Weiße Nana
Mein Leben für Afrika
Kinder, die als Sklaven arbeiten müssen, hochschwangere Frauen, die von medizinischer Versorgung nur träumen können, und Leprakranke, die von ihren Familien verstoßen werden. Als die deutsche Kinderkrankenschwester Bettina Landgrafe zum...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weiße Nana “
Kinder, die als Sklaven arbeiten müssen, hochschwangere Frauen, die von medizinischer Versorgung nur träumen können, und Leprakranke, die von ihren Familien verstoßen werden. Als die deutsche Kinderkrankenschwester Bettina Landgrafe zum ersten Mal nach Ghana kam, ließ sie das Schicksal der Menschen dort nicht mehr los. Sie beschloss, nach Afrika zurückzukehren und zu helfen. Und so wurde aus einmal für immer: Mittlerweile ist Ghana für Bettina Landgrafe zur zweiten Heimat geworden - und sie selbst zur Weißen Nana, einer Königin der Ashanti. "Sie ist ein Energiebündel mit positiver Ausstrahlung, gepaart mit Leidenschaft, dass es einen fast umhaut." Atze Schröder
Klappentext zu „Weiße Nana “
Kinder, die als Sklaven arbeiten müssen, hochschwangere Frauen, die von medizinischer Versorgung nur träumen können, und Leprakranke, die von ihren Familien verstoßen werden. Als die deutsche Kinderkrankenschwester Bettina Landgrafe zum ersten Mal nach Ghana kam, ließ sie das Schicksal der Menschen dort nicht mehr los. Sie beschloss, nach Afrika zurückzukehren und zu helfen. Und so wurde aus einmal für immer: Mittlerweile ist Ghana für Bettina Landgrafe zur zweiten Heimat geworden - und sie selbst zur Weißen Nana, einer Königin der Ashanti."Sie ist ein Energiebündel mit positiver Ausstrahlung, gepaart mit Leidenschaft, dass es einen fast umhaut." Atze Schröder
Lese-Probe zu „Weiße Nana “
Weisse Nana von Bettina Landgrafe mit Beate Rygiert 1. Kapitel
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Von Hagen nach Accra
Am Morgen trete ich aus unserem Haus in Accra, und ich spüre, über Nacht ist die Trockenzeit angebrochen. Ich laufe zurück ins Haus und rufe nach Mimie. Sie ist meine ghanaische Schwester, vertrauter und näher, als ich mir je einen Menschen hier hätte vorstellen können.
»Mimie«, rufe ich aufgeregt, »hast du's bemerkt? Die Trockenzeit ist da!«
Dies ist meine liebste Jahreszeit. Ja, auch hier in Ghana gibt es die, auch wenn sie völlig anders aussehen als in Europa. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, das kennen wir hier nicht. In Ghana bestimmt das Wasser die Klimaveränderungen: Es gibt jede Menge davon in der Regen- und so gut wie keines während der Trockenzeiten. In der Trockenzeit von November bis März weht der Wind aus der Sahara, also von Nord nach Süd über das Land hinweg. Dieser Wüstenwind, der Harmattan, hat im Handumdrehen die hohe Feuchtigkeit aus der Luft gesogen, die ansonsten hier für ein Treibhausklima sorgt. Ja, in Deutschland findet man sicherlich nur in den Tropenhäusern der zoologischen Gärten ein Klima, das man mit unserer Regenzeit vergleichen könnte. Dann klettert das Thermometer schon mal auf 45 Grad. Und man ist einfach immer nass - sei es von der hohen Luftfeuchtigkeit oder vom Schweiß.
Wenn ich ehrlich bin, die westafrikanischen »seasons« sind mir hundert Mal lieber. Auch wenn ich meine Wurzeln in Deutschland habe und jeder auf den ersten Blick in mein Gesicht und auf mein blondes Haar meine nordeuropäische Herkunft vermutet, so fühle ich mich doch inzwischen mehr als Ghanaerin. Manchmal denke ich sogar, ich bin im falschen Land und im falschen Körper geboren worden. Aber natürlich ist das Unsinn: Es ist alles genau so richtig, wie es ist.
Mein Handy klingelt, eines von fünf. Wenn ich im Busch unterwegs bin, dann wechsle ich nicht selten an einem Tag in fünf verschiedene Netzbereiche. Ich muss erreichbar bleiben, für meine Kontakte in
Deutschland und die Mitarbeiter in Ghana.
»Heute Morgen konnten wir das einhundertunddritte Kind retten!«, sagt Emmanuel, mein Stellvertreter, der meine Hilfsorganisation Madamfo Ghana hier im Land vertritt. »Es heißt Josuah und ist fünf Jahre alt!«
Ich jubele. Ein Kind weniger, das am Voltasee von morgens bis abends einem Fischer und Menschenhändler zu Diensten sein muss: Netze schleppen, das Boot hinaus auf den See rudern und andere, für sein Alter viel zu schwere Arbeit. Eines weniger, das jederzeit ertrinken kann, wenn es zu einem der Netze hinabtaucht, das sich wieder einmal verfangen hat. Eines mehr, das endlich das tun kann, wozu jedes Kind auf dieser Erde ein Recht hat: genug essen, spielen, lernen, zur Schule gehen und in aller Ruhe behütet heranwachsen.
Ein weiteres ist gerettet. Doch noch sind Tausende da draußen, von ihren Eltern an die Fischer verkauft, rechtlos und ohne Hoffnung.
Nein, das stimmt nicht. Ich bin jetzt ihre Hoffnung, Madamfo Ghana heißt ihre Rettung. Ich habe
geschworen, diesen Kindern zu helfen. Und wer mich kennt, der weiß: Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie da rausgeholt habe.
»Mimie«, rufe ich, »wo bist du?«
Mimie steht unter freiem Himmel an ihrem Zuschneidetisch im Hof hinter der Küche und lässt die blitzende Schere ritschratsch durch einen bonbonfarbenen Stoff gleiten. Mimie ist Modedesignerin, und wer von ihr benäht wird, der hat Glück. Ich gehöre zu diesen Glücklichen, denn in Afrika trage ich fast nur einheimische Kleidung.
»Was wird das?«, necke ich sie und zupfe an dem schillernden Material. »Ein Vorhang?«
Mimie lacht, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Es ist ein altes Spiel zwischen uns beiden. Die Afrikaner lieben leuchtende Stoffe - und im Gegensatz zu uns Weißhäuten können sie die auch gut tragen. Heute zaubert Mimie für eine Hochzeit gleich ein Dutzend Kleider aus demselben Stoff für den gesamten weiblichen Teil der Familie.
Ein weiteres Handy klingelt, es ist das mit der deutschen SIM-Karte, eine Journalistin ist am Apparat. Das Fernsehteam, das ein Jahr zuvor Atze Schröder für einen großen Spendenmarathon hier in Ghana gefilmt hat, wird wiederkommen. Die Menschen in Deutschland, die großzügig Herz und Geldbeutel öffneten, sollen erfahren, was aus ihrer Spende geworden ist. Dazu werden wir durch das halbe Land fahren, ich habe die Reise längst organisiert und freue mich darauf.
Als ich meinen Computer starte, warten bereits mehr als 300 neue E-Mails auf mich. Jeder kann innerhalb kürzester Zeit mit einer Antwort von mir rechnen. Das bringt mich manchmal an meine Grenzen, aber mir ist das äußerst wichtig. Denn die Menschen, die für Madamfo Ghana spenden oder auch einfach nur etwas fragen wollen, haben ein Recht auf Information aus erster Hand. Unsere beiden wunderbaren Sekretärinnen Pearl und Pamela, eineiige Zwillinge, sind noch nicht im Büro, und dabei laufen auch dort bereits die Leitungen heiß.
Ein ganz normaler Morgen in Accra ist für mich angebrochen. Doch jede Herausforderung macht mir
Freude, und ich bin immer gespannt, was sich hinter jeder neuen E-Mail, dem nächsten Anruf verbirgt. Bekomme ich gute Nachrichten wie die von Emmanuel, dann könnte ich an die Decke springen. Keiner weiß, wie viel Mühe und Geduld es uns kostet, die Fischer in der Voltaregion davon zu überzeugen, dass sie gleich zwei Gesetze brechen, nämlich das gegen Kinderarbeit und das gegen Menschenhandel. Und dass sie, wenn sie mit uns zusammenarbeiten, ein weit besseres Leben führen können - auch ohne Kindersklaven.
Das Schicksal dieser Kinder liegt mir so am Herzen, weil ich selbst weiß, was es heißt, um die eigene Kindheit betrogen zu werden. Zwar wurde ich nicht von meiner Mama verkauft, wurde nicht zur Kinderarbeit gezwungen, sondern führte das vergleichsweise bequeme Leben eines Kindes in Deutschland, das in den achtziger Jahren aufwuchs. Dennoch wurde es mir nicht in die Wiege gelegt, eine Hilfsorganisation aufzubauen, einmal in einer TV-Sendung aufzutreten oder mit einem Fernsehteam durch Ghana zu reisen. Mit etwas weniger Glück hätte ich genauso gut als jugendliche Drogentote am Bahnhof enden können. Denn ein wirkliches Zuhause hatte auch ich damals nicht.
Meine Mutter war selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mir wurde erzählt, ihre Eltern hätten sie als ganz kleines Kind dort abgegeben, weil sie sie nicht haben wollten. Obwohl wir nie darüber sprachen, kann ich mir gut vorstellen, dass auch ihre Kindheit nicht gerade glücklich war. Dann aber schien sie das große Los zu ziehen, ein angesehener Chirurg und Direktor eines Hagener Krankenhauses lud sie im Rahmen eines Lions-Club-Projekts zu seiner Familie ein. Aus einem Besuch wurden viele, und so wuchs sie nach und nach in die Familie hinein. Auf einmal hatte sie ein Zuhause, Eltern, eine Schwester und einen Bruder. Meine Großeltern liebten meine Mutter sehr und gaben ihr die gleiche Zuwendung und Geborgenheit wie ihren leiblichen Kindern. Ich denke, es war das erste Mal überhaupt, dass meine Mutter Liebe und Geborgenheit spürte.
Sie machte die Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete in demselben Krankenhaus, in dem ihr Pflegevater Direktor war. Alles schien in bester Ordnung.
Da verliebte sich meine Mutter bis über beide Ohren. Ihre große Liebe war ein Gastarzt, der für einige Monate aus Hamburg ans Hagener Krankenhaus gekommen war. Beide schwebten im siebten Himmel, und bald war meine Mutter schwanger. Diese Liebe hatte nur einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler: Der Arzt war verheiratet, hatte Kinder und dachte nicht daran, seine Familie für meine Mutter und mich aufzugeben. Er verschwand und ließ ein gebrochenes Herz zurück, unter dem nach und nach ich Gestalt annahm. Als ich zur Welt kam, war er längst in sein altes Leben zurückgekehrt. Ich sollte ihn niemals sehen, ja, ich weiß bis heute nicht einmal seinen Namen. Und im Grunde interessiert er mich auch nicht.
Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte meine Mutter diesen großen Herzensschmerz irgendwie überwinden können. Offenbar war sie dazu nicht in der Lage. Um sich zu betäuben, begann sie zu trinken. So kam es, dass ich mit einer Mutter aufwuchs, die entweder bei der Arbeit oder betrunken war. Wenn sie einmal nüchtern war, dann konnte man mit ihr viel Spaß haben. Sie war liebevoll und warmherzig. War sie aber betrunken, so vergaß sie alles um sich herum. Es war mein großes Glück, dass die Familie, die meine Mutter damals an Kindes statt angenommen hatte, mich als ihre Enkeltochter betrachtete und niemals aufhörte, für mich da zu sein.
Ich kam quasi nach meiner Geburt sofort ins Haus meiner Großeltern, denn meine Mutter arbeitete im Schichtdienst. Später wanderte ich nach dem Kindergarten und nach der Schule dahin, wo es gerade passte: Entweder holte meine Mutter mich ab oder meine Pflegemutter vom Kinderschutzbund. Und wenn das nicht ging, war ich bei meinen Großeltern.
Man hat mir erzählt, dass mein Vater dort eines Tages vor der Tür stand und mich mitnehmen wollte, doch mein Großvater sagte: »Nur über meine Leiche«, und damit war die Sache erledigt.
Ich war sehr gerne im Haus meiner Großeltern, die ich von Anfang an über alles liebte. Das Schönste waren der große Garten und das Schwimmbad, das sie im Keller hatten. Meine Großeltern nahmen mich schon als Kleinkind mit ins Wasser, und so konnte ich früher schwimmen als laufen. Mein Opi brachte mir Fahrradfahren bei, las mir Bücher vor und hörte Musik mit mir. Er war mein Vater und mein Großvater in einer Person. Was ich heute bin und kann, das verdanke ich meinen Großeltern.
Ich war noch sehr klein, da wollten meine Großeltern meiner Mutter helfen, vom Alkohol loszukommen, und meldeten sie mit ihrem Einverständnis in einer Spezialklinik zur Entziehung an. Doch noch am Tag ihrer Ankunft beschloss meine Mutter, das Ganze abzubrechen. Sie sagte, sie wolle nicht so lange von mir getrennt sein, und ließ sich nicht umstimmen. Mein Großvater hat ihr das sehr übel genommen.
Für mich brach eine schwierige Zeit an. Sosehr meine Großeltern auch verhindern wollten, dass ich unter der Situation litt, war ich doch stets hin- und hergerissen zwischen ihnen und meiner Mutter. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass einmal am selben Tag zwei wichtige Veranstaltungen stattfanden, und ich sollte entscheiden, ob ich lieber mit meinen Großeltern gehen wollte oder mit meiner Mutter. Das war typisch für den Konflikt, in dem ich von Anfang an steckte.
Als ich zwölf Jahre alt war, hatten meine Mutter und meine Großeltern einen riesigen Streit, und die Folge war, dass sie den Kontakt zueinander vollkommen abbrachen. Wieder stand ich vor der Entscheidung, zu wem ich halten sollte. Ich entschied mich für meine Mutter, ich konnte sie einfach nicht im Stich lassen.
Die Jahre, die auf diesen dramatischen Bruch mit meinen Großeltern folgen sollten, waren mit die schwersten in meinem Leben. Meine Mutter versank immer mehr in ihrer Trunksucht und war kaum noch ansprechbar. Wie oft geschah es, dass ich nach Hause kam, die Wohnungstür war abgeschlossen, und der Schlüssel steckte von innen, so dass ich nicht hinein konnte. Meine Mutter lag völlig besinnungslos auf ihrem Bett und hörte mein Klingeln und Klopfen nicht. Das waren fürchterliche Stunden, und noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich an diese schrecklichen Szenen denke. Wenn meine Mutter dann irgendwann endlich zu sich kam und die Tür öffnete, schlug mir dichter, kalter Zigarettenrauch entgegen. Bis jetzt blieb mir davon eine Aversion gegen Raucher, das kann ich einfach nicht ertragen.
In dieser Atmosphäre war es mir unmöglich, mich auf die Schule zu konzentrieren, und so kam es, dass ich in der achten Klasse des Gymnasiums zwei Fünfen im Schuljahrszeugnis hatte. Die Klasse wiederholen oder auf die Realschule wechseln? Ich entschied mich für Letzteres.
In dieser Zeit war ich viel zu sehr mit mir selbst und vor allem der Situation zu Hause beschäftigt. Richtige Auseinandersetzungen hatte ich mit meiner Mutter nicht, das war mit ihr einfach nicht möglich. Wenn sie trank, dann war sie so gut wie abwesend, sie tat nichts mehr, weder kochen noch sonst irgendetwas. Und das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich weiß noch, wie ich einmal ihren Schnaps weggoss und die Flasche mit Wasser auffüllte und wie sauer sie danach auf mich war.
Diese Stimmung zu Hause belastete mich enorm. Damals begann ich, viel Zeit auf einem Reiterhof zu verbringen. Ich liebe die Natur und besonders die Tiere. Ja, ich bin wahnsinnig tierlieb, und es bereitete mir große Freude, mich um die Pferde und Ponys zu kümmern. In diesen Stunden mit den Pferden war ich glücklich. Der Reiterhof wurde zu meiner Zuflucht vor dieser schrecklichen Situation zu Hause, und ich liebte nichts so sehr, wie auf dem Rücken meines Pflegepferdes Nathan über die Wiesen und Felder zu galoppieren.
Dennoch bestand ich nach zwei Jahren die mittlere Reife mit guten Noten, denn eigentlich war ich auf der Realschule völlig unterfordert. Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte ich prompt. Mein Ehrgeiz erwachte, und ich beschloss, das Abitur zu machen.
Ja, in dieser Zeit habe ich mich richtig aufgerappelt. Ich wusste, dass sich etwas grundlegend ändern müsste, wollte ich das Abitur schaffen. Doch das Zusammenleben mit meiner Mutter war so schwierig geworden, dass ich nicht bei ihr bleiben konnte. Es war mir unmöglich, in dieser Atmosphäre zu lernen, und so zog ich mit siebzehn in meine erste eigene Wohnung, ein kleines Einzimmerappartment. Dass dies finanziell möglich war, verdankte ich der Waisenrente, die ich nach dem Tod meines Vaters bezog, der mich schließlich als leibliches Kind anerkannt hatte.
Damals entwickelte ich eine Eigenschaft, die mir auch heute noch bei meiner Arbeit für Madamfo Ghana zugutekommt und die ich, glaube ich, von meinen Großeltern mitbekommen habe: eine unbeirrbare Entschlossenheit, eine Zielstrebigkeit, die kein Hindernis aufhalten kann. Mit diesem Biss begann ich, für mein Abitur zu lernen.
Mein Großvater meldete sich bei mir und lud mich ein, doch nach Hause zu kommen. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag klingelte ich bei meinen Großeltern an der Tür, und sie empfingen mich voller Wärme und Herzlichkeit. Es war so schön, die beiden in den Arm zu nehmen! Erst da spürte ich so richtig, wie sehr sie mir gefehlt hatten. Wir haben nie über die Ursachen unserer
sechsjährigen Sendepause gesprochen, und im Grunde war das auch nicht nötig. Meine Großeltern hatten ein Problem mit meiner Mutter und nicht mit mir. Meine Protestphase mit lila Ponyhaaren und hautengen Leggins hatte sich auch gelegt, nun konnte ich wieder schätzen, was mir meine Großeltern an Werten vermitteln wollten. Und vor allem konnte ich wieder dazu stehen, dass wir uns heiß und innig liebten und das bis heute tun.
Nach dem Abitur überlegte ich, was ich aus meinem Leben machen wollte. Zunächst wollte ich unbedingt zur Polizei, weil ich schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn in mir trug, das stand schon in einem meiner Grundschulzeugnisse. Mein Großvater hätte es gerne gesehen, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre und Medizin studiert hätte, doch gerade an ihm konnte ich sehen, wie wenig Privatleben man in diesem Beruf hat. Immer wenn wir mal etwas gemeinsam unternehmen wollten, wurde er prompt ins Krankenhaus gerufen. Schließlich entschloss ich mich, Kinderkrankenschwester zu werden, und das war eine Entscheidung, die mein weiteres Leben nachhaltig prägen sollte. Nach der Ausbildung konnte ich zwischen der Kinderintensivstation und der Notaufnahme wählen. Den Dienst auf einer Station hätte ich zu langweilig gefunden, und darum meldete ich mich zur Notaufnahme, dort hatte ich schon als Schülerin gearbeitet. Man wusste nie, was als Nächstes kam, man musste hellwach sein und Entscheidungen treffen, und das war genau nach meinem Geschmack.
So wie hier. Bei Madamfo Ghana in Accra. Jeden Tag gibt es Überraschungen, und nicht immer nur positive. Allein die Planung einer Reise quer durch Ghana, von einem Projektort zum nächsten, grenzt mitunter an Spekulation. Denn wir mögen vielleicht bereit sein, am nächsten Tag zu starten, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch tatsächlich losgehen kann. Das hängt von vielerlei Faktoren ab, vor allem vom Wetter.
Regnet es nämlich einige Tage ununterbrochen, dann werden die Straßen im Hinterland, von denen die wenigsten asphaltiert sind, häufi g unpassierbar. Schließlich wollen wir mit unseren Projekten die
Ärmsten der Armen erreichen, und die leben nun einmal meist abgeschnitten von guter Infrastruktur. Ich kann mit Recht behaupten: Da, wo wir hingehen, da geht sonst keiner freiwillig hin, und das trifft sicherlich für die meisten unserer Einsatzgebiete zu. Es gibt wenige, die Leprakranke besuchen und sich dafür interessieren, in welchen Verhältnissen sie leben. Wenige, die sich bislang um die Hygiene und Gesundheitsversorgung in weit entfernten Buschdörfern kümmern oder sich dafür einsetzen, dass die Kinder dort zur Schule gehen können.
Viele ziehen es vor, sich abzuwenden und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Es ist nicht so, dass die entscheidenden Stellen in Ghana von diesen Missständen nie etwas gehört hätten. Antrag um Antrag verschwindet im Bauch einer schwerfälligen Bürokratie. Ich kann es selbst kaum glauben, wie vielen achselzuckenden Menschen ich schon gegenübersaß, die es in ihren wohlklimatisierten Büros in der Hauptstadt sehr bedauerten, dass man da leider gar nichts machen könne.
Aber man kann etwas tun, ja, man muss es einfach, auch wenn es nur eine Kleinigkeit oder ein Anfang ist.
Oft werde ich gefragt, ob ich nicht das Gefühl habe, dass meine Hilfe angesichts der großen Not nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein sei. Ob man denn als Einzelner überhaupt etwas bewirken könne. Meine Antwort: Ist es eine Alternative, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun? Ja, soll man denn weggehen, ohne etwas unternommen zu haben, macht es das etwa besser? Auch wenn die Hilfe mitunter nur wenige erreicht, dann ist doch immerhin diesen Menschen geholfen. Jeder wäre in einer solchen Lage froh, wenn man ihm helfen würde. Und tatsächlich
haben mir meine Großeltern ja auch geholfen, als ich noch jünger war. Ohne sie hätte ich keine
Chance gehabt.
© 2011 Knaur Verlag
Von Hagen nach Accra
Am Morgen trete ich aus unserem Haus in Accra, und ich spüre, über Nacht ist die Trockenzeit angebrochen. Ich laufe zurück ins Haus und rufe nach Mimie. Sie ist meine ghanaische Schwester, vertrauter und näher, als ich mir je einen Menschen hier hätte vorstellen können.
»Mimie«, rufe ich aufgeregt, »hast du's bemerkt? Die Trockenzeit ist da!«
Dies ist meine liebste Jahreszeit. Ja, auch hier in Ghana gibt es die, auch wenn sie völlig anders aussehen als in Europa. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, das kennen wir hier nicht. In Ghana bestimmt das Wasser die Klimaveränderungen: Es gibt jede Menge davon in der Regen- und so gut wie keines während der Trockenzeiten. In der Trockenzeit von November bis März weht der Wind aus der Sahara, also von Nord nach Süd über das Land hinweg. Dieser Wüstenwind, der Harmattan, hat im Handumdrehen die hohe Feuchtigkeit aus der Luft gesogen, die ansonsten hier für ein Treibhausklima sorgt. Ja, in Deutschland findet man sicherlich nur in den Tropenhäusern der zoologischen Gärten ein Klima, das man mit unserer Regenzeit vergleichen könnte. Dann klettert das Thermometer schon mal auf 45 Grad. Und man ist einfach immer nass - sei es von der hohen Luftfeuchtigkeit oder vom Schweiß.
Wenn ich ehrlich bin, die westafrikanischen »seasons« sind mir hundert Mal lieber. Auch wenn ich meine Wurzeln in Deutschland habe und jeder auf den ersten Blick in mein Gesicht und auf mein blondes Haar meine nordeuropäische Herkunft vermutet, so fühle ich mich doch inzwischen mehr als Ghanaerin. Manchmal denke ich sogar, ich bin im falschen Land und im falschen Körper geboren worden. Aber natürlich ist das Unsinn: Es ist alles genau so richtig, wie es ist.
Mein Handy klingelt, eines von fünf. Wenn ich im Busch unterwegs bin, dann wechsle ich nicht selten an einem Tag in fünf verschiedene Netzbereiche. Ich muss erreichbar bleiben, für meine Kontakte in
Deutschland und die Mitarbeiter in Ghana.
»Heute Morgen konnten wir das einhundertunddritte Kind retten!«, sagt Emmanuel, mein Stellvertreter, der meine Hilfsorganisation Madamfo Ghana hier im Land vertritt. »Es heißt Josuah und ist fünf Jahre alt!«
Ich jubele. Ein Kind weniger, das am Voltasee von morgens bis abends einem Fischer und Menschenhändler zu Diensten sein muss: Netze schleppen, das Boot hinaus auf den See rudern und andere, für sein Alter viel zu schwere Arbeit. Eines weniger, das jederzeit ertrinken kann, wenn es zu einem der Netze hinabtaucht, das sich wieder einmal verfangen hat. Eines mehr, das endlich das tun kann, wozu jedes Kind auf dieser Erde ein Recht hat: genug essen, spielen, lernen, zur Schule gehen und in aller Ruhe behütet heranwachsen.
Ein weiteres ist gerettet. Doch noch sind Tausende da draußen, von ihren Eltern an die Fischer verkauft, rechtlos und ohne Hoffnung.
Nein, das stimmt nicht. Ich bin jetzt ihre Hoffnung, Madamfo Ghana heißt ihre Rettung. Ich habe
geschworen, diesen Kindern zu helfen. Und wer mich kennt, der weiß: Ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie da rausgeholt habe.
»Mimie«, rufe ich, »wo bist du?«
Mimie steht unter freiem Himmel an ihrem Zuschneidetisch im Hof hinter der Küche und lässt die blitzende Schere ritschratsch durch einen bonbonfarbenen Stoff gleiten. Mimie ist Modedesignerin, und wer von ihr benäht wird, der hat Glück. Ich gehöre zu diesen Glücklichen, denn in Afrika trage ich fast nur einheimische Kleidung.
»Was wird das?«, necke ich sie und zupfe an dem schillernden Material. »Ein Vorhang?«
Mimie lacht, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Es ist ein altes Spiel zwischen uns beiden. Die Afrikaner lieben leuchtende Stoffe - und im Gegensatz zu uns Weißhäuten können sie die auch gut tragen. Heute zaubert Mimie für eine Hochzeit gleich ein Dutzend Kleider aus demselben Stoff für den gesamten weiblichen Teil der Familie.
Ein weiteres Handy klingelt, es ist das mit der deutschen SIM-Karte, eine Journalistin ist am Apparat. Das Fernsehteam, das ein Jahr zuvor Atze Schröder für einen großen Spendenmarathon hier in Ghana gefilmt hat, wird wiederkommen. Die Menschen in Deutschland, die großzügig Herz und Geldbeutel öffneten, sollen erfahren, was aus ihrer Spende geworden ist. Dazu werden wir durch das halbe Land fahren, ich habe die Reise längst organisiert und freue mich darauf.
Als ich meinen Computer starte, warten bereits mehr als 300 neue E-Mails auf mich. Jeder kann innerhalb kürzester Zeit mit einer Antwort von mir rechnen. Das bringt mich manchmal an meine Grenzen, aber mir ist das äußerst wichtig. Denn die Menschen, die für Madamfo Ghana spenden oder auch einfach nur etwas fragen wollen, haben ein Recht auf Information aus erster Hand. Unsere beiden wunderbaren Sekretärinnen Pearl und Pamela, eineiige Zwillinge, sind noch nicht im Büro, und dabei laufen auch dort bereits die Leitungen heiß.
Ein ganz normaler Morgen in Accra ist für mich angebrochen. Doch jede Herausforderung macht mir
Freude, und ich bin immer gespannt, was sich hinter jeder neuen E-Mail, dem nächsten Anruf verbirgt. Bekomme ich gute Nachrichten wie die von Emmanuel, dann könnte ich an die Decke springen. Keiner weiß, wie viel Mühe und Geduld es uns kostet, die Fischer in der Voltaregion davon zu überzeugen, dass sie gleich zwei Gesetze brechen, nämlich das gegen Kinderarbeit und das gegen Menschenhandel. Und dass sie, wenn sie mit uns zusammenarbeiten, ein weit besseres Leben führen können - auch ohne Kindersklaven.
Das Schicksal dieser Kinder liegt mir so am Herzen, weil ich selbst weiß, was es heißt, um die eigene Kindheit betrogen zu werden. Zwar wurde ich nicht von meiner Mama verkauft, wurde nicht zur Kinderarbeit gezwungen, sondern führte das vergleichsweise bequeme Leben eines Kindes in Deutschland, das in den achtziger Jahren aufwuchs. Dennoch wurde es mir nicht in die Wiege gelegt, eine Hilfsorganisation aufzubauen, einmal in einer TV-Sendung aufzutreten oder mit einem Fernsehteam durch Ghana zu reisen. Mit etwas weniger Glück hätte ich genauso gut als jugendliche Drogentote am Bahnhof enden können. Denn ein wirkliches Zuhause hatte auch ich damals nicht.
Meine Mutter war selbst in einem Waisenhaus aufgewachsen. Mir wurde erzählt, ihre Eltern hätten sie als ganz kleines Kind dort abgegeben, weil sie sie nicht haben wollten. Obwohl wir nie darüber sprachen, kann ich mir gut vorstellen, dass auch ihre Kindheit nicht gerade glücklich war. Dann aber schien sie das große Los zu ziehen, ein angesehener Chirurg und Direktor eines Hagener Krankenhauses lud sie im Rahmen eines Lions-Club-Projekts zu seiner Familie ein. Aus einem Besuch wurden viele, und so wuchs sie nach und nach in die Familie hinein. Auf einmal hatte sie ein Zuhause, Eltern, eine Schwester und einen Bruder. Meine Großeltern liebten meine Mutter sehr und gaben ihr die gleiche Zuwendung und Geborgenheit wie ihren leiblichen Kindern. Ich denke, es war das erste Mal überhaupt, dass meine Mutter Liebe und Geborgenheit spürte.
Sie machte die Ausbildung zur Krankenschwester und arbeitete in demselben Krankenhaus, in dem ihr Pflegevater Direktor war. Alles schien in bester Ordnung.
Da verliebte sich meine Mutter bis über beide Ohren. Ihre große Liebe war ein Gastarzt, der für einige Monate aus Hamburg ans Hagener Krankenhaus gekommen war. Beide schwebten im siebten Himmel, und bald war meine Mutter schwanger. Diese Liebe hatte nur einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler: Der Arzt war verheiratet, hatte Kinder und dachte nicht daran, seine Familie für meine Mutter und mich aufzugeben. Er verschwand und ließ ein gebrochenes Herz zurück, unter dem nach und nach ich Gestalt annahm. Als ich zur Welt kam, war er längst in sein altes Leben zurückgekehrt. Ich sollte ihn niemals sehen, ja, ich weiß bis heute nicht einmal seinen Namen. Und im Grunde interessiert er mich auch nicht.
Wer weiß, vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte meine Mutter diesen großen Herzensschmerz irgendwie überwinden können. Offenbar war sie dazu nicht in der Lage. Um sich zu betäuben, begann sie zu trinken. So kam es, dass ich mit einer Mutter aufwuchs, die entweder bei der Arbeit oder betrunken war. Wenn sie einmal nüchtern war, dann konnte man mit ihr viel Spaß haben. Sie war liebevoll und warmherzig. War sie aber betrunken, so vergaß sie alles um sich herum. Es war mein großes Glück, dass die Familie, die meine Mutter damals an Kindes statt angenommen hatte, mich als ihre Enkeltochter betrachtete und niemals aufhörte, für mich da zu sein.
Ich kam quasi nach meiner Geburt sofort ins Haus meiner Großeltern, denn meine Mutter arbeitete im Schichtdienst. Später wanderte ich nach dem Kindergarten und nach der Schule dahin, wo es gerade passte: Entweder holte meine Mutter mich ab oder meine Pflegemutter vom Kinderschutzbund. Und wenn das nicht ging, war ich bei meinen Großeltern.
Man hat mir erzählt, dass mein Vater dort eines Tages vor der Tür stand und mich mitnehmen wollte, doch mein Großvater sagte: »Nur über meine Leiche«, und damit war die Sache erledigt.
Ich war sehr gerne im Haus meiner Großeltern, die ich von Anfang an über alles liebte. Das Schönste waren der große Garten und das Schwimmbad, das sie im Keller hatten. Meine Großeltern nahmen mich schon als Kleinkind mit ins Wasser, und so konnte ich früher schwimmen als laufen. Mein Opi brachte mir Fahrradfahren bei, las mir Bücher vor und hörte Musik mit mir. Er war mein Vater und mein Großvater in einer Person. Was ich heute bin und kann, das verdanke ich meinen Großeltern.
Ich war noch sehr klein, da wollten meine Großeltern meiner Mutter helfen, vom Alkohol loszukommen, und meldeten sie mit ihrem Einverständnis in einer Spezialklinik zur Entziehung an. Doch noch am Tag ihrer Ankunft beschloss meine Mutter, das Ganze abzubrechen. Sie sagte, sie wolle nicht so lange von mir getrennt sein, und ließ sich nicht umstimmen. Mein Großvater hat ihr das sehr übel genommen.
Für mich brach eine schwierige Zeit an. Sosehr meine Großeltern auch verhindern wollten, dass ich unter der Situation litt, war ich doch stets hin- und hergerissen zwischen ihnen und meiner Mutter. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass einmal am selben Tag zwei wichtige Veranstaltungen stattfanden, und ich sollte entscheiden, ob ich lieber mit meinen Großeltern gehen wollte oder mit meiner Mutter. Das war typisch für den Konflikt, in dem ich von Anfang an steckte.
Als ich zwölf Jahre alt war, hatten meine Mutter und meine Großeltern einen riesigen Streit, und die Folge war, dass sie den Kontakt zueinander vollkommen abbrachen. Wieder stand ich vor der Entscheidung, zu wem ich halten sollte. Ich entschied mich für meine Mutter, ich konnte sie einfach nicht im Stich lassen.
Die Jahre, die auf diesen dramatischen Bruch mit meinen Großeltern folgen sollten, waren mit die schwersten in meinem Leben. Meine Mutter versank immer mehr in ihrer Trunksucht und war kaum noch ansprechbar. Wie oft geschah es, dass ich nach Hause kam, die Wohnungstür war abgeschlossen, und der Schlüssel steckte von innen, so dass ich nicht hinein konnte. Meine Mutter lag völlig besinnungslos auf ihrem Bett und hörte mein Klingeln und Klopfen nicht. Das waren fürchterliche Stunden, und noch heute dreht sich mir der Magen um, wenn ich an diese schrecklichen Szenen denke. Wenn meine Mutter dann irgendwann endlich zu sich kam und die Tür öffnete, schlug mir dichter, kalter Zigarettenrauch entgegen. Bis jetzt blieb mir davon eine Aversion gegen Raucher, das kann ich einfach nicht ertragen.
In dieser Atmosphäre war es mir unmöglich, mich auf die Schule zu konzentrieren, und so kam es, dass ich in der achten Klasse des Gymnasiums zwei Fünfen im Schuljahrszeugnis hatte. Die Klasse wiederholen oder auf die Realschule wechseln? Ich entschied mich für Letzteres.
In dieser Zeit war ich viel zu sehr mit mir selbst und vor allem der Situation zu Hause beschäftigt. Richtige Auseinandersetzungen hatte ich mit meiner Mutter nicht, das war mit ihr einfach nicht möglich. Wenn sie trank, dann war sie so gut wie abwesend, sie tat nichts mehr, weder kochen noch sonst irgendetwas. Und das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich weiß noch, wie ich einmal ihren Schnaps weggoss und die Flasche mit Wasser auffüllte und wie sauer sie danach auf mich war.
Diese Stimmung zu Hause belastete mich enorm. Damals begann ich, viel Zeit auf einem Reiterhof zu verbringen. Ich liebe die Natur und besonders die Tiere. Ja, ich bin wahnsinnig tierlieb, und es bereitete mir große Freude, mich um die Pferde und Ponys zu kümmern. In diesen Stunden mit den Pferden war ich glücklich. Der Reiterhof wurde zu meiner Zuflucht vor dieser schrecklichen Situation zu Hause, und ich liebte nichts so sehr, wie auf dem Rücken meines Pflegepferdes Nathan über die Wiesen und Felder zu galoppieren.
Dennoch bestand ich nach zwei Jahren die mittlere Reife mit guten Noten, denn eigentlich war ich auf der Realschule völlig unterfordert. Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte ich prompt. Mein Ehrgeiz erwachte, und ich beschloss, das Abitur zu machen.
Ja, in dieser Zeit habe ich mich richtig aufgerappelt. Ich wusste, dass sich etwas grundlegend ändern müsste, wollte ich das Abitur schaffen. Doch das Zusammenleben mit meiner Mutter war so schwierig geworden, dass ich nicht bei ihr bleiben konnte. Es war mir unmöglich, in dieser Atmosphäre zu lernen, und so zog ich mit siebzehn in meine erste eigene Wohnung, ein kleines Einzimmerappartment. Dass dies finanziell möglich war, verdankte ich der Waisenrente, die ich nach dem Tod meines Vaters bezog, der mich schließlich als leibliches Kind anerkannt hatte.
Damals entwickelte ich eine Eigenschaft, die mir auch heute noch bei meiner Arbeit für Madamfo Ghana zugutekommt und die ich, glaube ich, von meinen Großeltern mitbekommen habe: eine unbeirrbare Entschlossenheit, eine Zielstrebigkeit, die kein Hindernis aufhalten kann. Mit diesem Biss begann ich, für mein Abitur zu lernen.
Mein Großvater meldete sich bei mir und lud mich ein, doch nach Hause zu kommen. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag klingelte ich bei meinen Großeltern an der Tür, und sie empfingen mich voller Wärme und Herzlichkeit. Es war so schön, die beiden in den Arm zu nehmen! Erst da spürte ich so richtig, wie sehr sie mir gefehlt hatten. Wir haben nie über die Ursachen unserer
sechsjährigen Sendepause gesprochen, und im Grunde war das auch nicht nötig. Meine Großeltern hatten ein Problem mit meiner Mutter und nicht mit mir. Meine Protestphase mit lila Ponyhaaren und hautengen Leggins hatte sich auch gelegt, nun konnte ich wieder schätzen, was mir meine Großeltern an Werten vermitteln wollten. Und vor allem konnte ich wieder dazu stehen, dass wir uns heiß und innig liebten und das bis heute tun.
Nach dem Abitur überlegte ich, was ich aus meinem Leben machen wollte. Zunächst wollte ich unbedingt zur Polizei, weil ich schon immer einen extremen Gerechtigkeitssinn in mir trug, das stand schon in einem meiner Grundschulzeugnisse. Mein Großvater hätte es gerne gesehen, wenn ich in seine Fußstapfen getreten wäre und Medizin studiert hätte, doch gerade an ihm konnte ich sehen, wie wenig Privatleben man in diesem Beruf hat. Immer wenn wir mal etwas gemeinsam unternehmen wollten, wurde er prompt ins Krankenhaus gerufen. Schließlich entschloss ich mich, Kinderkrankenschwester zu werden, und das war eine Entscheidung, die mein weiteres Leben nachhaltig prägen sollte. Nach der Ausbildung konnte ich zwischen der Kinderintensivstation und der Notaufnahme wählen. Den Dienst auf einer Station hätte ich zu langweilig gefunden, und darum meldete ich mich zur Notaufnahme, dort hatte ich schon als Schülerin gearbeitet. Man wusste nie, was als Nächstes kam, man musste hellwach sein und Entscheidungen treffen, und das war genau nach meinem Geschmack.
So wie hier. Bei Madamfo Ghana in Accra. Jeden Tag gibt es Überraschungen, und nicht immer nur positive. Allein die Planung einer Reise quer durch Ghana, von einem Projektort zum nächsten, grenzt mitunter an Spekulation. Denn wir mögen vielleicht bereit sein, am nächsten Tag zu starten, aber das heißt noch lange nicht, dass es auch tatsächlich losgehen kann. Das hängt von vielerlei Faktoren ab, vor allem vom Wetter.
Regnet es nämlich einige Tage ununterbrochen, dann werden die Straßen im Hinterland, von denen die wenigsten asphaltiert sind, häufi g unpassierbar. Schließlich wollen wir mit unseren Projekten die
Ärmsten der Armen erreichen, und die leben nun einmal meist abgeschnitten von guter Infrastruktur. Ich kann mit Recht behaupten: Da, wo wir hingehen, da geht sonst keiner freiwillig hin, und das trifft sicherlich für die meisten unserer Einsatzgebiete zu. Es gibt wenige, die Leprakranke besuchen und sich dafür interessieren, in welchen Verhältnissen sie leben. Wenige, die sich bislang um die Hygiene und Gesundheitsversorgung in weit entfernten Buschdörfern kümmern oder sich dafür einsetzen, dass die Kinder dort zur Schule gehen können.
Viele ziehen es vor, sich abzuwenden und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Es ist nicht so, dass die entscheidenden Stellen in Ghana von diesen Missständen nie etwas gehört hätten. Antrag um Antrag verschwindet im Bauch einer schwerfälligen Bürokratie. Ich kann es selbst kaum glauben, wie vielen achselzuckenden Menschen ich schon gegenübersaß, die es in ihren wohlklimatisierten Büros in der Hauptstadt sehr bedauerten, dass man da leider gar nichts machen könne.
Aber man kann etwas tun, ja, man muss es einfach, auch wenn es nur eine Kleinigkeit oder ein Anfang ist.
Oft werde ich gefragt, ob ich nicht das Gefühl habe, dass meine Hilfe angesichts der großen Not nur ein Tropfen auf den berühmten heißen Stein sei. Ob man denn als Einzelner überhaupt etwas bewirken könne. Meine Antwort: Ist es eine Alternative, die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun? Ja, soll man denn weggehen, ohne etwas unternommen zu haben, macht es das etwa besser? Auch wenn die Hilfe mitunter nur wenige erreicht, dann ist doch immerhin diesen Menschen geholfen. Jeder wäre in einer solchen Lage froh, wenn man ihm helfen würde. Und tatsächlich
haben mir meine Großeltern ja auch geholfen, als ich noch jünger war. Ohne sie hätte ich keine
Chance gehabt.
© 2011 Knaur Verlag
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Autoren-Porträt von Bettina Landgrafe
Bettina Landgrafe, geb. 1976, kam vor zehn Jahren zum ersten Mal nach Afrika. 2007 gründete die gelernte Kinderkrankenschwester den Verein 'Madamfo Ghana'. Zunächst arbeitete sie die Hälfte des Jahres in Deutschland und verbrachte die restliche Zeit in Ghana. Seit 2010 widmet sie sich hauptsächlich ihrem Verein. Nebenher hält sie Vorträge und hat einen Lehrauftrag an der Fernuni Hagen. Beate Rygiert studierte Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft in München und war danach als Dramaturgin an verschiedenen Theatern engagiert, bevor sie mit Bronjas Erbe (Claassen 2000) ihren ersten Roman vorlegte. Mit dem Autor Daniel Oliver Bachmann gestaltet sie unter dem Namen "Salz & Pfeffer" Lesungen und literarische Performances und schreibt Drehbücher für Spielfilme. Beate Rygiert lebt und arbeitet in Stuttgart.
Bibliographische Angaben
- Autor: Bettina Landgrafe
- 2012, 287 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426784262
- ISBN-13: 9783426784266
- Erscheinungsdatum: 26.10.2012
Rezension zu „Weiße Nana “
"Ein fesselndes Buch über Afrika und seine Menschen." -- In - Stars + Style Magazin, 13.10.2011"Beim Lesen denkt man immer wieder: Was für eine sympathische Frau!" -- Für Sie, 11.10.2011
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