Wind in den Tamarinden
Ein Muss für Fans von Stefanie Gercke und Barbara Wood.
Hamburg, 1903: Nora Hendriksen ist eine Frau, über die man in Gesellschaftskreisen tuschelt. Statt an der Seite ihres Mannes Ludwig die seriöse Bankiersgattin zu...
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Produktinformationen zu „Wind in den Tamarinden “
Ein Muss für Fans von Stefanie Gercke und Barbara Wood.
Hamburg, 1903: Nora Hendriksen ist eine Frau, über die man in Gesellschaftskreisen tuschelt. Statt an der Seite ihres Mannes Ludwig die seriöse Bankiersgattin zu repräsentieren, verkehrt sie lieber mit Künstlern und Gutsangestellten. Von ihrer Ehe enttäuscht, folgt sie schießlich dem Dichter Rainer Offergelt als Farmerin nach Deutsch-Südwestafrika. Doch Rainer erweist sich als zu schwach für das rauhe Leben. Erst bei Wilhelm von Lehnhoff, einem Offizier der Schutztruppen, findet Nora eine erfüllende Liebe. Doch dann bricht der Herero-Aufstand aus.
Lese-Probe zu „Wind in den Tamarinden “
Wind in den Tamarinden von Kayla Fleming Teil 1 Afrika, 1904
Die Soldaten kamen noch am selben Morgen, um sie in ihrem Zimmer in dem kleinen Gästehaus unter Arrest zu stellen.
Nora wusste, dass jetzt alle etwas hatten, worüber sie reden konnten, die Offiziere abends in der Messe und die Farmer, die über Weihnachten in die Stadt kamen, und die Kaufleute mit ihren Frauen, und bestimmt waren einige auf ihrer Seite, aber die meisten würden gegen sie sein, und alle würden die falschen Gründe haben, weil niemand wissen konnte, warum sie es getan hatte.
Sie war bereits umgezogen, als die beiden Soldaten an ihre Tür klopften, und so blieb ihr danach nicht mehr viel übrig, als zu warten, bis sie abgeholt wurde. Sie empfand keine Scham wegen ihrer Tat, weder Scham noch Reue noch sonst etwas, wobei man sich schlecht fühlte. Sie empfand überhaupt nichts. Als die Stunden vergingen und niemand kam und sie fortbrachte, legte sie sich auf das schlichte Messingbett, denn in der Nacht hatte sie nicht viel geschlafen. Sie konnte auch jetzt nicht schlafen. Die beiden Soldaten standen in ihren sandbraunen Uniformen draußen auf dem Gang, die meiste Zeit fast reglos, aber manchmal hörte Nora die Dielen unter ihren Stiefeln knarren. Die Stiefel waren mit dem roten Staub der Straße bedeckt, und etwas davon lag auch auf dem dünnen Läufer vor dem Bett.
... mehr
Über dem Kopfende des Bettes hing ein Kruzifix an der Wand, zwei dünne Streben aus Birkenholz, die Nora keinen Trost spendeten, weil ihr das Beten gestern Nacht vergangen war. Die Wände waren ebenfalls aus Holz, und gegen Mittag wurde es sehr heiß in dem kleinen Zimmer, als die Dezembersonne auf die zugezogenen Vorhänge brannte.
Nora fragte sich, wer sich um das Kind kümmern würde, falls sie ins Gefängnis kam. Sie hätte es gern bei sich gehabt, aber es war vernünftiger gewesen, es wegzugeben, solange nicht feststand, was aus ihr werden würde. Sie werden dich in die Hauptstadt bringen, dachte sie, eine lange Reise durch dieses abweisende, heiße Land, das keine richtigen Straßen hat und keine fertig verlegte Eisenbahn, nicht so wie bei uns zu Hause, und an jeder Station werden sie dich und die Soldaten anstarren, und deswegen ist es wahrscheinlich besser, dass du sein Kind nicht bei dir hast.
Als es Nachmittag wurde und das Leben erwachte, drangen durch das Fenster wieder die Geräusche der Straße — Pferdegetrappel, das Blöken von durstigem Vieh, das Quietschen der Ochsenkarren mit ihren schlecht geölten Radnaben und die lauten Stimmen der Eingeborenen. Nora wusste, dass auch sie reden würden, aber das störte sie nicht; es bedeutete nicht mehr als die hungrigen Schreie der Möwen bei ihren Sturzflügen über der Gischt der Bucht.
Am Abend stand sie auf und fragte die Soldaten vor der Tür, ob sie schon wüssten, was mit ihr geschehen würde. Die Soldaten hatten noch keine Anweisung erhalten. Sie waren sehr jung und respektvoll und fragten, ob sie ihr etwas zu essen kommen lassen sollten, aber Nora hatte keinen Hunger und bat nur um ein Glas Wasser.
Es machte ihr nichts aus zu warten, sie hatte die letzten Wochen mit nichts anderem verbracht. Wenn sie wartete, begann sie, außerhalb ihres Körpers zu leben. Sie lebte in Gedanken, die sie voraustrugen oder zurück, und das, woran sie dachte, schien ihr lange vergangen oder weit entfernt, auch wenn es erst vor Kurzem geschehen war.
Sie sah sich, nachdem Rainer sie verlassen hatte, allein mit dem Kind draußen auf der Farm. Sie sah sich mit Wilhelm, nach der Schlacht, bei der er verwundet worden war, wie er ins Lazarett getragen wurde, seine blutbefleckte Uniform staubig in der diesigen Abendsonne — roter Staub wie der auf dem Läufer in ihrem Zimmer jetzt —, und wie sie versuchte, seine Hand zu halten, und nicht wusste, ob er es überleben würde, aber sie hoffte es mit aller Kraft, weil sie nicht noch einmal etwas verlieren wollte, das sie liebte. Das war ihre Geschichte in diesem Land, Hoffung, Liebe und Verlust und nach dem Verlust neue Hoffnung.
Und sie sah sich mit Balthasar, der das Land verkörperte und der sie hierher in dieses Zimmer gebracht hatte und dazu, dass die Soldaten vor ihrer Tür Wache hielten. Ihre Vergangenheit, dachte sie, war wie ein Kaleidoskop. Sie blickte auf alles zurück, und bei jeder Drehung erschien ein neues, buntes Bild, aber zusammengesetzt war es immer nur aus Scherben. Balthasar — stolz und schwarz, voller Leidenschaft, am Ende voller Zorn und Schmerz — leuchtete heller als die anderen, vielleicht weil sie ihn erst gestern zum letzten Mal gesehen hatte, als sie mit dem Messer in der Hand zu ihm gegangen war, um ihn zu erlösen.
Sie sah alle — Rainer und Wilhelm und Ludwig —, und sie fragte sich, ob einer von ihnen da sein würde, wenn die Soldaten sie in den Gerichtssaal eskortierten, und ob es Zeugen geben würde für das, was mit ihr geschah.
Deutsches Reich, 1902
Im Herbst jenes Jahres lebte Nora Hendriksen in der Villa ihres Mannes, und von ihrem Zimmer aus konnte sie auf den großen Garten und bis über den Fluss sehen. Nachts hörte sie manchmal die Kastanien von den Bäumen unter ihrem Fenster fallen, und am Tag leuchtete das Laub an den Ästen gelb und rot in der Sonne. Das Wasser der Elbe war klar wie der Septemberhimmel. Auf den kleinen Wellen lag ein stetes Gleißen, außer wenn Regen aufzog, dann fand sich das Bleigrau der Wolken auch auf dem träge dahinrollenden Fluss. Vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens fuhren die neuen Automobile die Straße entlang; es gab noch nicht viele, aber ihre Abgase legten sich auf die Stämme der Pappeln zu beiden Seiten der Chaussee, und einige der Blätter fielen ein wenig früher ab und gerieten unter die Reifen, und später verwandelten Regen und Schnee sie in Morast.
Es war das Jahr, in dem ihre jüngere Schwester Lissy heiratete. Wenn Nora später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als wäre sie damals zum letzten Mal sorglos gewesen, mit dem Garten und dem Fluss und dem Himmel, dessen Blau so tief war, dass es in den Augen wehtat. Auch bei ihrer eigenen Hochzeit war sie unbeschwert gewesen, und an diesem Nachmittag, kurz bevor der Empfang begann, fiel ihr wieder ein, wie sie selbst es empfunden hatte: als ein Glück, dass es nicht mehr war — nicht mehr als bloße Unbeschwertheit. Das Leben an der Seite ihres Mannes würde irgendwann enden; es würde vorübergehen und sie nur wenig verändern. Das, was sie lieben konnte, hatte sie noch nicht gefunden.
Sie stand an dem kleinen Zierteich im Garten, neben den Apfelbäumen, wo man die Geräusche aus dem Haus kaum mitbekam, nur den Wind in den Zweigen und die Vögel, die sich über den anbrechenden Abend verständigten. Sie wollte einen Moment allein sein, bevor die ersten Gäste eintrafen; ein paar Minuten lang sollte niemand etwas von ihr verlangen. Gestern der Polterabend, am Morgen die kirchliche Trauung, danach das Mittagessen mit den beiden Familien. Die ganze Zeit nur Lärm, Gelächter, Kindergeschrei, Hochrufe und in der Kirche der kleine Marsch von Mendelssohn, den danach jeder vor sich hin gesummt hatte, in Bruchstücken, immer wieder, sogar sie selbst.
Ludwig, ihr Mann, befand sich im Haus, überwachte die Vorbereitungen für das Essen und dirigierte das Personal. Nur wenn der Wind kurz den Atem anhielt, konnte sie ihn hören, seine Stimme und die ihrer Schwester. Geschirr klirrte. Am Flügel im Salon schlug jemand immer denselben Ton an, ein Cello fiel ein, kurz nur, dann rief ihre Schwester: »Nora!«
Nora rührte sich nicht.
Das Haus war groß, fast ein kleines Schloss mit Erkern und Türmen, die Mauern aus strengem Granit erbaut und von wildem Wein überwuchert bis hinauf zu den schiefergrauen Dachschindeln. In den bleiverglasten Fenstern leuchtete bunt das Familienwappen. Von der ausladenden Terrasse hinter dem Salon hatte man einen überwältigenden Blick auf den weitläufig zur Elbe hin abfallenden Garten, gestaltet im verschwenderischen Dunkelgrün von hohen Bäumen, dichten Hecken, Gebüsch und Rasen. Eine Eibenlaube auf der anderen Seite des Zierteichs bildete einen filigranen Kontrapunkt zu dem höher gelegenen Haus. Aus Anlass des abendlichen Diners hatte das Personal Garten und Terrasse mit Hunderten weißer Windlichter und farbiger Lampions an Stöcken und Girlanden geschmückt.
Der Wind setzte wieder ein und riffelte die Oberfläche des Teichs. Ein paar welke Blätter landeten zwischen den Seerosen. Nora genoss den schweren Geruch des Laubes und der Bäume im September, den
Abschied von der Sommerblüte und das letzte üppige Farbenspiel. Der Frühling war die Zeit der Unschuld, der Herbst trug die Ahnung des Verlustes heran, dunkel wie der ferne Klang der Nebelhörner auf dem Fluss jenseits der Mauer, wo große Dampfer der Nordsee zustrebten.
»Nora!« Lissy erschien in der Fenstertür zur Veranda und hielt nach Nora Ausschau, ohne sie zu entdecken. Von jenseits des Hauses, wo die kieselbestreute Auffahrt ihren Bogen hinunter zur Chaussee schlug, ertönte Motorenlärm, das metallische Tuten vereinzelter Hupen und das Wiehern nervöser Pferde. Gelächter stieg auf. Das kleine Orchester im Salon intonierte eine Konzertouvertüre. Es war Zeit. Nora wandte sich wieder dem Haus zu, ging zurück über die ovalen Steinplatten, die durch das Lampionspalier zur Terrasse hinaufführten.
An einer der Blumenrabatten blieb sie stehen, um eine Septemberrose abzubrechen. Doch als sie die Blüte an ihr Gesicht hob, erschien ihr der schwache Duft wie ein Vorwurf. Im Haus gab es Blumen genug, längst geschnitten und zu Arrangements gebunden, die nichts mehr in sich trugen, weder Sommer noch Herbst, sondern lediglich Opulenz verkündeten. Ihr war, als hätte sie diesen vollkommenen Tag mit ihrer mutwilligen Tat beschädigt, sodass er nun nur noch verfallen konnte.
Lissy winkte ihr von der Terrasse aus. »Nora!« Sie trug das Brautkleid aus weißem Chiffon, in dem sie am Morgen getraut worden war, wollte sich davon nicht trennen, nur die Handschuhe hatte sie ausgezogen. Aus ihrer Frisur hatten sich ein paar Strähnen gelöst, die zu beiden Seiten ihres erhitzten Gesichts herabhingen. In der Hand hielt sie einen zerknitterten Briefbogen. »Also, hier steckst du! Ludwig sucht dich, alle suchen dich ... Die ersten Gäste sind schon da, und die halbe Stadt ist noch auf dem Weg hierher.« Ihre atemlose Stimme wurde leiser, fast fürsorglich. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Wenn jemand das hier liest...«
»Ich war im Garten«, sagte Nora. »Ich hatte vergessen, wie feucht das Laub um diese Jahreszeit schon ist.« Ihre altrosa Ballschuhe waren nass und über und über mit Grasflecken bedeckt, sodass man sie eigentlich nicht mehr vorzeigen konnte.- Aber in diesen Schuhen hatte sie vor fünf Jahren mit Ludwig den Hochzeitswalzer getanzt und schon damals gewusst, dass sie sie wieder tragen würde, wenn ihre Schwester heiratete. Sie griff nach Lissys Hand, ohne den Brief zu beachten. »Ich wollte, dass du etwas von mir hast, weil wir uns von nun an doch bestimmt nicht mehr so häufig sehen werden. Deswegen habe ich dir den Brief geschrieben. Ich wünsche mir so sehr, dass du glücklich bist.«
»Aber ich bin glücklich — natürlich bin ich glücklich«, sagte Lissy, noch immer mit der etwas atemlosen, leisen, plötzlich eher vorwurfsvollen Stimme. »Ich bin jetzt eine Frau Konsul in spe. Warst du nicht glücklich, als du geheiratet hast? Was wolltest du im Garten? An so einem Tag ist dein Platz im Haus!«
»Du redest schon genauso wie Ludwig. Oder wie Papa.«
»Nur weil dein Mann Bankier und reich ist, muss nicht alles falsch sein, was er sagt.« Lissy schwieg kurz, ehe sie mit einem besorgten Blick auf Noras Schuhe hinzufügte: »Hat das was mit den Zigarrenkisten zu tun, von denen du geschrieben hast? Weißt du, manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich.«
»Ich wollte nur — du solltest wissen, dass ich immer für dich da bin ... Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du mal unglücklich bist oder verzweifelt ...«
»Und deswegen willst du mein Herz in einer Zigarrenkiste vergraben?« Lissy schüttelte den Kopf. »Langsam fange ich an zu glauben, was die Leute alles so über dich sagen. Dabei wollte ich das nie, weil du meine Schwester bist. Wie kann jemand mit achtundzwanzig Jahren noch so einen Unsinn schreiben!? Ich habe doch nun meinen Mann. Ab jetzt ist Carl-Gustav für mich da. Weißt du, ich finde, du bist etwas überspannt, aber das nehme ich dir nicht übel. Ich habe dich trotzdem lieb, trotz all deiner Launen und Marotten.« Sie nahm Nora die Rose ab und drückte ihr dafür den Brief in die Hand. »Hier, das ist vielleicht eher was für deinen Dichter — Herz, Liebe, Schmerz,
pas possible! Wie ich sehen musste, steht sein Name auch auf der Gästeliste.«
Sie drehte sich um und verschwand durch den Efeubogen über der Verandatür wieder im Haus.
Nora folgte ihr, einige Atemzüge lang wie benommen von einem Gefühl umfassender Liebe für ihre kleine Schwester, das sie glücklich stimmte. »Was die Leute über dich sagen«, wiederholte sie für sich. Sie wusste, was sie sagten. Sie sagten, dass sie die falsche Frau für den nüchternen, besonnenen Ludwig Hendriksen war — zu naiv, zu freisinnig, zu ungeduldig, zu versponnen, vielleicht sogar zu leidenschaftlich und in jedem Fall zu romantisch. Nichts gegen Leidenschaft, sagten die Männer, aber am Ende muss die Bilanz stimmen. Romantik ist etwas Wunderbares, sagten die Frauen, aber ein Haus kann man damit nicht führen.
Ludwig, stolz auf Noras Schönheit, hatte unter dem Strich ein schlechtes Geschäft gemacht. Er war ihrem Antlitz erlegen — dem blassen, zarten Oval mit den weich modellierten Wangenknochen, dem hellen Glanz der großen, blauen Augen, der hohen Stirn. Ja, schön war sie. Mit ihrem kupferroten Haar, den zart geschwungenen, vollen Lippen und der schlanken, hochgewachsenen Statur lenkte sie in der Oper, bei Bällen und Soireen sämtliche Blicke auf sich. Alles an ihr hätte Ludwig Neid und Bewunderung eingetragen, wäre nicht bald schon bekannt geworden, dass sie ungehorsam und hitzköpfig war und gelegentlich sogar einfach verschwand, ohne zu hinterlassen, wohin oder wie lange oder mit wem.
Viele sagten: gesellschaftlich untragbar, eine Belastung für sein Ansehen, eine Mesalliance, vielleicht sogar eine Schande. Und in Ludwigs Augen stand oft die stumme Frage: Warum hast du mich eigentlich geheiratet? Sie sah die Frage, und es tat ihr leid für ihn. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Eines Tages, dachte sie, werde ich Kinder haben, und die werde ich lieben und beschützen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Bastei –Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Nora fragte sich, wer sich um das Kind kümmern würde, falls sie ins Gefängnis kam. Sie hätte es gern bei sich gehabt, aber es war vernünftiger gewesen, es wegzugeben, solange nicht feststand, was aus ihr werden würde. Sie werden dich in die Hauptstadt bringen, dachte sie, eine lange Reise durch dieses abweisende, heiße Land, das keine richtigen Straßen hat und keine fertig verlegte Eisenbahn, nicht so wie bei uns zu Hause, und an jeder Station werden sie dich und die Soldaten anstarren, und deswegen ist es wahrscheinlich besser, dass du sein Kind nicht bei dir hast.
Als es Nachmittag wurde und das Leben erwachte, drangen durch das Fenster wieder die Geräusche der Straße — Pferdegetrappel, das Blöken von durstigem Vieh, das Quietschen der Ochsenkarren mit ihren schlecht geölten Radnaben und die lauten Stimmen der Eingeborenen. Nora wusste, dass auch sie reden würden, aber das störte sie nicht; es bedeutete nicht mehr als die hungrigen Schreie der Möwen bei ihren Sturzflügen über der Gischt der Bucht.
Am Abend stand sie auf und fragte die Soldaten vor der Tür, ob sie schon wüssten, was mit ihr geschehen würde. Die Soldaten hatten noch keine Anweisung erhalten. Sie waren sehr jung und respektvoll und fragten, ob sie ihr etwas zu essen kommen lassen sollten, aber Nora hatte keinen Hunger und bat nur um ein Glas Wasser.
Es machte ihr nichts aus zu warten, sie hatte die letzten Wochen mit nichts anderem verbracht. Wenn sie wartete, begann sie, außerhalb ihres Körpers zu leben. Sie lebte in Gedanken, die sie voraustrugen oder zurück, und das, woran sie dachte, schien ihr lange vergangen oder weit entfernt, auch wenn es erst vor Kurzem geschehen war.
Sie sah sich, nachdem Rainer sie verlassen hatte, allein mit dem Kind draußen auf der Farm. Sie sah sich mit Wilhelm, nach der Schlacht, bei der er verwundet worden war, wie er ins Lazarett getragen wurde, seine blutbefleckte Uniform staubig in der diesigen Abendsonne — roter Staub wie der auf dem Läufer in ihrem Zimmer jetzt —, und wie sie versuchte, seine Hand zu halten, und nicht wusste, ob er es überleben würde, aber sie hoffte es mit aller Kraft, weil sie nicht noch einmal etwas verlieren wollte, das sie liebte. Das war ihre Geschichte in diesem Land, Hoffung, Liebe und Verlust und nach dem Verlust neue Hoffnung.
Und sie sah sich mit Balthasar, der das Land verkörperte und der sie hierher in dieses Zimmer gebracht hatte und dazu, dass die Soldaten vor ihrer Tür Wache hielten. Ihre Vergangenheit, dachte sie, war wie ein Kaleidoskop. Sie blickte auf alles zurück, und bei jeder Drehung erschien ein neues, buntes Bild, aber zusammengesetzt war es immer nur aus Scherben. Balthasar — stolz und schwarz, voller Leidenschaft, am Ende voller Zorn und Schmerz — leuchtete heller als die anderen, vielleicht weil sie ihn erst gestern zum letzten Mal gesehen hatte, als sie mit dem Messer in der Hand zu ihm gegangen war, um ihn zu erlösen.
Sie sah alle — Rainer und Wilhelm und Ludwig —, und sie fragte sich, ob einer von ihnen da sein würde, wenn die Soldaten sie in den Gerichtssaal eskortierten, und ob es Zeugen geben würde für das, was mit ihr geschah.
Deutsches Reich, 1902
Im Herbst jenes Jahres lebte Nora Hendriksen in der Villa ihres Mannes, und von ihrem Zimmer aus konnte sie auf den großen Garten und bis über den Fluss sehen. Nachts hörte sie manchmal die Kastanien von den Bäumen unter ihrem Fenster fallen, und am Tag leuchtete das Laub an den Ästen gelb und rot in der Sonne. Das Wasser der Elbe war klar wie der Septemberhimmel. Auf den kleinen Wellen lag ein stetes Gleißen, außer wenn Regen aufzog, dann fand sich das Bleigrau der Wolken auch auf dem träge dahinrollenden Fluss. Vor dem schmiedeeisernen Tor des Anwesens fuhren die neuen Automobile die Straße entlang; es gab noch nicht viele, aber ihre Abgase legten sich auf die Stämme der Pappeln zu beiden Seiten der Chaussee, und einige der Blätter fielen ein wenig früher ab und gerieten unter die Reifen, und später verwandelten Regen und Schnee sie in Morast.
Es war das Jahr, in dem ihre jüngere Schwester Lissy heiratete. Wenn Nora später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als wäre sie damals zum letzten Mal sorglos gewesen, mit dem Garten und dem Fluss und dem Himmel, dessen Blau so tief war, dass es in den Augen wehtat. Auch bei ihrer eigenen Hochzeit war sie unbeschwert gewesen, und an diesem Nachmittag, kurz bevor der Empfang begann, fiel ihr wieder ein, wie sie selbst es empfunden hatte: als ein Glück, dass es nicht mehr war — nicht mehr als bloße Unbeschwertheit. Das Leben an der Seite ihres Mannes würde irgendwann enden; es würde vorübergehen und sie nur wenig verändern. Das, was sie lieben konnte, hatte sie noch nicht gefunden.
Sie stand an dem kleinen Zierteich im Garten, neben den Apfelbäumen, wo man die Geräusche aus dem Haus kaum mitbekam, nur den Wind in den Zweigen und die Vögel, die sich über den anbrechenden Abend verständigten. Sie wollte einen Moment allein sein, bevor die ersten Gäste eintrafen; ein paar Minuten lang sollte niemand etwas von ihr verlangen. Gestern der Polterabend, am Morgen die kirchliche Trauung, danach das Mittagessen mit den beiden Familien. Die ganze Zeit nur Lärm, Gelächter, Kindergeschrei, Hochrufe und in der Kirche der kleine Marsch von Mendelssohn, den danach jeder vor sich hin gesummt hatte, in Bruchstücken, immer wieder, sogar sie selbst.
Ludwig, ihr Mann, befand sich im Haus, überwachte die Vorbereitungen für das Essen und dirigierte das Personal. Nur wenn der Wind kurz den Atem anhielt, konnte sie ihn hören, seine Stimme und die ihrer Schwester. Geschirr klirrte. Am Flügel im Salon schlug jemand immer denselben Ton an, ein Cello fiel ein, kurz nur, dann rief ihre Schwester: »Nora!«
Nora rührte sich nicht.
Das Haus war groß, fast ein kleines Schloss mit Erkern und Türmen, die Mauern aus strengem Granit erbaut und von wildem Wein überwuchert bis hinauf zu den schiefergrauen Dachschindeln. In den bleiverglasten Fenstern leuchtete bunt das Familienwappen. Von der ausladenden Terrasse hinter dem Salon hatte man einen überwältigenden Blick auf den weitläufig zur Elbe hin abfallenden Garten, gestaltet im verschwenderischen Dunkelgrün von hohen Bäumen, dichten Hecken, Gebüsch und Rasen. Eine Eibenlaube auf der anderen Seite des Zierteichs bildete einen filigranen Kontrapunkt zu dem höher gelegenen Haus. Aus Anlass des abendlichen Diners hatte das Personal Garten und Terrasse mit Hunderten weißer Windlichter und farbiger Lampions an Stöcken und Girlanden geschmückt.
Der Wind setzte wieder ein und riffelte die Oberfläche des Teichs. Ein paar welke Blätter landeten zwischen den Seerosen. Nora genoss den schweren Geruch des Laubes und der Bäume im September, den
Abschied von der Sommerblüte und das letzte üppige Farbenspiel. Der Frühling war die Zeit der Unschuld, der Herbst trug die Ahnung des Verlustes heran, dunkel wie der ferne Klang der Nebelhörner auf dem Fluss jenseits der Mauer, wo große Dampfer der Nordsee zustrebten.
»Nora!« Lissy erschien in der Fenstertür zur Veranda und hielt nach Nora Ausschau, ohne sie zu entdecken. Von jenseits des Hauses, wo die kieselbestreute Auffahrt ihren Bogen hinunter zur Chaussee schlug, ertönte Motorenlärm, das metallische Tuten vereinzelter Hupen und das Wiehern nervöser Pferde. Gelächter stieg auf. Das kleine Orchester im Salon intonierte eine Konzertouvertüre. Es war Zeit. Nora wandte sich wieder dem Haus zu, ging zurück über die ovalen Steinplatten, die durch das Lampionspalier zur Terrasse hinaufführten.
An einer der Blumenrabatten blieb sie stehen, um eine Septemberrose abzubrechen. Doch als sie die Blüte an ihr Gesicht hob, erschien ihr der schwache Duft wie ein Vorwurf. Im Haus gab es Blumen genug, längst geschnitten und zu Arrangements gebunden, die nichts mehr in sich trugen, weder Sommer noch Herbst, sondern lediglich Opulenz verkündeten. Ihr war, als hätte sie diesen vollkommenen Tag mit ihrer mutwilligen Tat beschädigt, sodass er nun nur noch verfallen konnte.
Lissy winkte ihr von der Terrasse aus. »Nora!« Sie trug das Brautkleid aus weißem Chiffon, in dem sie am Morgen getraut worden war, wollte sich davon nicht trennen, nur die Handschuhe hatte sie ausgezogen. Aus ihrer Frisur hatten sich ein paar Strähnen gelöst, die zu beiden Seiten ihres erhitzten Gesichts herabhingen. In der Hand hielt sie einen zerknitterten Briefbogen. »Also, hier steckst du! Ludwig sucht dich, alle suchen dich ... Die ersten Gäste sind schon da, und die halbe Stadt ist noch auf dem Weg hierher.« Ihre atemlose Stimme wurde leiser, fast fürsorglich. »Was hast du dir nur dabei gedacht? Wenn jemand das hier liest...«
»Ich war im Garten«, sagte Nora. »Ich hatte vergessen, wie feucht das Laub um diese Jahreszeit schon ist.« Ihre altrosa Ballschuhe waren nass und über und über mit Grasflecken bedeckt, sodass man sie eigentlich nicht mehr vorzeigen konnte.- Aber in diesen Schuhen hatte sie vor fünf Jahren mit Ludwig den Hochzeitswalzer getanzt und schon damals gewusst, dass sie sie wieder tragen würde, wenn ihre Schwester heiratete. Sie griff nach Lissys Hand, ohne den Brief zu beachten. »Ich wollte, dass du etwas von mir hast, weil wir uns von nun an doch bestimmt nicht mehr so häufig sehen werden. Deswegen habe ich dir den Brief geschrieben. Ich wünsche mir so sehr, dass du glücklich bist.«
»Aber ich bin glücklich — natürlich bin ich glücklich«, sagte Lissy, noch immer mit der etwas atemlosen, leisen, plötzlich eher vorwurfsvollen Stimme. »Ich bin jetzt eine Frau Konsul in spe. Warst du nicht glücklich, als du geheiratet hast? Was wolltest du im Garten? An so einem Tag ist dein Platz im Haus!«
»Du redest schon genauso wie Ludwig. Oder wie Papa.«
»Nur weil dein Mann Bankier und reich ist, muss nicht alles falsch sein, was er sagt.« Lissy schwieg kurz, ehe sie mit einem besorgten Blick auf Noras Schuhe hinzufügte: »Hat das was mit den Zigarrenkisten zu tun, von denen du geschrieben hast? Weißt du, manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich.«
»Ich wollte nur — du solltest wissen, dass ich immer für dich da bin ... Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du mal unglücklich bist oder verzweifelt ...«
»Und deswegen willst du mein Herz in einer Zigarrenkiste vergraben?« Lissy schüttelte den Kopf. »Langsam fange ich an zu glauben, was die Leute alles so über dich sagen. Dabei wollte ich das nie, weil du meine Schwester bist. Wie kann jemand mit achtundzwanzig Jahren noch so einen Unsinn schreiben!? Ich habe doch nun meinen Mann. Ab jetzt ist Carl-Gustav für mich da. Weißt du, ich finde, du bist etwas überspannt, aber das nehme ich dir nicht übel. Ich habe dich trotzdem lieb, trotz all deiner Launen und Marotten.« Sie nahm Nora die Rose ab und drückte ihr dafür den Brief in die Hand. »Hier, das ist vielleicht eher was für deinen Dichter — Herz, Liebe, Schmerz,
pas possible! Wie ich sehen musste, steht sein Name auch auf der Gästeliste.«
Sie drehte sich um und verschwand durch den Efeubogen über der Verandatür wieder im Haus.
Nora folgte ihr, einige Atemzüge lang wie benommen von einem Gefühl umfassender Liebe für ihre kleine Schwester, das sie glücklich stimmte. »Was die Leute über dich sagen«, wiederholte sie für sich. Sie wusste, was sie sagten. Sie sagten, dass sie die falsche Frau für den nüchternen, besonnenen Ludwig Hendriksen war — zu naiv, zu freisinnig, zu ungeduldig, zu versponnen, vielleicht sogar zu leidenschaftlich und in jedem Fall zu romantisch. Nichts gegen Leidenschaft, sagten die Männer, aber am Ende muss die Bilanz stimmen. Romantik ist etwas Wunderbares, sagten die Frauen, aber ein Haus kann man damit nicht führen.
Ludwig, stolz auf Noras Schönheit, hatte unter dem Strich ein schlechtes Geschäft gemacht. Er war ihrem Antlitz erlegen — dem blassen, zarten Oval mit den weich modellierten Wangenknochen, dem hellen Glanz der großen, blauen Augen, der hohen Stirn. Ja, schön war sie. Mit ihrem kupferroten Haar, den zart geschwungenen, vollen Lippen und der schlanken, hochgewachsenen Statur lenkte sie in der Oper, bei Bällen und Soireen sämtliche Blicke auf sich. Alles an ihr hätte Ludwig Neid und Bewunderung eingetragen, wäre nicht bald schon bekannt geworden, dass sie ungehorsam und hitzköpfig war und gelegentlich sogar einfach verschwand, ohne zu hinterlassen, wohin oder wie lange oder mit wem.
Viele sagten: gesellschaftlich untragbar, eine Belastung für sein Ansehen, eine Mesalliance, vielleicht sogar eine Schande. Und in Ludwigs Augen stand oft die stumme Frage: Warum hast du mich eigentlich geheiratet? Sie sah die Frage, und es tat ihr leid für ihn. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Eines Tages, dachte sie, werde ich Kinder haben, und die werde ich lieben und beschützen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © 2010 by Bastei –Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Kayla Fleming
- 460 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828996825
- ISBN-13: 9783828996823
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