus meines Vaters zu viel gewesen. Allein die Idee, Hausbesitzer zu sein, jagte mir richtig Angst ein.
Mieter suchen? Renovierungen anleiern? Kostenvoranschläge prüfen? Noch bevor die Formalitäten für den Erb- antritt geklärt waren, brachte ich Silvia dazu, alles für den Verkauf des Hauses vorzubereiten.
Außerdem war da noch so eine Ahnung, die immer mehr zur Gewissheit wurde: Ich durfte das geerbte Geld nicht investieren. Es war einzig und allein dazu da, verschleudert zu werden. Nichts übrig behalten von dem Besitz, der immer nur für Streit und Hass gesorgt hatte. Ich sah es als meine Pflicht an, aus den Fehlern meines Vaters zu lernen und gar nicht erst in Versuchung zu kommen, diese zu wiederholen. Nichts sparen, nichts auf die hohe Kante legen und auf keinen Fall versuchen, das Geld anzulegen oder zu vermehren. Ich musste es benutzen, es ausgeben - und zwar alles, bis auf den letzten Cent.
Weihnachten in Portugal wurde mir dann endgültig klar, was ich mit meinem Erbanteil zu tun hatte. Holger hatte drauf bestanden, dass ich die Feiertage mit ihm und Anne an der Algarve verbringe. Er dachte ver mutlich, er müsste sich um mich kümmern. Ich wie derum dachte, ich müsste ihm einen Gefallen tun, als Dankeschön dafür, dass er sich so um mich gekümmert hatte. Allein die ganzen Schichten, die er für mich übernommen hatte. Die Hilfe mit dem Steuerberater und das alles.
Wir kraxelten gerade die Felsen des Cabo de São Vicente entlang. Der südwestlichste Punkt Europas, das sogenannte Ende der Welt. Über uns stand ein großer Leuchtturm, unter uns tobte der Atlantik, und als ich die beiden eingeholt hatte, zeigte Holger schweigend auf eine Steinplatte, die in einen Felsen gehauen war.
In Erinnerung an unseren Sohn und Freund, zur Warnung an alle, die sich hier nicht auskennen.
Wir setzten uns hin und schauten aufs Meer hinaus. Vor ein paar Jahrhunderten war hier für die Menschen die Welt zu Ende gewesen, weil sie nichts ahnten von Amerika und Indien und so. Ich dachte darüber nach, wie beschwerlich die Reisen damals gewesen sein mussten, wie einfach sie dagegen jetzt waren. Dann dachte ich an meinen Vater, der so gut wie nichts von der Welt gesehen hat. Und mir fiel auf, dass es bei mir ja bisher nicht viel anders aussah. Ich war sechsundzwanzigeinhalb Jahre alt und hatte den Kontinent noch nie verlassen. Ich war noch nicht mal in Paris, London oder Rom gewesen.
Die Liste der Orte, die ich nicht gesehen hatte, war endlos. Und es war keine sehr exotische Liste.
Warum eigentlich?
Weil ich mein ganzes Erwachsenenleben lang notorisch pleite war?
Vielleicht, aber das Argument zog jetzt nicht mehr. Ich kam mir plötzlich so klein vor, und das war genau der Moment, in dem mir klarwurde, dass ich das Geld meines Vaters benutzen musste, um zu reisen.
»Holger, das mit dem Alten Vatter ...«
»Du meinst die Bredouille?«
»Wie auch immer. Jedenfalls, das wird nichts.«
»Ich weiß.«
Als ich abends in unserem Häuschen in Albufeira ins Bett fiel - ich hatte das Kinderzimmer und konnte meine Beine nie ganz ausstrecken -, fühlte es sich an, als hätte ich gerade Tag eins meines neuen Lebens hinter mich gebracht.
Ich weiß noch, wie ich erschrak, weil mir so ein Gedanke eigentlich viel zu kitschig war.
Aber so fühlte es sich nun mal an.
Und nun trage ich mein Geld in genau den Laden, der meiner hätte sein können. Ich sitze zwischen mit Zeitungen, Laptops und Babys bewaffneten Menschen an einem Tisch in der Sonne und kaue apathisch auf meinem Croissant herum, und Weihnachten an der Algarve kommt mir irre weit weg vor. Obwohl es gerade mal ein halbes Jahr her ist.
Nachdem ich bei dem hübschen Mädchen mit den kurzen dunklen Haaren bezahlt habe, mache ich mich auf zum Kanal, mit einem kurzen Schlenker zum Späti an der Ecke.
»Morgen, Frau Schenk. Einmal Benson & Hedges Lights, bitte.«
»Es ist nicht Morgen, sondern Mittag, Herr Meise. Und das heißt auch nicht Lights, das heißt Silver!«, sagt Frau Schenk. Frau Schenk ist die Besitzerin dieses Spätkaufs, der den guten Namen »Spätkauf« trägt. Seit ich vor drei Jahren in dieses Viertel gezogen bin, habe ich es noch nicht erlebt, dass sie nicht selbst hinter der Kasse saß.
»Ach ja, Silver!«, sage ich, gucke an die Decke und schlage mir leicht die flache Hand vor die Stirn. Meine »Was bin ich nur für ein Dummerchen«-Geste. Frau Schenk lacht, und ich lache auch. Es ist so ein Ritual zwischen uns. Manchmal ärgere ich sie und verlange von vornherein eine Schachtel Benson & Hedges Silver, dann gibt sie mir jedes Mal einen beleidigten »Spielverderber!«-Blick, bevor sie umso lauter loslacht.
Als Verena und ich vor einer Woche vom Flughafen kamen, ging ich gleich rüber zu Frau Schenk. Ihre Augen leuchteten, als sie mich sah. »Ach, sieh einer an!«, rief sie freudig erregt. »Ich dachte schon, ich könnte die Silvers ganz aus dem Sortiment nehmen!«
Ich glaube, sie hatte mich in den letzten Wochen und Monaten wirklich vermisst. Kein Wunder, vergeht doch kaum ein Tag, an dem ich nicht mindestens eine Schachtel Kippen bei ihr kaufe.
»Bis später«, sagt Frau Schenk.
»Bis später«, sage ich, öffne die Schachtel und zünde mir eine an. Ich rauche nicht nur sehr viel, sondern vor allem sehr gerne. Es ist mehr als eine Sucht. Zum Beispiel diese Zigarette jetzt gerade, die erste nach dem Frühstück, wie gut die schmeckt! Der erste Zug, dieses bewusste, tiefe Inhalieren des Rauchs, das kurze Innehalten und Wiederausatmen. Wie schön betäubt dann alles für einen kurzen Moment ist. Herrlich.
»Du bist ein Gelegenheitsraucher - du rauchst bei jeder Gelegenheit«, sagt Silvia immer. Meine Schwester war noch nie die lustigste Person auf dem Planeten. Ich mag sie trotzdem. Weil sie so schlau ist. Oder eher: klug. Ich weiß gar nicht, ob es da einen Unterschied gibt, aber klug, das passt irgendwie noch besser. Wenn man in einem Lexikon nach dem Begriff »klug« sucht, ist da bestimmt ein Foto von meiner Schwester.
Manchmal schießt sie aber auch übers Ziel hinaus. Seit ein paar Jahren versucht sie mir ständig eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung unterzujubeln. ADS. Ihrer Meinung nach leide ich an Dopaminmangel oder so was. Ihre Theorie ist, dass dieser Botenstoff in meinem Körper zu schnell abgebaut wird, womit sie mein angebliches Suchtverhalten und mein Verlangen nach neuen Kicks durch Nikotin, Kaffee, Alkohol, Drogen und Sex erklären will. Schon mehrmals wollte sie mich zum Neurologen schleppen. Sie als Akademikerin will die Dinge immer benennen, alles muss erklärbar sein, nichts passiert einfach so, und wenn ich sie nicht stoppe, schmeißt sie so lange mit Begriffen wie »Neurotransmitter «, »Impulsivität« und »Dysfunktion« um sich, bis mir ganz schwindelig wird und ich mich tatsächlich völlig labil und hilfsbedürftig fühle. Irgendwann hat sie sogar mal meinen angeblich so hohen »Frauenverschleiß« damit begründet.
So klug meine Schwester auch ist, aber das hört sich für mich eher nach einer dieser hilflosen Erklärungen für alles und nichts an. Modekrankheiten, Verlegenheitsdiagnosen, Zeitgeistquatsch.
Da fällt mir ein, ich habe mich noch gar nicht bei ihr gemeldet, seit ich zurück bin. Na ja, mache ich später mal. Jetzt erst mal ans Wasser, ein bisschen abhängen.
Diese Parkbank ist so was wie mein Stammplatz geworden. In den letzten sieben Tagen habe ich jeden Tag mehrere Stunden im Schatten der großen Buche am Paul-Lincke- Ufer verbracht. Morgens, mittags, abends, nachts. Der Boden ist gesäumt von Kronkorken, ausgespuckten Kaugummis und Zigarettenkippen. Die meisten sind wahrscheinlich von mir.
Ich habe hier mehrere Sonnenuntergänge erlebt. Auch einen Sonnenaufgang. Vor ein paar Tagen gab es abends ein plötzliches Wärmegewitter. Ich blieb einfach sitzen und ließ die dicken Tropfen mein Gesicht hinunterlaufen. Ich habe einen Ehestreit beobachtet, eine Schlägerei zwischen drei arabischen Kids mit dunklem Flaum auf den Oberlippen und einen Unfall mit zwei Fahrrädern und einem Hund.
»Können Sie mal Ihren Scheißköter von mir entfernen!«
»Ich entfern gleich deine Scheißzähne, Alter.«
Ein Mann schrie eine Frau an, die ein Kind anschrie. Das Kind weinte, woraufhin ein anderes Kind in seinem Kinderwagen vor Schreck aufhörte zu weinen. Einmal bin ich in der Abenddämmerung auf der Bank eingeschlafen, und als ich im Dunkeln wieder wach wurde, saß zwei Meter neben mir ein Fuchs und starrte mich an. Vorgestern, oder vorvorgestern, sank ein schlafender Mann auf der Bank neben mir zu Boden und schiffte sich komplett ein. Dem Geruch nach hatte er drei Wochen lang nichts anderes als Benzin getrunken.
Manchmal duftet es vom Kanal her ein bisschen nach Kloake, und aus den Büschen weht ein Hauch von Müllhalde herüber. Man gewöhnt sich dran.
Heute ist es ziemlich windstill, da riecht man gar nichts. Ein traumhaftes Wetter. Trocken, freundlich und heiß. Normalerweise stehe ich ja nicht besonders auf Hitze, aber nach den letzten zwei Wochen in New York kommt mir hier alles absolut erträglich vor. Besonders Manhattan war tagsüber kaum zu ertragen.
Ich lockere die Schnürsenkel meiner Turnschuhe, stelle die Füße auf die kleine Mauer vor mir, zünde mir eine Zigarette an und betrachte, was mein Blickfeld kreuzt.
Jogger und Radfahrer. Raver, Hippies, Punks. Schüler und Studenten, Eltern und Kinder, Arbeitslose und Künstler, Rentner und Jugendliche. Paare und Schwangere. Schwule und Lesben. Boulespieler und Gitarristen. Kiffer und Pillenfresser. Säufer der verschiedensten Schattierungen, manche alt und melancholisch, andere jung und albern. Pfandgeier und Landeier. Wochenend-Berlin-Besucher, die in Stadtpläne oder Reiseführer vertieft den Joggern im Weg rumstehen. Betrunkene, die vor Fahrräder torkeln. Halbnackte und komplett Verschleierte. Frauen in Kopftüchern und Frauen unter Burkas, ganz in Schwarz in der prallen Sonne. Streitende, Küssende, Feiernde, Fluchende und Verwirrte, die wild gestikulierend mit sich selbst reden. Ein junges Mädchen weint in ihr Telefon, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es gibt Hunde, Ratten, Mäuse, Katzen, Schwäne, Enten, Spinnen, Vögel. Und Schiffe. Ausflugsdampfer voller Menschen mit Sonnenbrillen und Schlapphüten. Und eine Ansagerin, die ihnen vom Wasser aus die Stadt erklärt. Die Bootsgäste gaffen die Menschen am Ufer an wie Affen im Zoo. Die Menschen am Ufer gaffen genauso zurück. Da ist die Kreuzberg, die Schöneberg, die Charlottenburg, die Prenzlauer Berg, die Rixdorf. Die Brasil und die Sanssouci, die Spree Athen, die Spree Comtess, die Spree- Prinzessin, die Spree-Perle, da sind Schlauchboote, Tretboote, Motorboote - beladen mit jungen Leuten, die den Sommer in der Stadt genießen.
Das sollte ich vielleicht auch mal machen.
Aber irgendwie werde ich einfach nicht richtig wach. Es erscheint mir viel zu anstrengend, mich zu amüsieren.
Plötzlich eine vertraute Stimme.
»Meise, alte Hütte!«
Es ist Heiko. Heiko ist einer der Stammgäste im Radetzky. Wenn er nicht da ist, nennen wir ihn Psycho-Heiko. Manchmal auch, wenn er da ist. Er hatte wohl mal eine Psychose. Ich habe aber nie mitbekommen, wie sich das äußert. Ich kenne ihn nur als stillen und ausdauernden Zecher mit gut
Copyright © 2010 by Nagel Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nagel
Nagel, geboren 1976 in Nordrhein-Westfalen, war Sänger, Texter und Gitarrist der Punkband Muff Potter, die sich nach 16 Jahren im Dezember 2009 auflöste. Sein Debütroman erschien 2007.
Autoren-Interview mit Nagel
Interview mit Nagel zu seinem Roman „Was kostet die Welt“ Ihr zweiter Roman erscheint jetzt und man könnte erwarten, dass es sich darin, wie im ersten, wieder um Musik dreht. Warum haben Sie sich dagegen entschieden?
Nagel: Für mich ging es in „Wo die wilden Maden graben“ gar nicht in erster Linie um Musik, trotzdem war das Thema mit dem Buch dann weitestgehend abgearbeitet. Natürlich taucht auch in „Was kostet die Welt“ wieder Musik auf – allerdings diesmal eher neagtiv konnotiert, als nervende Belästigung in Form von Handyklingeltönen, SWR1-Beschallung, unerwünschten Ohrwürmern, Top 40 Band-Gemucke und Wirtshaus- oder Weinfestgegröle. Mein Held Meise ist als Wirt und Müßiggänger durchaus vertraut mit der Popkultur. Er kennt trotz Geburtssjahr 1982 und Ostberliner Herkunft den Text von „Bohémien Rhapsody“ auswendig und leidet schließlich Höllenqualen, weil er unbedingt „Bizarre Love Triangle“ von New Order hören will – eins der wenigen Lieder, die im Roman positive Erwähnung finden.
Als Songwriter von Muff Potter wurden Sie immer sehr für Ihre Texte geschätzt. Gibt es Themen, die geblieben sind und jetzt in Ihre Romane einfließen?
Nagel: Ich habe für Muff Potter an die hundert Texte geschrieben, da wiederholen sich Themen, überschneiden sich, und das taugt, wenn man will, auch zur Selbstreflexion – „Warum komme ich immer wieder auf dieses eine Thema zurück, wieso fasziniert mich dieser Gedanke?“ Fragen von Herkunft und Heimat etwa, Rastlosigkeit und Heimweh, unterschiedliche Bedürfnisse, die sich scheinbar widersprechen. Einiges davon taucht auch in "Was kostet die Welt" auf. Noch wichtiger als das Inhaltliche war mir aber immer der Stil. Also nicht nur, was man zu sagen
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hat, sondern vor allem, wie man es tut. Die Sprache, der Humor, der Rhythmus, das Pathos. Da merke ich beim Schreiben schon, dass es mir hilft, lange Jahre Songtexte geschrieben zu haben.
Ihr Roman zeichnet sich durch viele sehr intensive Schilderungen aus – man könnte denken, Sie hätten die Geschichte selbst durchlebt.
Nagel: Ich wäre vermutlich ein sehr schlechter Autor, wenn ich nicht in der Lage wäre, dieses Gefühl zu erzeugen. Zu erklären, an welcher Stelle wie viel Prozent Selbsterlebtes drinsteckt möchte ich aber vermeiden, das wäre wie einen Witz zu erklären. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass es sich bei "Was kostet die Welt" um Fiktion handelt, und insbesondere um fiktive Charaktere. Ich bin nicht Meise, und Meises Familie ist nicht meine Familie.
Der Name Ihres Protagonisten, Meise, eine Abkürzung des Nachnamens, erinnert natürlich an Nagel.
Nagel: Ich habe lange überlegt, sowohl dem Helden als auch mir selbst mit diesem Buch einen seriösen Vor- und Nachnamen zu geben. Um den Eindruck von Berufsjugendlichkeit zu vermeiden. Ich habe die Idee aber letztendlich wieder verworfen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Es gibt ja auch noch Madonna, Prince oder Pelé, in diese Armee nachnamenloser Künstler reihe ich mich gerne ein. Und Tobias Meissner alias Meise stellt sich sowieso am liebsten mit falschem Namen vor.
Ein zentrales Thema des Romans ist das Reisen. Was bedeutet es für Sie?
Nagel: Eine Parallele zwischen mir und Meise: wir haben beide sehr spät angefangen, zu reisen. Ich wollte immer soviel Musik machen und schreiben wie möglich, dabei nur so viel arbeiten, wie nötig. Ich habe nie eine Ausbildung oder ein Studium begonnen, mich über zehn Jahre lang mit Nebenjobs über Wasser gehalten, bis ich endlich halbwegs von der Kunst leben konnte. Das heißt: ich war einen Großteil meines Lebens arm, wenn auch als Musiker in einem recht privilegierten Sinne. Was zu so absurden Situationen geführt hat wie der, in einem Hotel zu übernachten, wo eine Nacht genauso viel kostet wie die Miete des WG-Zimmers, von der man noch nicht weiß, ob man sie nächsten Monat aufbringen kann. Irgendwann war da auf einmal etwas mehr Zeit, etwas mehr Geld, und in mir wuchs das Gefühl, außer Backstageräumen und Autobahnen recht wenig von der Welt gesehen zu haben. Also begann ich, zu reisen. Ähnlich wie Musik und Literatur ist das Reisen etwas, das mir niemand beigebracht hat, das ich mir selbst erschließen musste. Wahrscheinlich sind mir diese Dinge genau deswegen jetzt so heilig.
Meise beschäftigt sich eingehend mit dem Unterschied zwischen dem Leben in der Großstadt und dem Landleben. Warum ist der Unterschied so gewaltig - und ist er es überhaupt?
Nagel: Man tendiert ja dazu, zu glauben, dass es dank Globalisierung und Internet kaum noch Unterschiede gibt, aber das ist nicht ganz richtig. Vor allem für einen in (Ost-)Berlin geborenen Tunichtgut wie Meise – man könnte für ihn auch den euphemistischeren Ausdruck Bohemian verwenden – , hat so eine Reise in die westdeutsche Provinz ein paar Kulturschocks zu bieten. Zigarettenautomaten mit Reval und Roth-Händle statt Gauloises, kein Frühstück mehr um elf Uhr vormittags oder die Erkenntnis, dass der Begriff "Stammtisch" nicht nur eine Metapher ist. Mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, hört da aber noch längst nicht auf. Meise wird bei seinen Gastgebern, der traditionsreichen Winzerfamilie Arend, mit einigen für ihn sehr irritierenden Dingen konfrontiert: eine funktionierende Familie! Menschen, die sich mit ihrem Beruf identifizieren! Liebe zu Heimat und Natur! Das alles ruft Erinnerungen in ihm wach, die er sich kaum zu denken, geschweige denn auszusprechen traut.
Sie kommen aus dem Münsterland, leben jetzt in Berlin. Was verbindet Sie mit der Mosel?
Nagel: Ich hatte die Idee für einen neuen Roman schon lange im Kopf, habe sogar schon angefangen zu schreiben, aber nie den richtigen Aufhänger dafür gefunden, das Setting. Irgendwann kam ich per Zufall ins Moseltal, auf ein Weingut, und da hat es KLICK gemacht. Ich wusste von einem Moment auf den anderen: hier wird meine Geschichte spielen, hieran kann ich mich reiben.
Muff Potter hat sich aufgelöst, Sie schreiben jetzt Romane – haben Sie die Musik jetzt komplett aufgegeben?
Nagel: Wenn ich mit einer etwas abgenutzten, aber dennoch sehr wahren Phrase antworten darf: music was my first love, and it will be my last.
Ihr Roman zeichnet sich durch viele sehr intensive Schilderungen aus – man könnte denken, Sie hätten die Geschichte selbst durchlebt.
Nagel: Ich wäre vermutlich ein sehr schlechter Autor, wenn ich nicht in der Lage wäre, dieses Gefühl zu erzeugen. Zu erklären, an welcher Stelle wie viel Prozent Selbsterlebtes drinsteckt möchte ich aber vermeiden, das wäre wie einen Witz zu erklären. Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass es sich bei "Was kostet die Welt" um Fiktion handelt, und insbesondere um fiktive Charaktere. Ich bin nicht Meise, und Meises Familie ist nicht meine Familie.
Der Name Ihres Protagonisten, Meise, eine Abkürzung des Nachnamens, erinnert natürlich an Nagel.
Nagel: Ich habe lange überlegt, sowohl dem Helden als auch mir selbst mit diesem Buch einen seriösen Vor- und Nachnamen zu geben. Um den Eindruck von Berufsjugendlichkeit zu vermeiden. Ich habe die Idee aber letztendlich wieder verworfen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Es gibt ja auch noch Madonna, Prince oder Pelé, in diese Armee nachnamenloser Künstler reihe ich mich gerne ein. Und Tobias Meissner alias Meise stellt sich sowieso am liebsten mit falschem Namen vor.
Ein zentrales Thema des Romans ist das Reisen. Was bedeutet es für Sie?
Nagel: Eine Parallele zwischen mir und Meise: wir haben beide sehr spät angefangen, zu reisen. Ich wollte immer soviel Musik machen und schreiben wie möglich, dabei nur so viel arbeiten, wie nötig. Ich habe nie eine Ausbildung oder ein Studium begonnen, mich über zehn Jahre lang mit Nebenjobs über Wasser gehalten, bis ich endlich halbwegs von der Kunst leben konnte. Das heißt: ich war einen Großteil meines Lebens arm, wenn auch als Musiker in einem recht privilegierten Sinne. Was zu so absurden Situationen geführt hat wie der, in einem Hotel zu übernachten, wo eine Nacht genauso viel kostet wie die Miete des WG-Zimmers, von der man noch nicht weiß, ob man sie nächsten Monat aufbringen kann. Irgendwann war da auf einmal etwas mehr Zeit, etwas mehr Geld, und in mir wuchs das Gefühl, außer Backstageräumen und Autobahnen recht wenig von der Welt gesehen zu haben. Also begann ich, zu reisen. Ähnlich wie Musik und Literatur ist das Reisen etwas, das mir niemand beigebracht hat, das ich mir selbst erschließen musste. Wahrscheinlich sind mir diese Dinge genau deswegen jetzt so heilig.
Meise beschäftigt sich eingehend mit dem Unterschied zwischen dem Leben in der Großstadt und dem Landleben. Warum ist der Unterschied so gewaltig - und ist er es überhaupt?
Nagel: Man tendiert ja dazu, zu glauben, dass es dank Globalisierung und Internet kaum noch Unterschiede gibt, aber das ist nicht ganz richtig. Vor allem für einen in (Ost-)Berlin geborenen Tunichtgut wie Meise – man könnte für ihn auch den euphemistischeren Ausdruck Bohemian verwenden – , hat so eine Reise in die westdeutsche Provinz ein paar Kulturschocks zu bieten. Zigarettenautomaten mit Reval und Roth-Händle statt Gauloises, kein Frühstück mehr um elf Uhr vormittags oder die Erkenntnis, dass der Begriff "Stammtisch" nicht nur eine Metapher ist. Mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, hört da aber noch längst nicht auf. Meise wird bei seinen Gastgebern, der traditionsreichen Winzerfamilie Arend, mit einigen für ihn sehr irritierenden Dingen konfrontiert: eine funktionierende Familie! Menschen, die sich mit ihrem Beruf identifizieren! Liebe zu Heimat und Natur! Das alles ruft Erinnerungen in ihm wach, die er sich kaum zu denken, geschweige denn auszusprechen traut.
Sie kommen aus dem Münsterland, leben jetzt in Berlin. Was verbindet Sie mit der Mosel?
Nagel: Ich hatte die Idee für einen neuen Roman schon lange im Kopf, habe sogar schon angefangen zu schreiben, aber nie den richtigen Aufhänger dafür gefunden, das Setting. Irgendwann kam ich per Zufall ins Moseltal, auf ein Weingut, und da hat es KLICK gemacht. Ich wusste von einem Moment auf den anderen: hier wird meine Geschichte spielen, hieran kann ich mich reiben.
Muff Potter hat sich aufgelöst, Sie schreiben jetzt Romane – haben Sie die Musik jetzt komplett aufgegeben?
Nagel: Wenn ich mit einer etwas abgenutzten, aber dennoch sehr wahren Phrase antworten darf: music was my first love, and it will be my last.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Nagel
- 2010, 2, 320 Seiten, Maße: 13,3 x 20,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453266870
- ISBN-13: 9783453266872
Rezension zu „Was kostet die Welt “
»Vergiss New York, vergiss Damaskus, vergiss Billigflüge und die Erlösung, Punk- und Popliteratur sowieso - hier kommt die Mosel. Kann mich nicht erinnern, wann in deutscher Sprache das Ist zuletzt schärfer seziert wurde. Die Sprachbilder sind genauso lässig wie entlarvend, die Handlung ist genauso einnehmend wie fatal. Nagel macht dich fertig, und gerade das liest sich wunderschön.«
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