Weil dein Herz noch immer schlägt
Marion Bishop sieht keinen Ausweg mehr. Nachdem ihre Tochter bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist, ist jetzt auch noch ihre Ehe ein einziger Scherbenhaufen. Deswegen beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Doch dann passiert etwas...
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Produktinformationen zu „Weil dein Herz noch immer schlägt “
Marion Bishop sieht keinen Ausweg mehr. Nachdem ihre Tochter bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist, ist jetzt auch noch ihre Ehe ein einziger Scherbenhaufen. Deswegen beschließt sie, sich das Leben zu nehmen. Doch dann passiert etwas Unerwartetes, das ihr zeigt, für was es sich doch zu leben lohnt.
Lese-Probe zu „Weil dein Herz noch immer schlägt “
Weil dein Herz noch immer schlägt von Susy McPhee1
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Ich, Marion Bishop, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.
Das klingt wie ein Abschiedsbrief, ist aber nicht so gemeint. Ich gestehe mir - hauptsächlich mir - nur ehrlich ein, wie sehr mein Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Vor allem, wenn ich daran denke, was ich Sam antue. Sam angetan habe, sollte ich wohl besser sagen. Sam, der mich monatelang zusammengehalten hat, der mich aber einfach nicht wieder heil machen kann, wie sehr er es auch will. Ich bin nicht mehr zu reparieren.
Vierundzwanzigster April. An dem Datum ist nichts besonders Bemerkenswertes. Außer mir, natürlich. Wenn alles nach Plan läuft, wird auf meinem Grabstein stehen 14. Oktober 1973 bis 24. April 2008. Friedhofsbesucher werden kurz nachrechnen, so wie ich das bei Grabsteinen immer tue, und zu dem Ergebnis kommen, dass ich vierunddreißig war, als ich gestorben bin. Sie schnalzen vielleicht mit der Zunge, so wie ich es immer tue, wenn jemand unter vierzig stirbt. Wahrscheinlich sagen sie »Die arme Frau« oder so etwas in der Art, auch wenn das gar nichts mehr ändert: Ich werde jetzt schon seit einiger Zeit mit Mitleid bedacht. Wenn Leute mich kommen sehen, wechseln sie lieber auf die andere Straßenseite, als mit mir zu reden. Leute wie Heather, meine Nachbarin, zum Beispiel: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie nach dem Ballettunterricht auf dem Heimweg immer noch mit zu mir kam. Wir zwei haben in der Küche gesessen und uns bei einem Glas Wein unterhalten, während Poppy, Hope und Poppys kleiner Bruder Liam dem Abend noch die letzten Minuten zum Spielen abgerungen haben. An manchen Tagen musste ich sie regelrecht hinauswerfen, bevor Sam nach Hause kam. Wenige Wochen nach dem Unfall wurde sie fast von einem Lieferwagen überfahren, als sie über die Parliament Street schoss, nur um mir aus dem Weg zu gehen. Oder Martin, ihr Mann, der letzten Monat lieber wieder im Haus verschwand, als das Risiko einzugehen, mir in die Arme zu laufen. Die Aura der Tragödie umgibt mich wie eine Seuche, und die Leute weichen erschreckt vor mir zurück, um sich nicht anzustecken. Außer Esme McFarland aus dem Blumenladen, die vielleicht selbst genug Tragödien erlebt hat, um von ihrer Immunität überzeugt zu sein; sie bleibt immer stehen, wenn sie mich sieht, legt ihren Kopf schräg und sagt so etwas Plattes wie: »Marion. Sie Ärmste. Sie sind in meinen Gebeten.« Na ja, vielleicht betet sie wirklich für mich. Ach, du lieber Himmel, ich hoffe nicht. Bei dem Gedanken, Esme McFarland könnte für mich beten, läuft es mir kalt den Rücken herunter.
Ich gebe zu, das klingt ziemlich grob. Ich kann Gebete weiß Gott gebrauchen, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Gott Esme weniger aufmerksam zuhören würde als irgendjemand anderem.
Heute Nachmittag war ich auf dem Friedhof, irgendwie schon komisch, nachdem Sam mich gerade erst verlassen hatte. Nein, eigentlich nicht besonders komisch: Ich bin jetzt an den meisten Tagen dort. Heute allerdings habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, für immer hierherzuziehen. Die anderen Grabsteine schaue ich mir nicht mehr so genau an; in der letzten Zeit zieht mich nur noch ein Grab an, und wenn Sie es sehen könnten, würden Sie feststellen, dass die Verstorbene noch nicht einmal annähernd vierzig Jahre alt geworden ist. »HOPE B I S H O P «, steht auf dem Grabstein, »27. Juni 1998 - 18. September 2007«.
Und jetzt rechnen Sie mal.
Ich hatte einen Zweig mit fast verblühten Kirschblüten vom Baum am Eingangstor mitgebracht und mich auf dem verlassenen Friedhof auf den Rücken gelegt, wie ich es immer mache, wenn nichts los ist. Mein Kopf lag auf der frisch aufgeschütteten Erde um den gerade erst aufgestellten Grabstein, ich blickte in den klaren blauen Himmel und redete mit Hope. Der Stein war erst jetzt aufgestellt worden, weil man das anscheinend erst machen kann, wenn die Erde sich gesetzt hat. Der Steinmetz hatte acht Monate empfohlen, aber ich hatte ihn auf sieben heruntergehandelt. Ein Grab ohne Grabstein wirkt so anonym, und das ist schwer zu ertragen, wenn dein Kind unter der Erde liegt. Neben meinem Kopf wippten und nickten die Blüten in der leichten Brise. Sie standen sicher in der antiken silbernen Grabvase, die ich ausgesucht hatte (mit Silber beschichtet, leicht zu installieren, pflegeleichte Zinkbasis: Die Begriffe aus der Welt der Gräber gingen mir überraschend leicht über die Lippen). »Vierzehn Päckchen!«, hatte ich gerade zu Hope gesagt. »Und ich kann das Zeug nicht ausstehen. Ich habe es nur geholt, weil du es gerne magst.« Ich korrigierte mich. »Gemocht hast.« Ich hatte mich grummelnd bei ihr beschwert, weil ich seit dem Unfall die ganze Nacht über im ganzen Haus das Licht anlassen muss. Ich kann die Dunkelheit nicht mehr ertragen. Auch in ihrem Zimmer lasse ich ständig das Radio laufen, damit es wenigstens den Anschein von Leben hat. Die vierzehn Päckchen bezogen sich auf den Büffel-Mozzarella, den ich gekauft hatte (Hope hatte ihn immer besonders gerne gemocht, und ich war gestern Morgen bei Waitrose leicht verwirrt gewesen). Ich hatte die Päckchen in die Salatschublade gestopft und dann vergessen, die Kühlschranktür zu schließen. Ich fahre mittlerweile auch überall mit dem Auto hin - sogar ins Einkaufszentrum, was jämmerlich ist, wenn man bedenkt, dass es nur drei Straßen weit entfernt ist -, nur um die Esmes, Martins und Heathers zu meiden. Einen ganzen Katalog von Umweltsünden hätte Sam es genannt, bevor er aufgegeben hat, mir ein Lachen (oder ein Lächeln oder auch nur Blickkontakt) zu entlocken. Der Himmel weiß, was ich damit der Ozonschicht antue. Ich habe mich eigentlich nicht wirklich bei Hope beklagt: Ich habe mir diese Art, mit ihr zu reden, angewöhnt, aber sie hat nichts mit unseren Gesprächen zu tun, als sie noch lebte. Um ehrlich zu sein, habe ich mich in den letzten sieben Monaten so von allen zurückgezogen, dass Hope die einzige Person ist, die noch mit mir redet.
Na ja, hauptsächlich rede natürlich ich.
Als mir das klar wurde, richtete ich mich auf und drehte mich um, um die Gravur auf dem Grabstein zu betrachten. Ich fuhr mit dem Finger über die Umrisse von Hopes Namen. Und als ich sie so klar in Stein gemeißelt sah, traf mich die Erkenntnis, dass sie nie mehr zurückkommen würde, wie ein Schlag in den Solarplexus. Ich keuchte auf. Und dann lehnte ich den Kopf gegen den kühlen Marmor und lauschte.
Auf einem Ast irgendwo über meinem Kopf markierte eine Drossel lärmend ihr Territorium, und irgendwo in der Ferne rauschte der Verkehr auf der Wetherby Road. Ich hielt die Augen fest geschlossen, um die Außengeräusche auszublenden, und lauschte noch angestrengter.
Da war nichts: kein Flüstern aus dem Grab; kein Gefühl dafür, dass ich hier auf diesem Grab das, was ich verloren hatte, wiedergewinnen könnte.
Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass es keine Rolle spielte, wie oft ich mit Blumen hierherkam, als ob ich irgendwie für das Geschehene verantwortlich wäre, und mich auf dem Grab ausstreckte wie ein Märtyrer für eine Sache, an die niemand sonst glaubte. Wen kümmerte es schon, ob ich meinen Kühlschrank mit Essen füllte, das niemand aß, ob die Sugababes rund um die Uhr sangen oder ob ich feuerverzinkte Silbervasen und weißen Marmor über poliertem Granit aussuchte? Ob ich atmete oder nicht atmete? (Mir war auch klar geworden, dass ich nur weitermachte, weil es mir noch nicht in den Sinn gekommen war, dass es eine Alternative für mich gab.) Mein Leben war vorbei. In den vergangenen sieben Monaten hatte ich mich nur rein mechanisch bewegt.
Ehrlich gesagt empfand ich Erleichterung.
Ich weiß, das klingt wahrscheinlich verrückt. Ich höre Sie förmlich denken: Die hat sie nicht mehr alle. Aber das Gegenteil war der Fall. Heute Nachmittag war ich wesentlich klarer bei Verstand als jemals seit diesem schrecklichen Abend, an dem die Polizei uns die Nachricht überbracht hatte. Allerdings muss das nicht unbedingt viel heißen, wenn ich so darüber nachdenke. Vielleicht sollte ich den ersten Satz etwas umformulieren.
Ich, Marion Bishop, unter den gegebenen Umständen im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.
Jetzt zufrieden?
2
Hope gegenüber erwähne ich nichts davon. Ich fahre einfach zurück in das leere Haus und beginne, alles für meine bevorstehende Abreise vorzubereiten. Ich staubsauge von oben bis unten alle drei Stockwerke, wobei ich den Staubsauger hinter mir herziehe wie ein bockiges Kind. Dann putze ich die Badezimmer, lege frische Handtücher hin und poliere die Armaturen, bis sie glänzen. Danach nehme ich mir die Küche vor, wische den Boden und wienere den Aga, bis ich mich darin spiegeln kann. Früher habe ich immer geglaubt, ein Aga gäbe einem Haus ein Herz, aber glauben Sie mir, es ist nur so stark, wie die Leute, die darin wohnen. Ich werfe die ungeöffneten Päckchen Mozzarella und alle verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank in die Mülltonne, die am kommenden Donnerstag geleert wird, und behalte nur eine fast volle Flasche Wodka und ein Paket Lammgehacktes für später zurück.
Kurz bleibe ich neben der Tonne stehen und denke über jenen Donnerstag nach, über jenen Punkt in naher Zukunft, an dem ich nicht mehr sein werde. Ich warte darauf, ob sich ein Funke Bedauern einstellen will, aber natürlich empfinde ich nichts; ich habe einfach vergessen, wie es ist, Bedauern zu empfinden. Der Trauerberater, den Sam für uns beide organisiert hatte, hat mir gesagt, ich würde in der »Ablehnungsphase« der Trauer stecken. Ich würde mich weigern, meinen Verlust wahrnehmen zu wollen, indem ich alle Emotionen einfach ausschließe.
Ich wünschte, das ginge so einfach. Ehrlich gesagt wäre ein Ausschließen aller Gefühle eine Erleichterung, verglichen mit der Wut, die meinen Körper wie ein Fieber verzehrt und die wenigen Unseligen ansteckt, die mir zu nahe kommen. Das heißt, abgesehen von Esme. Wie bereits erwähnt, scheint sie immun zu sein.
Zuerst war es Panik. Jeden Morgen in den Wochen nach dem Unfall erwachte ich aus unruhigem Schlaf mit Kopfschmerzen und einer eisernen Klammer ums Herz. Und jeden Morgen fiel es mir wieder ein, und es traf mich jedes Mal aufs Neue wie ein Schlag, dass sie weg war; sie kam nicht wieder, und ich fiel in ein tiefes Loch, so voller Einsamkeit, dass ich zu den einfachsten Verrichtungen nicht mehr fähig war. Sogar das morgendliche Aufstehen war ein einziger Kampf.
In diesen ersten Wochen war ich von wohlmeinenden Freunden und Angehörigen umgeben, die ständig versuchten, mich vom Abgrund wegzuziehen und mich an der Küste derjenigen, die nicht trauerten, in Sicherheit zu bringen. Aber ich konnte sie nicht erreichen, und ehrlich gesagt war ich mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wollte. Und schließlich kam es, wie es kommen musste, ich vertrieb sie, einen nach dem anderen. Heute frage ich mich, ob ich mich absichtlich von ihnen zurückgezogen habe, um mir die Entscheidung dieses Nachmittags zu erleichtern. Wenn man so will, habe ich einen Freund nach dem anderen abgeschossen wie Enten in einer Schießbude. Lass dir Zeit, sagten sie, hin-und hergerissen zwischen Zögern und Erleichterung bei dem Gedanken, mich mit meiner Trauer allein zu lassen. Versuch, einen Tag nach dem anderen zu leben. Selbst das konnte ich nicht. Das Elend hielt mich so fest in seinen Klauen, dass ich mich noch nicht einmal langsam, von einem Tag zum anderen, von einer Minute zur anderen, bewegen konnte. Ich sah ihnen nach, als sie gingen, und etwas in mir wollte sie anflehen zurückzukommen, um mit mir zu schreien, zu treten, um mich zu schlagen und zu weinen, mit mir zu trauern, wie ich trauerte, aber es war unmöglich. Keiner von ihnen steckte in meiner Haut.
Die Glücklichen.
In der letzten Zeit ist es mir ziemlich gut gelungen, meine Wut in Schach zu halten, obwohl sie trotz all meiner Bemühungen manchmal immer noch durchbricht. Diejenigen, die mir am nächsten stehen, kriegen am meisten ab; Sam das allermeiste. Seine Portion war so groß, dass er sie am Ende nicht mehr schlucken konnte. Die Wut und ich, wir sind gute Kumpels geworden, und es ist kein Wunder, dass Hope die einzige Person ist, die mich überhaupt noch ertragen kann.
Obwohl sie ja möglicherweise sowieso nicht entkommen kann.
Ich gehe wieder ins Haus und schaue mir das Ergebnis meiner Säuberungsaktion an. Es ist bei Weitem nicht perfekt. Die Handtücher im Badezimmer stören mich: Wozu sollen sie gut sein? Ich falte sie und lege sie zurück in den Wäscheschrank, aber sofort ändere ich meine Meinung wieder und hänge sie erneut auf. Ich trete einen Schritt zurück, mustere sie, und dann ändere ich noch einmal meine Meinung und lege sie wieder in den Schrank. Ich schwöre bei Gott, die Entscheidung, mich umzubringen, ist mir leichter gefallen. Die Bettwäsche ist auch ein Problem. Wenn ich sie wechsle, hinterlasse ich einen Haufen schmutziger Wäsche, und wenn nicht, muss ich in schmutziger Bettwäsche sterben. Will ich das? In schmutziger Bettwäsche sterben, meine ich.
Am Ende wechsle ich sie doch, obwohl es eigentlich keine Rolle spielt. Wer auch immer mich findet - vermutlich Sam -, wird wahrscheinlich sowieso das ganze Haus leer räumen lassen. Das letzte Zerschlagen eines Lebens, das bereits in Scherben liegt.
Aber zumindest ist es jetzt überall sauber. In der Küche rufe ich Hector und sperre ihn in die Waschküche. Ich nehme das Lammgehackte und brate es auf dem Aga, wobei ich es sorgfältig umrühre, damit es nicht zusammenklebt. Als es fertig ist, gebe ich es in Hectors Schüssel, schütte Trockenfutter dazu und füge noch eine gute Handvoll Hundekuchen hinzu, um das Ganze ein bisschen anzureichern. Normalerweise achte ich sehr auf seine Ernährung - er nimmt schon zu, wenn er einem bloß dabei zuschaut, wie man eine Scheibe Toast isst -, aber ich weiß nicht genau, wie lange er mit dieser Mahlzeit auskommen muss. Sam will eigentlich morgen einige seiner Sachen holen, aber vielleicht kommt er erst nach Hectors Fütterungszeit, und es wäre unfair, den Hund leiden zu lassen, nur weil ich beschlossen habe, meinem Leben ein Ende zu setzen. Den beunruhigenden Gedanken, dass Sam aus dem einen oder anderen Grund vielleicht gar nicht auftaucht, schiebe ich energisch beiseite: Wenn es zum Schlimmsten kommt, ist Hector durchaus in der Lage, mit seinem Heulen die ganze Nachbarschaft zu alarmieren, um an sein Fressen zu kommen.
Er wirft mir einen fragenden Blick zu, als ich den Fressnapf vor ihn hinstelle, und zieht sich in eine Ecke der Waschküche zurück. Das sorgfältig vorbereitete Futter ignoriert er, als ob er mich verdächtigte, ihn hereinlegen zu wollen. Ich sehe ihn nicht an, um mir seinen vorwurfsvollen Blick zu ersparen, als er mir nachschaut, wie ich aus seinem Leben verschwinde.
Mittlerweile ist es halb zehn. In der Küche schenke ich mir ein Glas Wodka ein. Dann hole ich die Blechdose, die meine Medikamente enthält, aus dem Schrank über dem Brotbackgerät und schütte sie aus. Ich krame zwischen Verbänden und Winnie-Pu-Pflastern nach den Antidepressiva, die mir nach dem Unfall verschrieben worden waren. Sam war wütend geworden, als er das Rezept gesehen hatte - mit diesen Tabletten brachten sich die Leute gerne um -, aber ich hatte kaum die erste genommen, da wurde ich schon so lethargisch, dass ich keine weitere mehr nahm. Meinem Hausarzt log ich vor, sie würden helfen, und daraufhin verschrieb er sie mir noch einmal für vierzehn Tage. Danach bekam ich noch weitere Rezepte, bis ich dann schließlich damit beginnen musste, mich von einem Medikament zu entwöhnen, das ich so gut wie nie genommen hatte.
Allerdings hat mein Gedächtnis mich wohl ein wenig getrogen, denn als ich die Schachtel schließlich finde, sind nur noch neun Tabletten darin. Wird das überhaupt ausreichen? Ich versuche, mich zu erinnern, was Sam darüber gesagt hat - hat er irgendetwas über die Dosis gesagt? Die neun Tabletten sehen so harmlos aus in ihrer Folienverpackung; es ist schwer, sich vorzustellen, dass sie wirklich so großen Schaden anrichten, wie er damals behauptet hat.
Ich könnte mir natürlich auch einen Tabletten-Cocktail mischen. Abgesehen von den Antidepressiva habe ich noch zwei Schachteln Paracetamol. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass sich in der einen Schachtel nur noch eine Tablette und in der anderen zwei befinden. Das einzige andere Schmerzmittel, das ich entdecken kann, ist eine angebrochene Flasche Calpol Sechs-Plus, aber das kommt nicht infrage. Ich finde es irgendwie geschmacklos, die Medizin, mit der man die Schmerzen der toten Tochter gelindert hat, dazu zu verwenden, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Die anderen Optionen allerdings - sich die Pulsadern aufschneiden, einen Autounfall provozieren oder sich von der Klippe stürzen - machen mir viel zu viel Angst. Nicht das Sterben, darauf freue ich mich beinahe schon. Nein, es ist diese Plötzlichkeit - die Vorstellung dieses einen Moments, in dem man entschlossen handeln muss -, mit der ich nicht umgehen kann. Wahrscheinlich bin ich einfach eher der Typ für eine Überdosis.
Ich krame noch ein bisschen in unserer Notfallkiste und finde eine Schachtel mit einem abgelaufenen Abführmittel und einige Kapseln eines Antibiotikums, das Sam nie zu Ende genommen hat. Seufzend betrachte ich die jämmerliche Ausbeute an Medikamenten. Da habe ich ja schon während einer Partynacht mehr an Giften zu mir genommen.
Ich überlege, wie ich den Mangel an Medikamenten beheben soll, und dann habe ich einen Geistesblitz. Ich bin ziemlich sicher, dass irgendwo noch die Rezepte herumliegen müssen. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch zur Apotheke an der Station Parade, die bis spätabends geöffnet hat. Ich durchwühle meine Schubladen und finde sie unter einer Tüte mit Gummibändern und der Speisekarte eines Pizzadienstes in der Kramschublade in der Küche. Ich suche mir das neueste Rezept heraus. Dann nehme ich meine Schlüssel vom Haken an der Haustür, schnappe mir meine Handtasche und verlasse das Haus.
Ich parke direkt neben dem Busbahnhof und gehe über die Straße. Aber dann bleibe ich verblüfft stehen. Die Apotheke gibt es nicht mehr. An ihrer Stelle steht ein prächtiger Laden von Sony mit Fernsehern und Hi-Fi-Anlagen im Schaufenster. Wann ist das denn passiert? Ich könnte schwören, dass ich erst vor ein paar Wochen hier war, um Vitaminpillen für Hope zu kaufen. Aber wenn man etwas Kostbares verloren hat (den Verstand zum Beispiel oder ein Kind), dann spielt die Zeit einem Streiche und man marschiert zu einer Melodie, die niemand sonst hören kann.
Ich eile zurück zum Auto und murmele vor mich hin. Soll ich das Ganze aufschieben, bis ich das Rezept einlösen kann, oder soll ich es einfach mit den neun Tabletten versuchen? Plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg.
Ich sehe ihn zuerst nicht. Als ich merke, dass da jemand steht, senke ich den Kopf und tue so, als ob ich ihn nicht sähe. Darin bin ich letzter Zeit ziemlich gut geworden, und ehrlich gesagt, sind die meisten Leute froh darüber, ignoriert zu werden. Aber als ich an ihm vorbeigehen will, tritt er direkt vor mich und murmelt etwas, was ich nicht ganz verstehen kann.
Ich schnalze verärgert mit der Zunge. »Was ist?« Im Schein der Straßenlaterne versuche ich, sein Gesicht unter der Kapuze zu erkennen.
Er tritt näher, und ich spüre seinen Atem warm an meinem Nacken. Plötzlich streckt er seine nicht allzu saubere Hand aus und packt mich an den Haaren. Ich keuche vor Schmerz auf. Aber erst, als ich das kalte Metall von etwas Scharfem an meinem Hals spüre, dämmert es mir, dass er kein besorgter Freund oder Nachbar ist, der sich nach meinem emotionalen Wohlbefinden erkundigen will. Während mein Kopf noch zu verstehen versucht, was hier vor sich geht, rast mein Herz bereits, und mir wird klar, dass ich all die anderen Gefühle doch nicht vergessen habe. Nach Monaten der Trauer und der Therapie, in denen die Leute vorsichtig um mich herumgeschlichen sind, während in mir die Wut kochte, muss mir erst ein stinkender Junge ein Messer an die Kehle halten, damit mir - ein bisschen spät vielleicht - klar wird, dass ich vielleicht doch noch nicht bereit bin zu sterben. Jedenfalls nicht so, nicht zu seinen Bedingungen.
Der Junge drückt das Messer fester an meinen Hals. »Ich hab gesagt, gib mir dein Geld.«
»Was?« Ich wiederhole mich; wahrscheinlich nicht die beste Strategie, um die Situation zu entspannen.
»Ich mache keine Witze.« Er drückt mich mit seinem mageren Körper an die Mauer hinter mir. Auf einmal lässt er meine Haare los und beginnt, in meiner Handtasche zu kramen. Er zieht mein Portemonnaie heraus, und das Rezept, das ich in der Hand halte, flattert zu Boden.
»Hey!« Der Verlust des Rezepts bereitet mir mehr Sorgen als alles andere.
Er hält mir das Portemonnaie unter die Nase. »Dein Geld. Hol es raus.«
Erstaunt schaue ich ihn an, und dann trifft mich die Ironie der Situation, und ich muss unwillkürlich lachen. »Ist das ... ist das ein Überfall?«
Er sieht mich an, als ob ich geisteskrank wäre. »Nee, ich will mich mit dir verabreden.« Unter diesen Umständen fast eine witzige Bemerkung. Ohne das Messer von meinem Hals zu nehmen, öffnet er mit einer Hand mein Portemonnaie und blickt hinein. Er wirft mir einen verächtlichen Blick zu.
»Ist das alles?« Er dreht das Portemonnaie um, und ein Fünf-Pfund-Schein und ein paar Münzen fallen heraus.
»Ja, nun«, verteidige ich mich. »Ich wollte nur eine kleine Besorgung machen.«
»Verdammte Scheiße.« Angewidert spuckt er mir vor die Füße und drückt mir das Messer fester an den Hals. »Also gut«, haucht er und beugt sich wieder näher zu mir. Jemand sollte ihm mal sagen, dass er Mundgeruch hat. »Hol deine Karte raus, und wir gehen zum Geldautomaten. Und versuch bloß nicht abzuhauen.«
»Was?« Ich starre ihn empört an. »Nein - ich kann jetzt nicht zum Geldautomaten. Ich habe heute Abend etwas vor.« Mein schönes sauberes Haus steht mir plötzlich vor Augen. »Ich habe sogar schon die Bettwäsche gewechselt.«
»Was?« Ihm fällt der Unterkiefer herunter, und ich nutze sein kurzes Zögern aus, um zurückzuweichen und ihm mein Portemonnaie aus der Hand zu reißen.
»Ich habe Nein gesagt.« Gereizt schließe ich das Portemonnaie wieder. Wut steigt in mir auf - ich bin wieder auf vertrautem Territorium. Es ist eine Sache, selbst die Entscheidung zu fassen, dass ich mir das Leben nehme, aber ich lasse mich nicht von einem pickeligen Jugendlichen mit schlechten Zähnen und abgekauten Nägeln bedrohen. »Für wen hältst du dich? Wer bist du überhaupt?«
Der Junge runzelt die Stirn, und alarmiert stelle ich fest, dass in seinen Augen Lust aufleuchtet. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor ich einen Satz herausbringe, drängt mich der Jugendliche erneut an die Wand, fährt mit der Zunge lasziv über seine Lippen und prüft die Spitze des Messers mit kaltem Lächeln an der Spitze seines Zeigefingers.
»Ich sag dir, wer ich bin, Liebchen.« Beinahe verführerisch lässt er das Messer über meine Wange gleiten, beugt sich vor, und einen Moment lang denke ich, er will mich küssen. Aber dann haucht er mir seinen nächsten Satz direkt in den Mund.
»Ich bin dein schlimmster Albtraum.«
Ich, Marion Bishop, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.
Das klingt wie ein Abschiedsbrief, ist aber nicht so gemeint. Ich gestehe mir - hauptsächlich mir - nur ehrlich ein, wie sehr mein Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Vor allem, wenn ich daran denke, was ich Sam antue. Sam angetan habe, sollte ich wohl besser sagen. Sam, der mich monatelang zusammengehalten hat, der mich aber einfach nicht wieder heil machen kann, wie sehr er es auch will. Ich bin nicht mehr zu reparieren.
Vierundzwanzigster April. An dem Datum ist nichts besonders Bemerkenswertes. Außer mir, natürlich. Wenn alles nach Plan läuft, wird auf meinem Grabstein stehen 14. Oktober 1973 bis 24. April 2008. Friedhofsbesucher werden kurz nachrechnen, so wie ich das bei Grabsteinen immer tue, und zu dem Ergebnis kommen, dass ich vierunddreißig war, als ich gestorben bin. Sie schnalzen vielleicht mit der Zunge, so wie ich es immer tue, wenn jemand unter vierzig stirbt. Wahrscheinlich sagen sie »Die arme Frau« oder so etwas in der Art, auch wenn das gar nichts mehr ändert: Ich werde jetzt schon seit einiger Zeit mit Mitleid bedacht. Wenn Leute mich kommen sehen, wechseln sie lieber auf die andere Straßenseite, als mit mir zu reden. Leute wie Heather, meine Nachbarin, zum Beispiel: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie nach dem Ballettunterricht auf dem Heimweg immer noch mit zu mir kam. Wir zwei haben in der Küche gesessen und uns bei einem Glas Wein unterhalten, während Poppy, Hope und Poppys kleiner Bruder Liam dem Abend noch die letzten Minuten zum Spielen abgerungen haben. An manchen Tagen musste ich sie regelrecht hinauswerfen, bevor Sam nach Hause kam. Wenige Wochen nach dem Unfall wurde sie fast von einem Lieferwagen überfahren, als sie über die Parliament Street schoss, nur um mir aus dem Weg zu gehen. Oder Martin, ihr Mann, der letzten Monat lieber wieder im Haus verschwand, als das Risiko einzugehen, mir in die Arme zu laufen. Die Aura der Tragödie umgibt mich wie eine Seuche, und die Leute weichen erschreckt vor mir zurück, um sich nicht anzustecken. Außer Esme McFarland aus dem Blumenladen, die vielleicht selbst genug Tragödien erlebt hat, um von ihrer Immunität überzeugt zu sein; sie bleibt immer stehen, wenn sie mich sieht, legt ihren Kopf schräg und sagt so etwas Plattes wie: »Marion. Sie Ärmste. Sie sind in meinen Gebeten.« Na ja, vielleicht betet sie wirklich für mich. Ach, du lieber Himmel, ich hoffe nicht. Bei dem Gedanken, Esme McFarland könnte für mich beten, läuft es mir kalt den Rücken herunter.
Ich gebe zu, das klingt ziemlich grob. Ich kann Gebete weiß Gott gebrauchen, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Gott Esme weniger aufmerksam zuhören würde als irgendjemand anderem.
Heute Nachmittag war ich auf dem Friedhof, irgendwie schon komisch, nachdem Sam mich gerade erst verlassen hatte. Nein, eigentlich nicht besonders komisch: Ich bin jetzt an den meisten Tagen dort. Heute allerdings habe ich mir überlegt, wie es wohl wäre, für immer hierherzuziehen. Die anderen Grabsteine schaue ich mir nicht mehr so genau an; in der letzten Zeit zieht mich nur noch ein Grab an, und wenn Sie es sehen könnten, würden Sie feststellen, dass die Verstorbene noch nicht einmal annähernd vierzig Jahre alt geworden ist. »HOPE B I S H O P «, steht auf dem Grabstein, »27. Juni 1998 - 18. September 2007«.
Und jetzt rechnen Sie mal.
Ich hatte einen Zweig mit fast verblühten Kirschblüten vom Baum am Eingangstor mitgebracht und mich auf dem verlassenen Friedhof auf den Rücken gelegt, wie ich es immer mache, wenn nichts los ist. Mein Kopf lag auf der frisch aufgeschütteten Erde um den gerade erst aufgestellten Grabstein, ich blickte in den klaren blauen Himmel und redete mit Hope. Der Stein war erst jetzt aufgestellt worden, weil man das anscheinend erst machen kann, wenn die Erde sich gesetzt hat. Der Steinmetz hatte acht Monate empfohlen, aber ich hatte ihn auf sieben heruntergehandelt. Ein Grab ohne Grabstein wirkt so anonym, und das ist schwer zu ertragen, wenn dein Kind unter der Erde liegt. Neben meinem Kopf wippten und nickten die Blüten in der leichten Brise. Sie standen sicher in der antiken silbernen Grabvase, die ich ausgesucht hatte (mit Silber beschichtet, leicht zu installieren, pflegeleichte Zinkbasis: Die Begriffe aus der Welt der Gräber gingen mir überraschend leicht über die Lippen). »Vierzehn Päckchen!«, hatte ich gerade zu Hope gesagt. »Und ich kann das Zeug nicht ausstehen. Ich habe es nur geholt, weil du es gerne magst.« Ich korrigierte mich. »Gemocht hast.« Ich hatte mich grummelnd bei ihr beschwert, weil ich seit dem Unfall die ganze Nacht über im ganzen Haus das Licht anlassen muss. Ich kann die Dunkelheit nicht mehr ertragen. Auch in ihrem Zimmer lasse ich ständig das Radio laufen, damit es wenigstens den Anschein von Leben hat. Die vierzehn Päckchen bezogen sich auf den Büffel-Mozzarella, den ich gekauft hatte (Hope hatte ihn immer besonders gerne gemocht, und ich war gestern Morgen bei Waitrose leicht verwirrt gewesen). Ich hatte die Päckchen in die Salatschublade gestopft und dann vergessen, die Kühlschranktür zu schließen. Ich fahre mittlerweile auch überall mit dem Auto hin - sogar ins Einkaufszentrum, was jämmerlich ist, wenn man bedenkt, dass es nur drei Straßen weit entfernt ist -, nur um die Esmes, Martins und Heathers zu meiden. Einen ganzen Katalog von Umweltsünden hätte Sam es genannt, bevor er aufgegeben hat, mir ein Lachen (oder ein Lächeln oder auch nur Blickkontakt) zu entlocken. Der Himmel weiß, was ich damit der Ozonschicht antue. Ich habe mich eigentlich nicht wirklich bei Hope beklagt: Ich habe mir diese Art, mit ihr zu reden, angewöhnt, aber sie hat nichts mit unseren Gesprächen zu tun, als sie noch lebte. Um ehrlich zu sein, habe ich mich in den letzten sieben Monaten so von allen zurückgezogen, dass Hope die einzige Person ist, die noch mit mir redet.
Na ja, hauptsächlich rede natürlich ich.
Als mir das klar wurde, richtete ich mich auf und drehte mich um, um die Gravur auf dem Grabstein zu betrachten. Ich fuhr mit dem Finger über die Umrisse von Hopes Namen. Und als ich sie so klar in Stein gemeißelt sah, traf mich die Erkenntnis, dass sie nie mehr zurückkommen würde, wie ein Schlag in den Solarplexus. Ich keuchte auf. Und dann lehnte ich den Kopf gegen den kühlen Marmor und lauschte.
Auf einem Ast irgendwo über meinem Kopf markierte eine Drossel lärmend ihr Territorium, und irgendwo in der Ferne rauschte der Verkehr auf der Wetherby Road. Ich hielt die Augen fest geschlossen, um die Außengeräusche auszublenden, und lauschte noch angestrengter.
Da war nichts: kein Flüstern aus dem Grab; kein Gefühl dafür, dass ich hier auf diesem Grab das, was ich verloren hatte, wiedergewinnen könnte.
Und in diesem Augenblick wurde mir klar, dass es keine Rolle spielte, wie oft ich mit Blumen hierherkam, als ob ich irgendwie für das Geschehene verantwortlich wäre, und mich auf dem Grab ausstreckte wie ein Märtyrer für eine Sache, an die niemand sonst glaubte. Wen kümmerte es schon, ob ich meinen Kühlschrank mit Essen füllte, das niemand aß, ob die Sugababes rund um die Uhr sangen oder ob ich feuerverzinkte Silbervasen und weißen Marmor über poliertem Granit aussuchte? Ob ich atmete oder nicht atmete? (Mir war auch klar geworden, dass ich nur weitermachte, weil es mir noch nicht in den Sinn gekommen war, dass es eine Alternative für mich gab.) Mein Leben war vorbei. In den vergangenen sieben Monaten hatte ich mich nur rein mechanisch bewegt.
Ehrlich gesagt empfand ich Erleichterung.
Ich weiß, das klingt wahrscheinlich verrückt. Ich höre Sie förmlich denken: Die hat sie nicht mehr alle. Aber das Gegenteil war der Fall. Heute Nachmittag war ich wesentlich klarer bei Verstand als jemals seit diesem schrecklichen Abend, an dem die Polizei uns die Nachricht überbracht hatte. Allerdings muss das nicht unbedingt viel heißen, wenn ich so darüber nachdenke. Vielleicht sollte ich den ersten Satz etwas umformulieren.
Ich, Marion Bishop, unter den gegebenen Umständen im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, habe beschlossen, mich heute Abend, Donnerstag, den 24. April 2008 umzubringen.
Jetzt zufrieden?
2
Hope gegenüber erwähne ich nichts davon. Ich fahre einfach zurück in das leere Haus und beginne, alles für meine bevorstehende Abreise vorzubereiten. Ich staubsauge von oben bis unten alle drei Stockwerke, wobei ich den Staubsauger hinter mir herziehe wie ein bockiges Kind. Dann putze ich die Badezimmer, lege frische Handtücher hin und poliere die Armaturen, bis sie glänzen. Danach nehme ich mir die Küche vor, wische den Boden und wienere den Aga, bis ich mich darin spiegeln kann. Früher habe ich immer geglaubt, ein Aga gäbe einem Haus ein Herz, aber glauben Sie mir, es ist nur so stark, wie die Leute, die darin wohnen. Ich werfe die ungeöffneten Päckchen Mozzarella und alle verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank in die Mülltonne, die am kommenden Donnerstag geleert wird, und behalte nur eine fast volle Flasche Wodka und ein Paket Lammgehacktes für später zurück.
Kurz bleibe ich neben der Tonne stehen und denke über jenen Donnerstag nach, über jenen Punkt in naher Zukunft, an dem ich nicht mehr sein werde. Ich warte darauf, ob sich ein Funke Bedauern einstellen will, aber natürlich empfinde ich nichts; ich habe einfach vergessen, wie es ist, Bedauern zu empfinden. Der Trauerberater, den Sam für uns beide organisiert hatte, hat mir gesagt, ich würde in der »Ablehnungsphase« der Trauer stecken. Ich würde mich weigern, meinen Verlust wahrnehmen zu wollen, indem ich alle Emotionen einfach ausschließe.
Ich wünschte, das ginge so einfach. Ehrlich gesagt wäre ein Ausschließen aller Gefühle eine Erleichterung, verglichen mit der Wut, die meinen Körper wie ein Fieber verzehrt und die wenigen Unseligen ansteckt, die mir zu nahe kommen. Das heißt, abgesehen von Esme. Wie bereits erwähnt, scheint sie immun zu sein.
Zuerst war es Panik. Jeden Morgen in den Wochen nach dem Unfall erwachte ich aus unruhigem Schlaf mit Kopfschmerzen und einer eisernen Klammer ums Herz. Und jeden Morgen fiel es mir wieder ein, und es traf mich jedes Mal aufs Neue wie ein Schlag, dass sie weg war; sie kam nicht wieder, und ich fiel in ein tiefes Loch, so voller Einsamkeit, dass ich zu den einfachsten Verrichtungen nicht mehr fähig war. Sogar das morgendliche Aufstehen war ein einziger Kampf.
In diesen ersten Wochen war ich von wohlmeinenden Freunden und Angehörigen umgeben, die ständig versuchten, mich vom Abgrund wegzuziehen und mich an der Küste derjenigen, die nicht trauerten, in Sicherheit zu bringen. Aber ich konnte sie nicht erreichen, und ehrlich gesagt war ich mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt wollte. Und schließlich kam es, wie es kommen musste, ich vertrieb sie, einen nach dem anderen. Heute frage ich mich, ob ich mich absichtlich von ihnen zurückgezogen habe, um mir die Entscheidung dieses Nachmittags zu erleichtern. Wenn man so will, habe ich einen Freund nach dem anderen abgeschossen wie Enten in einer Schießbude. Lass dir Zeit, sagten sie, hin-und hergerissen zwischen Zögern und Erleichterung bei dem Gedanken, mich mit meiner Trauer allein zu lassen. Versuch, einen Tag nach dem anderen zu leben. Selbst das konnte ich nicht. Das Elend hielt mich so fest in seinen Klauen, dass ich mich noch nicht einmal langsam, von einem Tag zum anderen, von einer Minute zur anderen, bewegen konnte. Ich sah ihnen nach, als sie gingen, und etwas in mir wollte sie anflehen zurückzukommen, um mit mir zu schreien, zu treten, um mich zu schlagen und zu weinen, mit mir zu trauern, wie ich trauerte, aber es war unmöglich. Keiner von ihnen steckte in meiner Haut.
Die Glücklichen.
In der letzten Zeit ist es mir ziemlich gut gelungen, meine Wut in Schach zu halten, obwohl sie trotz all meiner Bemühungen manchmal immer noch durchbricht. Diejenigen, die mir am nächsten stehen, kriegen am meisten ab; Sam das allermeiste. Seine Portion war so groß, dass er sie am Ende nicht mehr schlucken konnte. Die Wut und ich, wir sind gute Kumpels geworden, und es ist kein Wunder, dass Hope die einzige Person ist, die mich überhaupt noch ertragen kann.
Obwohl sie ja möglicherweise sowieso nicht entkommen kann.
Ich gehe wieder ins Haus und schaue mir das Ergebnis meiner Säuberungsaktion an. Es ist bei Weitem nicht perfekt. Die Handtücher im Badezimmer stören mich: Wozu sollen sie gut sein? Ich falte sie und lege sie zurück in den Wäscheschrank, aber sofort ändere ich meine Meinung wieder und hänge sie erneut auf. Ich trete einen Schritt zurück, mustere sie, und dann ändere ich noch einmal meine Meinung und lege sie wieder in den Schrank. Ich schwöre bei Gott, die Entscheidung, mich umzubringen, ist mir leichter gefallen. Die Bettwäsche ist auch ein Problem. Wenn ich sie wechsle, hinterlasse ich einen Haufen schmutziger Wäsche, und wenn nicht, muss ich in schmutziger Bettwäsche sterben. Will ich das? In schmutziger Bettwäsche sterben, meine ich.
Am Ende wechsle ich sie doch, obwohl es eigentlich keine Rolle spielt. Wer auch immer mich findet - vermutlich Sam -, wird wahrscheinlich sowieso das ganze Haus leer räumen lassen. Das letzte Zerschlagen eines Lebens, das bereits in Scherben liegt.
Aber zumindest ist es jetzt überall sauber. In der Küche rufe ich Hector und sperre ihn in die Waschküche. Ich nehme das Lammgehackte und brate es auf dem Aga, wobei ich es sorgfältig umrühre, damit es nicht zusammenklebt. Als es fertig ist, gebe ich es in Hectors Schüssel, schütte Trockenfutter dazu und füge noch eine gute Handvoll Hundekuchen hinzu, um das Ganze ein bisschen anzureichern. Normalerweise achte ich sehr auf seine Ernährung - er nimmt schon zu, wenn er einem bloß dabei zuschaut, wie man eine Scheibe Toast isst -, aber ich weiß nicht genau, wie lange er mit dieser Mahlzeit auskommen muss. Sam will eigentlich morgen einige seiner Sachen holen, aber vielleicht kommt er erst nach Hectors Fütterungszeit, und es wäre unfair, den Hund leiden zu lassen, nur weil ich beschlossen habe, meinem Leben ein Ende zu setzen. Den beunruhigenden Gedanken, dass Sam aus dem einen oder anderen Grund vielleicht gar nicht auftaucht, schiebe ich energisch beiseite: Wenn es zum Schlimmsten kommt, ist Hector durchaus in der Lage, mit seinem Heulen die ganze Nachbarschaft zu alarmieren, um an sein Fressen zu kommen.
Er wirft mir einen fragenden Blick zu, als ich den Fressnapf vor ihn hinstelle, und zieht sich in eine Ecke der Waschküche zurück. Das sorgfältig vorbereitete Futter ignoriert er, als ob er mich verdächtigte, ihn hereinlegen zu wollen. Ich sehe ihn nicht an, um mir seinen vorwurfsvollen Blick zu ersparen, als er mir nachschaut, wie ich aus seinem Leben verschwinde.
Mittlerweile ist es halb zehn. In der Küche schenke ich mir ein Glas Wodka ein. Dann hole ich die Blechdose, die meine Medikamente enthält, aus dem Schrank über dem Brotbackgerät und schütte sie aus. Ich krame zwischen Verbänden und Winnie-Pu-Pflastern nach den Antidepressiva, die mir nach dem Unfall verschrieben worden waren. Sam war wütend geworden, als er das Rezept gesehen hatte - mit diesen Tabletten brachten sich die Leute gerne um -, aber ich hatte kaum die erste genommen, da wurde ich schon so lethargisch, dass ich keine weitere mehr nahm. Meinem Hausarzt log ich vor, sie würden helfen, und daraufhin verschrieb er sie mir noch einmal für vierzehn Tage. Danach bekam ich noch weitere Rezepte, bis ich dann schließlich damit beginnen musste, mich von einem Medikament zu entwöhnen, das ich so gut wie nie genommen hatte.
Allerdings hat mein Gedächtnis mich wohl ein wenig getrogen, denn als ich die Schachtel schließlich finde, sind nur noch neun Tabletten darin. Wird das überhaupt ausreichen? Ich versuche, mich zu erinnern, was Sam darüber gesagt hat - hat er irgendetwas über die Dosis gesagt? Die neun Tabletten sehen so harmlos aus in ihrer Folienverpackung; es ist schwer, sich vorzustellen, dass sie wirklich so großen Schaden anrichten, wie er damals behauptet hat.
Ich könnte mir natürlich auch einen Tabletten-Cocktail mischen. Abgesehen von den Antidepressiva habe ich noch zwei Schachteln Paracetamol. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass sich in der einen Schachtel nur noch eine Tablette und in der anderen zwei befinden. Das einzige andere Schmerzmittel, das ich entdecken kann, ist eine angebrochene Flasche Calpol Sechs-Plus, aber das kommt nicht infrage. Ich finde es irgendwie geschmacklos, die Medizin, mit der man die Schmerzen der toten Tochter gelindert hat, dazu zu verwenden, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Die anderen Optionen allerdings - sich die Pulsadern aufschneiden, einen Autounfall provozieren oder sich von der Klippe stürzen - machen mir viel zu viel Angst. Nicht das Sterben, darauf freue ich mich beinahe schon. Nein, es ist diese Plötzlichkeit - die Vorstellung dieses einen Moments, in dem man entschlossen handeln muss -, mit der ich nicht umgehen kann. Wahrscheinlich bin ich einfach eher der Typ für eine Überdosis.
Ich krame noch ein bisschen in unserer Notfallkiste und finde eine Schachtel mit einem abgelaufenen Abführmittel und einige Kapseln eines Antibiotikums, das Sam nie zu Ende genommen hat. Seufzend betrachte ich die jämmerliche Ausbeute an Medikamenten. Da habe ich ja schon während einer Partynacht mehr an Giften zu mir genommen.
Ich überlege, wie ich den Mangel an Medikamenten beheben soll, und dann habe ich einen Geistesblitz. Ich bin ziemlich sicher, dass irgendwo noch die Rezepte herumliegen müssen. Wenn ich mich beeile, schaffe ich es noch zur Apotheke an der Station Parade, die bis spätabends geöffnet hat. Ich durchwühle meine Schubladen und finde sie unter einer Tüte mit Gummibändern und der Speisekarte eines Pizzadienstes in der Kramschublade in der Küche. Ich suche mir das neueste Rezept heraus. Dann nehme ich meine Schlüssel vom Haken an der Haustür, schnappe mir meine Handtasche und verlasse das Haus.
Ich parke direkt neben dem Busbahnhof und gehe über die Straße. Aber dann bleibe ich verblüfft stehen. Die Apotheke gibt es nicht mehr. An ihrer Stelle steht ein prächtiger Laden von Sony mit Fernsehern und Hi-Fi-Anlagen im Schaufenster. Wann ist das denn passiert? Ich könnte schwören, dass ich erst vor ein paar Wochen hier war, um Vitaminpillen für Hope zu kaufen. Aber wenn man etwas Kostbares verloren hat (den Verstand zum Beispiel oder ein Kind), dann spielt die Zeit einem Streiche und man marschiert zu einer Melodie, die niemand sonst hören kann.
Ich eile zurück zum Auto und murmele vor mich hin. Soll ich das Ganze aufschieben, bis ich das Rezept einlösen kann, oder soll ich es einfach mit den neun Tabletten versuchen? Plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg.
Ich sehe ihn zuerst nicht. Als ich merke, dass da jemand steht, senke ich den Kopf und tue so, als ob ich ihn nicht sähe. Darin bin ich letzter Zeit ziemlich gut geworden, und ehrlich gesagt, sind die meisten Leute froh darüber, ignoriert zu werden. Aber als ich an ihm vorbeigehen will, tritt er direkt vor mich und murmelt etwas, was ich nicht ganz verstehen kann.
Ich schnalze verärgert mit der Zunge. »Was ist?« Im Schein der Straßenlaterne versuche ich, sein Gesicht unter der Kapuze zu erkennen.
Er tritt näher, und ich spüre seinen Atem warm an meinem Nacken. Plötzlich streckt er seine nicht allzu saubere Hand aus und packt mich an den Haaren. Ich keuche vor Schmerz auf. Aber erst, als ich das kalte Metall von etwas Scharfem an meinem Hals spüre, dämmert es mir, dass er kein besorgter Freund oder Nachbar ist, der sich nach meinem emotionalen Wohlbefinden erkundigen will. Während mein Kopf noch zu verstehen versucht, was hier vor sich geht, rast mein Herz bereits, und mir wird klar, dass ich all die anderen Gefühle doch nicht vergessen habe. Nach Monaten der Trauer und der Therapie, in denen die Leute vorsichtig um mich herumgeschlichen sind, während in mir die Wut kochte, muss mir erst ein stinkender Junge ein Messer an die Kehle halten, damit mir - ein bisschen spät vielleicht - klar wird, dass ich vielleicht doch noch nicht bereit bin zu sterben. Jedenfalls nicht so, nicht zu seinen Bedingungen.
Der Junge drückt das Messer fester an meinen Hals. »Ich hab gesagt, gib mir dein Geld.«
»Was?« Ich wiederhole mich; wahrscheinlich nicht die beste Strategie, um die Situation zu entspannen.
»Ich mache keine Witze.« Er drückt mich mit seinem mageren Körper an die Mauer hinter mir. Auf einmal lässt er meine Haare los und beginnt, in meiner Handtasche zu kramen. Er zieht mein Portemonnaie heraus, und das Rezept, das ich in der Hand halte, flattert zu Boden.
»Hey!« Der Verlust des Rezepts bereitet mir mehr Sorgen als alles andere.
Er hält mir das Portemonnaie unter die Nase. »Dein Geld. Hol es raus.«
Erstaunt schaue ich ihn an, und dann trifft mich die Ironie der Situation, und ich muss unwillkürlich lachen. »Ist das ... ist das ein Überfall?«
Er sieht mich an, als ob ich geisteskrank wäre. »Nee, ich will mich mit dir verabreden.« Unter diesen Umständen fast eine witzige Bemerkung. Ohne das Messer von meinem Hals zu nehmen, öffnet er mit einer Hand mein Portemonnaie und blickt hinein. Er wirft mir einen verächtlichen Blick zu.
»Ist das alles?« Er dreht das Portemonnaie um, und ein Fünf-Pfund-Schein und ein paar Münzen fallen heraus.
»Ja, nun«, verteidige ich mich. »Ich wollte nur eine kleine Besorgung machen.«
»Verdammte Scheiße.« Angewidert spuckt er mir vor die Füße und drückt mir das Messer fester an den Hals. »Also gut«, haucht er und beugt sich wieder näher zu mir. Jemand sollte ihm mal sagen, dass er Mundgeruch hat. »Hol deine Karte raus, und wir gehen zum Geldautomaten. Und versuch bloß nicht abzuhauen.«
»Was?« Ich starre ihn empört an. »Nein - ich kann jetzt nicht zum Geldautomaten. Ich habe heute Abend etwas vor.« Mein schönes sauberes Haus steht mir plötzlich vor Augen. »Ich habe sogar schon die Bettwäsche gewechselt.«
»Was?« Ihm fällt der Unterkiefer herunter, und ich nutze sein kurzes Zögern aus, um zurückzuweichen und ihm mein Portemonnaie aus der Hand zu reißen.
»Ich habe Nein gesagt.« Gereizt schließe ich das Portemonnaie wieder. Wut steigt in mir auf - ich bin wieder auf vertrautem Territorium. Es ist eine Sache, selbst die Entscheidung zu fassen, dass ich mir das Leben nehme, aber ich lasse mich nicht von einem pickeligen Jugendlichen mit schlechten Zähnen und abgekauten Nägeln bedrohen. »Für wen hältst du dich? Wer bist du überhaupt?«
Der Junge runzelt die Stirn, und alarmiert stelle ich fest, dass in seinen Augen Lust aufleuchtet. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor ich einen Satz herausbringe, drängt mich der Jugendliche erneut an die Wand, fährt mit der Zunge lasziv über seine Lippen und prüft die Spitze des Messers mit kaltem Lächeln an der Spitze seines Zeigefingers.
»Ich sag dir, wer ich bin, Liebchen.« Beinahe verführerisch lässt er das Messer über meine Wange gleiten, beugt sich vor, und einen Moment lang denke ich, er will mich küssen. Aber dann haucht er mir seinen nächsten Satz direkt in den Mund.
»Ich bin dein schlimmster Albtraum.«
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Susy Mcphee
- 2011, 1, 301 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007806
- ISBN-13: 9783868007800
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