Wie Blüten im Wind
Roman
Trotz ihrer Unterschiede sind Mia und Lexi unzertrennlich. Ihre Freundschaft kann auch nicht dadurch erschüttert werden, dass sich Lexi in Mias Zwillingsbruder Zach verliebt. Bis Mia bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt. Denn Lexi, die...
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Produktinformationen zu „Wie Blüten im Wind “
Trotz ihrer Unterschiede sind Mia und Lexi unzertrennlich. Ihre Freundschaft kann auch nicht dadurch erschüttert werden, dass sich Lexi in Mias Zwillingsbruder Zach verliebt. Bis Mia bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt. Denn Lexi, die ebenfalls im Wagen saß, verliert nicht nur ihre beste Freundin, ihre ganze Zukunft ist zerstört. Nur einer hält all die Jahre zu ihr doch hat die Liebe zu Zach eine Chance?
Klappentext zu „Wie Blüten im Wind “
Trotz ihrer Unterschiede sind Mia und Lexi unzertrennlich. Ihre Freundschaft kann auch nicht dadurch erschüttert werden, dass sich Lexi in Mias Zwillingsbruder Zach verliebt. Bis Mia bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt. Denn Lexi, die ebenfalls im Wagen saß, verliert nicht nur ihre beste Freundin, ihre ganze Zukunft ist zerstört. Nur einer hält all die Jahre zu ihr - doch hat die Liebe zu Zach eine Chance?Lese-Probe zu „Wie Blüten im Wind “
Wie Blüten im Wald von Kristin HannahEins
Lexi Baill studierte eine Karte des Staates Washington, bis ihr die winzige rote Schrift vor den müden Augen verschwamm. Die Ortsangaben hatten etwas Magisches an sich. Sie verwiesen auf eine Landschaft, die sie sich kaum vorstellen konnte: auf schneebedeckte Berge, die sich bis zum Ufer erstreckten, auf Bäume, so hoch und gerade wie Kirchtürme, auf endlosen, strahlend blauen Himmel. Sie stellte sich Adler vor, die auf Telefonmasten saßen, und Sterne, die zum Greifen nahe schienen. Wahrscheinlich tappten nachts Bären durch die stillen Siedlungen und suchten nach Plätzen, die vor nicht allzu langer Zeit noch ihnen gehört hatten.
Dies war ihre neue Heimat.
Wie gern wollte sie daran glauben, dass es diesmal anders würde. Aber wie sollte sie? Mit vierzehn wusste sie vielleicht nicht viel, aber eins war gewiss: In diesem System konnte man Kinder zurückgeben wie Altglas oder wie Schuhe, die drückten.
Am Tag zuvor hatte ihre Betreuerin sie früh geweckt und angewiesen, ihre Sachen zu packen. Wieder einmal.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, hatte Miss Watters gesagt.
Selbst im Halbschlaf war Lexi klar, was das bedeutete. »Eine neue Familie. Großartig. Danke, Miss Watters.«
»Nicht nur eine neue Familie. Deine Familie.«
»Ja. Natürlich. Meine neue Familie. Das wird toll.«
Miss Watters atmete geräuschvoll aus, ein Seufzer war es nicht, aber fast. »Du warst so lange stark, Lexi.«
... mehr
Lexi zwang sich zu einem Lächeln. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss W. Ich weiß, wie schwer es ist, ältere Kinder unterzubringen. Und die Rexlers waren cool. Wenn meine Mom nicht zurückgekommen wäre, hätte es da bestimmt funktioniert.«
»Es war nie deine Schuld, das weißt du ja.«
»Ja«, erwiderte Lexi. An guten Tagen konnte sie sich einreden, dass sie zurückgegeben worden war, weil die jeweilige Familie ihre eigenen Probleme hatte. An schlechten Tagen jedoch - und die gab es in letzter Zeit häufiger - fragte sie sich, was mit ihr nicht stimmte. Warum man sie überall loswerden wollte.
»Du hast Angehörige, Lexi. Ich habe eine Großtante von dir ausfindig gemacht. Ihr Name ist Eva Lange. Sie ist sechsundsechzig und wohnt in Port George, im Staat Washington. «
Lexi setzte sich auf. »Was? Meine Mom hat behauptet, ich hätte keine Angehörigen.«
»Da ... hat sie sich geirrt. Du hast eine Familie.«
Ihr ganzes Leben lang hatte Lexi auf diese wenigen kostbaren Worte gewartet. Seit jeher war ihr Dasein gefährdet und ungewiss gewesen, wie ein Schiff, das auf Klippen zusteuert. Sie war praktisch allein aufgewachsen, inmitten von Fremden, wie ein modernes Wolfskind, das um Nahrung und Aufmerksamkeit kämpfen musste und niemals genug bekam. Das meiste davon hatte sie verdrängt, doch wenn sie sich bemühte - wenn einer der staatlichen Seelenklempner sie dazu zwang -, konnte sie sich an Hunger und Kälte erinnern, an Sehnsucht nach einer Mutter, die entweder zugedröhnt oder zu erschöpft war, um sich um sie zu kümmern.
Sie wusste noch, wie sie tagelang in einem schmutzigen Laufstall gesessen und weinend darauf gewartet hatte, dass sich jemand an sie erinnerte.
Jetzt starrte sie aus dem verschmierten Fenster des Überlandbusses. Neben ihr saß ihre Betreuerin und las einen Roman.
Nach über sechsundzwanzig Stunden Fahrt waren sie endlich fast am Ziel. Draußen lastete eine stahlgraue Wolkendecke auf den Baumwipfeln. Der Regen malte schnörkelige Muster auf die Fensterscheiben und ließ die Sicht verschwimmen. Hier in Washington fühlte man sich wie auf einem anderen Planeten: Verschwunden waren die sonnenverbrannten, karstigen Hügel von Südkalifornien und das graue Zickzackmuster der verstopften Freeways. Die Bäume hier waren überdimensional, genau wie die Berge. Alles wirkte wild und zugewuchert.
Der Bus fuhr an einem niedrigen Betonbahnhof vor und kam quietschend und ruckend zum Stehen. Eine schwarze Rauchwolke zog an ihrem Fenster vorbei und hüllte kurz den Parkplatz ein, dann zerstob sie im prasselnden Regen. Die Türen des Greyhound-Busses gingen zischend auf.
»Lexi?«
Sie hörte Miss Watters' Stimme und dachte: Los, Lexi, beweg dich, aber sie konnte nicht. Sie blickte auf zu der Frau, die in den vergangenen sechs Jahren ihre einzige verlässliche Bezugsperson gewesen war. Jedes Mal, wenn eine Pflegefamilie kapituliert und Lexi wie verdorbenes Obst zurückgegeben hatte, war Miss Watters da gewesen und hatte sie mit einem traurigen Lächeln in Empfang genommen. Es war vielleicht kein richtiger Bezugspunkt, aber mehr kannte Lexi nicht, und plötzlich hatte sie Angst, diesen noch so dürftigen Halt zu verlieren.
»Und was ist, wenn sie nicht kommt?«, fragte Lexi.
Miss Watters streckte Lexi ihre Hand mit den knotigen, dick geäderten Fingern entgegen. »Sie wird kommen.«
Lexi holte tief Luft. Sie schaffte das. Natürlich schaffte sie das. Sie hatte in den letzten fünf Jahren sieben verschiedene Pflegefamilien gehabt und sechs verschiedene Schulen besucht. Sie würde es überleben.
Sie nahm Miss Watters' Hand, dann zwängten sie sich hintereinander zwischen den Sitzen des Busses hindurch zum Ausstieg.
Draußen nahm Lexi ihren abgewetzten roten Koffer, der fast zu schwer war, weil größtenteils Bücher darin waren - das Einzige, das Lexi etwas bedeutete. Sie zerrte ihn zum Rand des Bürgersteigs und blieb dort stehen, direkt am Bordstein. Der schmale Betonstreifen kam ihr vor wie eine gefährliche Klippe. Ein falscher Schritt, und sie konnte kopfüber auf die befahrene Straße fallen oder sich etwas brechen.
Miss Watters stellte sich zu Lexi und spannte einen Schirm auf. Der Regen prasselte dröhnend auf den Stoff.
Die anderen Fahrgäste stiegen nacheinander aus und verschwanden.
Lexi blickte sich auf dem leeren Parkplatz um und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Wie oft schon war sie in genau dieser Lage gewesen? Jedes Mal, wenn Momma entgiftet hatte, war sie ihre Tochter holen gekommen. Gib mir noch eine Chance, Kleine. Sag dem netten Richter hier, dass du mich liebhast. Diesmal mach ich's besser ... ich werde dich nie mehr vergessen. Und jedes Mal hatte Lexi gewartet. »Wahrscheinlich hat sie es sich anders überlegt.«
»Auf keinen Fall, Lexi.«
»Könnte doch sein.«
»Du hast eine Familie, Lexi.« Als Miss Watters diese ominösen Worte wiederholte, gab Lexi auf. Hoffnung beschlich sie.
»Familie«, sagte sie langsam und vorsichtig. Das Wort war unvertraut und zerging süß wie ein Bonbon auf ihrer Zunge.
Da näherte sich ein alter blauer Ford Fairlane und hielt vor ihnen. Der Wagen war rostig und hatte eine verbeulte Stoßstange. Ein gesprungenes Fenster wurde mit Klebeband zusammengehalten.
Langsam ging die Fahrertür auf, und eine Frau stieg aus. Sie war klein, hatte graue Haare, wässrig braune Augen und fahle Haut, so als wäre sie Kettenraucherin. Erstaunlicherweise kam sie Lexi vertraut vor - wie eine alte, faltige Version von Momma. Lexi fuhr wieder das Unwort durch den Sinn, doch diesmal hatte es Bedeutung: Familie.
»Alexa?«, fragte die Frau mit leicht heiserer Stimme.
Lexi brachte keinen Ton heraus. Diese Frau hätte lächeln sollen, oder sie gar umarmen, aber Eva Lange stand einfach nur da und musterte sie mit tiefzerfurchter Miene.
»Ich bin deine Großtante. Die Schwester deiner Großmutter. «
»Ich hab meine Großmutter nie kennengelernt«, erwiderte Lexi. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
»Ich dachte die ganze Zeit, du würdest bei der Familie deines Daddys leben.«
»Ich hab keinen Dad. Das heißt, ich kenne ihn nicht. Momma wusste nicht, wer mein Vater ist.«
Tante Eva seufzte. »Das weiß ich jetzt auch, dank Miss Watters hier. Sind das all deine Sachen?«
Lexi spürte, wie Scham sie überkam. »Ja.«
Sanft nahm Miss Watters ihr den Koffer ab und stellte ihn auf den Rücksitz des Wagens. »Los, Lexi. Steig ein. Deine Tante möchte, dass du bei ihr bleibst.«
Ja, jetzt noch.
Miss Watters drückte Lexi heftig an sich und flüsterte: »Keine Angst.«
Lexi klammerte sich fast zu lange an sie. In der letzten Sekunde, kurz bevor es peinlich wurde, löste sie sich von ihr und taumelte einen Schritt zurück. Sie ging zu dem alten Wagen und riss an der Tür. Klappernd und quietschend schwang sie auf.
Die Sitzbänke im Wagen waren aus braunem Kunststoff, aus dem schon die graue Füllung quoll. Es roch nach kaltem Rauch und Pfefferminz, so als wären schon eine Million Mentholzigaretten hier drinnen geraucht worden.
Lexi rückte so weit wie möglich an die Tür. Sie winkte Miss Watters durch die gesprungene Fensterscheibe, und als sie losfuhren, sah sie zu, wie ihre Betreuerin immer mehr im grauen Dunst verschwand. Sie legte die Fingerspitzen auf das kalte Glas, als könnte die Berührung sie mit der Frau, die sie nicht mehr sah, in Verbindung halten.
»Es tat mir leid, als ich vom Tod deiner Mutter hörte«, sagte Tante Eva nach langem, unbehaglichem Schweigen. »Aber sie ist jetzt an einem besseren Ort. Das ist dir bestimmt ein Trost.«
Darauf hatte Lexi noch nie eine passende Antwort gewusst. Es war die übliche mitleidige Bemerkung aller Fremden, die sie aufgenommen hatten: die arme Lexi mit ihrer toten drogensüchtigen Mutter. Aber keiner von ihnen hatte wirklich gewusst, wie Mommas Leben war - die Männer, das Heroin, die Schmerzen, die Brechattacken. Oder wie schrecklich das Ende war. Nur Lexi wusste es, alles.
Sie starrte aus dem Fenster auf ihre neue Heimat. Sie wirkte abenteuerlich, grün und düster, selbst am helllichten Tag. Nach ein paar Meilen hieß sie ein Schild im Port George Reservat willkommen. Hier sah man überall die Hinweise auf amerikanische Ureinwohner. Orkawale, die auf Ladenschilder geschnitzt waren. Selbstgebaute Blockhütten auf zugewucherten Grundstücken, viele von ihnen mit rostigen Autos oder Gerätschaften im Vorgarten. An diesem Augustnachmittag zeugten überall leere Feuerwerksständer vom Unabhängigkeitstag, und auf einem Hügel mit Blick auf den Puget Sound blinkten die bunten Lichter eines Casinos.
Schilder leiteten sie zum Wohnwagenpark. Tante Eva fuhr durch den Chief Sealth Mobile Home Park und hielt vor einem gelbweißen Doppelwohnwagen. Im Nieselregen wirkte er irgendwie verschwommen und gedrückt. Traurig. Ein paar verwelkte Geranien in grauen Plastiktöpfen bewachten die Vordertür, die ostereierblau gestrichen war. Die karierten Vorhänge am Fenster wurden mit einer ausgefransten gelben Schnur zurückgehalten und bildeten durch ihre Aussparung eine Sanduhr.
»Es ist nichts Großartiges«, erklärte Tante Eva mit verlegener Miene. »Ich hab's vom Stamm gemietet.«
Lexi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wenn ihre Tante gewusst hätte, wo Lexi schon gewohnt hatte, hätte sie sich für den hübschen kleinen Wohnwagen nicht entschuldigt. »Ist doch schön.«
»Komm«, sagte ihre Tante und machte den Motor aus.
Lexi folgte ihr über einen Kiesweg hoch zur Vordertür. Im Wohnwagen war alles peinlich sauber. Eine kleine, L-förmige Küche lag neben einem Essbereich mit einem gelb gesprenkelten Resopaltisch und vier Stühlen. Im Wohnraum waren ein kariertes Sofa und zwei Fernsehsessel aus blauem Kunstleder vor einem Fernsehgerät auf einem Metalltisch gruppiert. Auf einem Beistelltischchen standen zwei Fotos: Eins zeigte eine alte Frau mit Hornbrille, das andere Elvis. Es roch nach Zigarettenrauch und künstlichem Blumenduft. An fast jedem Knauf in der Küche hingen lilafarbene Raumdeos.
»Tut mir leid, wenn's hier riecht. Ich hab letzte Woche erst aufgehört zu rauchen - als ich von dir erfahren habe«, entschuldigte sich Tante Eva und wandte sich zu Lexi um. »Passivrauchen ist gefährlich für Kinder.«
Lexi überkam ein seltsames Gefühl: flattrig wie ein kleiner Vogel und so fremdartig, dass sie es nicht gleich erkannte.
Hoffnung.
Diese Fremde, die ihre Tante war, hatte für sie aufgehört zu rauchen. Sie hatte Lexi aufgenommen, obwohl sie offensichtlich kaum Geld hatte. Sie sah die Frau an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus vor lauter Angst, damit etwas zu verderben.
»Ich kenn mich in diesen Dingen nicht aus, Lexi«, sagte Tante Eva schließlich. »Oscar - das war mein Mann - und ich hatten keine Kinder. Wir wollten zwar, kriegten aber keine. Also weiß ich nicht, wie man Kinder großzieht. Wenn du lieber ...«
»Es wird schön werden. Versprochen.« Überleg es dir bloß nicht anders, bitte. »Wenn du mich behältst, wirst du es nicht bereuen.«
»Wenn ich dich behalte?« Tante Eva schürzte ihre dünnen Lippen und runzelte leicht die Stirn. »Da hat dir deine Momma aber was angetan. Kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Meiner Schwester hat sie auch das Herz gebrochen.«
»Das konnte sie gut«, pflichtete Lexi ihr leise bei.
»Wir sind eine Familie«, erklärte Eva.
»Ich weiß eigentlich nicht, was das bedeutet.«
Tante Eva lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, das Lexi schmerzhaft daran erinnerte, dass auch ihr Herz nicht unversehrt war. Das Leben mit Momma hatte seine Spuren hinterlassen. »Es bedeutet, dass du hier bei mir bleibst. Außerdem nennst du mich wohl besser ›Eva‹, denn mit ›Tante‹ fühle ich mich alt.« Sie wollte sich abwenden, aber Lexi fasste ihr dünnes Handgelenk und spürte, wie die samtweiche Haut bei ihrer Berührung zusammengedrückt wurde. Das hatte sie nicht gewollt, sie hätte es nicht tun sollen, aber jetzt war es zu spät.
Copyright © by Ullstein TB (Verlag)
Lexi zwang sich zu einem Lächeln. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss W. Ich weiß, wie schwer es ist, ältere Kinder unterzubringen. Und die Rexlers waren cool. Wenn meine Mom nicht zurückgekommen wäre, hätte es da bestimmt funktioniert.«
»Es war nie deine Schuld, das weißt du ja.«
»Ja«, erwiderte Lexi. An guten Tagen konnte sie sich einreden, dass sie zurückgegeben worden war, weil die jeweilige Familie ihre eigenen Probleme hatte. An schlechten Tagen jedoch - und die gab es in letzter Zeit häufiger - fragte sie sich, was mit ihr nicht stimmte. Warum man sie überall loswerden wollte.
»Du hast Angehörige, Lexi. Ich habe eine Großtante von dir ausfindig gemacht. Ihr Name ist Eva Lange. Sie ist sechsundsechzig und wohnt in Port George, im Staat Washington. «
Lexi setzte sich auf. »Was? Meine Mom hat behauptet, ich hätte keine Angehörigen.«
»Da ... hat sie sich geirrt. Du hast eine Familie.«
Ihr ganzes Leben lang hatte Lexi auf diese wenigen kostbaren Worte gewartet. Seit jeher war ihr Dasein gefährdet und ungewiss gewesen, wie ein Schiff, das auf Klippen zusteuert. Sie war praktisch allein aufgewachsen, inmitten von Fremden, wie ein modernes Wolfskind, das um Nahrung und Aufmerksamkeit kämpfen musste und niemals genug bekam. Das meiste davon hatte sie verdrängt, doch wenn sie sich bemühte - wenn einer der staatlichen Seelenklempner sie dazu zwang -, konnte sie sich an Hunger und Kälte erinnern, an Sehnsucht nach einer Mutter, die entweder zugedröhnt oder zu erschöpft war, um sich um sie zu kümmern.
Sie wusste noch, wie sie tagelang in einem schmutzigen Laufstall gesessen und weinend darauf gewartet hatte, dass sich jemand an sie erinnerte.
Jetzt starrte sie aus dem verschmierten Fenster des Überlandbusses. Neben ihr saß ihre Betreuerin und las einen Roman.
Nach über sechsundzwanzig Stunden Fahrt waren sie endlich fast am Ziel. Draußen lastete eine stahlgraue Wolkendecke auf den Baumwipfeln. Der Regen malte schnörkelige Muster auf die Fensterscheiben und ließ die Sicht verschwimmen. Hier in Washington fühlte man sich wie auf einem anderen Planeten: Verschwunden waren die sonnenverbrannten, karstigen Hügel von Südkalifornien und das graue Zickzackmuster der verstopften Freeways. Die Bäume hier waren überdimensional, genau wie die Berge. Alles wirkte wild und zugewuchert.
Der Bus fuhr an einem niedrigen Betonbahnhof vor und kam quietschend und ruckend zum Stehen. Eine schwarze Rauchwolke zog an ihrem Fenster vorbei und hüllte kurz den Parkplatz ein, dann zerstob sie im prasselnden Regen. Die Türen des Greyhound-Busses gingen zischend auf.
»Lexi?«
Sie hörte Miss Watters' Stimme und dachte: Los, Lexi, beweg dich, aber sie konnte nicht. Sie blickte auf zu der Frau, die in den vergangenen sechs Jahren ihre einzige verlässliche Bezugsperson gewesen war. Jedes Mal, wenn eine Pflegefamilie kapituliert und Lexi wie verdorbenes Obst zurückgegeben hatte, war Miss Watters da gewesen und hatte sie mit einem traurigen Lächeln in Empfang genommen. Es war vielleicht kein richtiger Bezugspunkt, aber mehr kannte Lexi nicht, und plötzlich hatte sie Angst, diesen noch so dürftigen Halt zu verlieren.
»Und was ist, wenn sie nicht kommt?«, fragte Lexi.
Miss Watters streckte Lexi ihre Hand mit den knotigen, dick geäderten Fingern entgegen. »Sie wird kommen.«
Lexi holte tief Luft. Sie schaffte das. Natürlich schaffte sie das. Sie hatte in den letzten fünf Jahren sieben verschiedene Pflegefamilien gehabt und sechs verschiedene Schulen besucht. Sie würde es überleben.
Sie nahm Miss Watters' Hand, dann zwängten sie sich hintereinander zwischen den Sitzen des Busses hindurch zum Ausstieg.
Draußen nahm Lexi ihren abgewetzten roten Koffer, der fast zu schwer war, weil größtenteils Bücher darin waren - das Einzige, das Lexi etwas bedeutete. Sie zerrte ihn zum Rand des Bürgersteigs und blieb dort stehen, direkt am Bordstein. Der schmale Betonstreifen kam ihr vor wie eine gefährliche Klippe. Ein falscher Schritt, und sie konnte kopfüber auf die befahrene Straße fallen oder sich etwas brechen.
Miss Watters stellte sich zu Lexi und spannte einen Schirm auf. Der Regen prasselte dröhnend auf den Stoff.
Die anderen Fahrgäste stiegen nacheinander aus und verschwanden.
Lexi blickte sich auf dem leeren Parkplatz um und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Wie oft schon war sie in genau dieser Lage gewesen? Jedes Mal, wenn Momma entgiftet hatte, war sie ihre Tochter holen gekommen. Gib mir noch eine Chance, Kleine. Sag dem netten Richter hier, dass du mich liebhast. Diesmal mach ich's besser ... ich werde dich nie mehr vergessen. Und jedes Mal hatte Lexi gewartet. »Wahrscheinlich hat sie es sich anders überlegt.«
»Auf keinen Fall, Lexi.«
»Könnte doch sein.«
»Du hast eine Familie, Lexi.« Als Miss Watters diese ominösen Worte wiederholte, gab Lexi auf. Hoffnung beschlich sie.
»Familie«, sagte sie langsam und vorsichtig. Das Wort war unvertraut und zerging süß wie ein Bonbon auf ihrer Zunge.
Da näherte sich ein alter blauer Ford Fairlane und hielt vor ihnen. Der Wagen war rostig und hatte eine verbeulte Stoßstange. Ein gesprungenes Fenster wurde mit Klebeband zusammengehalten.
Langsam ging die Fahrertür auf, und eine Frau stieg aus. Sie war klein, hatte graue Haare, wässrig braune Augen und fahle Haut, so als wäre sie Kettenraucherin. Erstaunlicherweise kam sie Lexi vertraut vor - wie eine alte, faltige Version von Momma. Lexi fuhr wieder das Unwort durch den Sinn, doch diesmal hatte es Bedeutung: Familie.
»Alexa?«, fragte die Frau mit leicht heiserer Stimme.
Lexi brachte keinen Ton heraus. Diese Frau hätte lächeln sollen, oder sie gar umarmen, aber Eva Lange stand einfach nur da und musterte sie mit tiefzerfurchter Miene.
»Ich bin deine Großtante. Die Schwester deiner Großmutter. «
»Ich hab meine Großmutter nie kennengelernt«, erwiderte Lexi. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
»Ich dachte die ganze Zeit, du würdest bei der Familie deines Daddys leben.«
»Ich hab keinen Dad. Das heißt, ich kenne ihn nicht. Momma wusste nicht, wer mein Vater ist.«
Tante Eva seufzte. »Das weiß ich jetzt auch, dank Miss Watters hier. Sind das all deine Sachen?«
Lexi spürte, wie Scham sie überkam. »Ja.«
Sanft nahm Miss Watters ihr den Koffer ab und stellte ihn auf den Rücksitz des Wagens. »Los, Lexi. Steig ein. Deine Tante möchte, dass du bei ihr bleibst.«
Ja, jetzt noch.
Miss Watters drückte Lexi heftig an sich und flüsterte: »Keine Angst.«
Lexi klammerte sich fast zu lange an sie. In der letzten Sekunde, kurz bevor es peinlich wurde, löste sie sich von ihr und taumelte einen Schritt zurück. Sie ging zu dem alten Wagen und riss an der Tür. Klappernd und quietschend schwang sie auf.
Die Sitzbänke im Wagen waren aus braunem Kunststoff, aus dem schon die graue Füllung quoll. Es roch nach kaltem Rauch und Pfefferminz, so als wären schon eine Million Mentholzigaretten hier drinnen geraucht worden.
Lexi rückte so weit wie möglich an die Tür. Sie winkte Miss Watters durch die gesprungene Fensterscheibe, und als sie losfuhren, sah sie zu, wie ihre Betreuerin immer mehr im grauen Dunst verschwand. Sie legte die Fingerspitzen auf das kalte Glas, als könnte die Berührung sie mit der Frau, die sie nicht mehr sah, in Verbindung halten.
»Es tat mir leid, als ich vom Tod deiner Mutter hörte«, sagte Tante Eva nach langem, unbehaglichem Schweigen. »Aber sie ist jetzt an einem besseren Ort. Das ist dir bestimmt ein Trost.«
Darauf hatte Lexi noch nie eine passende Antwort gewusst. Es war die übliche mitleidige Bemerkung aller Fremden, die sie aufgenommen hatten: die arme Lexi mit ihrer toten drogensüchtigen Mutter. Aber keiner von ihnen hatte wirklich gewusst, wie Mommas Leben war - die Männer, das Heroin, die Schmerzen, die Brechattacken. Oder wie schrecklich das Ende war. Nur Lexi wusste es, alles.
Sie starrte aus dem Fenster auf ihre neue Heimat. Sie wirkte abenteuerlich, grün und düster, selbst am helllichten Tag. Nach ein paar Meilen hieß sie ein Schild im Port George Reservat willkommen. Hier sah man überall die Hinweise auf amerikanische Ureinwohner. Orkawale, die auf Ladenschilder geschnitzt waren. Selbstgebaute Blockhütten auf zugewucherten Grundstücken, viele von ihnen mit rostigen Autos oder Gerätschaften im Vorgarten. An diesem Augustnachmittag zeugten überall leere Feuerwerksständer vom Unabhängigkeitstag, und auf einem Hügel mit Blick auf den Puget Sound blinkten die bunten Lichter eines Casinos.
Schilder leiteten sie zum Wohnwagenpark. Tante Eva fuhr durch den Chief Sealth Mobile Home Park und hielt vor einem gelbweißen Doppelwohnwagen. Im Nieselregen wirkte er irgendwie verschwommen und gedrückt. Traurig. Ein paar verwelkte Geranien in grauen Plastiktöpfen bewachten die Vordertür, die ostereierblau gestrichen war. Die karierten Vorhänge am Fenster wurden mit einer ausgefransten gelben Schnur zurückgehalten und bildeten durch ihre Aussparung eine Sanduhr.
»Es ist nichts Großartiges«, erklärte Tante Eva mit verlegener Miene. »Ich hab's vom Stamm gemietet.«
Lexi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wenn ihre Tante gewusst hätte, wo Lexi schon gewohnt hatte, hätte sie sich für den hübschen kleinen Wohnwagen nicht entschuldigt. »Ist doch schön.«
»Komm«, sagte ihre Tante und machte den Motor aus.
Lexi folgte ihr über einen Kiesweg hoch zur Vordertür. Im Wohnwagen war alles peinlich sauber. Eine kleine, L-förmige Küche lag neben einem Essbereich mit einem gelb gesprenkelten Resopaltisch und vier Stühlen. Im Wohnraum waren ein kariertes Sofa und zwei Fernsehsessel aus blauem Kunstleder vor einem Fernsehgerät auf einem Metalltisch gruppiert. Auf einem Beistelltischchen standen zwei Fotos: Eins zeigte eine alte Frau mit Hornbrille, das andere Elvis. Es roch nach Zigarettenrauch und künstlichem Blumenduft. An fast jedem Knauf in der Küche hingen lilafarbene Raumdeos.
»Tut mir leid, wenn's hier riecht. Ich hab letzte Woche erst aufgehört zu rauchen - als ich von dir erfahren habe«, entschuldigte sich Tante Eva und wandte sich zu Lexi um. »Passivrauchen ist gefährlich für Kinder.«
Lexi überkam ein seltsames Gefühl: flattrig wie ein kleiner Vogel und so fremdartig, dass sie es nicht gleich erkannte.
Hoffnung.
Diese Fremde, die ihre Tante war, hatte für sie aufgehört zu rauchen. Sie hatte Lexi aufgenommen, obwohl sie offensichtlich kaum Geld hatte. Sie sah die Frau an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus vor lauter Angst, damit etwas zu verderben.
»Ich kenn mich in diesen Dingen nicht aus, Lexi«, sagte Tante Eva schließlich. »Oscar - das war mein Mann - und ich hatten keine Kinder. Wir wollten zwar, kriegten aber keine. Also weiß ich nicht, wie man Kinder großzieht. Wenn du lieber ...«
»Es wird schön werden. Versprochen.« Überleg es dir bloß nicht anders, bitte. »Wenn du mich behältst, wirst du es nicht bereuen.«
»Wenn ich dich behalte?« Tante Eva schürzte ihre dünnen Lippen und runzelte leicht die Stirn. »Da hat dir deine Momma aber was angetan. Kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Meiner Schwester hat sie auch das Herz gebrochen.«
»Das konnte sie gut«, pflichtete Lexi ihr leise bei.
»Wir sind eine Familie«, erklärte Eva.
»Ich weiß eigentlich nicht, was das bedeutet.«
Tante Eva lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, das Lexi schmerzhaft daran erinnerte, dass auch ihr Herz nicht unversehrt war. Das Leben mit Momma hatte seine Spuren hinterlassen. »Es bedeutet, dass du hier bei mir bleibst. Außerdem nennst du mich wohl besser ›Eva‹, denn mit ›Tante‹ fühle ich mich alt.« Sie wollte sich abwenden, aber Lexi fasste ihr dünnes Handgelenk und spürte, wie die samtweiche Haut bei ihrer Berührung zusammengedrückt wurde. Das hatte sie nicht gewollt, sie hätte es nicht tun sollen, aber jetzt war es zu spät.
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Autoren-Porträt von Kristin Hannah
Kristin Hannah, Jahrgang 1960, studierte zunächst Jura, obwohl ihre Mutter ihr schon früh prophezeite, dass sie Schriftstellerin werden würde. Heute ist sie eine international erfolgreiche Bestsellerautorin, deren preisgekrönte Romane auch schon verfilmt wurden. Kristin Hannah lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einer kleinen Stadt in der Nähe von Seattle, Washington. Rahn, MarieMarie Rahn studierte und lehrte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Seit über fünfundzwanzig Jahren übersetzt sie für verschiedene Verlage Belletristik aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristin Hannah
- 2013, 5. Aufl., 496 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marie Rahn
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284779
- ISBN-13: 9783548284774
- Erscheinungsdatum: 09.01.2013
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