Weihnachten mit Mama
Alle Jahre wieder: Terror unterm Tannenbaum Weihnachten steht vor der Tür. Doch diesmal ist für Johannes Siebenschön alles anders. Seine Mutter hat beschlossen, dass sie zum Fest der Liebe alle ihre Lieben um sich haben will. Doch wenige Tage...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weihnachten mit Mama “
Alle Jahre wieder: Terror unterm Tannenbaum Weihnachten steht vor der Tür. Doch diesmal ist für Johannes Siebenschön alles anders. Seine Mutter hat beschlossen, dass sie zum Fest der Liebe alle ihre Lieben um sich haben will. Doch wenige Tage vor Heiligabend erreicht Johannes ein panischer Anruf seines Vaters: "Hilfe, deine Mutter dreht durch, du musst sofort kommen!" Der pflichtbewusste Sohn macht sich umgehend auf den Weg nach München und stolpert mitten hinein in die Krisen und Katastrophen von Mama Siebenschöns Festvorbereitungen ... Die lustigste und ungewöhnlichste Liebeserklärung an Mama.
Klappentext zu „Weihnachten mit Mama “
Alle Jahre wieder: Terror unterm TannenbaumWeihnachten steht vor der Tür. Doch diesmal ist für Johannes Siebenschön alles anders. Seine Mutter hat beschlossen, dass sie zum Fest der Liebe alle ihre Lieben um sich haben will. Doch wenige Tage vor Heiligabend erreicht Johannes ein panischer Anruf seines Vaters: "Hilfe, deine Mutter dreht durch, du musst sofort kommen!" Der pflichtbewusste Sohn macht sich umgehend auf den Weg nach München und stolpert mitten hinein in die Krisen und Katastrophen von Mama Siebenschöns Festvorbereitungen ...Die lustigste und ungewöhnlichste Liebeserklärung an Mama.
Lese-Probe zu „Weihnachten mit Mama “
Weihnachten mit Mama von Alex Thanner ... mehr
Prolog
Wie peinlich! Wie überaus peinlich!«
Mama schlug ein Tremolo an, das in Lichtgeschwindigkeit die Selbstsicherheit eines jeden unterminiert und in ein personifiziertes schlechtes Gewissen verwandelt. Sie brauchte nicht die Hände zu ringen oder zu sonst einer Geste der Verzweiflung zu greifen. Es reichte das Tremolo. Und wie sie das Wort peinlich aussprach - so aus tiefster Seelennot.
»Du willst doch nicht etwa in diesem Aufzug aus dem Haus?«, setzte sie nach.
Ich war froh, dass diese rhetorische Frage nicht an mich, sondern an meinen Bruder Robert gerichtet war.
Der sogleich den Kopf einzog und einen schuldbewussten Blick aufsetzte à la: Ich war's nicht, den er seit frühen Kindertagen draufhatte und mit dem er sich Pardon er hoffte. Aber er machte den Fehler, ihn mit etwas Aufsässigkeit zu mischen. Was Mama unweigerlich dazu brachte, noch ein wenig nachzulegen.
»Das kannst du unmöglich ernst meinen ... so zur Christmette zu gehen.«
»Aber, Mama, ich zieh ja einen Mantel drüber. Was ich da drunter trage, sieht doch keiner.«
»Ich sehe es, Robert, ich sehe es. Und du siehst es. Es wird ja nicht zu viel verlangt sein, wenn du einmal im Jahr festtäglich gewandet zur Kirche gehst und nicht in diesem ... in diesem Outfit.«
So war es, als Robert sechzehn war und ich achtzehn und damit längst aus der pubertären Schusslinie. So war es auch, als Robert zweiundzwanzig war und Mama ihm regelmäßig die Krawatte gerade zog. So war es noch, als Robert mit achtundzwanzig - endlich, wie Mama fand - heiratete und sie ihm den Smoking aussuchte und das Hemd und die Fliege und ihm das Sträußchen am Revers befestigte. Niemals, zu keiner Zeit, war es Robert gelungen, in Mamas Augen irgendwie adäquat angezogen zu sein. Während sie bei mir nie ein Fusselchen auszusetzen fand.
So hatte ich bei Mama immer die Nase vorn. Erstgeborener halt. Der Vorsprung bleibt dir immer. Der Kleine hechelt hinter dir her, wenn du schon in Mamas Armen angekommen bist. Er hat nie eine wirkliche Chance. Er kämpft verbissen um Anerkennung und Liebe, und man kann nicht sagen, dass Mama jemals irgendwie erkennen ließ, für mich mehr Sympathie und Wohlwollen zu empfinden als für Robert. Es war nicht offensichtlich, nicht ein einziges Mal. Doch ich spürte, ich wusste es. Und Robert spürte und wusste es auch.
Nicht nur an jenem Weihnachtsabend vor einem Vierteljahrhundert. Es war noch so, als die ganze Familie zusammenkam, an jenem überaus denkwürdigen Tag, als Weihnachten und Mamas fünfundsechzigster Geburtstag auf einen Tag fielen. Diese Geschichte muss ich Ihnen erzählen. Warum? Nun, weil das Christkind an diesem Heiligabend eine ganz besondere Überraschung mitbrachte. Und die Siebenschöns zu wahrer Größe fanden und endlich eine Familie wurden. Mehr kann ich an dieser Stelle beim besten Willen nicht verraten ...
Doch sollten Sie nun in freudiger Erregung einen harmlos-lustigen Familienroman erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Bei den Siebenschöns ist alles auf den hohen Ton gestimmt, immer Oper oder zumindest Operette, ein Drama in mehreren Akten. Auf unserer Bühne gibt es virtuoses Spiel aller Beteiligten inklusive ein paar komischer Slapstick-Einlagen. Und irgendwann geht es bei uns auch immer um alles oder nichts. Wenn Ihnen das, was ich Ihnen in absoluter Ehrlichkeit erzähle, ziemlich unwahrscheinlich, an den Haaren herbeigezogen oder sonstwie unglaubwürdig vorkommt, sollten Sie etwas über Familie lernen, liebe Leserinnen und Leser - so es Letztere überhaupt gibt. Wenn Sie Herr oder Frau Rührmichnichtan sein wollen, kaufen Sie sich eine Fahrkarte auf die einsame Insel. Hier, in Family's Land, lebt jeder sozusagen in der Westentasche des anderen. Einsamkeit ist wie ein dunkles Zimmer, das einem ganz allein gehört. Familie ist ein Leben, in dem einem nichts allein gehört. Garnichts. Das ist furchtbar, ich weiß. Und es ist wunderbar. So wunderbar wie Weihnachten, wenn der Schnee fällt, wenn der Eierlikör kreist und der Punsch die Wangen erhitzt. Wenn Bescherung ist - ein Wort, das wir unbedingt wörtlich nehmen müssen.
Und wenn Sie am Ende meinen, wir Siebenschöns seien Ihnen irgendetwas schuldig geblieben, bekommen Sie Ihr Geld zurück und können sich davon einen anderen Weihnachtsroman kaufen. Aber dafür übernehme ich dann keinerlei Haftung.
1
Meine Güte, ist denn das zu viel verlangt?
Es schneite. Vom Himmel, der so dramatisch aussah, als würden dort oben hinter verschlossenen Toren Engelschöre proben, fielen seit Stunden dicke Flocken, die im Licht der Straßenlaternen tanzten und dann zu Boden sanken, als ließen sie sich in einen lang ersehnten Schlaf fallen. Der so kurz vor Weihnachten herein brechende Winter war derart ungewohnt, dass jeder die
Befürchtung hatte, die weiße Pracht würde niemals bis zum Fest halten, sondern sicherlich wie so oft in regen nasser Düsternis und meteorologischem Trübsinn versinken. Pünktlich zum Heiligabend würde sie wohl wieder warmem Nieselregen Platz gemacht haben.
Doch der Schneefall dauerte an. Er überzog die Stadt mit Zuckerguss, die Autos bekamen dicke Mützen, und von den Gehwegen war das Scharren emsig betätigter Schneeschaufeln zu hören - ein Geräusch, das jeden, der es von drinnen, aus der Sicherheit und Geborgenheit seines gemütlichen Heims, vernimmt, sogleich in frohe Erwartung versetzt: auf Winterfreuden vielfältiger Art. Die Erinnerung an Schlittenfahrten und ausgedehnte Wanderungen durch von Schnee glitzernde Parks und Wälder, sozusagen durch ein wirkliches Narnia, gibt dem Herzen einen wehmütigen Stich. Ach ja, damals - weiße Weihnachten! Wie lange hat es das nicht gegeben?
Ich für meine Person hatte das Jahr abgeschlossen. Die Verlagsgeschäfte waren schon in die Weihnachtspause geschickt worden, die vergangenen Tage damit vergangen, Geschenke zu besorgen und Vorbereitungen zu treffen. Vorbereitungen besonderer Art, möchte ich sagen, denn diesmal würde Weihnachten etwas ganz Spezielles sein: Es fiel zusammen mit dem fünfundsechzigsten Geburtstag meiner Mutter, die tatsächlich ein am 24. Dezember geborenes Christkind ist - »wie Sisi ... Kaiserin Elisabeth ... du weißt schon«, was Mama nie müde wurde zu betonen.
Wen auch immer nun der Gedanke durchzuckt: Wie praktisch! Zwei Feste an einem Tag! Das ist nur die halbe Mühe!, der muss leider enttäuscht werden. Man muss wissen, dass meine Eltern in München residieren - nein, das ist nicht übertrieben, man kann es durchaus so nennen! - und ich mit meiner Frau Julie in Münster wohne; die beiden Orte haben, wie jeder weiß, nur die erste Silbe gemein, sind aber ansonsten nervenaufreibende sechshundertsechzig Kilometer voneinander entfernt. Also muss sich der gratulierende Teil der Familie auf den Weg machen, sprich: sich ins vorweihnachtliche Verkehrschaos stürzen, während der Gratulationen empfangende Teil die sich anbahnenden frohen Ereignisse in den eigenen vier Wänden erwarten darf. Und es ist keineswegs nur ein gratulierender Teil, sondern es sind deren mehrere, und alle kommen sie wie die Hirten - von nah - und die Könige - von fern - zum Heim des Christ-und Geburtstagskinds, das sie nicht im Stall antreffen werden, sondern im Ohrensessel.
Wir teilten also in diesem Jahr das Schicksal der Heiligen Familie: »Auf die Flucht«, wie meine Frau Julie es nannte. Da wir nach dem Weihnachtsbesuch bei Eltern und Großeltern nicht nach Münster zurückkehren, sondern in den Winterurlaub, in eine Kuschelhütte in der Nähe von Kitzbühel weiterfahren wollten, hatten wir zum ersten Mal seit Jahren keine Blaufichte oder Edeltanne zum Preis eines durchschnittlichen Kurzurlaubs besorgt. Es war uns sogar erspart geblieben, sozusagen in letzter Minute - wie wir es sonst immer taten - über die schon ziemlich gerupften Weihnachtsbaummärkte herzufallen und an die dort traurig herumstehenden übrig gebliebenen Erzeugnisse der heimischen Forstindustrie strenge ästhetische Maßstäbe anzulegen, was schlanken Wuchs, den Augen wohlgefällige Buschigkeit und gerade Spitze betraf. Also aus dem bereits spärlichen, ja mickrigen Angebot ein in jeder Hinsicht überzeugendes und dem weihnachtlich geschmückten Heim der Familie Siebenschön adäquates Exemplar herauszusuchen. Was üblicherweise nicht vor dem 23. Dezember geschah, aber es hatte auch schon Jahre gegeben, wo ein sichtlich enervierter Herr Johannes Siebenschön und seine unverdrossen optimistische Gemahlin Julie die Münsteraner Weihnachtsbaumverkäufer am Vormittag des Heiligabends in den Wahnsinn getrieben hatten. Da entspannen sich dann Dialoge wie dieser:
Er: Schau mal, der ist doch schön.
Sie: Der ist nicht ganz gerade. Und zu klein für den großen Salon.
Er: Aber er hat eine tolle Spitze.
Sie: Er ist ziemlich gedrungen, n'est ce pas?
Er: Du meinst, er ist fett? Dann passt er ja zu mir ...
Sie: Quatsch ... Und riesige Löcher hat er auch ... schau doch nur.
Er: Da wird doch sowieso was dazwischen gehängt.
Sie: Die kannst du nicht alle zuhängen. Außerdem piksen die Nadeln.
Er: Kannst ihn ja mit Handschuhen dekorieren.
Sie: Und wenn ich die Kerzen anzünde, muss ich dann auch immer Handschuhe anziehen? Das ist doch absurd!
Er: So schlecht ist er gar nicht. Er ist irgendwie ... ehrlich ...
Sie: Ehrlich?
Er: Ja, er hat Charakter.
Sie: Du meinst so was wie »innere Werte«?
Er: Irgendwie, ja. Er steht mit seinem Stamm mitten im Leben. Er hat allen Stürmen getrotzt.
Sie rollt mit den Augen.
Verkäufer: Nehmen Sie den nun oder nicht?
Sie schüttelt den Kopf.
Er: Madame möchte einen Baum ohne Charakter. Einen,
der wie George Clooney aussieht. Sie: Das ist nicht fair. Ich möchte nur einen perfekten
Baum. Er: Ich finde, wir sollten einen Baum aussuchen, der zu
uns passt. Sie: Wie diesen kleinen Dicken mit der tollen Spitze?
Dieses Jahr nun war auf »den Baum« verzichtet worden, denn am Tag vor Heiligabend sollte nur der BMW mit Geschenken beladen werden, es ging auf die Autobahn, wo wir uns sicher nicht allein auf diesem Planeten fühlen würden. Auf die Frage, was sie sich zum Geburtstag wünsche, hatte Mama nicht wie sonst erwartungsgemäß gesagt: »liebe Kinder«, sondern einen sehr schlichten, jedoch geradezu perfiden Wunsch geäußert: »Dass ihr alle kommt.« Alle Lieben um sich zu versammeln, ist ein typischer Mama-Wunsch. Nun wünschte sie sich nichts anderes, als einmal alle ihre Kinder und Geschwister um sich zu haben, um sie nach Herzenslust verwöhnen und terrorisieren zu können.
Die Betonung lag auf alle, und damit kündigt sich in dem so unschuldig klingenden Wunsch bereits ein mittelgroßes Katastrophenszenario an. Denn alle hieß nun mal nichts anderes als alle, also, ich meine: wirklich alle. Verstehen Sie? ALLE in Großbuchstaben.
Das waren nicht nur die »Münsteraner«, also der älteste Sohn mit seiner netten französischen Frau, très charmante, das waren auch die »Traunsteiner«, also mein zwei Jahre jüngerer Bruder Robert mit seiner Frau Christina und seinen liebreizenden Kindern, den Zwillingen Jules und Jim, beide acht Jahre alt. Und meine Schwestern Laura und Dorle, Letztere mit ihrem Freund Max, denn er schien endlich einmal etwas »Festes« zu sein. Und meine Tante Charlotte, in einem früheren Leben Pianistin, heute Musiklehrerin im Ruhestand. Und Tante Karin, die jüngere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann Bernhard. Und - nicht zuletzt - Oma Annerose, Elisabeth Siebenschöns Mutter und Friedrich Siebenschöns Schwiegermutter. Die komplexeste und robusteste Persönlichkeit auf diesem Planeten.
Wir alle hatten mit den Jahren eine gewisse Routine und auch Fantasie entwickelt, wie man die Eltern in den Weihnachtsparcours mit seinen diversen Erfordernissen einbaute, innerhalb von zweiundsiebzig Stunden verschiedene Stationen ansteuerte und dort »Geschenke abwarf« - wie Dorle es immer despektierlich nannte: bei Eltern und Großeltern, Schwiegereltern und Stiefeltern, Patenonkeln und Patentanten, Freunden und Verwandten und wem auch immer die Vorstellung unerträglich war, das Fest ohne diese nach und nach eintreffenden und wieder abreisenden Besucher zu verbringen.
Die Eltern in München traf es nun stets besonders hart: Sie lagen bei niemandem so richtig »auf dem Weg«, man musste sie präzise ansteuern, auf Umwegen einbauen und sie sonst wie routenplanerisch berücksichtigen. Und so war es halt, dass die »Münsteraner« sich nur alle zwei Jahre zu zweit auf den weihnachtlichen Weg ins Bayerische begaben, ich mich aber jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag, nach »O du Fröhliche« am eigenen heimischen Herd, in den ICE setzte, um meine Aufwartung an der Stätte meiner Geburt zu machen. Julie blieb dann nicht allein in Münster, sondern besuchte ihrerseits ihre Eltern in Marne im Département Marne; ansonsten fanden wir uns alle am zweiten Weihnachtstag wieder ein, dessen Abend wiederum Julie ihrer besten Freundin Ruth vorbehalten hatte, die ja »ganz allein« war.
Robert, der nicht ganz so weit entfernt wohnt, nämlich im schönen Traunstein, traf am ersten Weihnachtstag mit seiner Sippe »zu Hause« ein, aber erst am Nachmittag, brach allerdings am frühen Abend wieder auf, um zu Tinas Eltern zu fahren, wo dann übernachtet wurde. Dorle rang jedes Jahr mit sich, Heiligabend bei den Eltern zu verbringen, wie es sich eigentlich für ein Nesthäkchen gehört. Wenn sie sich dazu aufraffte, stahl sie sich doch spätestens gegen zweiundzwanzig Uhr davon, angeblich, um zur Christmette zu gehen, in Wahrheit aber, um noch auf irgendeiner lärmenden Christmasparty ihrer Freunde »abzuhängen«. Am ersten Feiertag schlief sie aus, ließ sich zu Mittag mit Gans und Rotkraut und Semmelknödeln verwöhnen und verabschiedete sich dann mit stürmischen Küssen von Mama und Papa, um irgendwohin in die Skiferien zu fahren. Wenn Robert mit seiner Familie eintraf, war sie buchstäblich schon über alle Berge.
Und Laura? Laura war ein Spezialfall. Das Model hatte ja immer irgendwo auf der weiten Welt ein Shooting, bevorzugt in deutlich wärmeren Gefilden und mit entsprechend spärlicher Bekleidung. Es gab Jahre, da schaffte sie es pünktlich zu Mom & Dad, dann wieder schneite sie wie eine Weihnachtsfee irgendwann für ein paar Stunden herein, zwischen zwei Flügen, zwischen drei Terminen, jedes Mal mit einem anderen Lover, der sie verliebt anblickte und die Hände nicht von ihr lassen konnte. Er hieß Jean-Luc, Jonathan oder Jonas, sah wahnsinnig gut aus und war wahnsinnig nett. Doch man vergaß Lauras jeweiligen Begleiter, sobald er zur Tür hinaus war. Und das war gut so, denn niemand hatte genauen Einblick in Lauras Beziehungsplan, gegen den der Abflugplan eines metropolitanen Airports vermutlich ein vergleichsweise simples Konstrukt war. Lauras Liebesleben war ... nun ja ... kompliziert, um es nett auszudrücken. Was eine auf Konvention bedachte Frau wie Mama in regelmäßige Besorgnisanfälle stürzte.
Ich kann mich nicht erinnern, wann die Familie Weihnachten zuletzt vollständig und gleichzeitig bei Mama und Papa gewesen war. Es war vielleicht fünfzehn Jahre her, als Dorle und Laura noch in den Kinderschuhen steckten und sich über Barbies wechselnde Kleiderkollektionen freuten. Möglicherweise war es auch an jenem Weihnachtsfest, als ich der Familie Julie vorstellte, die damals noch nicht Kinderbuchautorin war, sondern die hübscheste Kommilitonin auf dem Campus. Eine französische Austauschstudentin aus Marne, die schon ein vorzügliches Deutsch mit niedlichem Akzent sprach, während meine Französischkenntnisse nicht über Je t'aime und Voulez-vous coucher avec moi hinausreichten. Was ihr aber zu genügen schien. Wir waren erst ein paar Monate zusammen, die Liebe war überwältigend, die Zukunft himmelblau, es regnete rote Rosen. Ich fand Weihnachten überaus passend für diese erste Konfrontation mit meiner Familie, sodass auch Julie sich ein Herz fasste und auf Mamas überschwängliche Begrüßung mit einem Knicks reagierte. Mit einem Knicks! Damit hatte diese süße kleine Französin das Herz meiner Mutter für immer erobert, auch wenn sie später nie wieder knickste. Papa hatte sie mit einem anerkennenden, wohlwollenden Knurren willkommen geheißen, nicht verwunderlich, er war stets empfänglich für weibliche Schönheit.
So lag über dem damaligen Weihnachtsfest ein ganz eigener Zauber. Hatte ich bereits erwähnt, dass Mama über die sich in den folgenden Jahren entwickelnde Routine des »Patchwork-Weihnachten« alles andere als glücklich war? Oft schon hatte sie gebettelt und gefleht, doch mal wieder »ein richtiges Familienfest« zu feiern. »Meine Güte, ist denn das zu viel verlangt?« Es passte einfach nicht in ihre Vorstellung von Weihnachten, dass zumindest ihre beiden Ältesten ja bereits eine eigene Familie mit einem gewissen Vorrang, was das Fest betraf, hatten. Julie jedenfalls war - wie gesagt - nur alle zwei Jahre zu bewegen, den Weihnachtsstern in München zu suchen.
Dieses Jahr gab es keinen Pardon, keine Ausrede, keine Ausflucht. Mama feierte ihren Fünfundsechzigsten, und sie würde es am Heiligabend tun. Sie hatte sich gewünscht, dass alle kämen. Also würden alle kommen.
1. Auflage Originalausgabe im Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2012 by Blanvalet Verlag Satz: DTP Service Apel, Hannover
Prolog
Wie peinlich! Wie überaus peinlich!«
Mama schlug ein Tremolo an, das in Lichtgeschwindigkeit die Selbstsicherheit eines jeden unterminiert und in ein personifiziertes schlechtes Gewissen verwandelt. Sie brauchte nicht die Hände zu ringen oder zu sonst einer Geste der Verzweiflung zu greifen. Es reichte das Tremolo. Und wie sie das Wort peinlich aussprach - so aus tiefster Seelennot.
»Du willst doch nicht etwa in diesem Aufzug aus dem Haus?«, setzte sie nach.
Ich war froh, dass diese rhetorische Frage nicht an mich, sondern an meinen Bruder Robert gerichtet war.
Der sogleich den Kopf einzog und einen schuldbewussten Blick aufsetzte à la: Ich war's nicht, den er seit frühen Kindertagen draufhatte und mit dem er sich Pardon er hoffte. Aber er machte den Fehler, ihn mit etwas Aufsässigkeit zu mischen. Was Mama unweigerlich dazu brachte, noch ein wenig nachzulegen.
»Das kannst du unmöglich ernst meinen ... so zur Christmette zu gehen.«
»Aber, Mama, ich zieh ja einen Mantel drüber. Was ich da drunter trage, sieht doch keiner.«
»Ich sehe es, Robert, ich sehe es. Und du siehst es. Es wird ja nicht zu viel verlangt sein, wenn du einmal im Jahr festtäglich gewandet zur Kirche gehst und nicht in diesem ... in diesem Outfit.«
So war es, als Robert sechzehn war und ich achtzehn und damit längst aus der pubertären Schusslinie. So war es auch, als Robert zweiundzwanzig war und Mama ihm regelmäßig die Krawatte gerade zog. So war es noch, als Robert mit achtundzwanzig - endlich, wie Mama fand - heiratete und sie ihm den Smoking aussuchte und das Hemd und die Fliege und ihm das Sträußchen am Revers befestigte. Niemals, zu keiner Zeit, war es Robert gelungen, in Mamas Augen irgendwie adäquat angezogen zu sein. Während sie bei mir nie ein Fusselchen auszusetzen fand.
So hatte ich bei Mama immer die Nase vorn. Erstgeborener halt. Der Vorsprung bleibt dir immer. Der Kleine hechelt hinter dir her, wenn du schon in Mamas Armen angekommen bist. Er hat nie eine wirkliche Chance. Er kämpft verbissen um Anerkennung und Liebe, und man kann nicht sagen, dass Mama jemals irgendwie erkennen ließ, für mich mehr Sympathie und Wohlwollen zu empfinden als für Robert. Es war nicht offensichtlich, nicht ein einziges Mal. Doch ich spürte, ich wusste es. Und Robert spürte und wusste es auch.
Nicht nur an jenem Weihnachtsabend vor einem Vierteljahrhundert. Es war noch so, als die ganze Familie zusammenkam, an jenem überaus denkwürdigen Tag, als Weihnachten und Mamas fünfundsechzigster Geburtstag auf einen Tag fielen. Diese Geschichte muss ich Ihnen erzählen. Warum? Nun, weil das Christkind an diesem Heiligabend eine ganz besondere Überraschung mitbrachte. Und die Siebenschöns zu wahrer Größe fanden und endlich eine Familie wurden. Mehr kann ich an dieser Stelle beim besten Willen nicht verraten ...
Doch sollten Sie nun in freudiger Erregung einen harmlos-lustigen Familienroman erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Bei den Siebenschöns ist alles auf den hohen Ton gestimmt, immer Oper oder zumindest Operette, ein Drama in mehreren Akten. Auf unserer Bühne gibt es virtuoses Spiel aller Beteiligten inklusive ein paar komischer Slapstick-Einlagen. Und irgendwann geht es bei uns auch immer um alles oder nichts. Wenn Ihnen das, was ich Ihnen in absoluter Ehrlichkeit erzähle, ziemlich unwahrscheinlich, an den Haaren herbeigezogen oder sonstwie unglaubwürdig vorkommt, sollten Sie etwas über Familie lernen, liebe Leserinnen und Leser - so es Letztere überhaupt gibt. Wenn Sie Herr oder Frau Rührmichnichtan sein wollen, kaufen Sie sich eine Fahrkarte auf die einsame Insel. Hier, in Family's Land, lebt jeder sozusagen in der Westentasche des anderen. Einsamkeit ist wie ein dunkles Zimmer, das einem ganz allein gehört. Familie ist ein Leben, in dem einem nichts allein gehört. Garnichts. Das ist furchtbar, ich weiß. Und es ist wunderbar. So wunderbar wie Weihnachten, wenn der Schnee fällt, wenn der Eierlikör kreist und der Punsch die Wangen erhitzt. Wenn Bescherung ist - ein Wort, das wir unbedingt wörtlich nehmen müssen.
Und wenn Sie am Ende meinen, wir Siebenschöns seien Ihnen irgendetwas schuldig geblieben, bekommen Sie Ihr Geld zurück und können sich davon einen anderen Weihnachtsroman kaufen. Aber dafür übernehme ich dann keinerlei Haftung.
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Meine Güte, ist denn das zu viel verlangt?
Es schneite. Vom Himmel, der so dramatisch aussah, als würden dort oben hinter verschlossenen Toren Engelschöre proben, fielen seit Stunden dicke Flocken, die im Licht der Straßenlaternen tanzten und dann zu Boden sanken, als ließen sie sich in einen lang ersehnten Schlaf fallen. Der so kurz vor Weihnachten herein brechende Winter war derart ungewohnt, dass jeder die
Befürchtung hatte, die weiße Pracht würde niemals bis zum Fest halten, sondern sicherlich wie so oft in regen nasser Düsternis und meteorologischem Trübsinn versinken. Pünktlich zum Heiligabend würde sie wohl wieder warmem Nieselregen Platz gemacht haben.
Doch der Schneefall dauerte an. Er überzog die Stadt mit Zuckerguss, die Autos bekamen dicke Mützen, und von den Gehwegen war das Scharren emsig betätigter Schneeschaufeln zu hören - ein Geräusch, das jeden, der es von drinnen, aus der Sicherheit und Geborgenheit seines gemütlichen Heims, vernimmt, sogleich in frohe Erwartung versetzt: auf Winterfreuden vielfältiger Art. Die Erinnerung an Schlittenfahrten und ausgedehnte Wanderungen durch von Schnee glitzernde Parks und Wälder, sozusagen durch ein wirkliches Narnia, gibt dem Herzen einen wehmütigen Stich. Ach ja, damals - weiße Weihnachten! Wie lange hat es das nicht gegeben?
Ich für meine Person hatte das Jahr abgeschlossen. Die Verlagsgeschäfte waren schon in die Weihnachtspause geschickt worden, die vergangenen Tage damit vergangen, Geschenke zu besorgen und Vorbereitungen zu treffen. Vorbereitungen besonderer Art, möchte ich sagen, denn diesmal würde Weihnachten etwas ganz Spezielles sein: Es fiel zusammen mit dem fünfundsechzigsten Geburtstag meiner Mutter, die tatsächlich ein am 24. Dezember geborenes Christkind ist - »wie Sisi ... Kaiserin Elisabeth ... du weißt schon«, was Mama nie müde wurde zu betonen.
Wen auch immer nun der Gedanke durchzuckt: Wie praktisch! Zwei Feste an einem Tag! Das ist nur die halbe Mühe!, der muss leider enttäuscht werden. Man muss wissen, dass meine Eltern in München residieren - nein, das ist nicht übertrieben, man kann es durchaus so nennen! - und ich mit meiner Frau Julie in Münster wohne; die beiden Orte haben, wie jeder weiß, nur die erste Silbe gemein, sind aber ansonsten nervenaufreibende sechshundertsechzig Kilometer voneinander entfernt. Also muss sich der gratulierende Teil der Familie auf den Weg machen, sprich: sich ins vorweihnachtliche Verkehrschaos stürzen, während der Gratulationen empfangende Teil die sich anbahnenden frohen Ereignisse in den eigenen vier Wänden erwarten darf. Und es ist keineswegs nur ein gratulierender Teil, sondern es sind deren mehrere, und alle kommen sie wie die Hirten - von nah - und die Könige - von fern - zum Heim des Christ-und Geburtstagskinds, das sie nicht im Stall antreffen werden, sondern im Ohrensessel.
Wir teilten also in diesem Jahr das Schicksal der Heiligen Familie: »Auf die Flucht«, wie meine Frau Julie es nannte. Da wir nach dem Weihnachtsbesuch bei Eltern und Großeltern nicht nach Münster zurückkehren, sondern in den Winterurlaub, in eine Kuschelhütte in der Nähe von Kitzbühel weiterfahren wollten, hatten wir zum ersten Mal seit Jahren keine Blaufichte oder Edeltanne zum Preis eines durchschnittlichen Kurzurlaubs besorgt. Es war uns sogar erspart geblieben, sozusagen in letzter Minute - wie wir es sonst immer taten - über die schon ziemlich gerupften Weihnachtsbaummärkte herzufallen und an die dort traurig herumstehenden übrig gebliebenen Erzeugnisse der heimischen Forstindustrie strenge ästhetische Maßstäbe anzulegen, was schlanken Wuchs, den Augen wohlgefällige Buschigkeit und gerade Spitze betraf. Also aus dem bereits spärlichen, ja mickrigen Angebot ein in jeder Hinsicht überzeugendes und dem weihnachtlich geschmückten Heim der Familie Siebenschön adäquates Exemplar herauszusuchen. Was üblicherweise nicht vor dem 23. Dezember geschah, aber es hatte auch schon Jahre gegeben, wo ein sichtlich enervierter Herr Johannes Siebenschön und seine unverdrossen optimistische Gemahlin Julie die Münsteraner Weihnachtsbaumverkäufer am Vormittag des Heiligabends in den Wahnsinn getrieben hatten. Da entspannen sich dann Dialoge wie dieser:
Er: Schau mal, der ist doch schön.
Sie: Der ist nicht ganz gerade. Und zu klein für den großen Salon.
Er: Aber er hat eine tolle Spitze.
Sie: Er ist ziemlich gedrungen, n'est ce pas?
Er: Du meinst, er ist fett? Dann passt er ja zu mir ...
Sie: Quatsch ... Und riesige Löcher hat er auch ... schau doch nur.
Er: Da wird doch sowieso was dazwischen gehängt.
Sie: Die kannst du nicht alle zuhängen. Außerdem piksen die Nadeln.
Er: Kannst ihn ja mit Handschuhen dekorieren.
Sie: Und wenn ich die Kerzen anzünde, muss ich dann auch immer Handschuhe anziehen? Das ist doch absurd!
Er: So schlecht ist er gar nicht. Er ist irgendwie ... ehrlich ...
Sie: Ehrlich?
Er: Ja, er hat Charakter.
Sie: Du meinst so was wie »innere Werte«?
Er: Irgendwie, ja. Er steht mit seinem Stamm mitten im Leben. Er hat allen Stürmen getrotzt.
Sie rollt mit den Augen.
Verkäufer: Nehmen Sie den nun oder nicht?
Sie schüttelt den Kopf.
Er: Madame möchte einen Baum ohne Charakter. Einen,
der wie George Clooney aussieht. Sie: Das ist nicht fair. Ich möchte nur einen perfekten
Baum. Er: Ich finde, wir sollten einen Baum aussuchen, der zu
uns passt. Sie: Wie diesen kleinen Dicken mit der tollen Spitze?
Dieses Jahr nun war auf »den Baum« verzichtet worden, denn am Tag vor Heiligabend sollte nur der BMW mit Geschenken beladen werden, es ging auf die Autobahn, wo wir uns sicher nicht allein auf diesem Planeten fühlen würden. Auf die Frage, was sie sich zum Geburtstag wünsche, hatte Mama nicht wie sonst erwartungsgemäß gesagt: »liebe Kinder«, sondern einen sehr schlichten, jedoch geradezu perfiden Wunsch geäußert: »Dass ihr alle kommt.« Alle Lieben um sich zu versammeln, ist ein typischer Mama-Wunsch. Nun wünschte sie sich nichts anderes, als einmal alle ihre Kinder und Geschwister um sich zu haben, um sie nach Herzenslust verwöhnen und terrorisieren zu können.
Die Betonung lag auf alle, und damit kündigt sich in dem so unschuldig klingenden Wunsch bereits ein mittelgroßes Katastrophenszenario an. Denn alle hieß nun mal nichts anderes als alle, also, ich meine: wirklich alle. Verstehen Sie? ALLE in Großbuchstaben.
Das waren nicht nur die »Münsteraner«, also der älteste Sohn mit seiner netten französischen Frau, très charmante, das waren auch die »Traunsteiner«, also mein zwei Jahre jüngerer Bruder Robert mit seiner Frau Christina und seinen liebreizenden Kindern, den Zwillingen Jules und Jim, beide acht Jahre alt. Und meine Schwestern Laura und Dorle, Letztere mit ihrem Freund Max, denn er schien endlich einmal etwas »Festes« zu sein. Und meine Tante Charlotte, in einem früheren Leben Pianistin, heute Musiklehrerin im Ruhestand. Und Tante Karin, die jüngere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann Bernhard. Und - nicht zuletzt - Oma Annerose, Elisabeth Siebenschöns Mutter und Friedrich Siebenschöns Schwiegermutter. Die komplexeste und robusteste Persönlichkeit auf diesem Planeten.
Wir alle hatten mit den Jahren eine gewisse Routine und auch Fantasie entwickelt, wie man die Eltern in den Weihnachtsparcours mit seinen diversen Erfordernissen einbaute, innerhalb von zweiundsiebzig Stunden verschiedene Stationen ansteuerte und dort »Geschenke abwarf« - wie Dorle es immer despektierlich nannte: bei Eltern und Großeltern, Schwiegereltern und Stiefeltern, Patenonkeln und Patentanten, Freunden und Verwandten und wem auch immer die Vorstellung unerträglich war, das Fest ohne diese nach und nach eintreffenden und wieder abreisenden Besucher zu verbringen.
Die Eltern in München traf es nun stets besonders hart: Sie lagen bei niemandem so richtig »auf dem Weg«, man musste sie präzise ansteuern, auf Umwegen einbauen und sie sonst wie routenplanerisch berücksichtigen. Und so war es halt, dass die »Münsteraner« sich nur alle zwei Jahre zu zweit auf den weihnachtlichen Weg ins Bayerische begaben, ich mich aber jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag, nach »O du Fröhliche« am eigenen heimischen Herd, in den ICE setzte, um meine Aufwartung an der Stätte meiner Geburt zu machen. Julie blieb dann nicht allein in Münster, sondern besuchte ihrerseits ihre Eltern in Marne im Département Marne; ansonsten fanden wir uns alle am zweiten Weihnachtstag wieder ein, dessen Abend wiederum Julie ihrer besten Freundin Ruth vorbehalten hatte, die ja »ganz allein« war.
Robert, der nicht ganz so weit entfernt wohnt, nämlich im schönen Traunstein, traf am ersten Weihnachtstag mit seiner Sippe »zu Hause« ein, aber erst am Nachmittag, brach allerdings am frühen Abend wieder auf, um zu Tinas Eltern zu fahren, wo dann übernachtet wurde. Dorle rang jedes Jahr mit sich, Heiligabend bei den Eltern zu verbringen, wie es sich eigentlich für ein Nesthäkchen gehört. Wenn sie sich dazu aufraffte, stahl sie sich doch spätestens gegen zweiundzwanzig Uhr davon, angeblich, um zur Christmette zu gehen, in Wahrheit aber, um noch auf irgendeiner lärmenden Christmasparty ihrer Freunde »abzuhängen«. Am ersten Feiertag schlief sie aus, ließ sich zu Mittag mit Gans und Rotkraut und Semmelknödeln verwöhnen und verabschiedete sich dann mit stürmischen Küssen von Mama und Papa, um irgendwohin in die Skiferien zu fahren. Wenn Robert mit seiner Familie eintraf, war sie buchstäblich schon über alle Berge.
Und Laura? Laura war ein Spezialfall. Das Model hatte ja immer irgendwo auf der weiten Welt ein Shooting, bevorzugt in deutlich wärmeren Gefilden und mit entsprechend spärlicher Bekleidung. Es gab Jahre, da schaffte sie es pünktlich zu Mom & Dad, dann wieder schneite sie wie eine Weihnachtsfee irgendwann für ein paar Stunden herein, zwischen zwei Flügen, zwischen drei Terminen, jedes Mal mit einem anderen Lover, der sie verliebt anblickte und die Hände nicht von ihr lassen konnte. Er hieß Jean-Luc, Jonathan oder Jonas, sah wahnsinnig gut aus und war wahnsinnig nett. Doch man vergaß Lauras jeweiligen Begleiter, sobald er zur Tür hinaus war. Und das war gut so, denn niemand hatte genauen Einblick in Lauras Beziehungsplan, gegen den der Abflugplan eines metropolitanen Airports vermutlich ein vergleichsweise simples Konstrukt war. Lauras Liebesleben war ... nun ja ... kompliziert, um es nett auszudrücken. Was eine auf Konvention bedachte Frau wie Mama in regelmäßige Besorgnisanfälle stürzte.
Ich kann mich nicht erinnern, wann die Familie Weihnachten zuletzt vollständig und gleichzeitig bei Mama und Papa gewesen war. Es war vielleicht fünfzehn Jahre her, als Dorle und Laura noch in den Kinderschuhen steckten und sich über Barbies wechselnde Kleiderkollektionen freuten. Möglicherweise war es auch an jenem Weihnachtsfest, als ich der Familie Julie vorstellte, die damals noch nicht Kinderbuchautorin war, sondern die hübscheste Kommilitonin auf dem Campus. Eine französische Austauschstudentin aus Marne, die schon ein vorzügliches Deutsch mit niedlichem Akzent sprach, während meine Französischkenntnisse nicht über Je t'aime und Voulez-vous coucher avec moi hinausreichten. Was ihr aber zu genügen schien. Wir waren erst ein paar Monate zusammen, die Liebe war überwältigend, die Zukunft himmelblau, es regnete rote Rosen. Ich fand Weihnachten überaus passend für diese erste Konfrontation mit meiner Familie, sodass auch Julie sich ein Herz fasste und auf Mamas überschwängliche Begrüßung mit einem Knicks reagierte. Mit einem Knicks! Damit hatte diese süße kleine Französin das Herz meiner Mutter für immer erobert, auch wenn sie später nie wieder knickste. Papa hatte sie mit einem anerkennenden, wohlwollenden Knurren willkommen geheißen, nicht verwunderlich, er war stets empfänglich für weibliche Schönheit.
So lag über dem damaligen Weihnachtsfest ein ganz eigener Zauber. Hatte ich bereits erwähnt, dass Mama über die sich in den folgenden Jahren entwickelnde Routine des »Patchwork-Weihnachten« alles andere als glücklich war? Oft schon hatte sie gebettelt und gefleht, doch mal wieder »ein richtiges Familienfest« zu feiern. »Meine Güte, ist denn das zu viel verlangt?« Es passte einfach nicht in ihre Vorstellung von Weihnachten, dass zumindest ihre beiden Ältesten ja bereits eine eigene Familie mit einem gewissen Vorrang, was das Fest betraf, hatten. Julie jedenfalls war - wie gesagt - nur alle zwei Jahre zu bewegen, den Weihnachtsstern in München zu suchen.
Dieses Jahr gab es keinen Pardon, keine Ausrede, keine Ausflucht. Mama feierte ihren Fünfundsechzigsten, und sie würde es am Heiligabend tun. Sie hatte sich gewünscht, dass alle kämen. Also würden alle kommen.
1. Auflage Originalausgabe im Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © 2012 by Blanvalet Verlag Satz: DTP Service Apel, Hannover
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Autoren-Porträt von Alex Thanner
Alex Thanner ist nach jahrelanger Tätigkeit in verschiedenen deutschen Verlagshäusern heute freier Autor und Publizist. Er ist verheiratet und lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alex Thanner
- 2012, 1, 288 Seiten, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764504471
- ISBN-13: 9783764504472
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
Rezension zu „Weihnachten mit Mama “
"Eine hübsch unterhaltsame Festlektüre!"
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