Weil ich euch liebte
Dass seine Frau Sheila bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist ein Schock für Glen Garber. Doch als er erfährt, dass sie Alkohol im Blut hatte, versteht er die Welt nicht mehr.
Glen Garber durchlebt eine schwere...
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Produktinformationen zu „Weil ich euch liebte “
Dass seine Frau Sheila bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, ist ein Schock für Glen Garber. Doch als er erfährt, dass sie Alkohol im Blut hatte, versteht er die Welt nicht mehr.
Glen Garber durchlebt eine schwere Zeit. Seine Frau verursacht einen Verkehrsunfall und ist auf der Stelle tot. In ihrem Auto findet man eine leere Wodka-Flasche und in ihrem Blut einen erhöhten Alkoholspiegel. Glen ist völlig verwirrt, doch die Beweislage scheint eindeutig und als alleinerziehender Vater hat er auch keine Zeit, Nachforschungen anzustellen. Als kurz darauf jedoch Sheilas Freundin Ann tot im Hafenbecken gefunden wird, macht sich Glen auf die Suche nach Antworten. Angeblich war Ann in den Handel mit gefälschten Luxushandtaschen verwickelt. Glen stößt bei seinen Recherchen auf einen skrupellosen Fälscherring. Diese Entdeckung bringt allerdings ihn und seine Tochter in höchste Gefahr.
Nach einer schwierigen Kindheit als Halbwaise machte LINWOOD BARCLAY, Jahrgang 1955, seinen Abschluss in Literatur an der Trent University in Ontario. Lange Jahre arbeitete er als Journalist und Sachbuchautor. Der Durchbruch gelang Barclay mit seinem Debut-Thriller "Ohne ein Wort", der auf Anhieb ein internationaler Bestseller wurde. Es folgten "Dem Tode nah", "In Todesangst" und "Kein Entkommen". Neben seiner journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit ist Linwood Barclay ein viel gebuchter Redner. Mit seiner Frau und zwei Kindern lebt er in Toronto.
Nur bei Weltbild!
Lese-Probe zu „Weil ich euch liebte “
Weil ich euch liebte von Linwood BarclayPROLOG
... mehr
Sie hießen Edna Bauder und Pam Steigerwald und waren Grundschullehrerinnen aus Butler, Pennsylvania. In New York waren sie noch nie gewesen. Obwohl New York natürlich nicht aus der Welt war. Aber wenn man in Butler lebte, konnte man durchaus diesen Eindruck gewinnen. Als Pams vierzigster Geburtstag vor der Tür stand, versprach ihr ihre Freundin Edna ein Geburtstagswochenende, das sie niemals vergessen würde. Und mit dieser Vorhersage sollte sie zu hundert Prozent recht behalten.
Entzückt nahmen die beiden Ehemänner zur Kenntnis, dass ein reines Damenwochenende geplant war. Als sich auch noch herausstellte, dass zwei Tage Shoppen, eine Broadway-Aufführung und die Sex-and-the-City-Tour auf dem Programm standen, waren sie sich einig: dann lieber zu Hause
bleiben und sich die Kugel geben! Also setzten sie ihre Frauen in den Bus, sagten, amüsiert euch schön, aber trinkt nicht zu viel, denn in New York wimmelt es von Straßenräubern, das weiß jeder, und da müsst ihr eure fünf Sinne beisammenhalten.
Edna und Pam fanden ein Hotel in der Nähe der Kreuzung 50. Straße und 3. Avenue zu einem, zumindest für New Yorker Verhältnisse, annehmbaren Preis. Dafür, dass sie dort nur schlafen wollten, war er allerdings immer noch ganz schön gesalzen. Sie hatten sich geschworen, zu sparen und nicht mit dem Taxi zu fahren. Doch die U-Bahn-Netzpläne sahen aus wie das Schaltschema für das Space Shuttle, und da dachten sie: Was soll's? Sie gingen zu Bloomingdale's und Macy's und in einen riesigen Schuhladen am Union Square, in den sämtliche Geschäfte von Butler hineingepasst und noch immer genügend Platz fürs Postamt gelassen hätten.
»In diesem Laden sollt ihr meine Asche verstreuen, wenn ich mal tot bin«, sagte Edna beim Anprobieren von einem Paar Sandalen.
Eigentlich wollten sie auf die Aussichtsplattform des Empire State Building, doch die Warteschlange war endlos, und wenn man nur achtundvierzig Stunden für den Big Apple hat, stellt man sich nicht drei davon in eine Schlange, und so ließen sie's sein. Pam wollte in dem Lokal zu Mittag essen, wo Meg Ryan in diesem Film einen Orgasmus vorspielt. Sie bekamen einen Platz genau neben dem Filmtisch - der sogar extra mit einem Schild gekennzeichnet war. In Butler würden sie aber allen erzählen, dass sie am echten Tisch gesessen hätten. Edna be- stellte sich ein Pastrami-Sandwich mit einem Knish, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was ein Knish war. Pam sagte: »Ich will genau das, was sie hat!«, und die beiden kriegten sich vor Lachen nicht mehr ein. Die Kellnerin verdrehte nur die Augen.
Nachher beim Kaffee sagte Edna beinahe übergangslos: »Ich glaube, Phil trifft sich mit dieser Kellnerin aus Denny's Café.« Dann brach sie in Tränen aus, und Pam fragte sie, wie sie denn auf diese Idee käme, und dass sie Ednas Phil für einen anständigen Mann halte, der sie nie betrügen würde, und Edna sagte, sie glaube auch nicht, dass er es tatsächlich mit der Kellnerin trieb oder so was, aber er ginge jeden Tag auf einen Kaffee da hin, also hatte das etwas zu bedeuten. Und sie, Edna, rühre er schon lange nicht mehr an.
Ach, komm, sagte Pam. Wir haben doch alle so viel um die Ohren, wir haben Kinder, Phil hat zwei Jobs, wer hat denn da noch genug Energie?
»Vielleicht hast du recht«, meinte Edna.
»Schluss mit diesen düsteren Gedanken«, sagte Pam. »Du hast mich hierhergebracht, damit ich mich amüsiere.« Sie schlug ihren New-York-Führer an der Stelle auf, die sie mit einem Klebezettel markiert hatte. »Dagegen hilft nur Konsumtherapie. Auf in die Canal Street.«
Edna hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Farn erklärte ihr, dort könne man Handtaschen - Designerhandtaschen oder zumindest Taschen, die wie Designertaschen aussahen - zu einem Spottpreis erstehen. Man müsse sich halt durchfragen. Sie habe in einer Zeitschrift gelesen, die besten Stücke finde man in keinem Schaufenster. Um ein echtes Schnäppchen zu machen, misse man in die Hinterzimmer oder so ähnlich.
»Keiner versteht mich so wie du, Süße«, sagte Edna.
Also schwangen sie sich ins nächste Taxi und sagten, sie wollten zur Canal Street, Ecke Broadway. Doch an der Kreuzung Lafayette und Grand Street kam das Taxi abrupt zum Stehen.
»Was ist los?«, fragte Edna den Fahrer.
»Unfall«, antwortete er mit einem Akzent, den Pam nicht zuordnen konnte. Von Salvadorianisch bis Schweizerisch war alles drin. »Kann nicht abbiegen. Aber ist nicht mehr weit. Nur paar Straßen da lang.«
Pam zahlte, und sie marschierten los, Richtung Canal Street. An der nächsten Ecke hatte sich eine Menschentraube gebildet. »0 Gott«, sagte Edna
Sie schaute weg, doch Pam blieb wie gelähmt stehen. Ein Mann lag mit gespreizten Beinen auf der Motorhaube eines Taxis, das in eine Ampel gerast war. Sein Kopf hatte die Windschutzscheibe durchstoßen, und sein Oberkörper hing über das Armaturenbrett. Ein völlig verbeultes Fahrrad klemmte zwischen den Vorderrädern des Taxis. Der Platz am Steuer war leer. Vielleicht hatte man den Fahrer schon ins Krankenhaus gebracht. Feuerwehrleute und Polizisten untersuchten den Wagen und forderten die Umstehenden auf zurückzutreten.
»Scheiß Fahrradkuriere«, sagte jemand. »Ein Wunder, dass da nicht öfter was passiert.«
Edna ergriff Farns Ellbogen. Ich kann da nicht hinsehen.« Als sie endlich die Ecke Canal Street und Broadway erreichten, hatten sie den schrecklichen Anblick zwar noch nicht ganz verarbeitet, doch »So was passiert halt« wie ein Mantra oft genug vor sich hin gebetet, uni doch noch das Beste aus diesem Wochenende zu machen.
Mit der Kamera ihres Handys knipste erst Pam ein Foto von Edna unter einem Straßenschild mit der Aufschrift »Broadway«, dann machte Edna eines von Pam. Ein Passant bot an, Fotos von ihnen beiden zu schießen, doch Edna sagte, nein danke, und später zu Pam, das sei sicher nur ein Trick gewesen, um ihnen die Handys zu stehlen. »Ganz blöd bin ich schließlich auch nicht«, meinte Edna.
Sie schlenderten die Canal Street in östlicher Richtung entlang und kamen sich plötzlich wie im Ausland vor, Sahen so nicht die Markte in Hongkong oder Marokko oder Thailand aus? Eng aneinander gequetschte Läden, deren Waren sich auf die Straße ergossen?
»Nicht gerade Sean«, sagte Pam.
»So viele Chinesen«, sagte Edna,
»Ich glaube, das kommt daher, dass wir in Chinatown sind«, meinte Pam.
Ein Obdachloser in einem Trikot der Toronto Maple Leafi bat um ein paar Münzen. Ein anderer Mann wollte ihnen ein Flugblatt aufdrängen, doch Palm hob abwehrend die Hand. Schwärme halbwüchsiger Mädchen kicherten und gafften, und manche schafften es sogar, sich zu unterhalten, während sie sich über Ohrstöpsel mit Musik beschallen ließen.
Die Schaufenster der Läden waren vollgestopft mit Halsketten, Uhren und Sonnenbrillen. Ein Schild vor einem der Läden verkündete: »WIR KAUFEN GOLD«. Von einer Feuerleiter hing ein langes vertikales Schild mit der Aufschrift: »Tattoos - Body Piercing - Zubehör für Henna-Körperbemalung - Körperschmuck en gros - Bücher Magazine Kunstobjekte 2. Stock«. Weitere Schilder warben für »Leder« und »Pashmina«. Es gab unzählige Werbebanner mit chinesischen Schriftzeichen. Und sogar einen Burger King.
Die beiden Frauen betraten einen Laden und stellten fest, dass es in Wirklichkeit ein paar Dutzend waren. Wie in einem Mini-Einkaufszentrum oder auf einem Flohmarkt hatte jedes Geschäft seine eigene kleine Glaszelle. Und seine eigenen Spezialprodukte. Schmuck, DVDs, Uhren, Handtaschen.
»Guck mal hier«, sagte Edna. »Eine Rolex.«
»Die ist nicht echt«, sagte Pam, »Sieht aber toll aus. Glaubst du, irgendwer in Butler merkt den Unterschied?«
»Glaubst du, irgendwer in Butler weiß überhaupt, was eine Rolex ist?« Edna lachte. »Oh! Schau dir mal diese Taschen an!«
Fendi, Coach, Kate Spade, Louis Vuitton, Prada. »Und die Preise. Unglaublich«, sagte Pam. »Was würdest du normalerweise für so eine Tasche hinblättern?«
»Viel, viel mehr.«
Der chinesische Ladeninhaber fragte, ob er helfen könne. Pam, die den Eindruck erwecken wollte, sie kenne sich hier bestens aus, was nicht so leicht war, wenn einem ein Reiseführer New York aus der Tasche lugte, fragte: »Wo haben Sie denn die richtigen Schnäppchen?«
»Was ? «, fragte er zurück.
»Die sind ja ganz hübsch«, meinte sie. »Aber wo haben Sie die wirklich erstklassigen Stücke?«
Edna schüttelte nervös den Kopf. »Aber die sind doch nicht schlecht. Wir können uns hier was aussuchen.«
Doch Pam ließ nicht locker. »Eine Freundin hat mir gesagt - ich weiß nicht, ob jetzt speziell bei Ihnen - , es soll noch andere Taschen geben, die nicht ausgestellt sind.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Fragen Sie sie«, sagte er und zeigte auf einen Stand noch tiefer in diesem Ladenlabyrinth.
Pam ging hin, warf einen flüchtigen Blick auf die Taschen und fragte die alte Chinesin in der glänzenden roten Seidenjacke, wo sie die guten Stücke versteckt halte.
»Hah?«, sagte die Frau.
»Die besten Taschen«, erklärte Pam. »Die besten Imitationen.«
Die Frau sah Pam und Edna lange an. Wenn das verdeckte Ermittlerinnen waren, dann waren es die besten, die ihr je untergekommen waren. Schließlich sagte sie: »Gehen Sie hinten raus, dann links, suchen Sie die Tür mit der Nummer acht drauf. Da gehen Sie rein. Andy wird Ihnen weiterhelfen.«
Pam warf Edna einen begehrlichen Blick zu. »Danke!«, sagte sie, packte Edna am Arm und führte sie zu einer Tür am Ende des schmalen Korridors.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Edna.
»Keine Panik, ist doch nichts dabei.«
Doch selbst Pam stutzte, als sie zur Tür hinausgingen und sich plötzlich in einer engen Hintergasse wiederfanden. Müllcontainer, überall verstreuter Abfall, ausrangierte Haushaltsgeräte. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und als Edna den Griff packte, stellte sie fest, dass sich die Tür nicht öffnen ließ.
»Na, toll«, sagte sie. »Als ob mich der Unfall vorhin nicht schon genug geschockt hätte.«
»Sie hat gesagt, links, also halten wir uns links«, sagte Pam.
Schon wenige Schritte weiter stießen sie auf die Metalltür, auf die eine Acht gemalt war. »Sollen wir klopfen oder gehen wir einfach rein?«, fragte Pam.
»Du hattest die grandiose Idee, nicht ich«, erwiderte Edna.
Pam klopfte leise, und als nach zehn Sekunden niemand geöffnet hatte, zog sie am Griff. Die Tür war nicht verschlossen. Vor ihnen lagen ein paar Stufen, die in ein dunkles Treppenhaus führten. Doch unten war ein schwacher Lichtschimmer zu sehen.
»Hallo? Andy?«, rief Pam. Keine Antwort.
»Gehen wir«, sagte Edna.
»Ich habe in dem anderen Laden ein paar Taschen gesehen, die waren perfekt.«
»Jetzt sind wir schon einmal da«. meinte Pam, »dann können wir uns auch umsehen.« Sie stieg die Treppe hinunter und spürte, wie die Temperatur bei jedem Schritt weiter sank. Unten spähte sie in einen Raum, dann blickte sie wieder zu Edna hoch. Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Das ist so abgefahren.«
Edna folgte ihr in den engen Raum. Er war von oben bis unten vollgestopft mit Handtaschen. Sie lagen auf Tischen, hingen von Haken an den Wänden und an der Decke.. Vielleicht war es die Kälte hier unten, aber das Ganze erinnerte Edna an einen Fleischkühlraum, nur dass statt Rindfleisch überall Lederwaren baumelten.
»Ich muss tot sein«, sagte Pam. »Wir sind im Handtaschenhimmel.«
Im flackernden Licht der Neonröhren über ihren Köpfen begannen sie, sich durch die Taschen auf den Schautischen zu wühlen.
»Wenn das eine Fendi-Imitation ist, fresse ich einen Besen«, sagte Edna, während sie eine der Taschen genauer unter die Lupe nahm. »Das Leder fühlt sich so echt an. Ich meine, das Leder ist doch auf jeden Fall echt, oder? Nur die Logos sind gefälscht. Ich würde zu gern wissen, wie viel die hier kostet.«
Pam erblickte an einem Ende des Raums eine Tür mit einem Vorhang davor. »Vielleicht ist dieser Andy ja da drin?« Sie ging auf die Tür zu.
»Warte«, sagte Edna. »Wir sollten von hier verschwinden. Schau uns doch an. Wir sind in einem Keller in New York City, irgendwo weit ab vom Schuss, und kein Mensch weiß, dass wir da sind.«
Pam verdrehte die Augen. »Meine Güte, das ist Pennsylvania, wie es leibt und lebe« Jetzt stand sie vor dem Durchgang und rief: »Mr. Andy? Die chinesische Dame sagte, wir sollen uns an Sie wenden.« Sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Dummheit. Chinesische Dame! Eine wahrhaft hilfreiche Personenbeschreibung in Chinatown.
Edna unterzog das Futter der gefälschten Fendi-Tasche einer eingehenden Prüfung.
Pam zog den Vorhang zur Seite.
Edna hörte ein komisches Geräusch, eine Art »Pfft«, und sah in die Richtung, aus der es gekommen war. Da lag ihre Freundin schon auf dem Boden und regte sich nicht.
»Pam?« Sie ließ die Tasche fallen und rannte zu ihr. »Pam, alles in Ordnung mit dir?«
Beim Näherkommen sah sie, dass Pam, die auf dem Rücken lag, einen roten Punkt mitten auf der Stirn hatte und dass daraus etwas hervorsickerte. Als sei Pam leckgeschlagen.
»0 Gott, Pam?«
Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und ein großer, dünner Mann mit dunklem Haar und einer Narbe über einem Auge trat hervor. Er hatte eine Pistole, und die war genau auf Ednas Kopf gerichtet.
Das Letzte, was Edna sah, direkt hinter dem Vorhang in dem anderen Raum, war ein alter Chinese, der an einem Schreibtisch saß. Er lag mit der Stirn auf der Tischplatte, und ein Blutrinnsal floss ihm aus der Schläfe.
Das Letzte, was Edna hörte, war eine Frau - nicht Pam, denn Pam hatte ein für alle Mal ausgeredet -, die sagte: »Wir müssen hier weg.«
Das Letzte, was Edna dachte, war: Nach Hause. Ich will nach Hause.
ZWEI MONATE SPÄTER
EINS
Wenn ich gewusst hätte, dass das unser letzter gemeinsamer Morgen war, hätte ich mich im Bett zu ihr gedreht und sie in den Arm genommen. Und natürlich hatte ich sie nicht mehr losgelassen, wenn es möglich gewesen wäre, so etwas zu wissen - wenn ich irgendwie in die Zukunft hätte sehen können. Und dann wäre alles anders gekommen.
Ich hatte schon eine Weile an die Decke gestarrt, als ich schließlich das Laken zurückschlug und die Füße auf das Parkett setzte.
Wie hast du geschlafen?«, fragte Sheila, während ich mir noch die Augen rieb. Sie legte mir die Hand auf den Rücken.
»Nicht besonders. Und du?«
»Bin immer wieder aufgewacht.«
»Ich hab gespürt, dass du wach warst, aber ich wollte dich nicht nerven, falls du doch schläfst«, sagte ich mit einem Blick über die Schulter. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages drangen durch die Vorhänge und spielten mit Sheilas Zügen. Sie lag da und sah mich an. Der frühe Morgen ist zwar nicht unbedingt die ideale Tageszeit, um die Menschen von ihrer Schokoladenseite zu zeigen, aber bei Sheila war das anders. Sie war immer schön. Sogar wenn sie, wie jetzt, ein sorgenvolles Gesicht machte.
Ich wendete den Kopf wieder ab und sah hinunter auf meine Füße. »Ich konnte ewig nicht einschlafen. Irgendwann um zwei muss ich dann doch weggedöst sein, und als ich wieder
auf die Uhr sah, war's fünf. Seither lieg ich wach.«
»Glen, alles wird gut«, sagte heila. Sie strich mir beruhigend mit der Hand über den Rücken.
»Hm, ja. ich bin froh, dass du daran glaubst.«
»Es geht auch wieder aufwärts. Alles verläuft zyklisch. Auch eine Rezession dauert nicht ewig.«
Ich seufzte. »Diese anscheinend schon. Wenn ich unsere aktuellen Aufträge abgearbeitet habe, sieht's mau aus. Hier ein bisschen was, dort ein bisschen was, letzte Woche habe ich ein paar Angebote rausgeschickt - eins für eine Küche, eins für einen Kellerausbau -, aber die Leute haben nicht zurückgerufen.«
Ich stand auf, drehte mich um und sagte: »Und was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen? Warum starrst du die ganze Nacht an die Decke?«
»Ich mach mir Sorgen um dich. Und mir geht auch so einiges durch den Kopf.«
»Was denn?«
»Nichts«, sagte sie schnell. »Ich meine, das Übliche. Dieser Kurs, den ich gerade mache, Kelly, deine Arbeit«
»Ist was mit Kelly?«
»Aber nein. Ich bin eine Mutter, und sie ist acht. Den Rest kannst du dir ja denken. Aber wenn ich den Kurs hinter mir habe, kann ich dir mehr helfen. Dann wird alles leichter.«
»Als du beschlossen hast, diesen Kurs zu belegen, brummte der Laden, und es gab einen guten Grund, ihn zu machen. Aber jetzt weiß ich nicht, ob wir überhaupt genug Arbeit für dich haben werden«, sagte ich. »Ich hoffe nur, es reicht für Sally.«
Sheila hatte ihren Buchhaltungskurs Mitte August begonnen, und jetzt, zwei Monate später, machte er ihr mehr Spaß, als sie je gedacht hätte. Sie sollte eines Tages die laufende Buchhaltung für den Betrieb übernehmen, Garber-Bau, die Firma, die einmal meinem Vater gehört hatte und die jetzt ich leitete. Sie konnte das sogar von zu Hause aus tun und dadurch Sally Diehl, unsere »Bürodame«, entlasten, die sich dann mehr auf allgemeine Verwaltungsaufgaben und den Telefondienst konzentrieren, Lieferanten Dampf machen und Kundenanfragen bearbeiten konnte. Für die Buchhaltung blieb ihr normalerweise keine Zeit, und so saß ich abends bis Mitternacht zu Hause am Schreibtisch, um sie abzuarbeiten. Doch jetzt, wo die Aufträge ausblieben, hatte ich keine Ahnung, wie sich alles weiterentwickeln würde.
»Und jetzt diese Brandgeschichte -«
»Es reicht«, sagte Sheila.
»Sheila, eins meiner Häuser ist abgebrannt, verdammt noch mal. Jetzt sag du mir bloß nicht, alles wird gut.«
Sie setzte sich im Bett auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht zulassen, dass du dir und mir alles vermiest. Das tust du nämlich.«
»Ich sage nur, wies ist.«
»Und ich sage dir, wie's sein wird«, antwortete sie. »Alles wird gut. Weil wir nämlich dafür sorgen werden. Du und ich. Wir beißen uns durch. Wir finden immer einen Ausweg.« Einen Moment sah sie weg, als wolle sie noch etwas sagen, sei sich dessen aber nicht ganz sicher. Schließlich sagte sie: »Ich hab da ein paar Ideen.«
»Was für Ideen?«
»Ideen, die uns weiterhelfen. Über diese Durststrecke zu kommen.«
Ich stand mit geöffneten Armen da und wartete.
»Du bist so im Stress, so mit deinen eigenen Problemen beschäftigt - damit will ich nicht sagen, dass es nicht Riesenprobleme sind -, dass es dir gar nicht aufgefallen ist.«
»Was hätte mir auffallen sollen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich habe Kelly neue Kleider für die Schule gekauft.«
»Ja, gut.«
»Und zwar wirklich schöne,«
Ich kniff die Augen zusammen. »Soll heißen?«
»Ich hab ein bisschen Geld verdient.«
Ich hätte gedacht, das wüsste ich bereits. Sheila hatte einen Teilzeitjob an der Kasse eines Baustoffgroßmarkts - ungefähr zwanzig Stunden die Woche. Dort hatten sie zwar erst kürzlich diese Selbstbedienungskassen installiert, doch solange die Leute damit nicht umgehen konnten, würde Sheila ihren Job behalten. Und seit letztem Sommer half sie unserer Nachbarin, Juan Mueller, die von zu Hause aus arbeitete, bei deren Buchhaltung. Ihr Mann Ely war vor einem Jahr bei der Explosion einer Bohrinsel vor Neufundland ums Leben gekommen. Sie musste sich noch immer mit der Ölgesellschaft um die Abfindung herumstreiten und hatte deshalb begonnen, als Tagesmutter zu arbeiten. Jeden Morgen wurden vier, fünf Vorschulkinder bei ihr abgeliefert. Und an den Schultagen, an denen Sheila arbeitete, blieb Kelly bei Joan, bis einer von uns beiden nach Hause kam. Sheila hatte mit Joan ein Buchhaltungssystem entwickelt, mit dem sie immer verfolgen konnte, wie viel die Eltern ihr schuldeten und wer was bezahlt hatte. Juan liebte Kinder, konnte aber kaum bis zehn zählen.
»Ich weiß, dass du dazuverdienst«, sagte ich. »Juan und der Baumarkt. Alles hilft.«
Sie nickte nicht, schüttelte aber auch nicht den Kopf. »Damit kann ich kaum unsere Fertiggerichte finanzieren. Ich rede von richtigem Geld.«
Übersetzung: Silvia Visintini
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Sie hießen Edna Bauder und Pam Steigerwald und waren Grundschullehrerinnen aus Butler, Pennsylvania. In New York waren sie noch nie gewesen. Obwohl New York natürlich nicht aus der Welt war. Aber wenn man in Butler lebte, konnte man durchaus diesen Eindruck gewinnen. Als Pams vierzigster Geburtstag vor der Tür stand, versprach ihr ihre Freundin Edna ein Geburtstagswochenende, das sie niemals vergessen würde. Und mit dieser Vorhersage sollte sie zu hundert Prozent recht behalten.
Entzückt nahmen die beiden Ehemänner zur Kenntnis, dass ein reines Damenwochenende geplant war. Als sich auch noch herausstellte, dass zwei Tage Shoppen, eine Broadway-Aufführung und die Sex-and-the-City-Tour auf dem Programm standen, waren sie sich einig: dann lieber zu Hause
bleiben und sich die Kugel geben! Also setzten sie ihre Frauen in den Bus, sagten, amüsiert euch schön, aber trinkt nicht zu viel, denn in New York wimmelt es von Straßenräubern, das weiß jeder, und da müsst ihr eure fünf Sinne beisammenhalten.
Edna und Pam fanden ein Hotel in der Nähe der Kreuzung 50. Straße und 3. Avenue zu einem, zumindest für New Yorker Verhältnisse, annehmbaren Preis. Dafür, dass sie dort nur schlafen wollten, war er allerdings immer noch ganz schön gesalzen. Sie hatten sich geschworen, zu sparen und nicht mit dem Taxi zu fahren. Doch die U-Bahn-Netzpläne sahen aus wie das Schaltschema für das Space Shuttle, und da dachten sie: Was soll's? Sie gingen zu Bloomingdale's und Macy's und in einen riesigen Schuhladen am Union Square, in den sämtliche Geschäfte von Butler hineingepasst und noch immer genügend Platz fürs Postamt gelassen hätten.
»In diesem Laden sollt ihr meine Asche verstreuen, wenn ich mal tot bin«, sagte Edna beim Anprobieren von einem Paar Sandalen.
Eigentlich wollten sie auf die Aussichtsplattform des Empire State Building, doch die Warteschlange war endlos, und wenn man nur achtundvierzig Stunden für den Big Apple hat, stellt man sich nicht drei davon in eine Schlange, und so ließen sie's sein. Pam wollte in dem Lokal zu Mittag essen, wo Meg Ryan in diesem Film einen Orgasmus vorspielt. Sie bekamen einen Platz genau neben dem Filmtisch - der sogar extra mit einem Schild gekennzeichnet war. In Butler würden sie aber allen erzählen, dass sie am echten Tisch gesessen hätten. Edna be- stellte sich ein Pastrami-Sandwich mit einem Knish, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, was ein Knish war. Pam sagte: »Ich will genau das, was sie hat!«, und die beiden kriegten sich vor Lachen nicht mehr ein. Die Kellnerin verdrehte nur die Augen.
Nachher beim Kaffee sagte Edna beinahe übergangslos: »Ich glaube, Phil trifft sich mit dieser Kellnerin aus Denny's Café.« Dann brach sie in Tränen aus, und Pam fragte sie, wie sie denn auf diese Idee käme, und dass sie Ednas Phil für einen anständigen Mann halte, der sie nie betrügen würde, und Edna sagte, sie glaube auch nicht, dass er es tatsächlich mit der Kellnerin trieb oder so was, aber er ginge jeden Tag auf einen Kaffee da hin, also hatte das etwas zu bedeuten. Und sie, Edna, rühre er schon lange nicht mehr an.
Ach, komm, sagte Pam. Wir haben doch alle so viel um die Ohren, wir haben Kinder, Phil hat zwei Jobs, wer hat denn da noch genug Energie?
»Vielleicht hast du recht«, meinte Edna.
»Schluss mit diesen düsteren Gedanken«, sagte Pam. »Du hast mich hierhergebracht, damit ich mich amüsiere.« Sie schlug ihren New-York-Führer an der Stelle auf, die sie mit einem Klebezettel markiert hatte. »Dagegen hilft nur Konsumtherapie. Auf in die Canal Street.«
Edna hatte keine Ahnung, was das sein sollte. Farn erklärte ihr, dort könne man Handtaschen - Designerhandtaschen oder zumindest Taschen, die wie Designertaschen aussahen - zu einem Spottpreis erstehen. Man müsse sich halt durchfragen. Sie habe in einer Zeitschrift gelesen, die besten Stücke finde man in keinem Schaufenster. Um ein echtes Schnäppchen zu machen, misse man in die Hinterzimmer oder so ähnlich.
»Keiner versteht mich so wie du, Süße«, sagte Edna.
Also schwangen sie sich ins nächste Taxi und sagten, sie wollten zur Canal Street, Ecke Broadway. Doch an der Kreuzung Lafayette und Grand Street kam das Taxi abrupt zum Stehen.
»Was ist los?«, fragte Edna den Fahrer.
»Unfall«, antwortete er mit einem Akzent, den Pam nicht zuordnen konnte. Von Salvadorianisch bis Schweizerisch war alles drin. »Kann nicht abbiegen. Aber ist nicht mehr weit. Nur paar Straßen da lang.«
Pam zahlte, und sie marschierten los, Richtung Canal Street. An der nächsten Ecke hatte sich eine Menschentraube gebildet. »0 Gott«, sagte Edna
Sie schaute weg, doch Pam blieb wie gelähmt stehen. Ein Mann lag mit gespreizten Beinen auf der Motorhaube eines Taxis, das in eine Ampel gerast war. Sein Kopf hatte die Windschutzscheibe durchstoßen, und sein Oberkörper hing über das Armaturenbrett. Ein völlig verbeultes Fahrrad klemmte zwischen den Vorderrädern des Taxis. Der Platz am Steuer war leer. Vielleicht hatte man den Fahrer schon ins Krankenhaus gebracht. Feuerwehrleute und Polizisten untersuchten den Wagen und forderten die Umstehenden auf zurückzutreten.
»Scheiß Fahrradkuriere«, sagte jemand. »Ein Wunder, dass da nicht öfter was passiert.«
Edna ergriff Farns Ellbogen. Ich kann da nicht hinsehen.« Als sie endlich die Ecke Canal Street und Broadway erreichten, hatten sie den schrecklichen Anblick zwar noch nicht ganz verarbeitet, doch »So was passiert halt« wie ein Mantra oft genug vor sich hin gebetet, uni doch noch das Beste aus diesem Wochenende zu machen.
Mit der Kamera ihres Handys knipste erst Pam ein Foto von Edna unter einem Straßenschild mit der Aufschrift »Broadway«, dann machte Edna eines von Pam. Ein Passant bot an, Fotos von ihnen beiden zu schießen, doch Edna sagte, nein danke, und später zu Pam, das sei sicher nur ein Trick gewesen, um ihnen die Handys zu stehlen. »Ganz blöd bin ich schließlich auch nicht«, meinte Edna.
Sie schlenderten die Canal Street in östlicher Richtung entlang und kamen sich plötzlich wie im Ausland vor, Sahen so nicht die Markte in Hongkong oder Marokko oder Thailand aus? Eng aneinander gequetschte Läden, deren Waren sich auf die Straße ergossen?
»Nicht gerade Sean«, sagte Pam.
»So viele Chinesen«, sagte Edna,
»Ich glaube, das kommt daher, dass wir in Chinatown sind«, meinte Pam.
Ein Obdachloser in einem Trikot der Toronto Maple Leafi bat um ein paar Münzen. Ein anderer Mann wollte ihnen ein Flugblatt aufdrängen, doch Palm hob abwehrend die Hand. Schwärme halbwüchsiger Mädchen kicherten und gafften, und manche schafften es sogar, sich zu unterhalten, während sie sich über Ohrstöpsel mit Musik beschallen ließen.
Die Schaufenster der Läden waren vollgestopft mit Halsketten, Uhren und Sonnenbrillen. Ein Schild vor einem der Läden verkündete: »WIR KAUFEN GOLD«. Von einer Feuerleiter hing ein langes vertikales Schild mit der Aufschrift: »Tattoos - Body Piercing - Zubehör für Henna-Körperbemalung - Körperschmuck en gros - Bücher Magazine Kunstobjekte 2. Stock«. Weitere Schilder warben für »Leder« und »Pashmina«. Es gab unzählige Werbebanner mit chinesischen Schriftzeichen. Und sogar einen Burger King.
Die beiden Frauen betraten einen Laden und stellten fest, dass es in Wirklichkeit ein paar Dutzend waren. Wie in einem Mini-Einkaufszentrum oder auf einem Flohmarkt hatte jedes Geschäft seine eigene kleine Glaszelle. Und seine eigenen Spezialprodukte. Schmuck, DVDs, Uhren, Handtaschen.
»Guck mal hier«, sagte Edna. »Eine Rolex.«
»Die ist nicht echt«, sagte Pam, »Sieht aber toll aus. Glaubst du, irgendwer in Butler merkt den Unterschied?«
»Glaubst du, irgendwer in Butler weiß überhaupt, was eine Rolex ist?« Edna lachte. »Oh! Schau dir mal diese Taschen an!«
Fendi, Coach, Kate Spade, Louis Vuitton, Prada. »Und die Preise. Unglaublich«, sagte Pam. »Was würdest du normalerweise für so eine Tasche hinblättern?«
»Viel, viel mehr.«
Der chinesische Ladeninhaber fragte, ob er helfen könne. Pam, die den Eindruck erwecken wollte, sie kenne sich hier bestens aus, was nicht so leicht war, wenn einem ein Reiseführer New York aus der Tasche lugte, fragte: »Wo haben Sie denn die richtigen Schnäppchen?«
»Was ? «, fragte er zurück.
»Die sind ja ganz hübsch«, meinte sie. »Aber wo haben Sie die wirklich erstklassigen Stücke?«
Edna schüttelte nervös den Kopf. »Aber die sind doch nicht schlecht. Wir können uns hier was aussuchen.«
Doch Pam ließ nicht locker. »Eine Freundin hat mir gesagt - ich weiß nicht, ob jetzt speziell bei Ihnen - , es soll noch andere Taschen geben, die nicht ausgestellt sind.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Fragen Sie sie«, sagte er und zeigte auf einen Stand noch tiefer in diesem Ladenlabyrinth.
Pam ging hin, warf einen flüchtigen Blick auf die Taschen und fragte die alte Chinesin in der glänzenden roten Seidenjacke, wo sie die guten Stücke versteckt halte.
»Hah?«, sagte die Frau.
»Die besten Taschen«, erklärte Pam. »Die besten Imitationen.«
Die Frau sah Pam und Edna lange an. Wenn das verdeckte Ermittlerinnen waren, dann waren es die besten, die ihr je untergekommen waren. Schließlich sagte sie: »Gehen Sie hinten raus, dann links, suchen Sie die Tür mit der Nummer acht drauf. Da gehen Sie rein. Andy wird Ihnen weiterhelfen.«
Pam warf Edna einen begehrlichen Blick zu. »Danke!«, sagte sie, packte Edna am Arm und führte sie zu einer Tür am Ende des schmalen Korridors.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Edna.
»Keine Panik, ist doch nichts dabei.«
Doch selbst Pam stutzte, als sie zur Tür hinausgingen und sich plötzlich in einer engen Hintergasse wiederfanden. Müllcontainer, überall verstreuter Abfall, ausrangierte Haushaltsgeräte. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und als Edna den Griff packte, stellte sie fest, dass sich die Tür nicht öffnen ließ.
»Na, toll«, sagte sie. »Als ob mich der Unfall vorhin nicht schon genug geschockt hätte.«
»Sie hat gesagt, links, also halten wir uns links«, sagte Pam.
Schon wenige Schritte weiter stießen sie auf die Metalltür, auf die eine Acht gemalt war. »Sollen wir klopfen oder gehen wir einfach rein?«, fragte Pam.
»Du hattest die grandiose Idee, nicht ich«, erwiderte Edna.
Pam klopfte leise, und als nach zehn Sekunden niemand geöffnet hatte, zog sie am Griff. Die Tür war nicht verschlossen. Vor ihnen lagen ein paar Stufen, die in ein dunkles Treppenhaus führten. Doch unten war ein schwacher Lichtschimmer zu sehen.
»Hallo? Andy?«, rief Pam. Keine Antwort.
»Gehen wir«, sagte Edna.
»Ich habe in dem anderen Laden ein paar Taschen gesehen, die waren perfekt.«
»Jetzt sind wir schon einmal da«. meinte Pam, »dann können wir uns auch umsehen.« Sie stieg die Treppe hinunter und spürte, wie die Temperatur bei jedem Schritt weiter sank. Unten spähte sie in einen Raum, dann blickte sie wieder zu Edna hoch. Sie grinste von einem Ohr zum anderen. »Das ist so abgefahren.«
Edna folgte ihr in den engen Raum. Er war von oben bis unten vollgestopft mit Handtaschen. Sie lagen auf Tischen, hingen von Haken an den Wänden und an der Decke.. Vielleicht war es die Kälte hier unten, aber das Ganze erinnerte Edna an einen Fleischkühlraum, nur dass statt Rindfleisch überall Lederwaren baumelten.
»Ich muss tot sein«, sagte Pam. »Wir sind im Handtaschenhimmel.«
Im flackernden Licht der Neonröhren über ihren Köpfen begannen sie, sich durch die Taschen auf den Schautischen zu wühlen.
»Wenn das eine Fendi-Imitation ist, fresse ich einen Besen«, sagte Edna, während sie eine der Taschen genauer unter die Lupe nahm. »Das Leder fühlt sich so echt an. Ich meine, das Leder ist doch auf jeden Fall echt, oder? Nur die Logos sind gefälscht. Ich würde zu gern wissen, wie viel die hier kostet.«
Pam erblickte an einem Ende des Raums eine Tür mit einem Vorhang davor. »Vielleicht ist dieser Andy ja da drin?« Sie ging auf die Tür zu.
»Warte«, sagte Edna. »Wir sollten von hier verschwinden. Schau uns doch an. Wir sind in einem Keller in New York City, irgendwo weit ab vom Schuss, und kein Mensch weiß, dass wir da sind.«
Pam verdrehte die Augen. »Meine Güte, das ist Pennsylvania, wie es leibt und lebe« Jetzt stand sie vor dem Durchgang und rief: »Mr. Andy? Die chinesische Dame sagte, wir sollen uns an Sie wenden.« Sie hätte sich ohrfeigen können für ihre Dummheit. Chinesische Dame! Eine wahrhaft hilfreiche Personenbeschreibung in Chinatown.
Edna unterzog das Futter der gefälschten Fendi-Tasche einer eingehenden Prüfung.
Pam zog den Vorhang zur Seite.
Edna hörte ein komisches Geräusch, eine Art »Pfft«, und sah in die Richtung, aus der es gekommen war. Da lag ihre Freundin schon auf dem Boden und regte sich nicht.
»Pam?« Sie ließ die Tasche fallen und rannte zu ihr. »Pam, alles in Ordnung mit dir?«
Beim Näherkommen sah sie, dass Pam, die auf dem Rücken lag, einen roten Punkt mitten auf der Stirn hatte und dass daraus etwas hervorsickerte. Als sei Pam leckgeschlagen.
»0 Gott, Pam?«
Der Vorhang wurde zur Seite geschoben, und ein großer, dünner Mann mit dunklem Haar und einer Narbe über einem Auge trat hervor. Er hatte eine Pistole, und die war genau auf Ednas Kopf gerichtet.
Das Letzte, was Edna sah, direkt hinter dem Vorhang in dem anderen Raum, war ein alter Chinese, der an einem Schreibtisch saß. Er lag mit der Stirn auf der Tischplatte, und ein Blutrinnsal floss ihm aus der Schläfe.
Das Letzte, was Edna hörte, war eine Frau - nicht Pam, denn Pam hatte ein für alle Mal ausgeredet -, die sagte: »Wir müssen hier weg.«
Das Letzte, was Edna dachte, war: Nach Hause. Ich will nach Hause.
ZWEI MONATE SPÄTER
EINS
Wenn ich gewusst hätte, dass das unser letzter gemeinsamer Morgen war, hätte ich mich im Bett zu ihr gedreht und sie in den Arm genommen. Und natürlich hatte ich sie nicht mehr losgelassen, wenn es möglich gewesen wäre, so etwas zu wissen - wenn ich irgendwie in die Zukunft hätte sehen können. Und dann wäre alles anders gekommen.
Ich hatte schon eine Weile an die Decke gestarrt, als ich schließlich das Laken zurückschlug und die Füße auf das Parkett setzte.
Wie hast du geschlafen?«, fragte Sheila, während ich mir noch die Augen rieb. Sie legte mir die Hand auf den Rücken.
»Nicht besonders. Und du?«
»Bin immer wieder aufgewacht.«
»Ich hab gespürt, dass du wach warst, aber ich wollte dich nicht nerven, falls du doch schläfst«, sagte ich mit einem Blick über die Schulter. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages drangen durch die Vorhänge und spielten mit Sheilas Zügen. Sie lag da und sah mich an. Der frühe Morgen ist zwar nicht unbedingt die ideale Tageszeit, um die Menschen von ihrer Schokoladenseite zu zeigen, aber bei Sheila war das anders. Sie war immer schön. Sogar wenn sie, wie jetzt, ein sorgenvolles Gesicht machte.
Ich wendete den Kopf wieder ab und sah hinunter auf meine Füße. »Ich konnte ewig nicht einschlafen. Irgendwann um zwei muss ich dann doch weggedöst sein, und als ich wieder
auf die Uhr sah, war's fünf. Seither lieg ich wach.«
»Glen, alles wird gut«, sagte heila. Sie strich mir beruhigend mit der Hand über den Rücken.
»Hm, ja. ich bin froh, dass du daran glaubst.«
»Es geht auch wieder aufwärts. Alles verläuft zyklisch. Auch eine Rezession dauert nicht ewig.«
Ich seufzte. »Diese anscheinend schon. Wenn ich unsere aktuellen Aufträge abgearbeitet habe, sieht's mau aus. Hier ein bisschen was, dort ein bisschen was, letzte Woche habe ich ein paar Angebote rausgeschickt - eins für eine Küche, eins für einen Kellerausbau -, aber die Leute haben nicht zurückgerufen.«
Ich stand auf, drehte mich um und sagte: »Und was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen? Warum starrst du die ganze Nacht an die Decke?«
»Ich mach mir Sorgen um dich. Und mir geht auch so einiges durch den Kopf.«
»Was denn?«
»Nichts«, sagte sie schnell. »Ich meine, das Übliche. Dieser Kurs, den ich gerade mache, Kelly, deine Arbeit«
»Ist was mit Kelly?«
»Aber nein. Ich bin eine Mutter, und sie ist acht. Den Rest kannst du dir ja denken. Aber wenn ich den Kurs hinter mir habe, kann ich dir mehr helfen. Dann wird alles leichter.«
»Als du beschlossen hast, diesen Kurs zu belegen, brummte der Laden, und es gab einen guten Grund, ihn zu machen. Aber jetzt weiß ich nicht, ob wir überhaupt genug Arbeit für dich haben werden«, sagte ich. »Ich hoffe nur, es reicht für Sally.«
Sheila hatte ihren Buchhaltungskurs Mitte August begonnen, und jetzt, zwei Monate später, machte er ihr mehr Spaß, als sie je gedacht hätte. Sie sollte eines Tages die laufende Buchhaltung für den Betrieb übernehmen, Garber-Bau, die Firma, die einmal meinem Vater gehört hatte und die jetzt ich leitete. Sie konnte das sogar von zu Hause aus tun und dadurch Sally Diehl, unsere »Bürodame«, entlasten, die sich dann mehr auf allgemeine Verwaltungsaufgaben und den Telefondienst konzentrieren, Lieferanten Dampf machen und Kundenanfragen bearbeiten konnte. Für die Buchhaltung blieb ihr normalerweise keine Zeit, und so saß ich abends bis Mitternacht zu Hause am Schreibtisch, um sie abzuarbeiten. Doch jetzt, wo die Aufträge ausblieben, hatte ich keine Ahnung, wie sich alles weiterentwickeln würde.
»Und jetzt diese Brandgeschichte -«
»Es reicht«, sagte Sheila.
»Sheila, eins meiner Häuser ist abgebrannt, verdammt noch mal. Jetzt sag du mir bloß nicht, alles wird gut.«
Sie setzte sich im Bett auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich werde nicht zulassen, dass du dir und mir alles vermiest. Das tust du nämlich.«
»Ich sage nur, wies ist.«
»Und ich sage dir, wie's sein wird«, antwortete sie. »Alles wird gut. Weil wir nämlich dafür sorgen werden. Du und ich. Wir beißen uns durch. Wir finden immer einen Ausweg.« Einen Moment sah sie weg, als wolle sie noch etwas sagen, sei sich dessen aber nicht ganz sicher. Schließlich sagte sie: »Ich hab da ein paar Ideen.«
»Was für Ideen?«
»Ideen, die uns weiterhelfen. Über diese Durststrecke zu kommen.«
Ich stand mit geöffneten Armen da und wartete.
»Du bist so im Stress, so mit deinen eigenen Problemen beschäftigt - damit will ich nicht sagen, dass es nicht Riesenprobleme sind -, dass es dir gar nicht aufgefallen ist.«
»Was hätte mir auffallen sollen?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich habe Kelly neue Kleider für die Schule gekauft.«
»Ja, gut.«
»Und zwar wirklich schöne,«
Ich kniff die Augen zusammen. »Soll heißen?«
»Ich hab ein bisschen Geld verdient.«
Ich hätte gedacht, das wüsste ich bereits. Sheila hatte einen Teilzeitjob an der Kasse eines Baustoffgroßmarkts - ungefähr zwanzig Stunden die Woche. Dort hatten sie zwar erst kürzlich diese Selbstbedienungskassen installiert, doch solange die Leute damit nicht umgehen konnten, würde Sheila ihren Job behalten. Und seit letztem Sommer half sie unserer Nachbarin, Juan Mueller, die von zu Hause aus arbeitete, bei deren Buchhaltung. Ihr Mann Ely war vor einem Jahr bei der Explosion einer Bohrinsel vor Neufundland ums Leben gekommen. Sie musste sich noch immer mit der Ölgesellschaft um die Abfindung herumstreiten und hatte deshalb begonnen, als Tagesmutter zu arbeiten. Jeden Morgen wurden vier, fünf Vorschulkinder bei ihr abgeliefert. Und an den Schultagen, an denen Sheila arbeitete, blieb Kelly bei Joan, bis einer von uns beiden nach Hause kam. Sheila hatte mit Joan ein Buchhaltungssystem entwickelt, mit dem sie immer verfolgen konnte, wie viel die Eltern ihr schuldeten und wer was bezahlt hatte. Juan liebte Kinder, konnte aber kaum bis zehn zählen.
»Ich weiß, dass du dazuverdienst«, sagte ich. »Juan und der Baumarkt. Alles hilft.«
Sie nickte nicht, schüttelte aber auch nicht den Kopf. »Damit kann ich kaum unsere Fertiggerichte finanzieren. Ich rede von richtigem Geld.«
Übersetzung: Silvia Visintini
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Linwood Barclay
Linwood Barclay stammt aus den USA, lebt aber seit seiner Kindheit in Kanada. Er arbeitete lange als Journalist und hatte eine beliebte Kolumne im Toronto Star. Seit dem Erscheinen seines ersten Thrillers Ohne ein Wort ist Barclay ein internationaler Bestsellerautor. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Toronto.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linwood Barclay
- 2011, 1, 527 Seiten, Maße: 14,8 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650689
- ISBN-13: 9783863650681
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