Wer Korn klaut muss gehen
Eine lebendig und spannend erzählte Familiensaga, die authentisch das manchmal harte Leben auf dem Bauernhof schildert.
1890: Michael Dachser wird als Ältester einer Bauernfamilie auf dem Martinshof geboren. Obwohl er lieber...
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Produktinformationen zu „Wer Korn klaut muss gehen “
Eine lebendig und spannend erzählte Familiensaga, die authentisch das manchmal harte Leben auf dem Bauernhof schildert.
1890: Michael Dachser wird als Ältester einer Bauernfamilie auf dem Martinshof geboren. Obwohl er lieber Kaufmann oder Lehrer geworden wäre, muss er als Hoferbe die Verantwortung übernehmen. So kommen während der beiden Weltkriege harte Zeiten auf ihn zu, doch er schafft es trotzdem, den Reichtum des Hofes zu vermehren. Erst nach und nach verliert Michael die Zeichen der Zeit aus dem Blick und wird hartherzig. Und damit gefährdet er nicht nur den Hof, sondern auch sein privates Glück.
Lese-Probe zu „Wer Korn klaut muss gehen “
Wer Korn klaut muss gehen von Heinrich MaurerProlog
Als Michael Dachser, den alle nur Michel nannten, am
18. Januar des Jahres 1890 in dem kleinen Dorf Gerb-
hausen mit 21 Höfen, zwei Handwerkern, einigen Tagelöhnern
und zusammen 165 Bewohnern auf dem Martinshof
zur Welt kam, gab ihm die Hebamme nur eine
geringe Überlebenschance.
Draußen türmte sich der Schnee. Die drei Knechte des
Hofes hatten jeden Tag zu tun, die zugewehten Wege
freizuschaufeln. Auch in der geräumigen Schlafstube des
Bauern, in der die Wöchnerin seit Stunden mit den Wehen
kämpfte, war es dem von der Küche aus geheizten
Ofen nicht gelungen, die Eisblumen am Fenster ganz
zum Schmelzen zu bringen.
Als der jungen Bäuerin das schwache, schreiende Bündel
mit dem runzeligen Greisengesicht an die Brust gelegt
wurde und die Hebamme bedenklich den Kopf
wiegte, vergoss die Mutter nicht nur vor Erschöpfung
bittere Tränen. Hatte sie sich doch einen kräftigen
Stammhalter gewünscht.
»Mit dem werdet ihr viel Mühe haben«, sagte die erfahrene
Geburtshelferin ungerührt, »und das bei der
Kälte. Ihr müsst schon ordentlich schüren, Holz habt ihr
doch genug.«
Damit spielte die Frau auf den großen Waldbesitz des
Bauern an. Aber dessen Wahlspruch lautete: »Nur was
man spart, hat man.« Holz, das im eigenen Haus verschürt
wurde, konnte nicht verkauft werden, deshalb
ging man sparsam damit um. Unter der Woche war die
Küche mit dem großen Herd der einzig warme Platz im
Haus.
Der Vater
... mehr
Der Bauer Wilhelm Dachser, ein untersetzter, aber nicht
gerade kräftiger Mann mit dunklem, in die Stirn hängendem
Haar, dunklen, etwas stechenden Augen und einem
dichten Schnurrbart im runden Gesicht, war bei der Geburt
Michels schon über vierzig. Er hatte spät geheiratet,
weil zuerst die vier jüngeren Geschwister versorgt, das
heißt verheiratet, sein sollten. Außerdem war er bei der
Suche nach einer Bäuerin recht wählerisch gewesen. Dabei
kam es ihm weniger auf die Schönheit an. Kräftig
sollte sie sein und auch ein ordentliches Heiratsgut mitbringen.
Denn die Verheiratung der drei Schwestern und
des Bruders hatte durch die Aussteuer und das Heiratsgut
viel Geld gekostet.
Die Töchter der Nachbarhöfe wollten ihn nicht. Er war
ihnen nicht ansehnlich genug. Außerdem misstrauten sie
seiner ungeselligen, etwas finsteren und, wie die Knechte
berichteten, jähzornigen Art. Nur wenn er getrunken
hatte, taute er auf, wurde dann aber gleich lärmend,
großspurig und den Mädchen gegenüber anzüglich.
Als die jüngste Schwester auf einem Hof in der gleichen
Gegend untergebracht war, hatte er die Dreißig
schon weit überschritten und deshalb keinen Umgang
mehr mit der heiratsfähigen Jugend. Eigentlich hatte er
sich inzwischen auch an die Einschichtigkeit gewöhnt.
Aber die alte Tante Sophie, die mit den Mägden das
Haus versorgte, und die übrige Verwandtschaft drängten
immer wieder zur Heirat.
Schließlich entschloss Wilhelm sich doch zur Brautschau.
Nicht nur um eine Haus- und Bettgenossin zu haben,
sondern vor allem, um den Fortbestand des Hofes
zu sichern. Aber in seinem Alter war die Suche nicht
mehr einfach. Ein Vermittler, ein sogenannter Schmuser,
musste dabei helfen. Über eine solche Heiratsvermittlung
wurde nicht offen geredet, aber sie war in vielen
Fällen üblich und keineswegs ehrenrührig.
Der Schmuser, dessen Dienste Wilhelm in Anspruch
nahm, war ein lustiger, erfahrener und bei den Leuten
beliebter Viehhändler, der täglich mit seinem Einspänner-
Wägelchen unterwegs war und die Bauern und ihre
Töchter im weiten Umkreis kannte. Er hatte Wilhelm
immer wieder Angebote gemacht. Manchmal fuhr er
mit ihm unter dem Deckmantel des Viehkaufes auf die
Höfe, um die Kandidatinnen, aber auch das Anwesen
anzuschauen. Der Zustand von Haus, Hof und Vieh
zeigte die Tüchtigkeit der Familie und ließ auf die Höhe
des Heiratsgutes schließen. Man betrachtete das Vieh,
redete von diesem und jenem und blieb im Allgemeinen.
Oft wussten die Aufgesuchten gar nicht, worum es in
Wirklichkeit ging. Erst wenn der Schmuser beiderseitiges
Interesse erkannte, wurden bei einem zweiten Besuch
klare Worte gesprochen. Einige Male war es schon zu einem
Gegenbesuch auf dem Martinshof gekommen. Aber
dann hatte sich das Heiratsgeschäft doch wieder zer-
schlagen, weil sich die Kandidatin trotz drängendem Zureden
der Eltern gesträubt hatte.
Einigen dieser hochmütigen Bauerntöchter, denen
keiner gut genug war, blieb schließlich nur übrig, daheim
zu bleiben und dem Bruder eine bessere Magd und
seinen Kindern eine so genannte »Dachtante« zu machen.
Das gleiche Los zogen oft genug die Brüder des
Hof erben. Konnten sie kein ordentliches Heiratsgut aufbringen
und hatten sie auch keine besonderen körperlichen
Vorzüge, dann gelang es ihnen meist nicht, auf
einen Hof einzuheiraten. Sie blieben ledig, machten
dem Bruder den Großknecht oder gingen auf einen der
Gutshöfe, wo sie es, wenn sie tüchtig waren, zum Aufseher
oder gar zum Verwalter bringen konnten. Manche
gingen auch zum Militär. Dort konnten sie bis zum Unteroffizier
aufsteigen, der dann den Frust über sein unerfülltes
Bauernleben an den Rekruten ausließ und die
eingezogenen Bauernsöhne stolzer Höfe gnadenlos schikanierte.
Auf einem etwas heruntergekommenen Hof jenseits des
tief eingeschnittenen Tales fand Wilhelm Dachser schließlich
seine Frau. Dort war der Bauer Georg Wieland früh
an der Schwindsucht gestorben. Auch der älteste Sohn
war, kaum siebzehnjährig, dieser Krankheit erlegen. Die
Witwe hatte Mühe, den Hof mit den anderen drei Kindern
durch zubringen.
Manche gaben dem Tabak die Schuld am frühen Tod
Wielands. Das ewige Rauchen habe seine Lunge ruiniert,
hieß es. Tatsächlich war ihm die Pfeife den ganzen Tag
nicht ausgegangen. Hatte er beim Pflügen den letzten
Krümel Tabak verbraucht, hielt es ihn nicht mehr auf
dem Feld. Mitten am Nachmittag musste er heim, um
den Lederbeutel zu füllen. Als ihm bei der späten Rückfahrt
von einem Verwandtenbesuch einmal die Streichhölzer
ausgegangen waren, musste seine Frau an einem
einsamen Hof die Bewohner heraus klopfen, damit er
seine Pfeife anzünden konnte. Erst viel später stellte sich
heraus, dass er wie auch andere schwindsuchtkranke
Bauern von seinem Vieh angesteckt worden war.
Der erste Besuch fand an einem Werktag im Frühsommer
statt. Als der Einspänner des Schmusers auf den Hof
einbog, war die älteste Tochter, um die es ging, gerade
dabei, die Pferde vor den Mistwagen zu spannen. Mit
kräftigen Armen dirigierte sie die beiden Rösser rückwärts
an den Wagen, kettete die Deichsel mit geübten
Griffen an die Geschirre und knebelte die Zugstränge am
Waagscheit an. Als sie sich bückte, zeigte der weit über
die Knie reichende Rock kräftige Waden und als sie sich
aufrichtete, um den Besuch zu begrüßen, spannte die
Schürze über der Brust. Sie hatte ein herbes, wenig schönes
Gesicht, das überdies durch eine breite Narbe auf der
linken Wange verunstaltet war. Dort hatte ihr das Horn
eines ungebärdigen jungen Ochsen eine tiefe Fleischwunde
gerissen. Das braune, hinten zum Knoten gebundene
Haar war fast ganz vom Kopftuch bedeckt. Eine
Strähne hatte sich beim Hantieren gelöst und fi el gekräuselt
über die hohe, gewölbte Stirn. Die sichere, ruhige
Art, wie sie mit den Pferden umging, gefiel Wilhelm.
Unbefangen erwiderte sie den Gruß und rief dann die
Mutter, in der Annahme, Bauer und Händler seien zum
Viehkauf gekommen. Beide ließen sie in dem Glauben.
Der Bauer war als Käufer von Anstellvieh, jungen männlichen
Rindern, für deren Mast den kleineren Höfen das
Futter fehlte, bekannt.
Im niedrigen Stall mit einer altersschwachen, schon
durchgebogenen Holzdecke stellte Wilhelm schnell fest,
dass die sechs Kühe und zehn Jungrinder gut geputzt
und ordentlich ernährt waren. Während die hinzugekommene
Bäuerin mit ihm über das Vieh sprach, lockerte
die Tochter mit der Gabel die Streu, zog die Kuhfladen
heraus und warf das nach hinten getretene Stroh wieder
auf die Liegefläche. Auch das gefiel dem Heiratskandidaten.
Zu einem Viehhandel kam es an diesem Tag nicht.
Dafür bahnte sich ein anderer Handel an.
Als der Schmuser wenige Tage später allein wiederkam
und die Mutter unverblümt fragte, was sie vom jungen
Dachser als Schwiegersohn halte, war sie nicht wenig
überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ein
so großer Bauer an einer Verbindung mit ihren kleinen
Verhältnissen Gefallen finden könnte. Um der befürchteten
Forderung nach einer großen Aussteuer und zusätzlichem
Heiratsgut entgegenzutreten, zeigte sie ihre
Freude nicht. Vielmehr entgegnete sie, der junge Martinshöfer
habe nicht gerade den besten Ruf. Man höre, er
trinke gerne und neige zur Gewalttätigkeit. Nicht umsonst
habe er in dem Alter immer noch keine Frau. Außerdem
sei er als geizig verschrien und da habe es eine
junge Bäuerin nicht leicht, ein angemessenes Hauswesen
zu führen. Schließlich sei sie auch selbst noch auf die
Hilfe der Tochter angewiesen. Sie könne sich keinen
Großknecht leisten und der zweite Sohn könne mit seinen
fünfzehn Jahren noch nicht so schwer schaffen wie
die Tochter.
Der Schmuser ging auf die Kritik an seinem Kandidaten
nicht ein. Er wusste zu gut, was dahinterstand.
Dachser brauche kein großes Heiratsgut, entgegnete er.
Es genüge auch eine kleine Aussteuer. Ihm sei eine tüchtige
Bäuerin wichtiger, die verträglich mit der alten
Tante umgehe, ein gutes Haus führe und ihm auf dem
Hof eine Hilfe sei. Als Arbeitsersatz werde er, der Schmuser,
einen tüchtigen Jungknecht besorgen, der sich mit
wenig Lohn zufriedengebe.
Natürlich wisse sie, lenkte die Mutter ein, dass sie ihre
Tochter nicht ewig auf dem Hof halten könne, aber nach
dem Tod des Mannes und des Sohnes sei es bitter, für
alles allein sorgen zu müssen. Es falle ihr schwer, aber
sie werde mit der Tochter reden. Schon bald könne der
Viehhändler eine Antwort abholen.
Karoline, so hieß die Tochter, die im Dialekt Karline gerufen
wurde, war noch mehr überrascht als ihre Mutter.
Ihre Reaktion war weder heimliche noch offene Freude,
sondern tiefes Erschrecken. Sie sollte die Heimat verlieren
und zu diesem Mann gehen, der ihr so finster und
so fremd vorgekommen war? Bitterlich fing sie an zu
weinen und darauf rannen auch der Mutter Tränen übers
verhärmte Gesicht. Weniger, weil sie die Tochter hergeben
sollte, sondern mehr, weil ihr die Sorge um die Erhaltung
des Hofes seit Tagen fast das Herz abdrückte.
Aber schließlich war die Vernunft stärker, ohne die es
nie möglich gewesen wäre, im harten Bauernleben die
Existenz zu sichern. Ähnlich wie der Schmuser begann
die Bäuerin von den Vorzügen des Martinshofes, vor allem
von seiner Größe zu reden. Wilhelm Dachser sei
zwar kein besonderes Mannsbild und es werde ihm auch
manch Ungutes nachgesagt, aber da sei oft Neid dabei
und eine gescheite Frau könne manche Untugend austreiben.
»Was meinst du«, fragte sie Karoline, die sich
immer noch schluchzend die Tränen mit dem Schürzenzipfel
trocknete, »wir gucken uns den Hof einfach an,
entschieden ist noch gar nichts.«
Zwei Sonntage später wurde das altersschwache Bernerwägelchen
aus dem Schuppen geschoben und eines der
Pferde angespannt. Die Mutter hatte ihr gutes, den Witwenstand
anzeigendes schwarzes Kleid angezogen. Statt
dem Hut, der damals bei den wohlhabenden Bäuerinnen
in Mode war, trug sie auf dem grau gewordenen, zum
Knoten gebundenen Haar ein dunkel gemustertes Kopftuch.
Karoline hatte einen dunkelblauen Rock an. Dem
Trauerjahr entsprechend, in dem sich die Familie nach
dem erst acht Monate zurückliegenden Tod des Sohnes
befand, trug sie eine schwarz gemusterte Bluse und darüber
eine schlicht bestickte, kurze Weste, den Spenzer.
Sie war barhäuptig.
Auf dem Martinshof hatte der Bauer seiner alten Tante
den Besuch zwar angekündigt, aber den Zweck ver-
schwiegen. Die Bäuerin vom anderen Hof wolle sehen,
wo ihr Vieh hinkomme, und interessiere sich für eine
Kalbin. Außerdem sei er kürzlich von der Bäuerin zusammen
mit dem Viehhändler bewirtet worden und nun
müsse man sich revanchieren.
Sophie wunderte sich zwar, dass der Besuch gleich zu
zweit kam, dachte sich aber nichts weiter dabei. Heller
war Hans, der zweite Knecht, ein vorwitziger, kaum
zwanzigjähriger Bursche. Er hatte sich nach dem Mittagessen
aufs Bett geworfen, um vor dem sonntäglichen Kegelspiel
im Wirtshaus noch etwas Schlaf zu bekommen.
Als das Bernerwägelchen in den Hof rumpelte, wachte
er auf, spähte neu gierig aus dem Dachfenster und sah
den doppelten Frauenbesuch. »Was meinst du«, fragte er
später Emma, die erste Magd, die mit Eimer und Melkzeug
genau in dem Augenblick über den Hof kam, als
sich der Besuch verabschiedete, »vielleicht haben wir gerade
unsere neue Bäuerin gesehen.«
Bei einem weiteren Treffen wurden die Modalitäten der
Heirat besprochen. Karoline hatte sich nach eifrigem Zuspruch
der Mutter in ihr Schicksal gefügt. Sie hatte Wilhelm
beim Besuch auf seinem Hof nicht mehr so abweisend
empfunden. Auch die alte Tante schien umgänglich
zu sein. Zudem hatten das große Haus, der reiche Viehbestand
und der allgemein gute Zustand des Hofes ihren
Eindruck hinterlassen. Bäuerin auf einem neunzig Morgen
großen Hof mit über vierzig Stück Vieh, einer Brennerei
und fünf Dienstboten zu werden, das war doch
was.
Auf eine Verlobung wurde angesichts der Trauerzeit verzichtet.
Die Hochzeit sollte Ende November stattfinden.
Auch hier spielten praktische Erwägungen eine Rolle.
Dann war eingeschafft, wie es hieß. Dann waren die späten
Früchte, Kartoffeln, Rüben und Obst geerntet, die
Wintersaaten Dinkel, Weizen und Roggen im Boden und
der große Hausgarten umgegraben.
Die Vorbereitungen kosteten Mutter und Tochter viel
Kraft und das letzte Geld. Die Aussteuer, Bett-, Tisch-
und Leibwäsche, die schon seit Karolines Konfirmation
angesammelt wurde, musste ergänzt und gerichtet werden.
Manche Nacht saß die zukünftige Bäuerin mit der
Mutter am Tisch, um Bettbezüge zu nähen, Betttücher
zu säumen, Knöpfe anzubringen und mit unzähligen Stichen
die Tischdecken zu verzieren. Trotzdem musste
noch für einige Tage die Näherin bestellt und bezahlt
werden. Um alle Rechnungen begleichen und für das
Heiratsgut die vereinbarten tausend Mark auf bringen zu
können, musste die Mutter bei ihrem Bruder Geld leihen.
Als der Hochzeitstag endlich da war, hatte die Braut
nach den durchgearbeiteten Nächten dunkle Ringe unter
den Augen und die Sorgenfalten der Mutter waren tiefer
und zahlreicher geworden.
Am Hochzeitsmorgen holte der Bräutigam seine Braut
mit der prächtig herausgeputzten Chaise, einer viersitzigen
Kutsche mit Ledersitzen und Faltdach, die sich nur
große Höfe leisten konnten, ab. Das Wetter war wie die
Stimmung der Braut. Grauer Nebel zog über die abgeernteten
Felder. Kalter Regen tropfte von den Dächern
und den kahlen Bäumen. Es schien, als wolle die Natur
in Karolines Abschiedsschmerz einstimmen. Im langen,
schwarzen Kleid und in ein dunkles, noch von der Großmutter
stammendes Tuch gehüllt, trat sie vor die Haustüre,
um ihren künftigen Mann zu begrüßen. Dabei war
ihr bleiches, schmal gewordenes Gesicht wie versteinert.
Als sie wenig später an seinem Arm wieder aus dem
Haus kam und die Chaise bestieg, rannen die Tränen.
Dass die neugierigen Nachbarn Beifall klatschten und
aufmunternde Worte riefen, gewahrte sie wie durch einen
Schleier. Das Schluchzen, das ihr schon den ganzen
Morgen im Halse steckte, brach erst aus ihr heraus, als
die Kutsche den Hof und das Dorf verlassen hatte.
Der Bräutigam wusste mit dem Abschiedsschmerz
nichts anzufangen. Jemanden zu trösten, das hatte er in
seiner Familie nicht gelernt. Und seine Braut dazu in den
Arm zu nehmen, das kam schon gegenüber dem Knecht
auf dem Kutschbock nicht infrage. Karolines Tränen
passten auch nicht in seine Vorstellungswelt. Musste es
für ein Mädchen von einem so kümmerlichen Anwesen
nicht eine Genugtuung sein, zur Bäuerin auf dem großen
Martinshof aufzusteigen ? In seiner Unbeholfenheit wusste
er nichts anderes zu tun, als die Hand seiner Braut unter
der über die Knie gebreiteten Decke zu nehmen und
schweigend neben ihr zu sitzen.
Die Hochzeit wurde ein zwiespältiges Fest. Als das Brautpaar
in einer vom Nachbarn gelenkten Kutsche, gefolgt
von den Gästen die etwa einen Kilometer entfernte Kirche
erreichte, war wegen der Kälte und Nässe die erste
Festtagsstimmung verflogen. Die auf dem Kirchplatz
ausharrende Dorfbevölkerung fror ebenfalls. Weil der
Bräutigam beim Aussteigen aus der Kutsche eine recht
linkische Figur abgab, wurden spöttische Worte laut.
Auch Karoline selbst wurde nicht verschont. Auf ihre
Narbe im Gesicht anspielend sagten die Lästermäuler,
für eine solche Schönheit hätte der Martinsbauer nicht
so weit fahren brauchen. Eine gute Arbeiterin, auf die es
ihm wohl ankomme, hätte er auch in der Nachbarschaft
gefunden.
In der Kirche war es fast so kalt wie draußen. Die Gäste
waren froh, dass der Pfarrer nur eine kurze Predigt hielt,
deren Inhalt niemandem im Gedächtnis blieb. Geredet
wurde später über den ungeschickten Bräutigam, der den
Ring, den er seiner Braut an den Finger stecken sollte,
fallen ließ und deshalb die Hilfe eines Trauzeugen
brauchte.
Besser wurde die Stimmung später beim Hochzeitsmahl
in der großen Stube des Martinshofes. Dort standen
bereits die am Vortag mit einem geschmückten
Leiterwagen abgeholten neuen Möbel, bestehend aus
einem großen, zweitürigen Eichenschrank und einer aus
Eschen holz gefertigten Kommode. Der dazu gehörende
Tisch mit den sechs Stühlen war beiseite geräumt, um
der langen Tafel für die Bewirtung der Hochzeitsgäste
Platz zu machen.
Für das Essen hatte man eine auswärtige Köchin geholt.
Der Rinderbrühe mit Eierstich und Markklößchen,
den beiden Hauptgerichten, Schweinebraten mit Spätzle
und Rindfleisch mit Meerrettichsoße, sowie dem Nachtisch
aus süßen Klößen wurde kräftig zugesprochen.
Nach der Suppe versuchte ein Onkel eine mit harmlosen
Anzüglichkeiten gespickte Festtagsrede, die fleißig beklatscht
wurde. An sonsten drehte sich die Unterhaltung
um den Ablauf des Bauernjahres, den Ärger mit dem Gesinde
und um die schlechten Viehpreise. Die Verwandten
der Braut blieben einsilbig. Sie konnten, was Hofgrößen,
Viehbestände und Gesindezahlen anlangte, nicht mithalten
und glaubten, die andere Seite lasse das absichtlich
spüren.
Zu dem bei einer Hochzeit üblichen Spaziergang kam
es angesichts des schlechten Wetters nicht. Karoline war
darüber traurig, hätte sie sich doch dabei ein wenig zu
ihrer Familie und den Verwandten gesellen können. So
musste sie neben dem ihr immer noch fremden Mann
sitzen bleiben, der mehr mit den Gästen sprach als mit
ihr und mit zunehmendem Weingenuss wieder in seine
unangenehme laute Art verfiel. Ihr graute es vor der
Nacht.
Als gegen Morgen die letzten Gäste aufbrachen, nutzte
der Bauer den Abschiedstrubel und zog seine junge Frau
mit schwankendem Schritt in die Schlafstube. Dort warteten
bereits die neuen Betten mit den hoch aufgebauten,
bestickten Kopfkissen und den weiß überzogenen
dicken Federbetten.
Der reichlich genossene Alkohol nahm Wilhelm die
Möglichkeit, den großen Verführer zu spielen. Als er sich
mühsam entkleidet hatte, war Karoline längst in ihr
neues, besticktes Nachthemd geschlüpft und hatte die
Decke bis unters Kinn gezogen. Der Bräutigam musste es
bei einigen ungeschickten Liebkosungen belassen und
Karoline war froh, als sie an dem schwer gewordenen
Atem seinen Schlaf bemerkte. Sie selbst lag noch lange
wach.
In der Früh wurde sie vom Muhen der Kühe geweckt
und wäre gerne aufgestanden, um wie daheim in den
Stall zu gehen. Aber das war auf diesem Hof die Arbeit
der Mägde und Knechte. Außerdem geziemte es sich sicher
nicht, am Morgen nach der Hochzeit das Bett so
früh zu verlassen. Erst als die Tante in der angrenzenden
Küche mit dem Geschirr klapperte und mit der vom Melken
kommenden Magd sprach, verließ Karoline vorsichtig
die hohe Bettlade, um sich anzuziehen.
Auch ihr Mann war, der Gewohnheit folgend, längst
wach, ohne sich bemerkbar zu machen. Er schämte sich
wegen der misslungenen Hochzeitsnacht und war froh,
als Karoline ihm unbefangen einen guten Morgen
wünschte und davon sprach, dass der Regen in der Nacht
wohl aufgehört habe.
Schnell stellte sich der Alltag ein. Karoline vertrug sich
gut mit der Tante und dem Gesinde. Aber sie musste von
ihrem Mann immer wieder auf ihre Rolle als Hofbäuerin
verwiesen werden. Als sie der kleinen Magd half, die ungestümen
Kälber an das Euter der Kühe und anschließend
in den Verschlag zurück zubringen, verbot er es ihr.
Das sei nicht ihre Arbeit. Die Magd werde nur faul dabei.
Dabei wurde das schmächtige Mädchen, selbst noch ein
Kind, mit den größeren Kälbern nicht mehr fertig und
Karoline wäre so gerne mit den Tieren umgegangen. Das
war zu Hause ihre liebste Tätigkeit gewesen. Der Bauer
sah es auch nicht gerne, wenn seine Frau mit den Mägden
und Knechten scherzte. Er selbst tat das nur, wenn
der Most an heißen Sommerabenden seine Zunge gelöst
hatte, was ihm immer wieder den heimlichen Spott des
Gesindes eintrug. Karoline machte sich dagegen durch
ihre unbefangene, einfache Art und durch die Fähigkeit,
ohne Umschweife mitanzupacken, schnell beliebt. Der
Tante, die um ihre Stellung gefürchtet hatte, ließ sie die
Vorherrschaft in der Küche, dafür kümmerte sie sich um
die Wäsche und das Haus, das die Hand einer tüchtigen
Bäuerin lange vermisst hatte. Und mit Sehnsucht erwartete
sie das Frühjahr, um auf dem Feld und im großen
Hausgarten arbeiten zu können.
Was Wilhelm in der Hochzeitsnacht misslungen war,
holte er nach, ohne jemals ein besonderer Liebhaber zu
werden. Seine vorehelichen Erfahrungen hatten sich auf
kurze, schnell im Stroh oder hinter einer Hecke vollzogene
Abenteuer mit Mägden und Tagelöhnerinnen
beschränkt. Ebenso rasch, wort- und lieblos vollzog er
den Liebesakt mit seiner Frau. Karoline nahm es in der
gleichen Weise hin, wie sie seine kurz angebundene, oft
herrische Art, seinen immer wieder aufflammenden Jähzorn
und seinen Geiz ertrug. Über den dunklen, kalten
Winter hinweg, wenn sie sich in Haus und Hof wie eingesperrt
vorkam, weinte sie oft vor Heimweh, aber sie
tat es immer still und im Verborgenen.
Doch als es Frühling wurde, als die Märzsonne den
Schnee von den Feldern leckte, hinter der Scheune die
Weidenkätzchen blühten, die zurückgekehrten Stare am
Hausgiebel um die Vogelkästen stritten, und als sie mit
den beiden Mägden den im Winter auf die Wiesen ausgefahrenen
Mist verrieb, verging ihr Kummer rasch. Karoline
schwatzte mit den beiden Mädchen und lachte über
den Tratsch, der sich mit Vorkommnissen in der Nachbarschaft
und auf dem Tanzboden beschäftigte. Endlich
waren auch die Gartenbeete abgetrocknet und sie konnte
mit dem Säen von Rettich, Salat und anderem Frühgemüse
beginnen. Ihr leiser Gesang drang dabei durch das
offene Küchenfenster bis zu Tante Sophie, die sich darüber
ehrlich freute.
Als Karoline im April ihre Schwangerschaft bemerkte,
war sie endlich ganz auf dem Hof angekommen. Mit der
von früher Kindheit an gewohnten Bescheidenheit und
Selbstbeherrschung ertrug sie die Last, die das in ihr
wachsende Leben mit sich brachte. Kinderkriegen war
schließlich etwas Alltägliches. Niemand nahm auf die
werdende Mutter Rücksicht und Karoline wollte auch
keine.
Nach einem heißen Sommer und einem verregneten
Herbst brach der Winter früh herein. Schon lange vor
Weihnachten erstarrte die Natur im Frost und die Menschen
litten unter der beißenden Kälte. Besonders hart
traf es die Dienstboten, die sich in ihren ungeheizten
Kammern mit der kupfernen Bettflasche auf dem Strohsack
zufriedengeben mussten. Wenn es stürmte, wurde
überdies feiner Schnee in die Dachstuben geweht. In den
eisigen Nächten bildete der Atem der Schläfer auf den
Bettdecken einen glitzernden Reif. Besonders die Jüngsten,
die kleine Magd und der kleine Knecht, gerade erst
schulentlassene, dreizehn- und vierzehnjährige Kinder,
litten entsetzlich unter dem Winter. Für sie war die Arbeit
in dem von Rindern und Schweinen gewärmten
Stall die angenehmste Zeit des Tages. Sie versuchten die
Morgenarbeit dort so weit wie nur möglich auszudehnen.
Aber es nützte wenig. Gleich nach dem Morgenessen
aus Milchsuppe, Weißbrot mit Gsälz, wie dort die
Marmelade hieß, und Malzkaffee mussten sie zum Holz
machen in den Wald, um Brennholz zu sägen oder Reisig
zu bündeln. Wenn die beiden Knechte mit dem Schlitten
Mist auf die Wiesen gefahren hatten, mussten sie den
verstreuen, breiten, wie man sagte. Im Wald war der
Winter noch einigermaßen erträglich, doch beim Mistbreiten
pfiff der Wind gnaden los durch die dünnen Jacken
und ärmlichen Pullover. In den Lederschuhen wurden
die Füße nass und eisig. Frostbeulen an den Zehen
waren alltäglich. Am Abend, in der Wärme der Küche
oder im Bett begannen sie erbärmlich zu jucken.
Sorgen um den Sohn
Schon drei Tage nach der Geburt war Karoline kräftig
genug, um ihre Arbeit im Haus wiederaufnehmen zu
können. Ihr Kind blieb schwach und kränklich. Es wollte
an Karolines Brust nicht recht trinken und schrie viel. Als
eine Nachbarin die junge Mutter besuchte und sich über
das schreiende Bündel in der Wiege beugte, hatte sie nur
den Trost: »Du bist noch jung und kannst noch viele Kinder
haben.«
Karoline aber wollte das Erste, das ihr auf diesem Hof
ganz gehörte, nicht hergeben. Sie brachte manche Nacht
damit zu, den kleinen Michel immer wieder an die Brust
zu nehmen, und ihm, wie ihr die Mutter bei dem einzigen
Besuch, der ihr in dem grimmigen Winter möglich
war, geraten hatte, Bauchwickel aus einem Kamillensud
anzulegen und ihm Tee einzuflößen.
Der Bauer kümmerte sich wenig um seinen Stammhalter.
Er hatte sich einen starken Sohn gewünscht und keinen,
der sich wochenlang nicht zwischen Tod und Leben
entscheiden konnte. Schließlich murrte er sogar über
den großen Verbrauch an Brennholz, den das Heizen der
Schlafstube mit sich brachte. Da Karoline keinen Streit
wollte, richtete sie zusammen mit der Tante in der großen
Küche nah beim Herd einen Platz für das Kinderbettchen
her, der durch eine Kommode vom übrigen Raum
abgetrennt war.
Es dauerte weitere drei Wochen, bis sich das Kind für
das Leben entschieden hatte. Sein Zustand besserte sich.
Es trank nun kräftig an der Mutterbrust und nahm endlich
an Gewicht zu. Jetzt konnte der Bauer ins Kirchdorf
fahren, um seinen Sohn zur Taufe anzumelden. Die fand,
wie es sich auf einem großen Hof gehörte, im Haus statt.
Darüber murrte allerdings der Pfarrer, der in der harten
Winterzeit den Weg zu den Höfen scheute. Wilhelm
musste einen Knecht mit dem leichten, bequemen Sonntagsschlitten
schicken, auf dem der Geistliche, zusammen
mit dem Taufgeschirr, warm und bequem zu seinem
Amtsgeschäft gefahren wurde.
Der Täufling wurde auf den Namen Michael Wilhelm
Albrecht Karl getauft. Michael wie der Großvater vom
Martinshof, Wilhelm wie der Vater, Albrecht wie der
Pate des Bauern und Georg wie Karolines Vater. Taufpaten
waren die älteste Schwester des Bauern und Karolines
fünfzehnjähriger Bruder Matthias, der sich ob dieses
Amtes ungeheuer wichtig vorkam.
Mitte März nahm der Winter endlich Abschied. Ein warmer
Wind strich um die Häuser. Die schneebeladenen
Dächer fingen zu tropfen an und in den Höfen bildeten
sich große Pfützen. Statt Schnee fiel Regen, der in Sturzbächen
die Schlittenspuren der Dorfstraße entlangschoss
und sich in den tiefer liegenden Obstgärten zu kleinen
Teichen sammelte.
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ISBN 978-3-86800-410-6
Der Bauer Wilhelm Dachser, ein untersetzter, aber nicht
gerade kräftiger Mann mit dunklem, in die Stirn hängendem
Haar, dunklen, etwas stechenden Augen und einem
dichten Schnurrbart im runden Gesicht, war bei der Geburt
Michels schon über vierzig. Er hatte spät geheiratet,
weil zuerst die vier jüngeren Geschwister versorgt, das
heißt verheiratet, sein sollten. Außerdem war er bei der
Suche nach einer Bäuerin recht wählerisch gewesen. Dabei
kam es ihm weniger auf die Schönheit an. Kräftig
sollte sie sein und auch ein ordentliches Heiratsgut mitbringen.
Denn die Verheiratung der drei Schwestern und
des Bruders hatte durch die Aussteuer und das Heiratsgut
viel Geld gekostet.
Die Töchter der Nachbarhöfe wollten ihn nicht. Er war
ihnen nicht ansehnlich genug. Außerdem misstrauten sie
seiner ungeselligen, etwas finsteren und, wie die Knechte
berichteten, jähzornigen Art. Nur wenn er getrunken
hatte, taute er auf, wurde dann aber gleich lärmend,
großspurig und den Mädchen gegenüber anzüglich.
Als die jüngste Schwester auf einem Hof in der gleichen
Gegend untergebracht war, hatte er die Dreißig
schon weit überschritten und deshalb keinen Umgang
mehr mit der heiratsfähigen Jugend. Eigentlich hatte er
sich inzwischen auch an die Einschichtigkeit gewöhnt.
Aber die alte Tante Sophie, die mit den Mägden das
Haus versorgte, und die übrige Verwandtschaft drängten
immer wieder zur Heirat.
Schließlich entschloss Wilhelm sich doch zur Brautschau.
Nicht nur um eine Haus- und Bettgenossin zu haben,
sondern vor allem, um den Fortbestand des Hofes
zu sichern. Aber in seinem Alter war die Suche nicht
mehr einfach. Ein Vermittler, ein sogenannter Schmuser,
musste dabei helfen. Über eine solche Heiratsvermittlung
wurde nicht offen geredet, aber sie war in vielen
Fällen üblich und keineswegs ehrenrührig.
Der Schmuser, dessen Dienste Wilhelm in Anspruch
nahm, war ein lustiger, erfahrener und bei den Leuten
beliebter Viehhändler, der täglich mit seinem Einspänner-
Wägelchen unterwegs war und die Bauern und ihre
Töchter im weiten Umkreis kannte. Er hatte Wilhelm
immer wieder Angebote gemacht. Manchmal fuhr er
mit ihm unter dem Deckmantel des Viehkaufes auf die
Höfe, um die Kandidatinnen, aber auch das Anwesen
anzuschauen. Der Zustand von Haus, Hof und Vieh
zeigte die Tüchtigkeit der Familie und ließ auf die Höhe
des Heiratsgutes schließen. Man betrachtete das Vieh,
redete von diesem und jenem und blieb im Allgemeinen.
Oft wussten die Aufgesuchten gar nicht, worum es in
Wirklichkeit ging. Erst wenn der Schmuser beiderseitiges
Interesse erkannte, wurden bei einem zweiten Besuch
klare Worte gesprochen. Einige Male war es schon zu einem
Gegenbesuch auf dem Martinshof gekommen. Aber
dann hatte sich das Heiratsgeschäft doch wieder zer-
schlagen, weil sich die Kandidatin trotz drängendem Zureden
der Eltern gesträubt hatte.
Einigen dieser hochmütigen Bauerntöchter, denen
keiner gut genug war, blieb schließlich nur übrig, daheim
zu bleiben und dem Bruder eine bessere Magd und
seinen Kindern eine so genannte »Dachtante« zu machen.
Das gleiche Los zogen oft genug die Brüder des
Hof erben. Konnten sie kein ordentliches Heiratsgut aufbringen
und hatten sie auch keine besonderen körperlichen
Vorzüge, dann gelang es ihnen meist nicht, auf
einen Hof einzuheiraten. Sie blieben ledig, machten
dem Bruder den Großknecht oder gingen auf einen der
Gutshöfe, wo sie es, wenn sie tüchtig waren, zum Aufseher
oder gar zum Verwalter bringen konnten. Manche
gingen auch zum Militär. Dort konnten sie bis zum Unteroffizier
aufsteigen, der dann den Frust über sein unerfülltes
Bauernleben an den Rekruten ausließ und die
eingezogenen Bauernsöhne stolzer Höfe gnadenlos schikanierte.
Auf einem etwas heruntergekommenen Hof jenseits des
tief eingeschnittenen Tales fand Wilhelm Dachser schließlich
seine Frau. Dort war der Bauer Georg Wieland früh
an der Schwindsucht gestorben. Auch der älteste Sohn
war, kaum siebzehnjährig, dieser Krankheit erlegen. Die
Witwe hatte Mühe, den Hof mit den anderen drei Kindern
durch zubringen.
Manche gaben dem Tabak die Schuld am frühen Tod
Wielands. Das ewige Rauchen habe seine Lunge ruiniert,
hieß es. Tatsächlich war ihm die Pfeife den ganzen Tag
nicht ausgegangen. Hatte er beim Pflügen den letzten
Krümel Tabak verbraucht, hielt es ihn nicht mehr auf
dem Feld. Mitten am Nachmittag musste er heim, um
den Lederbeutel zu füllen. Als ihm bei der späten Rückfahrt
von einem Verwandtenbesuch einmal die Streichhölzer
ausgegangen waren, musste seine Frau an einem
einsamen Hof die Bewohner heraus klopfen, damit er
seine Pfeife anzünden konnte. Erst viel später stellte sich
heraus, dass er wie auch andere schwindsuchtkranke
Bauern von seinem Vieh angesteckt worden war.
Der erste Besuch fand an einem Werktag im Frühsommer
statt. Als der Einspänner des Schmusers auf den Hof
einbog, war die älteste Tochter, um die es ging, gerade
dabei, die Pferde vor den Mistwagen zu spannen. Mit
kräftigen Armen dirigierte sie die beiden Rösser rückwärts
an den Wagen, kettete die Deichsel mit geübten
Griffen an die Geschirre und knebelte die Zugstränge am
Waagscheit an. Als sie sich bückte, zeigte der weit über
die Knie reichende Rock kräftige Waden und als sie sich
aufrichtete, um den Besuch zu begrüßen, spannte die
Schürze über der Brust. Sie hatte ein herbes, wenig schönes
Gesicht, das überdies durch eine breite Narbe auf der
linken Wange verunstaltet war. Dort hatte ihr das Horn
eines ungebärdigen jungen Ochsen eine tiefe Fleischwunde
gerissen. Das braune, hinten zum Knoten gebundene
Haar war fast ganz vom Kopftuch bedeckt. Eine
Strähne hatte sich beim Hantieren gelöst und fi el gekräuselt
über die hohe, gewölbte Stirn. Die sichere, ruhige
Art, wie sie mit den Pferden umging, gefiel Wilhelm.
Unbefangen erwiderte sie den Gruß und rief dann die
Mutter, in der Annahme, Bauer und Händler seien zum
Viehkauf gekommen. Beide ließen sie in dem Glauben.
Der Bauer war als Käufer von Anstellvieh, jungen männlichen
Rindern, für deren Mast den kleineren Höfen das
Futter fehlte, bekannt.
Im niedrigen Stall mit einer altersschwachen, schon
durchgebogenen Holzdecke stellte Wilhelm schnell fest,
dass die sechs Kühe und zehn Jungrinder gut geputzt
und ordentlich ernährt waren. Während die hinzugekommene
Bäuerin mit ihm über das Vieh sprach, lockerte
die Tochter mit der Gabel die Streu, zog die Kuhfladen
heraus und warf das nach hinten getretene Stroh wieder
auf die Liegefläche. Auch das gefiel dem Heiratskandidaten.
Zu einem Viehhandel kam es an diesem Tag nicht.
Dafür bahnte sich ein anderer Handel an.
Als der Schmuser wenige Tage später allein wiederkam
und die Mutter unverblümt fragte, was sie vom jungen
Dachser als Schwiegersohn halte, war sie nicht wenig
überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ein
so großer Bauer an einer Verbindung mit ihren kleinen
Verhältnissen Gefallen finden könnte. Um der befürchteten
Forderung nach einer großen Aussteuer und zusätzlichem
Heiratsgut entgegenzutreten, zeigte sie ihre
Freude nicht. Vielmehr entgegnete sie, der junge Martinshöfer
habe nicht gerade den besten Ruf. Man höre, er
trinke gerne und neige zur Gewalttätigkeit. Nicht umsonst
habe er in dem Alter immer noch keine Frau. Außerdem
sei er als geizig verschrien und da habe es eine
junge Bäuerin nicht leicht, ein angemessenes Hauswesen
zu führen. Schließlich sei sie auch selbst noch auf die
Hilfe der Tochter angewiesen. Sie könne sich keinen
Großknecht leisten und der zweite Sohn könne mit seinen
fünfzehn Jahren noch nicht so schwer schaffen wie
die Tochter.
Der Schmuser ging auf die Kritik an seinem Kandidaten
nicht ein. Er wusste zu gut, was dahinterstand.
Dachser brauche kein großes Heiratsgut, entgegnete er.
Es genüge auch eine kleine Aussteuer. Ihm sei eine tüchtige
Bäuerin wichtiger, die verträglich mit der alten
Tante umgehe, ein gutes Haus führe und ihm auf dem
Hof eine Hilfe sei. Als Arbeitsersatz werde er, der Schmuser,
einen tüchtigen Jungknecht besorgen, der sich mit
wenig Lohn zufriedengebe.
Natürlich wisse sie, lenkte die Mutter ein, dass sie ihre
Tochter nicht ewig auf dem Hof halten könne, aber nach
dem Tod des Mannes und des Sohnes sei es bitter, für
alles allein sorgen zu müssen. Es falle ihr schwer, aber
sie werde mit der Tochter reden. Schon bald könne der
Viehhändler eine Antwort abholen.
Karoline, so hieß die Tochter, die im Dialekt Karline gerufen
wurde, war noch mehr überrascht als ihre Mutter.
Ihre Reaktion war weder heimliche noch offene Freude,
sondern tiefes Erschrecken. Sie sollte die Heimat verlieren
und zu diesem Mann gehen, der ihr so finster und
so fremd vorgekommen war? Bitterlich fing sie an zu
weinen und darauf rannen auch der Mutter Tränen übers
verhärmte Gesicht. Weniger, weil sie die Tochter hergeben
sollte, sondern mehr, weil ihr die Sorge um die Erhaltung
des Hofes seit Tagen fast das Herz abdrückte.
Aber schließlich war die Vernunft stärker, ohne die es
nie möglich gewesen wäre, im harten Bauernleben die
Existenz zu sichern. Ähnlich wie der Schmuser begann
die Bäuerin von den Vorzügen des Martinshofes, vor allem
von seiner Größe zu reden. Wilhelm Dachser sei
zwar kein besonderes Mannsbild und es werde ihm auch
manch Ungutes nachgesagt, aber da sei oft Neid dabei
und eine gescheite Frau könne manche Untugend austreiben.
»Was meinst du«, fragte sie Karoline, die sich
immer noch schluchzend die Tränen mit dem Schürzenzipfel
trocknete, »wir gucken uns den Hof einfach an,
entschieden ist noch gar nichts.«
Zwei Sonntage später wurde das altersschwache Bernerwägelchen
aus dem Schuppen geschoben und eines der
Pferde angespannt. Die Mutter hatte ihr gutes, den Witwenstand
anzeigendes schwarzes Kleid angezogen. Statt
dem Hut, der damals bei den wohlhabenden Bäuerinnen
in Mode war, trug sie auf dem grau gewordenen, zum
Knoten gebundenen Haar ein dunkel gemustertes Kopftuch.
Karoline hatte einen dunkelblauen Rock an. Dem
Trauerjahr entsprechend, in dem sich die Familie nach
dem erst acht Monate zurückliegenden Tod des Sohnes
befand, trug sie eine schwarz gemusterte Bluse und darüber
eine schlicht bestickte, kurze Weste, den Spenzer.
Sie war barhäuptig.
Auf dem Martinshof hatte der Bauer seiner alten Tante
den Besuch zwar angekündigt, aber den Zweck ver-
schwiegen. Die Bäuerin vom anderen Hof wolle sehen,
wo ihr Vieh hinkomme, und interessiere sich für eine
Kalbin. Außerdem sei er kürzlich von der Bäuerin zusammen
mit dem Viehhändler bewirtet worden und nun
müsse man sich revanchieren.
Sophie wunderte sich zwar, dass der Besuch gleich zu
zweit kam, dachte sich aber nichts weiter dabei. Heller
war Hans, der zweite Knecht, ein vorwitziger, kaum
zwanzigjähriger Bursche. Er hatte sich nach dem Mittagessen
aufs Bett geworfen, um vor dem sonntäglichen Kegelspiel
im Wirtshaus noch etwas Schlaf zu bekommen.
Als das Bernerwägelchen in den Hof rumpelte, wachte
er auf, spähte neu gierig aus dem Dachfenster und sah
den doppelten Frauenbesuch. »Was meinst du«, fragte er
später Emma, die erste Magd, die mit Eimer und Melkzeug
genau in dem Augenblick über den Hof kam, als
sich der Besuch verabschiedete, »vielleicht haben wir gerade
unsere neue Bäuerin gesehen.«
Bei einem weiteren Treffen wurden die Modalitäten der
Heirat besprochen. Karoline hatte sich nach eifrigem Zuspruch
der Mutter in ihr Schicksal gefügt. Sie hatte Wilhelm
beim Besuch auf seinem Hof nicht mehr so abweisend
empfunden. Auch die alte Tante schien umgänglich
zu sein. Zudem hatten das große Haus, der reiche Viehbestand
und der allgemein gute Zustand des Hofes ihren
Eindruck hinterlassen. Bäuerin auf einem neunzig Morgen
großen Hof mit über vierzig Stück Vieh, einer Brennerei
und fünf Dienstboten zu werden, das war doch
was.
Auf eine Verlobung wurde angesichts der Trauerzeit verzichtet.
Die Hochzeit sollte Ende November stattfinden.
Auch hier spielten praktische Erwägungen eine Rolle.
Dann war eingeschafft, wie es hieß. Dann waren die späten
Früchte, Kartoffeln, Rüben und Obst geerntet, die
Wintersaaten Dinkel, Weizen und Roggen im Boden und
der große Hausgarten umgegraben.
Die Vorbereitungen kosteten Mutter und Tochter viel
Kraft und das letzte Geld. Die Aussteuer, Bett-, Tisch-
und Leibwäsche, die schon seit Karolines Konfirmation
angesammelt wurde, musste ergänzt und gerichtet werden.
Manche Nacht saß die zukünftige Bäuerin mit der
Mutter am Tisch, um Bettbezüge zu nähen, Betttücher
zu säumen, Knöpfe anzubringen und mit unzähligen Stichen
die Tischdecken zu verzieren. Trotzdem musste
noch für einige Tage die Näherin bestellt und bezahlt
werden. Um alle Rechnungen begleichen und für das
Heiratsgut die vereinbarten tausend Mark auf bringen zu
können, musste die Mutter bei ihrem Bruder Geld leihen.
Als der Hochzeitstag endlich da war, hatte die Braut
nach den durchgearbeiteten Nächten dunkle Ringe unter
den Augen und die Sorgenfalten der Mutter waren tiefer
und zahlreicher geworden.
Am Hochzeitsmorgen holte der Bräutigam seine Braut
mit der prächtig herausgeputzten Chaise, einer viersitzigen
Kutsche mit Ledersitzen und Faltdach, die sich nur
große Höfe leisten konnten, ab. Das Wetter war wie die
Stimmung der Braut. Grauer Nebel zog über die abgeernteten
Felder. Kalter Regen tropfte von den Dächern
und den kahlen Bäumen. Es schien, als wolle die Natur
in Karolines Abschiedsschmerz einstimmen. Im langen,
schwarzen Kleid und in ein dunkles, noch von der Großmutter
stammendes Tuch gehüllt, trat sie vor die Haustüre,
um ihren künftigen Mann zu begrüßen. Dabei war
ihr bleiches, schmal gewordenes Gesicht wie versteinert.
Als sie wenig später an seinem Arm wieder aus dem
Haus kam und die Chaise bestieg, rannen die Tränen.
Dass die neugierigen Nachbarn Beifall klatschten und
aufmunternde Worte riefen, gewahrte sie wie durch einen
Schleier. Das Schluchzen, das ihr schon den ganzen
Morgen im Halse steckte, brach erst aus ihr heraus, als
die Kutsche den Hof und das Dorf verlassen hatte.
Der Bräutigam wusste mit dem Abschiedsschmerz
nichts anzufangen. Jemanden zu trösten, das hatte er in
seiner Familie nicht gelernt. Und seine Braut dazu in den
Arm zu nehmen, das kam schon gegenüber dem Knecht
auf dem Kutschbock nicht infrage. Karolines Tränen
passten auch nicht in seine Vorstellungswelt. Musste es
für ein Mädchen von einem so kümmerlichen Anwesen
nicht eine Genugtuung sein, zur Bäuerin auf dem großen
Martinshof aufzusteigen ? In seiner Unbeholfenheit wusste
er nichts anderes zu tun, als die Hand seiner Braut unter
der über die Knie gebreiteten Decke zu nehmen und
schweigend neben ihr zu sitzen.
Die Hochzeit wurde ein zwiespältiges Fest. Als das Brautpaar
in einer vom Nachbarn gelenkten Kutsche, gefolgt
von den Gästen die etwa einen Kilometer entfernte Kirche
erreichte, war wegen der Kälte und Nässe die erste
Festtagsstimmung verflogen. Die auf dem Kirchplatz
ausharrende Dorfbevölkerung fror ebenfalls. Weil der
Bräutigam beim Aussteigen aus der Kutsche eine recht
linkische Figur abgab, wurden spöttische Worte laut.
Auch Karoline selbst wurde nicht verschont. Auf ihre
Narbe im Gesicht anspielend sagten die Lästermäuler,
für eine solche Schönheit hätte der Martinsbauer nicht
so weit fahren brauchen. Eine gute Arbeiterin, auf die es
ihm wohl ankomme, hätte er auch in der Nachbarschaft
gefunden.
In der Kirche war es fast so kalt wie draußen. Die Gäste
waren froh, dass der Pfarrer nur eine kurze Predigt hielt,
deren Inhalt niemandem im Gedächtnis blieb. Geredet
wurde später über den ungeschickten Bräutigam, der den
Ring, den er seiner Braut an den Finger stecken sollte,
fallen ließ und deshalb die Hilfe eines Trauzeugen
brauchte.
Besser wurde die Stimmung später beim Hochzeitsmahl
in der großen Stube des Martinshofes. Dort standen
bereits die am Vortag mit einem geschmückten
Leiterwagen abgeholten neuen Möbel, bestehend aus
einem großen, zweitürigen Eichenschrank und einer aus
Eschen holz gefertigten Kommode. Der dazu gehörende
Tisch mit den sechs Stühlen war beiseite geräumt, um
der langen Tafel für die Bewirtung der Hochzeitsgäste
Platz zu machen.
Für das Essen hatte man eine auswärtige Köchin geholt.
Der Rinderbrühe mit Eierstich und Markklößchen,
den beiden Hauptgerichten, Schweinebraten mit Spätzle
und Rindfleisch mit Meerrettichsoße, sowie dem Nachtisch
aus süßen Klößen wurde kräftig zugesprochen.
Nach der Suppe versuchte ein Onkel eine mit harmlosen
Anzüglichkeiten gespickte Festtagsrede, die fleißig beklatscht
wurde. An sonsten drehte sich die Unterhaltung
um den Ablauf des Bauernjahres, den Ärger mit dem Gesinde
und um die schlechten Viehpreise. Die Verwandten
der Braut blieben einsilbig. Sie konnten, was Hofgrößen,
Viehbestände und Gesindezahlen anlangte, nicht mithalten
und glaubten, die andere Seite lasse das absichtlich
spüren.
Zu dem bei einer Hochzeit üblichen Spaziergang kam
es angesichts des schlechten Wetters nicht. Karoline war
darüber traurig, hätte sie sich doch dabei ein wenig zu
ihrer Familie und den Verwandten gesellen können. So
musste sie neben dem ihr immer noch fremden Mann
sitzen bleiben, der mehr mit den Gästen sprach als mit
ihr und mit zunehmendem Weingenuss wieder in seine
unangenehme laute Art verfiel. Ihr graute es vor der
Nacht.
Als gegen Morgen die letzten Gäste aufbrachen, nutzte
der Bauer den Abschiedstrubel und zog seine junge Frau
mit schwankendem Schritt in die Schlafstube. Dort warteten
bereits die neuen Betten mit den hoch aufgebauten,
bestickten Kopfkissen und den weiß überzogenen
dicken Federbetten.
Der reichlich genossene Alkohol nahm Wilhelm die
Möglichkeit, den großen Verführer zu spielen. Als er sich
mühsam entkleidet hatte, war Karoline längst in ihr
neues, besticktes Nachthemd geschlüpft und hatte die
Decke bis unters Kinn gezogen. Der Bräutigam musste es
bei einigen ungeschickten Liebkosungen belassen und
Karoline war froh, als sie an dem schwer gewordenen
Atem seinen Schlaf bemerkte. Sie selbst lag noch lange
wach.
In der Früh wurde sie vom Muhen der Kühe geweckt
und wäre gerne aufgestanden, um wie daheim in den
Stall zu gehen. Aber das war auf diesem Hof die Arbeit
der Mägde und Knechte. Außerdem geziemte es sich sicher
nicht, am Morgen nach der Hochzeit das Bett so
früh zu verlassen. Erst als die Tante in der angrenzenden
Küche mit dem Geschirr klapperte und mit der vom Melken
kommenden Magd sprach, verließ Karoline vorsichtig
die hohe Bettlade, um sich anzuziehen.
Auch ihr Mann war, der Gewohnheit folgend, längst
wach, ohne sich bemerkbar zu machen. Er schämte sich
wegen der misslungenen Hochzeitsnacht und war froh,
als Karoline ihm unbefangen einen guten Morgen
wünschte und davon sprach, dass der Regen in der Nacht
wohl aufgehört habe.
Schnell stellte sich der Alltag ein. Karoline vertrug sich
gut mit der Tante und dem Gesinde. Aber sie musste von
ihrem Mann immer wieder auf ihre Rolle als Hofbäuerin
verwiesen werden. Als sie der kleinen Magd half, die ungestümen
Kälber an das Euter der Kühe und anschließend
in den Verschlag zurück zubringen, verbot er es ihr.
Das sei nicht ihre Arbeit. Die Magd werde nur faul dabei.
Dabei wurde das schmächtige Mädchen, selbst noch ein
Kind, mit den größeren Kälbern nicht mehr fertig und
Karoline wäre so gerne mit den Tieren umgegangen. Das
war zu Hause ihre liebste Tätigkeit gewesen. Der Bauer
sah es auch nicht gerne, wenn seine Frau mit den Mägden
und Knechten scherzte. Er selbst tat das nur, wenn
der Most an heißen Sommerabenden seine Zunge gelöst
hatte, was ihm immer wieder den heimlichen Spott des
Gesindes eintrug. Karoline machte sich dagegen durch
ihre unbefangene, einfache Art und durch die Fähigkeit,
ohne Umschweife mitanzupacken, schnell beliebt. Der
Tante, die um ihre Stellung gefürchtet hatte, ließ sie die
Vorherrschaft in der Küche, dafür kümmerte sie sich um
die Wäsche und das Haus, das die Hand einer tüchtigen
Bäuerin lange vermisst hatte. Und mit Sehnsucht erwartete
sie das Frühjahr, um auf dem Feld und im großen
Hausgarten arbeiten zu können.
Was Wilhelm in der Hochzeitsnacht misslungen war,
holte er nach, ohne jemals ein besonderer Liebhaber zu
werden. Seine vorehelichen Erfahrungen hatten sich auf
kurze, schnell im Stroh oder hinter einer Hecke vollzogene
Abenteuer mit Mägden und Tagelöhnerinnen
beschränkt. Ebenso rasch, wort- und lieblos vollzog er
den Liebesakt mit seiner Frau. Karoline nahm es in der
gleichen Weise hin, wie sie seine kurz angebundene, oft
herrische Art, seinen immer wieder aufflammenden Jähzorn
und seinen Geiz ertrug. Über den dunklen, kalten
Winter hinweg, wenn sie sich in Haus und Hof wie eingesperrt
vorkam, weinte sie oft vor Heimweh, aber sie
tat es immer still und im Verborgenen.
Doch als es Frühling wurde, als die Märzsonne den
Schnee von den Feldern leckte, hinter der Scheune die
Weidenkätzchen blühten, die zurückgekehrten Stare am
Hausgiebel um die Vogelkästen stritten, und als sie mit
den beiden Mägden den im Winter auf die Wiesen ausgefahrenen
Mist verrieb, verging ihr Kummer rasch. Karoline
schwatzte mit den beiden Mädchen und lachte über
den Tratsch, der sich mit Vorkommnissen in der Nachbarschaft
und auf dem Tanzboden beschäftigte. Endlich
waren auch die Gartenbeete abgetrocknet und sie konnte
mit dem Säen von Rettich, Salat und anderem Frühgemüse
beginnen. Ihr leiser Gesang drang dabei durch das
offene Küchenfenster bis zu Tante Sophie, die sich darüber
ehrlich freute.
Als Karoline im April ihre Schwangerschaft bemerkte,
war sie endlich ganz auf dem Hof angekommen. Mit der
von früher Kindheit an gewohnten Bescheidenheit und
Selbstbeherrschung ertrug sie die Last, die das in ihr
wachsende Leben mit sich brachte. Kinderkriegen war
schließlich etwas Alltägliches. Niemand nahm auf die
werdende Mutter Rücksicht und Karoline wollte auch
keine.
Nach einem heißen Sommer und einem verregneten
Herbst brach der Winter früh herein. Schon lange vor
Weihnachten erstarrte die Natur im Frost und die Menschen
litten unter der beißenden Kälte. Besonders hart
traf es die Dienstboten, die sich in ihren ungeheizten
Kammern mit der kupfernen Bettflasche auf dem Strohsack
zufriedengeben mussten. Wenn es stürmte, wurde
überdies feiner Schnee in die Dachstuben geweht. In den
eisigen Nächten bildete der Atem der Schläfer auf den
Bettdecken einen glitzernden Reif. Besonders die Jüngsten,
die kleine Magd und der kleine Knecht, gerade erst
schulentlassene, dreizehn- und vierzehnjährige Kinder,
litten entsetzlich unter dem Winter. Für sie war die Arbeit
in dem von Rindern und Schweinen gewärmten
Stall die angenehmste Zeit des Tages. Sie versuchten die
Morgenarbeit dort so weit wie nur möglich auszudehnen.
Aber es nützte wenig. Gleich nach dem Morgenessen
aus Milchsuppe, Weißbrot mit Gsälz, wie dort die
Marmelade hieß, und Malzkaffee mussten sie zum Holz
machen in den Wald, um Brennholz zu sägen oder Reisig
zu bündeln. Wenn die beiden Knechte mit dem Schlitten
Mist auf die Wiesen gefahren hatten, mussten sie den
verstreuen, breiten, wie man sagte. Im Wald war der
Winter noch einigermaßen erträglich, doch beim Mistbreiten
pfiff der Wind gnaden los durch die dünnen Jacken
und ärmlichen Pullover. In den Lederschuhen wurden
die Füße nass und eisig. Frostbeulen an den Zehen
waren alltäglich. Am Abend, in der Wärme der Küche
oder im Bett begannen sie erbärmlich zu jucken.
Sorgen um den Sohn
Schon drei Tage nach der Geburt war Karoline kräftig
genug, um ihre Arbeit im Haus wiederaufnehmen zu
können. Ihr Kind blieb schwach und kränklich. Es wollte
an Karolines Brust nicht recht trinken und schrie viel. Als
eine Nachbarin die junge Mutter besuchte und sich über
das schreiende Bündel in der Wiege beugte, hatte sie nur
den Trost: »Du bist noch jung und kannst noch viele Kinder
haben.«
Karoline aber wollte das Erste, das ihr auf diesem Hof
ganz gehörte, nicht hergeben. Sie brachte manche Nacht
damit zu, den kleinen Michel immer wieder an die Brust
zu nehmen, und ihm, wie ihr die Mutter bei dem einzigen
Besuch, der ihr in dem grimmigen Winter möglich
war, geraten hatte, Bauchwickel aus einem Kamillensud
anzulegen und ihm Tee einzuflößen.
Der Bauer kümmerte sich wenig um seinen Stammhalter.
Er hatte sich einen starken Sohn gewünscht und keinen,
der sich wochenlang nicht zwischen Tod und Leben
entscheiden konnte. Schließlich murrte er sogar über
den großen Verbrauch an Brennholz, den das Heizen der
Schlafstube mit sich brachte. Da Karoline keinen Streit
wollte, richtete sie zusammen mit der Tante in der großen
Küche nah beim Herd einen Platz für das Kinderbettchen
her, der durch eine Kommode vom übrigen Raum
abgetrennt war.
Es dauerte weitere drei Wochen, bis sich das Kind für
das Leben entschieden hatte. Sein Zustand besserte sich.
Es trank nun kräftig an der Mutterbrust und nahm endlich
an Gewicht zu. Jetzt konnte der Bauer ins Kirchdorf
fahren, um seinen Sohn zur Taufe anzumelden. Die fand,
wie es sich auf einem großen Hof gehörte, im Haus statt.
Darüber murrte allerdings der Pfarrer, der in der harten
Winterzeit den Weg zu den Höfen scheute. Wilhelm
musste einen Knecht mit dem leichten, bequemen Sonntagsschlitten
schicken, auf dem der Geistliche, zusammen
mit dem Taufgeschirr, warm und bequem zu seinem
Amtsgeschäft gefahren wurde.
Der Täufling wurde auf den Namen Michael Wilhelm
Albrecht Karl getauft. Michael wie der Großvater vom
Martinshof, Wilhelm wie der Vater, Albrecht wie der
Pate des Bauern und Georg wie Karolines Vater. Taufpaten
waren die älteste Schwester des Bauern und Karolines
fünfzehnjähriger Bruder Matthias, der sich ob dieses
Amtes ungeheuer wichtig vorkam.
Mitte März nahm der Winter endlich Abschied. Ein warmer
Wind strich um die Häuser. Die schneebeladenen
Dächer fingen zu tropfen an und in den Höfen bildeten
sich große Pfützen. Statt Schnee fiel Regen, der in Sturzbächen
die Schlittenspuren der Dorfstraße entlangschoss
und sich in den tiefer liegenden Obstgärten zu kleinen
Teichen sammelte.
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... weniger
Autoren-Porträt von Heinrich Maurer
Als Bauernsohn geboren und aufgewachsen, musste Heinrich Maurer krankheitsbedingt auf das Erbe des elterlichen Hofes verzichten. Stattdessen wurde er nach entsprechendem Studium des Landbaus Redakteur bei verschiedenen landwirtschaftlichen Fachzeitschriften, bevor er 1977 zum Württembergischen Wochenblatt kam, das er dann bis 2004 als Chefredakteur leitete.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinrich Maurer
- 430 Seiten, Maße: 13,3 x 21 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004106
- ISBN-13: 9783868004106
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