Wer loslässt, hat zwei Hände frei
Mein Weg vom Manager zum Mönch
Für andere Menschen mag es durchaus einen weniger radikalen Weg geben. Auch ein Funke kann ein inneres Feuer entzünden, und nicht jeder, der in seinem Leben Wissen in sich erwerben und verankern will, muss es auf meine Weise tun. Doch mir ging es um mehr....
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Produktinformationen zu „Wer loslässt, hat zwei Hände frei “
Für andere Menschen mag es durchaus einen weniger radikalen Weg geben. Auch ein Funke kann ein inneres Feuer entzünden, und nicht jeder, der in seinem Leben Wissen in sich erwerben und verankern will, muss es auf meine Weise tun. Doch mir ging es um mehr. Mir hätte es nicht gereicht, morgens und abends zu meditieren, Gutes zu tun und im Randbereich der Welt auszuharren. Was ich tat, das tat ich ganz. Und aus diesem Grunde existierte für mich auch kein halbherziger Weg. Ein bisschen abgeben oder für drei Monate als Mönch leben, wie es in Thailand so viele taten, war mir nicht genug. Ich durfte mich nicht selbst einschränken, indem ich mir kleine Ziele steckte, die von der Natur meines menschlichen Verstandes her limitiert sein mussten. Viele Menschen würden einen solchen Schritt aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus nicht tun. Doch was war schon sicher? Einzig die Vergänglichkeit. Ich musste nur an die Nacht des Unfalls denken, um mir dies zu vergegenwärtigen. Warum also an etwas festhalten, das sich nicht festhalten ließ?
Lese-Probe zu „Wer loslässt, hat zwei Hände frei “
Wer loslässt hat zwei Hände frei von Master Han Shan Vorwort Ist es möglich, dauerhaftes Glück in uns zu verankern? Können wir inneres Wohlbefinden erlangen, das nicht von äußeren Umständen abhängt? Gibt es wahres Glück, das nur uns alleine gehört? Über einen langen Zeitraum hinweg wurde in unserer Gesellschaft das Streben nach materiellem Reichtum gleichgesetzt mit Glück, Wohlbefinden und Sicherheit. Hat andererseits aber nicht gerade das Verlangen nach immer mehr materiellem Wohlstand und dem Festhalten daran uns zu Sklaven dieses selbst kreierten Systems gemacht, das all unser Denken und Handeln bestimmt? Was gehört uns denn wirklich? Hat uns die neueste Krise nicht wieder einmal deutlich gezeigt, dass materieller Besitz im Grunde nichts als eine Illusion ist und uns lediglich eine scheinbare Sicherheit verleiht? Wer heute noch viel besitzt, kann es morgen schon verlieren. Und mitnehmen können wir nach unserem physischen Tode keines von den angehäuften Gütern.
Und überhaupt: Wer weiß schon, was im nächsten Moment passiert? Kann es überhaupt jemand wissen? Ist die Zeit nicht endlich reif, ehrlicher mit uns selbst zu sein und einzugestehen, dass wir es eigentlich nicht wirklich wissen können? Diese Erkenntnis gründet auf Weisheit. Das Wissen um das Nichtwissen anzuwenden, damit richtig umzugehen, ja, sein Leben danach auszurichten, ist die hohe Kunst der Lebensführung.
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Wahres persönliches Glück und Wohlbefinden können nur in jedem Einzelnen begründet werden. Den Schlüssel zum Glück trägt jeder bei sich, auch wenn er es nicht weiß. Die Entscheidungsträger der Gesellschaft, in welcher Position auch immer, sollten danach trachten, ein Umfeld zu gestalten, das es jedem Einzelnen ermöglicht, diesen Schlüssel bei sich selbst zu finden. Zugleich sollten wir nicht darauf warten, dass uns andere Menschen diesen Schlüssel in die Hand geben. Wir sollten stattdessen anfangen, ihn bei uns selbst zu suchen um neue Türen zu öffnen und wahre Erkenntnisse und ethische Werte in uns wachzurufen und zu verankern. Als ich in den Siebzigerjahren nach Asien ging und meine erste Firma gründete, herrschte eine wirtschaftliche Aufbruchstimmung. Fasziniert von dem Zusammenhalt und der Flexibilität der Menschen in Singapur, versuchte ich, mich auf die örtlichen Gegebenheiten einzulassen, statt meine Angestellten und Arbeiter in eine ihnen fremde Struktur zu pressen. Ich tauchte ein in die östliche Lebensweise, und im Gegenzug erschlossen sich mir völlig neue Perspektiven. Menschen in ärmeren Regionen Asiens zeigten mir, dass Glück eben nicht immer mit unserer Vorstellung von Wohlstand oder Reichtum einhergehen muss. In ihren einfachen Hütten, die nur notdürftigen Schutz vor Regen und Sonne boten, und mit nicht mehr zu essen, als die Natur rundum ihnen gab, strahlten sie eine tief verinnerlichte Freundlichkeit und Zufriedenheit aus, die ich in meinem früheren Leben in Deutschland oft vergebens gesucht hatte. Jeder half jedem auf irgendeine Art, denn jeder fühlte sich mit dem anderen verbunden. Diese Beobachtungen führten dazu, dass ich in meiner Firma die Grundzüge eines ethischen Managements umsetzte, das meinen Mitarbeitern und mir Erfolg sowie ein hohes Wohlbefinden bescherte. Ich war im Fluss, und was immer ich anpackte, gelang. Schon damals ging es mir nie um Profit um
des Geldes willen. Es war stets mein Bestreben, Geschäfte im Einklang mit allen Beteiligten zu tätigen, und der Profit war lediglich das Resultat diese Haltung. Während mein Unternehmen expandierte, häufte ich Besitztümer an, die das Leben angenehm machten. Ich wurde zum sogenannten Millionär, und auch die Menschen, die in meinen Firmen arbeiteten, hatten ihren Anteil am Wohlstand. Dass all der äußere Reichtum mir in Wahrheit nichts brachte und im Grunde genommen nur eine Illusion war, erfuhr ich eines Nachts, als ich mit meinem Jaguar unterwegs war und einen schweren Autounfall hatte. Mein Wagen überschlug sich mehrfach, Fenster splitterten, und das Blech drückte sich rund um mich herum ein. Ich selbst blieb völlig unversehrt.
Von diesem Augenblick an war nichts mehr so, wie es noch Sekunden zuvor gewesen war. Ich fragte mich plötzlich, was im Leben wirklich wichtig ist. Die Antwort darauf fand ich, als ich alles, was mir gehörte, fort gab und als Bettelmönch auf einer Insel fernab von Business und Konsum lebte. Dort wurde ich wirklich reich.
Mein Weg mag extrem gewesen sein. Für mich funktionierte er nur so. Doch nicht jeder, der sich auf die Suche nach innerem Reichtum begibt und sich dem zuwenden möchte, was wirklich Sinn für ihn und die Welt macht, muss denselben Weg einschlagen wie ich. Allerdings können die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich mir auf meinem Weg erarbeitet habe, Ansatzpunkte für jeden Einzelnen bieten, der bereit ist, wirkliches Glück und Wohlbefinden in sich selbst zu suchen. Alles ist vergänglich, nichts ist von Dauer. Alles fließt und ist damit stets wandelbar. Das Einzige, was immer bleibt, ist die Vergänglichkeit. Wenn wir festhalten an dem, was wir besitzen oder zu sein glauben, machen wir uns selbst zu einem Sklaven, der unaufhörlich damit beschäftigt ist, den Strom der Vergänglichkeit aufzuhalten. Wir werden zu einem Damm, der vergeblich versucht, das Wasser zu stauen, anstatt uns fröhlich und glücklich von der Strömung des Flusses tragen zu lassen. Wer aber loslässt, der hat zwei Hände frei. Loslassen macht uns frei und unabhängig. Es erlaubt uns, unsere Kraft nicht mit dem Festhalten von oder an Dingen zu vergeuden, die wir ohnehin nicht bewahren können. Stattdessen können wir sie dazu nutzen, um uns so tief wie möglich in den Fluss zu begeben. Wer weiß schon, welche Reichtümer flussabwärts noch auf uns warten? Unternehmer 1
Tropische Hitze schlug mir entgegen, als ich aus dem Flugzeug stieg. Es war der 2. März 1974, zwei Tage vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Ich war in Singapur gelandet – der Löwenstadt. Tief sog ich den Duft der weiten Welt in mich ein. Ich war voller Hochgefühl, denn ich stand am Beginn eines neuen Abschnitts in meinem noch recht jungen Leben. In vier Tagen sollte ich eine Stelle als Produktionsleiter der Firma Rollei antreten, die einen großen Teil ihrer Fertigung nach Asien verlegt hatte.
In der Ankunftshalle des alten Paya-Lebar-Flughafens von Singapur erwartete mich mein neuer Vorgesetzter – ein Deutscher – mit seiner Sekretärin. Sie fuhren meine Frau und mich in ein Hotel ein wenig außerhalb des Stadtzentrums und ließen uns für einige Stunden allein, damit wir uns nach dem langen Flug ausruhen konnten. Biene war erschöpft, sie blieb auf dem Zimmer, um ein paar Stunden zu schlafen. Mich aber hielt dort nichts, ich konnte es kaum erwarten, Land und Leute kennenzulernen. Ich ging hinunter in die Lobby, bestellte etwas zu trinken und ließ die Menschen an mir vorbeiströmen. Singapur war eine multinationale Stadt, in der Chinesen mit rund zwei Dritteln Bevölkerungsanteil das Gesamtbild dominierten. Ich hatte Mühe, die einzelnen Gesichter zu unterscheiden. Für mich sahen sie alle gleich aus. Wahrscheinlich ging es ihnen umgekehrt ebenso; in ihren Augen war ich wohl nur einer der hochgewachsenen Fremdlinge aus Europa, die an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel gestrandet waren, um nach dem Willen der Regierung technisches Know-how ins Land zu bringen. Ich hatte einen Zweijahresvertrag mit der Firma Rollei abgeschlossen, obgleich ich mir sicher war, dass ich so schnell nicht nach Deutschland zurückkehren würde. Als Produktionsleiter würde ich für die Fertigung sämtlicher Metall- und Plastikteile der Kameras, die von der Firma seit Kurzem in Singapur fabriziert wurden, verantwortlich zeichnen. Die Expansion nach Asien war in jenen Jahren noch ein relativ neuer produktionstechnischer Trend, ein Umstand, der meinen Bestrebungen nur zupass kam. Seit ich die Anzeige in der Zeitung gesehen und mich für den Auslandsposten beworben hatte, waren gerade mal vier Wochen vergangen. Im Gegensatz zu den alteingesessenen Angestellten der Firma, die lieber zu Hause bei ihren Familien in gesicherten Verhältnissen bleiben wollten, war ich ganz erpicht auf einen Auslandsvertrag gewesen. Rollei hatte sich an dem Projekt der Regierung von Singapur beteiligt, lokale Arbeitskräfte auszubilden, um deutsche Präzisionsarbeit mit asiatischer Flexibilität und den deutlich geringeren Lohnkosten zu verbinden. Schon früh begriff die singapurianische Regierung, dass wirtschaftliches Wachstum nur mit gut geschulten Fachkräften möglich ist, und bemühte sich deshalb, geeignete Investoren ins Land zu holen. Das schien mir ein ausgewogenes System zu sein, von dem beide Seiten profitieren konnten und das dem Land und seinen Bürgern zugutekommen würde. Es hörte sich ehrlich und integer an – und es hatte mir die Möglichkeit verschafft, Deutschland den Rücken zu kehren und aufzubrechen in ein völlig neues Leben. Und wie faszinierend dieses Leben war! Ich trat aus der Lobby auf die Straße und sog all die neuen Eindrücke in mich auf. Autos brausten an mir vorüber, die ein deutscher TÜV niemals auch nur begutachtet hätte. Doch sie fuhren, wenn auch ratternd und qualmend. Zwischen den Autos suchten sich Fahrradrikschas und Mopeds ihren Weg. Ich lief ein Stück zu einem nahen Park. Unter Palmen fand ich ein schattiges Plätzchen. Da saß ich und ließ die Umgebung auf mich einwirken. Wir waren in einem Gartenhotel in einer guten Wohngegend untergekommen. Die Häuser wirkten solide, doch als mein Blick über die ein- und zweistöckigen Bauten schweifte, entdeckte ich ärmliche Hütten aus Holz und Schilf in den abgelegeneren Straßen.
Je länger ich dort saß und schaute, desto weiter rückte Deutschland mit all seinen Verordnungen und festen Strukturen in die Ferne. Es war mir leichtgefallen fortzugehen, ja, ich hatte mich förmlich nach einem Tapetenwechsel gesehnt. Auch wenn ich zu meiner Familie und meinen Freunden ein gutes Verhältnis gehabt hatte, war ich doch meist der stille, eher unergründliche Außenseiter gewesen. All der Small Talk hatte mich nie wirklich interessiert, ich hatte nie Teil einer Gesellschaft sein wollen, die vergleicht und urteilt und die Menschen mit all ihren starren Regeln einengt. Im Grunde war ich ein Nestflüchter, hatte jahrelang nur auf den passenden Augenblick gewartet und die erste sich bietende Gelegenheit am Schopf gepackt, um die Flügel zu spreizen und davonzufliegen.
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
des Geldes willen. Es war stets mein Bestreben, Geschäfte im Einklang mit allen Beteiligten zu tätigen, und der Profit war lediglich das Resultat diese Haltung. Während mein Unternehmen expandierte, häufte ich Besitztümer an, die das Leben angenehm machten. Ich wurde zum sogenannten Millionär, und auch die Menschen, die in meinen Firmen arbeiteten, hatten ihren Anteil am Wohlstand. Dass all der äußere Reichtum mir in Wahrheit nichts brachte und im Grunde genommen nur eine Illusion war, erfuhr ich eines Nachts, als ich mit meinem Jaguar unterwegs war und einen schweren Autounfall hatte. Mein Wagen überschlug sich mehrfach, Fenster splitterten, und das Blech drückte sich rund um mich herum ein. Ich selbst blieb völlig unversehrt.
Von diesem Augenblick an war nichts mehr so, wie es noch Sekunden zuvor gewesen war. Ich fragte mich plötzlich, was im Leben wirklich wichtig ist. Die Antwort darauf fand ich, als ich alles, was mir gehörte, fort gab und als Bettelmönch auf einer Insel fernab von Business und Konsum lebte. Dort wurde ich wirklich reich.
Mein Weg mag extrem gewesen sein. Für mich funktionierte er nur so. Doch nicht jeder, der sich auf die Suche nach innerem Reichtum begibt und sich dem zuwenden möchte, was wirklich Sinn für ihn und die Welt macht, muss denselben Weg einschlagen wie ich. Allerdings können die Erfahrungen und Erkenntnisse, die ich mir auf meinem Weg erarbeitet habe, Ansatzpunkte für jeden Einzelnen bieten, der bereit ist, wirkliches Glück und Wohlbefinden in sich selbst zu suchen. Alles ist vergänglich, nichts ist von Dauer. Alles fließt und ist damit stets wandelbar. Das Einzige, was immer bleibt, ist die Vergänglichkeit. Wenn wir festhalten an dem, was wir besitzen oder zu sein glauben, machen wir uns selbst zu einem Sklaven, der unaufhörlich damit beschäftigt ist, den Strom der Vergänglichkeit aufzuhalten. Wir werden zu einem Damm, der vergeblich versucht, das Wasser zu stauen, anstatt uns fröhlich und glücklich von der Strömung des Flusses tragen zu lassen. Wer aber loslässt, der hat zwei Hände frei. Loslassen macht uns frei und unabhängig. Es erlaubt uns, unsere Kraft nicht mit dem Festhalten von oder an Dingen zu vergeuden, die wir ohnehin nicht bewahren können. Stattdessen können wir sie dazu nutzen, um uns so tief wie möglich in den Fluss zu begeben. Wer weiß schon, welche Reichtümer flussabwärts noch auf uns warten? Unternehmer 1
Tropische Hitze schlug mir entgegen, als ich aus dem Flugzeug stieg. Es war der 2. März 1974, zwei Tage vor meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Ich war in Singapur gelandet – der Löwenstadt. Tief sog ich den Duft der weiten Welt in mich ein. Ich war voller Hochgefühl, denn ich stand am Beginn eines neuen Abschnitts in meinem noch recht jungen Leben. In vier Tagen sollte ich eine Stelle als Produktionsleiter der Firma Rollei antreten, die einen großen Teil ihrer Fertigung nach Asien verlegt hatte.
In der Ankunftshalle des alten Paya-Lebar-Flughafens von Singapur erwartete mich mein neuer Vorgesetzter – ein Deutscher – mit seiner Sekretärin. Sie fuhren meine Frau und mich in ein Hotel ein wenig außerhalb des Stadtzentrums und ließen uns für einige Stunden allein, damit wir uns nach dem langen Flug ausruhen konnten. Biene war erschöpft, sie blieb auf dem Zimmer, um ein paar Stunden zu schlafen. Mich aber hielt dort nichts, ich konnte es kaum erwarten, Land und Leute kennenzulernen. Ich ging hinunter in die Lobby, bestellte etwas zu trinken und ließ die Menschen an mir vorbeiströmen. Singapur war eine multinationale Stadt, in der Chinesen mit rund zwei Dritteln Bevölkerungsanteil das Gesamtbild dominierten. Ich hatte Mühe, die einzelnen Gesichter zu unterscheiden. Für mich sahen sie alle gleich aus. Wahrscheinlich ging es ihnen umgekehrt ebenso; in ihren Augen war ich wohl nur einer der hochgewachsenen Fremdlinge aus Europa, die an der Südspitze der Malaiischen Halbinsel gestrandet waren, um nach dem Willen der Regierung technisches Know-how ins Land zu bringen. Ich hatte einen Zweijahresvertrag mit der Firma Rollei abgeschlossen, obgleich ich mir sicher war, dass ich so schnell nicht nach Deutschland zurückkehren würde. Als Produktionsleiter würde ich für die Fertigung sämtlicher Metall- und Plastikteile der Kameras, die von der Firma seit Kurzem in Singapur fabriziert wurden, verantwortlich zeichnen. Die Expansion nach Asien war in jenen Jahren noch ein relativ neuer produktionstechnischer Trend, ein Umstand, der meinen Bestrebungen nur zupass kam. Seit ich die Anzeige in der Zeitung gesehen und mich für den Auslandsposten beworben hatte, waren gerade mal vier Wochen vergangen. Im Gegensatz zu den alteingesessenen Angestellten der Firma, die lieber zu Hause bei ihren Familien in gesicherten Verhältnissen bleiben wollten, war ich ganz erpicht auf einen Auslandsvertrag gewesen. Rollei hatte sich an dem Projekt der Regierung von Singapur beteiligt, lokale Arbeitskräfte auszubilden, um deutsche Präzisionsarbeit mit asiatischer Flexibilität und den deutlich geringeren Lohnkosten zu verbinden. Schon früh begriff die singapurianische Regierung, dass wirtschaftliches Wachstum nur mit gut geschulten Fachkräften möglich ist, und bemühte sich deshalb, geeignete Investoren ins Land zu holen. Das schien mir ein ausgewogenes System zu sein, von dem beide Seiten profitieren konnten und das dem Land und seinen Bürgern zugutekommen würde. Es hörte sich ehrlich und integer an – und es hatte mir die Möglichkeit verschafft, Deutschland den Rücken zu kehren und aufzubrechen in ein völlig neues Leben. Und wie faszinierend dieses Leben war! Ich trat aus der Lobby auf die Straße und sog all die neuen Eindrücke in mich auf. Autos brausten an mir vorüber, die ein deutscher TÜV niemals auch nur begutachtet hätte. Doch sie fuhren, wenn auch ratternd und qualmend. Zwischen den Autos suchten sich Fahrradrikschas und Mopeds ihren Weg. Ich lief ein Stück zu einem nahen Park. Unter Palmen fand ich ein schattiges Plätzchen. Da saß ich und ließ die Umgebung auf mich einwirken. Wir waren in einem Gartenhotel in einer guten Wohngegend untergekommen. Die Häuser wirkten solide, doch als mein Blick über die ein- und zweistöckigen Bauten schweifte, entdeckte ich ärmliche Hütten aus Holz und Schilf in den abgelegeneren Straßen.
Je länger ich dort saß und schaute, desto weiter rückte Deutschland mit all seinen Verordnungen und festen Strukturen in die Ferne. Es war mir leichtgefallen fortzugehen, ja, ich hatte mich förmlich nach einem Tapetenwechsel gesehnt. Auch wenn ich zu meiner Familie und meinen Freunden ein gutes Verhältnis gehabt hatte, war ich doch meist der stille, eher unergründliche Außenseiter gewesen. All der Small Talk hatte mich nie wirklich interessiert, ich hatte nie Teil einer Gesellschaft sein wollen, die vergleicht und urteilt und die Menschen mit all ihren starren Regeln einengt. Im Grunde war ich ein Nestflüchter, hatte jahrelang nur auf den passenden Augenblick gewartet und die erste sich bietende Gelegenheit am Schopf gepackt, um die Flügel zu spreizen und davonzufliegen.
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Autoren-Porträt von Master Han Shan
Master Shan Han wurde als Hermann Ricker in Deutschland geboren und war viele Jahre lang Manager eines Konzerns in Asien. Nach einem dramatischen Autounfall überdachte er sein Leben völlig neu: 1995 entschied er sich, als buddhistischer Mönch zu leben; heute führt er in Thailand das Nava Disa Retreat Center und lehrt die Achtsamkeitskeitsmeditation INSIGHT Mind Focusing.
Bibliographische Angaben
- Autor: Master Han Shan
- 2009, 188 Seiten, 8 farbige Abbildungen, Maße: 13,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724047
- ISBN-13: 9783785724040
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