»Wir können nicht alle wie Berta sein«
Erinnerungen
'Tatort-Kommissarin, beliebte Theaterschauspielerin, Kultfigur des Neuen Deutschen Films: eine Frau, die zwischen den Rollen zu sich selbst findet.
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Produktinformationen zu „»Wir können nicht alle wie Berta sein« “
'Tatort-Kommissarin, beliebte Theaterschauspielerin, Kultfigur des Neuen Deutschen Films: eine Frau, die zwischen den Rollen zu sich selbst findet.
Klappentext zu „»Wir können nicht alle wie Berta sein« “
'Mit 13 ist sie die deutsche Stimme von Timmy aus der Fernsehserie Lassie. Mit 15 steht sie in Verhoevens Antikriegsfilm o.k. zum ersten Mal vor der Kamera. Mit 16 sorgt ihre Rolle in Wildwechsel für den ersten deutschen Fernsehskandal. Heute deckt sie als Konstanzer Tatort-Kommissarin Klara Blum spektakuläre Fälle im Dreiländereck auf. In ihrer Autobiographie erzählt Eva Mattes von Begegnungen mit Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Peter Zadek und anderen Größen aus Film und Theater, aber auch von den Höhen und Tiefen ihres Lebens. Ein sehr persönliches, intensives Buch und ein spannender Streifzug durch die deutsche Theater- und Filmgeschichte.
Lese-Probe zu „»Wir können nicht alle wie Berta sein« “
»Wir können nicht alle wie Berta sein« von Eva Mattes... mehr
Als meine Eltern sich Anfang der vierziger Jahre in Berlin bei den Filmaufnahmen zu »Der Verteidiger hat das Wort«, für den mein Vater die Musik komponiert hatte, kennenlernten, war meine Mutter schon ein Star. Sie sang, tanzte und spielte im Film und auf Varieté-Bühnen wie dem Berliner Plaza, dem
Wintergarten oder dem Admiralspalast in der Friedrichstraße. Ihre Partner waren Viktor de Kowa und Heinrich George, Emil Jannings und Hans Moser, Liselotte Pulver und Hilde Krahl. Ihren ersten Film hatte sie 1934 gedreht, als Neunzehnjährige. Berühmt wurde sie 1940 durch eine Tanzszene in dem Film »Der Postmeister« mit Heinrich George. Sie tanzt darin oben ohne, ihre Brüste sind nackt, doch sie wirbelt in einem riesigen Tellerrock so durch den Saal, dass man mehr ahnt als sieht. Dieser Tanz war ein spektakuläres Ereignis damals, und in seiner vollen Länge ist er nur noch in wenigen Kopien erhalten, weil viele Vorführer sich heimlich ein Bild herausschnitten, um es für sich zu behalten.
Während der Kriegsjahre wurde mein Vater nur einmal kurz als Funker an die Front eingezogen, bald darauf aber wegen seiner musikalischen Begabung, wie meine Mutter später erzählte, vom Kriegsdienst befreit. Er war bei der Ufa und der Tobis Film als Arrangeur und Komponist engagiert und schrieb dort seine ersten Filmmusiken. Meine Eltern wurden im Krieg drei Mal ausgebombt. Nach einem der Bombenangriffe fanden sie sich durch einen Zettel wieder, den mein Vater vor ihrem zerstörten Haus an einen Baum geheftet hatte: »Puckili, bin in der Pension Sowieso.« Direkt nach Kriegsende zogen er und meine Mutter nach
Schweden, heirateten dort und lebten sieben Jahre in Stockholm. In dieser Zeit arbeitete mein Vater als Dirigent beim schwedischen Hörfunk und schrieb seine schönsten Kompositionen, unter anderem das Klavierkonzert »Schwedische Rhapsodie«, das er meiner Mutter widmete. Unter dem Pseudonym
Charles Wildman wurden seine Stücke auch in den USA gespielt. Meine Mutter arbeitete damals nicht in ihrem Beruf, aber meine Großmutter, die mit meinen Eltern in Stockholm lebte, fertigte Stoffblumen an, die ihre schöne Tochter dann von Haustür zu Haustür verkaufte. Meine Großmutter liebte den Wind und das Meer und starb auf einer Schiffsrundfahrt an einem Herzinfarkt. Sie fiel einfach um, ohne Vorahnung und Vorwarnung. Ich habe sie nie kennengelernt.
Schon früh hatte Irma Simo sich mit großem Eifer und Ehrgeiz um das berufliche Fortkommen ihrer Kinder bemüht, meiner Mutter Margit - die das i in ihrem Nachnamen später durch ein y ersetzte - und ihres Bruders Michael. Meine Großmutter selbst hatte sich ihren Traum, Tänzerin zu werden, nicht erfüllen können, also übertrug sie ihn auf meine Mutter. Im Alter von dreizehn Jahren wurde Margit in einer Ballettschule angemeldet, in der sie von da an täglich viele Stunden trainierte. Michael tat es ihr nach, und schon bald traten die beiden Geschwister als Tanzpaar auf, gemanagt von ihrer Mutter. Meine Großmutter stammte aus einfachen Verhältnissen und zog ihre Kinder alleine auf, wie später meine Mutter mich und meine Schwester alleine aufzog, und wie ich anfangs meine Tochter. Über meinen Großvater weiß ich nur, dass er die Familie verlassen hat und ins Ausland ging. Irma Simo erkannte in der Begabung ihrer Kinder eine Chance auf sozialen Aufstieg. Sie sollten es einmal besser haben - gemeinsam mit ihr. In jungen Jahren führte meine Mutter ein Tagebuch, dem sie ihre geheimsten Träume und Wünsche anvertraute. So auch ihre ersten romantischen Erfahrungen mit einem jungen Mann, der sie abends nach einem gemeinsamen Spaziergang nach Hause brachte und vor der Tür zärtlich küsste. Fiebernd trug sie das Erlebnis in ihrer schön geschwungenen Schrift in ihr Tagebuch ein, das sie in der Schublade ihres Nachtkästchens verwahrte. Kurze Zeit später las ihre Mutter die geheimen Sätze und machte sich lustig über Margit, lachte sie aus und verbot ihr, den jungen Mann wiederzusehen. Margit war tief verletzt und beschämt, sie vernichtete ihr Tagebuch und schrieb nie wieder einen einzigen persönlichen Moment ihres Lebens auf. Vielleicht war das auch der Zeitpunkt, an dem sie ihr innerstes Wesen vor Einblicken von außen zu verbergen begann. Schon als Kind spürte ich, dass meine Mutter mehr war, als sie mir zeigen wollte. Diese Verschlossenheit, die nicht zu ihrer temperamentvollen Art zu passen schien, verstörte mich als Heranwachsende, und ich begann, an ihrer Fassade zu kratzen, erst vorsichtig, später ziemlich vehement.
Anfang der fünfziger Jahre kehrten meine Eltern nach Deutschland zurück. 1953 kam meine Schwester Maria zur Welt. Für die Geburt reiste meine Mutter extra von München nach Salzburg, weil es dort einen Spezialisten für Spätgebärende gab. Nur fünfzehn Monate später kam ich trotz schlechten Omens hinterher.
Im Alter von dreieinhalb Jahren lief ich eines Tages von zu Hause weg. Meine Schwester war bei meinem Vater am Chiemsee, und ich hatte große Sehnsucht nach ihr. Ich wollte sie suchen gehen. Das war wie ein Sog, es zog mich zu ihr hin, ich wollte nicht länger ohne sie sein. Meine früheste Erinnerung. Mit meinem kleinen Strohpuppenwagen machte ich mich auf den Weg. Da ich draußen vor dem Haus auf der Wiese gespielt hatte, fiel meiner Mutter nicht gleich auf, dass ich verschwunden war. Ich war bestimmt eine Stunde unterwegs, als ich an eine große Straße kam. Es dämmerte bereits. Die Straße machte mir Angst. Autos fuhren vorbei. Wie sollte ich sie überqueren? Bisher hatte ich nur meine Schwester vor Augen gehabt. Mausi wurde sie von allen genannt, nur ich sagte Mauki, weil ich dass noch nicht sprechen konnte. Jetzt wurde mir so langsam klar, dass ich Mauki nicht finden würde. Ich wusste ja nicht einmal mehr den Weg nach Hause zu meiner Mutter. Ich hatte mich verlaufen. Tränen stiegen mir in die Augen. Mutterseelenallein stand ich an der großen Straße und weinte lauthals. Gleichzeitig dachte ich angestrengt nach, was ich tun könnte. Es war fast dunkel, ich fürchtete mich. Da entdeckte ich auf einmal rechts von mir Häuser. In den Fenstern brannte Licht, und in einem der Vorgärten stand eine Frau. Langsam ging ich in ihre Richtung, ängstlich, schüchtern und immer noch laut weinend. Als sie das kleine Mädchen mit dem Puppenwagen sah, eilte sie auf mich zu. Da ich ihr in meiner Verzweiflung nicht sagen konnte, wo ich wohnte, rief sie die Polizei. Kurz darauf kam ein Streifenwagen, ein VW Käfer mit zwei sehr freundlichen Polizisten. Den beiden konnte ich auf einmal ganz genau sagen, wo ich wohnte, Mallnitzerstraße 9, und da packten sie mich mitsamt meinem Puppenwagen ins Auto, um mich nach Hause zu fahren. Ich durfte nicht nur vorne sitzen, sondern auch auf dem Schoß eines der Polizisten. Ich war so aufgeregt! Festgehalten von zwei starken Männerarmen, sicher und behütet - ich war wie in einem Rausch und verliebte mich Hals über Kopf. Von diesem Moment an stand für mich fest, wenn ich groß bin, heirate ich einen Polizisten.
Als wir uns unserem Haus näherten, wurde mir doch etwas mulmig zumute. Ich rechnete damit, dass meine Mutter ganz schrecklich schimpfen würde. Sie erwartete uns schon vor der Haustür. Von Schimpfen konnte natürlich keine Rede sein. Sie war überglücklich, dass ich heil und gesund wieder bei ihr war, und zur Feier meiner Wiederkehr briet sie mir zwei Spiegeleier, mein absolutes Lieblingsessen. Mausi tauchte dann auch bald wieder auf, und von da an wurden wir nicht mehr getrennt. Als mein Vater uns ein Jahr später entführte, nahm er uns Gott sei Dank beide mit. Ich war gerade wieder mit meinen Puppen unterwegs, in den nahe gelegenen Parkanlagen spazieren. Von meiner Mutter, die nach langer Pause endlich wieder Arbeit hatte und mit Zarah Leander auf Tournee war, hatte ich mir hohe Schuhe ausgeliehen, und so stolzierte ich durch die Gegend. Immer wenn mir Leute begegneten, unterhielt ich mich extra laut mit meinen Puppen, die natürlich meine Kinder waren, und zwar in reinstem Phantasie-Englisch. Ich fühlte mich sehr erwachsen und sehr ausländisch. Irgendwann ging ich nach Hause, und da stand mein Vater mit meiner Schwester, seiner neuen Frau und unserer verdutzten Kinderfrau vor der Haustür. Letztere hatte gerade eine schallende Ohrfeige von ihm bekommen, wie die Nachbarin, die das Geschehen von ihrem Küchenfenster aus beobachtete, später meiner Mutter berichtete. Diese Entführung gehörte zu einer Reihe unschöner Dinge, die mein Vater meiner Mutter angedeihen ließ. Er hatte sich von ihr getrennt, aber er wollte
nicht schuldig geschieden werden, er wollte keinen Unterhalt zahlen. Gleichzeitig wollte er meine Mutter zwingen, zu Hause zu bleiben, deswegen nahm er uns mit. Wenn meine Mutter nicht aufhörte zu arbeiten, würde er uns in ein Heim stecken, hatte er ihr gedroht.
Ich hatte gerade noch Zeit, mich umzuziehen, ein kleiner Koffer war bereits gepackt, da saßen wir schon im Auto und fuhren zum Chiemsee. Mein Vater hatte ein Mercedes Sportcoupé, in dem es eigentlich gar keinen Platz für uns Kinder gab, wie in dem Schlager, den ich als Heranwachsende gern trällerte: »Ich hab ein kleines Sportcoupé, darin ist Platz für zwei, und machen wir mal Holiday, dann ist das Glück dabei ...« Die Rückbank bestand aus einer harten, engen Abstellfläche für Koffer oder vielleicht einen Hund. Dort wurden Maria und ich hineingequetscht. Beschwert habe ich mich wohl nicht, es ging alles so schnell, ich wusste ja gar nicht, wie mir geschah. Während der Fahrt ging mir durch den Kopf, dass es mit meinem Vater und Tante Christel vielleicht besser sein könnte als mit der dicken Tetta, so nannten wir heimlich unsere Kinderfrau, die ich nicht leiden konnte. Statt uns Fleisch und Gemüse zuzubereiten, wie meine Mutter mit ihr besprochen hatte, bekamen wir täglich Spinat oder eklige Tomatensuppe vorgesetzt, und ich musste immer so lange sitzen bleiben, bis ich aufgegessen hatte. So etwas kannte ich bis dahin nicht. In Bachham am Chiemsee lebten wir ein halbes Jahr, bis meine Mutter die Tournee mit Zarah Leander und dem Musical »Madame Scandaleuse« beendet hatte und uns endlich wieder abholen konnte. Später erzählte sie uns, dass sie sich große Sorgen um uns gemacht habe, ihren Vertrag aber nicht einfach habe auflösen können. Diese Arbeit sei wichtig für sie gewesen, um wieder Anschluss an den Beruf zu finden und von
unserem Vater finanziell unabhängiger zu werden. Für mich war das halbe Jahr eine dunkle Zeit. Mein Vater konnte Kinder nicht ertragen, fühlte sich durch uns nur gestört, und so wurden wir zum Spielen in ein unbenutztes Badezimmer verbannt. Es war kalt, gekachelt und steril, trotzdem baute ich mir auch dort meine geschlossene Puppenwelt, meine Idyllen auf. Nachts konnte ich oft vor Angst nicht schlafen. Durch die offene Tür hörte ich meinen Vater schnarchen, dachte aber, es sei ein Bär. Jede Nacht machte ich ins Bett und wurde dafür jeden Morgen von meinem Vater gezüchtigt. Vor versammelter Familie. Es gab aber auch einen guten Engel in dieser Zeit, die Frau meines Vaters, die wir Tante Christel nannten. Sie hatte selbst einen Sohn aus erster Ehe, der damals schon vierzehn war und den mein Vater auch nicht bei sich duldete. Er lebte in der Nähe in einem Internat. Wann immer sie konnte, beschützte Tante Christel uns, zog uns schöne Kleider an, war leise und zart. Sie war weißblond. Meine Mutter hatte schwarzes Haar.
Warum mein Vater das alles inszeniert hat, verstehe ich bis heute nicht, aber ich nehme ihm schon lange nichts mehr übel. Irgendwann habe ich erkannt, dass es für mich eigentlich ein Glück war, dass ich ohne ihn aufwachsen durfte. Er war kein Familienmensch, und in seiner Nähe hätte ich mich niemals entfalten können. Manchmal treffe ich Künstler, die mit ihm gearbeitet haben und von ihm schwärmen, was für ein toller Mensch, was für ein großartiger Musiker er gewesen sei. Mein Vater hat sich später bei mir dafür entschuldigt, dass er mich geschlagen hat. Er habe es nicht besser gewusst, er sei als Kind auch geschlagen worden. Ich war meist anderer Ansicht als er, aber wir konnten uns immerhin unterhalten. Wenn er lachte, sah er lustig aus, die große Nase war ganz schief. Wenn ich heute an ihn denke, mag ich ihn. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren Maria und ich wieder zu Hause in München-Laim bei unserer Mutter. Bei ihr fanden wir Geborgenheit, auch wenn sie selbst voller Verletzungen war und über die Trennung von unserem Vater nur sehr schwer hinwegkam. Sie unterstützte uns immer, so gut sie konnte, und ließ uns viele Freiheiten. Meine Schwester und ich durften bei unseren Freundinnen übernachten und im Sommer draußen spielen, bis es dunkel wurde. Unsere Mutter spielte auch mit uns, im Sommer Federball und im Winter »Mensch ärgere dich nicht« oder »Malefi z«. Besonders fürsorglich im heutigen Sinne war sie allerdings nicht, so hat sie uns zum Beispiel abends nichts vorgelesen und morgens kein Frühstück gemacht. Da sie selbst so früh noch keinen Hunger hatte, ging sie offensichtlich davon aus, dass wir auch keinen hatten. Als wir später in der Schule mitbekamen, dass die anderen Kinder frühstückten, wollten wir das auch, und dann machte sie uns, noch halb im Schlaf und etwas mürrisch, ein paar Knäckebrote, die wir im Stehen oder Gehen aßen. Wenn wir mittags nach Hause kamen, fragte sie nicht, wie war's, was habt ihr in der Schule gemacht, sondern erzählte von sich, was sie im Fernsehen gesehen, wen sie getroffen und wie viele Orangen sie eingekauft hatte. Wirklich zugehört hat sie fast nie.
© Ullstein HC (Verlag)
Als meine Eltern sich Anfang der vierziger Jahre in Berlin bei den Filmaufnahmen zu »Der Verteidiger hat das Wort«, für den mein Vater die Musik komponiert hatte, kennenlernten, war meine Mutter schon ein Star. Sie sang, tanzte und spielte im Film und auf Varieté-Bühnen wie dem Berliner Plaza, dem
Wintergarten oder dem Admiralspalast in der Friedrichstraße. Ihre Partner waren Viktor de Kowa und Heinrich George, Emil Jannings und Hans Moser, Liselotte Pulver und Hilde Krahl. Ihren ersten Film hatte sie 1934 gedreht, als Neunzehnjährige. Berühmt wurde sie 1940 durch eine Tanzszene in dem Film »Der Postmeister« mit Heinrich George. Sie tanzt darin oben ohne, ihre Brüste sind nackt, doch sie wirbelt in einem riesigen Tellerrock so durch den Saal, dass man mehr ahnt als sieht. Dieser Tanz war ein spektakuläres Ereignis damals, und in seiner vollen Länge ist er nur noch in wenigen Kopien erhalten, weil viele Vorführer sich heimlich ein Bild herausschnitten, um es für sich zu behalten.
Während der Kriegsjahre wurde mein Vater nur einmal kurz als Funker an die Front eingezogen, bald darauf aber wegen seiner musikalischen Begabung, wie meine Mutter später erzählte, vom Kriegsdienst befreit. Er war bei der Ufa und der Tobis Film als Arrangeur und Komponist engagiert und schrieb dort seine ersten Filmmusiken. Meine Eltern wurden im Krieg drei Mal ausgebombt. Nach einem der Bombenangriffe fanden sie sich durch einen Zettel wieder, den mein Vater vor ihrem zerstörten Haus an einen Baum geheftet hatte: »Puckili, bin in der Pension Sowieso.« Direkt nach Kriegsende zogen er und meine Mutter nach
Schweden, heirateten dort und lebten sieben Jahre in Stockholm. In dieser Zeit arbeitete mein Vater als Dirigent beim schwedischen Hörfunk und schrieb seine schönsten Kompositionen, unter anderem das Klavierkonzert »Schwedische Rhapsodie«, das er meiner Mutter widmete. Unter dem Pseudonym
Charles Wildman wurden seine Stücke auch in den USA gespielt. Meine Mutter arbeitete damals nicht in ihrem Beruf, aber meine Großmutter, die mit meinen Eltern in Stockholm lebte, fertigte Stoffblumen an, die ihre schöne Tochter dann von Haustür zu Haustür verkaufte. Meine Großmutter liebte den Wind und das Meer und starb auf einer Schiffsrundfahrt an einem Herzinfarkt. Sie fiel einfach um, ohne Vorahnung und Vorwarnung. Ich habe sie nie kennengelernt.
Schon früh hatte Irma Simo sich mit großem Eifer und Ehrgeiz um das berufliche Fortkommen ihrer Kinder bemüht, meiner Mutter Margit - die das i in ihrem Nachnamen später durch ein y ersetzte - und ihres Bruders Michael. Meine Großmutter selbst hatte sich ihren Traum, Tänzerin zu werden, nicht erfüllen können, also übertrug sie ihn auf meine Mutter. Im Alter von dreizehn Jahren wurde Margit in einer Ballettschule angemeldet, in der sie von da an täglich viele Stunden trainierte. Michael tat es ihr nach, und schon bald traten die beiden Geschwister als Tanzpaar auf, gemanagt von ihrer Mutter. Meine Großmutter stammte aus einfachen Verhältnissen und zog ihre Kinder alleine auf, wie später meine Mutter mich und meine Schwester alleine aufzog, und wie ich anfangs meine Tochter. Über meinen Großvater weiß ich nur, dass er die Familie verlassen hat und ins Ausland ging. Irma Simo erkannte in der Begabung ihrer Kinder eine Chance auf sozialen Aufstieg. Sie sollten es einmal besser haben - gemeinsam mit ihr. In jungen Jahren führte meine Mutter ein Tagebuch, dem sie ihre geheimsten Träume und Wünsche anvertraute. So auch ihre ersten romantischen Erfahrungen mit einem jungen Mann, der sie abends nach einem gemeinsamen Spaziergang nach Hause brachte und vor der Tür zärtlich küsste. Fiebernd trug sie das Erlebnis in ihrer schön geschwungenen Schrift in ihr Tagebuch ein, das sie in der Schublade ihres Nachtkästchens verwahrte. Kurze Zeit später las ihre Mutter die geheimen Sätze und machte sich lustig über Margit, lachte sie aus und verbot ihr, den jungen Mann wiederzusehen. Margit war tief verletzt und beschämt, sie vernichtete ihr Tagebuch und schrieb nie wieder einen einzigen persönlichen Moment ihres Lebens auf. Vielleicht war das auch der Zeitpunkt, an dem sie ihr innerstes Wesen vor Einblicken von außen zu verbergen begann. Schon als Kind spürte ich, dass meine Mutter mehr war, als sie mir zeigen wollte. Diese Verschlossenheit, die nicht zu ihrer temperamentvollen Art zu passen schien, verstörte mich als Heranwachsende, und ich begann, an ihrer Fassade zu kratzen, erst vorsichtig, später ziemlich vehement.
Anfang der fünfziger Jahre kehrten meine Eltern nach Deutschland zurück. 1953 kam meine Schwester Maria zur Welt. Für die Geburt reiste meine Mutter extra von München nach Salzburg, weil es dort einen Spezialisten für Spätgebärende gab. Nur fünfzehn Monate später kam ich trotz schlechten Omens hinterher.
Im Alter von dreieinhalb Jahren lief ich eines Tages von zu Hause weg. Meine Schwester war bei meinem Vater am Chiemsee, und ich hatte große Sehnsucht nach ihr. Ich wollte sie suchen gehen. Das war wie ein Sog, es zog mich zu ihr hin, ich wollte nicht länger ohne sie sein. Meine früheste Erinnerung. Mit meinem kleinen Strohpuppenwagen machte ich mich auf den Weg. Da ich draußen vor dem Haus auf der Wiese gespielt hatte, fiel meiner Mutter nicht gleich auf, dass ich verschwunden war. Ich war bestimmt eine Stunde unterwegs, als ich an eine große Straße kam. Es dämmerte bereits. Die Straße machte mir Angst. Autos fuhren vorbei. Wie sollte ich sie überqueren? Bisher hatte ich nur meine Schwester vor Augen gehabt. Mausi wurde sie von allen genannt, nur ich sagte Mauki, weil ich dass noch nicht sprechen konnte. Jetzt wurde mir so langsam klar, dass ich Mauki nicht finden würde. Ich wusste ja nicht einmal mehr den Weg nach Hause zu meiner Mutter. Ich hatte mich verlaufen. Tränen stiegen mir in die Augen. Mutterseelenallein stand ich an der großen Straße und weinte lauthals. Gleichzeitig dachte ich angestrengt nach, was ich tun könnte. Es war fast dunkel, ich fürchtete mich. Da entdeckte ich auf einmal rechts von mir Häuser. In den Fenstern brannte Licht, und in einem der Vorgärten stand eine Frau. Langsam ging ich in ihre Richtung, ängstlich, schüchtern und immer noch laut weinend. Als sie das kleine Mädchen mit dem Puppenwagen sah, eilte sie auf mich zu. Da ich ihr in meiner Verzweiflung nicht sagen konnte, wo ich wohnte, rief sie die Polizei. Kurz darauf kam ein Streifenwagen, ein VW Käfer mit zwei sehr freundlichen Polizisten. Den beiden konnte ich auf einmal ganz genau sagen, wo ich wohnte, Mallnitzerstraße 9, und da packten sie mich mitsamt meinem Puppenwagen ins Auto, um mich nach Hause zu fahren. Ich durfte nicht nur vorne sitzen, sondern auch auf dem Schoß eines der Polizisten. Ich war so aufgeregt! Festgehalten von zwei starken Männerarmen, sicher und behütet - ich war wie in einem Rausch und verliebte mich Hals über Kopf. Von diesem Moment an stand für mich fest, wenn ich groß bin, heirate ich einen Polizisten.
Als wir uns unserem Haus näherten, wurde mir doch etwas mulmig zumute. Ich rechnete damit, dass meine Mutter ganz schrecklich schimpfen würde. Sie erwartete uns schon vor der Haustür. Von Schimpfen konnte natürlich keine Rede sein. Sie war überglücklich, dass ich heil und gesund wieder bei ihr war, und zur Feier meiner Wiederkehr briet sie mir zwei Spiegeleier, mein absolutes Lieblingsessen. Mausi tauchte dann auch bald wieder auf, und von da an wurden wir nicht mehr getrennt. Als mein Vater uns ein Jahr später entführte, nahm er uns Gott sei Dank beide mit. Ich war gerade wieder mit meinen Puppen unterwegs, in den nahe gelegenen Parkanlagen spazieren. Von meiner Mutter, die nach langer Pause endlich wieder Arbeit hatte und mit Zarah Leander auf Tournee war, hatte ich mir hohe Schuhe ausgeliehen, und so stolzierte ich durch die Gegend. Immer wenn mir Leute begegneten, unterhielt ich mich extra laut mit meinen Puppen, die natürlich meine Kinder waren, und zwar in reinstem Phantasie-Englisch. Ich fühlte mich sehr erwachsen und sehr ausländisch. Irgendwann ging ich nach Hause, und da stand mein Vater mit meiner Schwester, seiner neuen Frau und unserer verdutzten Kinderfrau vor der Haustür. Letztere hatte gerade eine schallende Ohrfeige von ihm bekommen, wie die Nachbarin, die das Geschehen von ihrem Küchenfenster aus beobachtete, später meiner Mutter berichtete. Diese Entführung gehörte zu einer Reihe unschöner Dinge, die mein Vater meiner Mutter angedeihen ließ. Er hatte sich von ihr getrennt, aber er wollte
nicht schuldig geschieden werden, er wollte keinen Unterhalt zahlen. Gleichzeitig wollte er meine Mutter zwingen, zu Hause zu bleiben, deswegen nahm er uns mit. Wenn meine Mutter nicht aufhörte zu arbeiten, würde er uns in ein Heim stecken, hatte er ihr gedroht.
Ich hatte gerade noch Zeit, mich umzuziehen, ein kleiner Koffer war bereits gepackt, da saßen wir schon im Auto und fuhren zum Chiemsee. Mein Vater hatte ein Mercedes Sportcoupé, in dem es eigentlich gar keinen Platz für uns Kinder gab, wie in dem Schlager, den ich als Heranwachsende gern trällerte: »Ich hab ein kleines Sportcoupé, darin ist Platz für zwei, und machen wir mal Holiday, dann ist das Glück dabei ...« Die Rückbank bestand aus einer harten, engen Abstellfläche für Koffer oder vielleicht einen Hund. Dort wurden Maria und ich hineingequetscht. Beschwert habe ich mich wohl nicht, es ging alles so schnell, ich wusste ja gar nicht, wie mir geschah. Während der Fahrt ging mir durch den Kopf, dass es mit meinem Vater und Tante Christel vielleicht besser sein könnte als mit der dicken Tetta, so nannten wir heimlich unsere Kinderfrau, die ich nicht leiden konnte. Statt uns Fleisch und Gemüse zuzubereiten, wie meine Mutter mit ihr besprochen hatte, bekamen wir täglich Spinat oder eklige Tomatensuppe vorgesetzt, und ich musste immer so lange sitzen bleiben, bis ich aufgegessen hatte. So etwas kannte ich bis dahin nicht. In Bachham am Chiemsee lebten wir ein halbes Jahr, bis meine Mutter die Tournee mit Zarah Leander und dem Musical »Madame Scandaleuse« beendet hatte und uns endlich wieder abholen konnte. Später erzählte sie uns, dass sie sich große Sorgen um uns gemacht habe, ihren Vertrag aber nicht einfach habe auflösen können. Diese Arbeit sei wichtig für sie gewesen, um wieder Anschluss an den Beruf zu finden und von
unserem Vater finanziell unabhängiger zu werden. Für mich war das halbe Jahr eine dunkle Zeit. Mein Vater konnte Kinder nicht ertragen, fühlte sich durch uns nur gestört, und so wurden wir zum Spielen in ein unbenutztes Badezimmer verbannt. Es war kalt, gekachelt und steril, trotzdem baute ich mir auch dort meine geschlossene Puppenwelt, meine Idyllen auf. Nachts konnte ich oft vor Angst nicht schlafen. Durch die offene Tür hörte ich meinen Vater schnarchen, dachte aber, es sei ein Bär. Jede Nacht machte ich ins Bett und wurde dafür jeden Morgen von meinem Vater gezüchtigt. Vor versammelter Familie. Es gab aber auch einen guten Engel in dieser Zeit, die Frau meines Vaters, die wir Tante Christel nannten. Sie hatte selbst einen Sohn aus erster Ehe, der damals schon vierzehn war und den mein Vater auch nicht bei sich duldete. Er lebte in der Nähe in einem Internat. Wann immer sie konnte, beschützte Tante Christel uns, zog uns schöne Kleider an, war leise und zart. Sie war weißblond. Meine Mutter hatte schwarzes Haar.
Warum mein Vater das alles inszeniert hat, verstehe ich bis heute nicht, aber ich nehme ihm schon lange nichts mehr übel. Irgendwann habe ich erkannt, dass es für mich eigentlich ein Glück war, dass ich ohne ihn aufwachsen durfte. Er war kein Familienmensch, und in seiner Nähe hätte ich mich niemals entfalten können. Manchmal treffe ich Künstler, die mit ihm gearbeitet haben und von ihm schwärmen, was für ein toller Mensch, was für ein großartiger Musiker er gewesen sei. Mein Vater hat sich später bei mir dafür entschuldigt, dass er mich geschlagen hat. Er habe es nicht besser gewusst, er sei als Kind auch geschlagen worden. Ich war meist anderer Ansicht als er, aber wir konnten uns immerhin unterhalten. Wenn er lachte, sah er lustig aus, die große Nase war ganz schief. Wenn ich heute an ihn denke, mag ich ihn. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren Maria und ich wieder zu Hause in München-Laim bei unserer Mutter. Bei ihr fanden wir Geborgenheit, auch wenn sie selbst voller Verletzungen war und über die Trennung von unserem Vater nur sehr schwer hinwegkam. Sie unterstützte uns immer, so gut sie konnte, und ließ uns viele Freiheiten. Meine Schwester und ich durften bei unseren Freundinnen übernachten und im Sommer draußen spielen, bis es dunkel wurde. Unsere Mutter spielte auch mit uns, im Sommer Federball und im Winter »Mensch ärgere dich nicht« oder »Malefi z«. Besonders fürsorglich im heutigen Sinne war sie allerdings nicht, so hat sie uns zum Beispiel abends nichts vorgelesen und morgens kein Frühstück gemacht. Da sie selbst so früh noch keinen Hunger hatte, ging sie offensichtlich davon aus, dass wir auch keinen hatten. Als wir später in der Schule mitbekamen, dass die anderen Kinder frühstückten, wollten wir das auch, und dann machte sie uns, noch halb im Schlaf und etwas mürrisch, ein paar Knäckebrote, die wir im Stehen oder Gehen aßen. Wenn wir mittags nach Hause kamen, fragte sie nicht, wie war's, was habt ihr in der Schule gemacht, sondern erzählte von sich, was sie im Fernsehen gesehen, wen sie getroffen und wie viele Orangen sie eingekauft hatte. Wirklich zugehört hat sie fast nie.
© Ullstein HC (Verlag)
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Autoren-Porträt von Eva Mattes
Eva Mattes kam 1954 am Tergernsee zur Welt. Schon als Schülerin wandte sie sich der Medienwelt zu, allerdings nicht als Schauspielerin. Sie beschäftigte sich mit Sprech- und Atemtechnik und trat zunächst als Synchronsprecherin für Kinderrollen in Erscheinung. So lieh sie dem "Lassie"-Protagonisten Timy ihre Stimme aber auch "Pippi Langstrumpf" und "David Copperfield". Neben Theatererfahrungen am Schauspielhaus Hamburg arbeitete sie in den 70er Jahren in zahlreichen Filmprojekten mit, u.a. unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder, der sie entdeckte. Nach seinem Tod verkörperte sie ihn in dem Film "Ein Mann wie Eva" (1983). Eva Mattes war zudem unter internationalen Größen wie Margarethe von Trotta, Percy Adlon und Werner Herzog im Kino zu sehen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1978 in Cannes die "Goldene Palme" als beste Nebendarstellerin in dem Film "Woyzeck". Unter Peter Zadek spielte sie in den 80er Jahren erfolgreich Theater. Eva Mattes ist eine der kraftvollsten deutschen Schauspielerinnen auf Leinwand und Bühne mit einer sensiblen und gleichzeitig energischen Präsenz. Als "Starke Stimme" hat sie von Christine Brückner "Jauche und Levkojen" sowie von Terézia Mora "Alle Tage" gelesen."Sams der Film". Für ihre Rolle der Frau Rotkohl dem erfolgreichen Kinderfilm erhält sie 2001 den Deutschen Filmpreis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Mattes
- 2011, 407 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550088116
- ISBN-13: 9783550088117
Rezension zu „»Wir können nicht alle wie Berta sein« “
"Die schönste Autobiografie des Herbstes" ARTE/Metropoli, 19.11.11 "Berta ist famos. Aber so können wir nun mal nicht alle sein ... Eva Mattes kann." BRIGITTE, Elke Heidenreich, 07.09.11 "Es ist ein schnörkelloses, fast poetisch geschriebenes Buch, das nicht nur Einblick gibt in das wechselvolle Leben einer starken Frau, sondern auch viel über die deutsche Film- und Theaterszene erzählt." dpa, Nada Weigelt, 15.09.11 "Gelungen ist ihr eines der eindruckvollsten autobiografischen Bücher dieses Herbstes." büchermenschen, 2011/04 "Sie schreibt engagiert und nachdenklich, temperamentvoll und verantwortungsbewusst, mit Stil und einem wohltuend unaufdringlichen Ego." NÜRNBERGER NACHRICHTEN, Harald Loch, 29.09.11 "Was für ein Leben. Was für Erinnerungen." BERLINER MORGENPOST, Peter Zander, 14.10.2011 "Aufregende, unterhaltsame, nachdenkliche und jede Menge humorvolle Erinnerungen." FAZ, 23.11.11
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