Wohin der Fluss uns trägt
Roman. Deutsche Erstausgabe. RTL Buchtipp
Abbie und Chris sind ein ungleiches Paar, aber immer noch so verliebt und glücklich wie am ersten Tag. Doch nach Jahren der unbeschwerter Ehe trifft beide ein harter Schicksalsschlag: Abbie hat Krebs und die Ärzte haben keine Hoffnung auf...
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Produktinformationen zu „Wohin der Fluss uns trägt “
Abbie und Chris sind ein ungleiches Paar, aber immer noch so verliebt und glücklich wie am ersten Tag. Doch nach Jahren der unbeschwerter Ehe trifft beide ein harter Schicksalsschlag: Abbie hat Krebs und die Ärzte haben keine Hoffnung auf Heilung. Doch Abbie hat noch eine Liste abzuarbeiten: zehn Dinge, die sie im Leben unbedingt noch machen möchte. Ein Punkt auf dieser Liste ist: Mit dem Kanu den ganzen St. Marys River hinabzufahren. Kurzentschlossen packen sie die Rucksäcke und rudern los.
Und wisssen: Am Ende des Flusses wartet die Ewigkeit.
Lese-Probe zu „Wohin der Fluss uns trägt “
Wohin der Fluss uns trägt von Charles Martin1
31. Mai
Ich stieg die letzte Stufe zu meinem Atelier hinauf, roch den kalten offenen Kamin und fragte mich, wie lange ein verirrter Funken wohl brauchen würde, alles hier drin in Flammen aufgehen zu lassen. Nur ein paar Minuten, schätze ich mal. Mit verschränkten Armen lehnte ich mich an die Wand und musterte all die Augen, die mich anstarrten. Abbie hatte sich so bemüht, mir Glauben an mich selbst einzuflößen. Hatte mich sogar um die halbe Welt mitgenommen. Hatte mich mit Rembrandt vertraut gemacht, mir auf die Schulter getippt und gesagt: »Das kannst du auch.« Also hatte ich gemalt. Vor allem Gesichter. Meine Mutter hatte die Saat gelegt, und Abbie hatte die Pflanze später gehegt, gepflegt und zurechtgestutzt. Aber in Wirklichkeit würde mir ein gutes Feuerchen und eine zu spät anrückende Feuerwehr sicher mehr Geld von der Versicherung einbringen, als ich mit verkauften Bildern verdiente. An den vier Wänden um mich herum stapelten sich über dreihundert verstaubte Ölgemälde auf Leinwand – die Arbeit von zehn Jahren. Gesichter, eingefangen in Gefühlsmomenten, die das Herz erkannte, aber nur wenige in Worte fassen konnten. Früher war mir das so einfach von der Hand gegangen. So flüssig. Ich erinnerte mich an Zeiten, in denen ich es kaum erwarten konnte, hierherzukommen, in denen ich mich gar nicht hatte bremsen können und an vier Bildern gleichzeitig gemalt hatte. Durchmalte Nächte, in denen ich den Vesuv in mir entdeckt hatte.
Die vergangenen zehn Jahre meines Lebens starrten mich an. Vielversprechend hatten die Bilder in Galerien in Charleston gehangen und waren dann eins nach dem anderen wieder zurückgekommen. Selbsternannte Kunstkritiker, die sich in Lokalzeitungen unfehlbar gebärdeten, hatten
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bemängelt, meinem Werk fehle es an Originalität, an Herz und, mein Lieblingsverriss, es sei langweilig und ohne jedes Talent und Kunstverständnis.
Nicht ohne Grund heißen sie »Kritiker«.
Auf der Staffelei vor mir stand eine weiße Leinwand. Verstaubt, von der Sonne ausgebleicht und rissig. Leer. Wie ich.
Ich stieg aus dem Fenster, ging am Dach entlang und die Eisentreppe zum »Krähennest« hinauf. Ich schnupperte die salzige Luft und schaute übers Wasser. Irgendwo schrie eine Möwe. Die Luft war drückend schwül und hüllte die Stadt in Stille. Trotz des klaren Himmels roch es nach Regen. Der Vollmond stand hoch und warf Schatten aufs Wasser, das ein Stück entfernt an die Ufermauer plätscherte. Südöstlich funkelten die fernen Lichter von Fort Sumpter. Vor mir flossen Ashley und Cooper zusammen. Die meisten Charlestoner behaupten, an dieser Stelle entspringe aus den beiden Flüssen der Atlantik. Nördlich davon lag Sullivan’s Island mit dem Strand, wo wir früher oft schwimmen gegangen waren. Ich schloss die Augen und lauschte dem Widerhall unseres Lachens.
Das war schon eine Weile her.
Hinter mir lag die »heilige Stadt«, deren Spitztürme um die Wette in den Himmel ragten. Unter mir zog sich mein Schatten auf dem Dach in die Länge. Er zerrte an meinen Hosenbeinen, lockte mich und zog mich hinunter. Das Eisengitter, das mich zurückhielt, hatte die Lokallegende Philip Simmons vor gut fünfzig Jahren angefertigt. Er war mittlerweile in seinen Neunzigern, und seine Arbeiten waren in Charleston inzwischen groß in Mode und sehr gefragt. Das »Krähennest« hatte zum Haus gehört und den Sturm überdauert. In den dreizehn Jahren, die wir hier wohnten, war dieser acht Quadratmeter große Ausguck mir zur nächtlichen Plattform geworden, von der aus ich die Welt betrachtete. Meine einzigartige, einsame Zuflucht.
In meiner Tasche vibrierte mein Handy. Auf dem Display erkannte ich die Vorwahl von Texas. »Hallo?«
»Chris Michaels?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Anita Becker, die Assistentin von Dr. Paul Virth.«
»Ja?« Mein Atem ging rascher. Von ihren nächsten Worten hing so viel ab.
Sie stockte. »Wir wollten Ihnen Bescheid geben ...« Ich wusste es, noch bevor sie es aussprach, »... dass der Kontrollausschuss getagt und die Parameter der Studie festgelegt hat. Vorerst nehmen wir nur Primärfälle, keine Sekundärfälle.« Der Wind drehte und ließ den Wetterhahn quietschend umschwenken. Er zeigte nun nach Süden. »Wenn die Studie so verläuft, wie wir hoffen, haben wir vor, sie im nächsten Jahr um Sekundärfälle zu ...« Entweder brach sie ab, oder ich hörte nicht mehr zu. »Wir schicken Abbie ein Empfehlungsschreiben für eine Studie von Doktor Plist und Mackles am Sloan Kettering.«
»Danke ... vielen Dank.« Ich klappte das Handy zu. Das Problem bei einem »Verzweiflungspass« im American Football ist, dass er so lange in der Luft hängt und die meisten in der Endzone fallen gelassen werden. Deshalb heißt er in Amerika auch Ave-Maria-Pass.
Weil er von Anfang an hoffnungslos ist.
Atemlos kletterte ich hinunter und stieg durch das Fenster. Das Handy meldete sich erneut, aber ich ließ es klingeln. Eine Minute verging, bis es wieder klingelte. Ich schaute aufs Display: »Dr. Ruddy«.
»He, Ruddy.«
»Chris.« Seine Stimme war ruhig. Gedämpft. Ich sah ihn vor mir, wie er sich auf seinen Schreibtisch stützte und den Kopf in die Hand legte. Sein Stuhl knarrte. »Die Untersuchungsergebnisse sind da. Wenn Sie beide den Lautsprecher am Telefon einschalten, könnten wir sie vielleicht besprechen.«
Sein Tonfall sagte mir schon genug. »Ruddy, sie schläft. Endlich. Gestern auch schon fast den ganzen Tag. Vielleicht sagen Sie es einfach mir.« Er las zwischen den Zeilen.
»Einverstanden.« Pause. »Ähm, sie sind, ähm ...« Es schnürte ihm die Kehle zu. Ruddy war von Anfang an unser behandelnder Arzt gewesen. »Chris ... es tut mir leid.«
Wir lauschten gegenseitig auf unser gespanntes Lauschen. »Wie lange?«
»Eine Woche. Vielleicht zwei. Oder länger, wenn Sie sie dazu bewegen können, liegen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten.«
Ich täuschte ein Lachen vor. »Sie wissen genau, dass das aussichtslos ist.«
Ein tiefes Seufzen. »Ja.«
Ich steckte das Handy wieder ein und kratzte meinen Zweitagebart. Meine Augen blickten starr aufs Wasser, aber im Geiste war ich ein paar hundert Meilen weit weg.
Ich schlich die Treppe hinunter und ließ die Finger über die Zierleiste an der Wand gleiten. Die Stufen der schmalen Stiege waren aus dreißig Zentimeter tiefen Kiefernbrettern, die fast zweihundert Jahre alt waren und laut knarrten – sie erzählten vom Alter und von betrunkenen Piraten, die einst auf ihnen nach unten getorkelt waren.
Das Geräusch ließ sie die Augen aufschlagen, aber ich bezweifelte, dass sie geschlafen hatte. Kämpfer schlafen nicht zwischen den Runden. Durch die offenen Fenster drang eine schwache Zugluft in unser Zimmer und machte ihr Gänsehaut an den Waden.
Unten waren Schritte zu hören, also schloss ich die Schlafzimmertür. Ich setzte mich neben sie, zog die Fleecedecke über ihre Beine und lehnte mich an das Betthaupt. Sie flüsterte: »Wie lange habe ich geschlafen?«
Ich zuckte die Achseln.
»Seit gestern?«
»Fast.« Den Schmerz bekamen wir zwar mit Medikamenten in den Griff, nicht aber ihre betäubenden Nebenwirkungen. Stundenlang lag sie still und reglos da und focht einen inneren Kampf aus, dem ich nur hilflos zuschauen konnte. Aus Gründen, die keiner von uns erklären konnte, erlebte sie dann wieder Momente – manchmal sogar Tage – völliger Klarheit, in denen alles wie weggefegt war, der Schmerz nachließ und sie so normal war wie eh und je. Ohne Vorwarnung kehrte er dann zurück, und ihr einsamer Kampf begann von vorn. So lernt man, zwischen Müdigkeit und Erschöpfung zu unterscheiden. Gegen Müdigkeit hilft Schlaf, gegen Erschöpfung richtet er nichts aus.
Sie schnupperte und roch die letzten Reste seines Aftershaves, die noch in der Luft hingen. Ich schob das Fenster weiter auf. Sie hob eine Augenbraue. »Er war hier?«
Ich starrte aufs Wasser. »Ja.«
»Wie war’s?«
»Wie üblich.«
»So gut? Worum geht es dieses Mal?«
»Er ...«, ich deutete mit den Fingern Gänsefüßchen an, »verlegt dich.«
Sie richtete sich auf. »Wohin?«
Gänsefüßchen: »Nach Hause.«
Sie schüttelte den Kopf und blies beim Ausatmen die Wangen auf wie ein Kugelfisch. »Für ihn ist es, als ob er das mit meiner Mutter noch mal erleben würde.« Ich zuckte die Achseln. »Wie seid ihr verblieben?«
»Ich gar nicht. Er.«
»Und?«
»Er schickt morgen früh ein paar Leute her, um dich >abzuholen<.«
»Das klingt, als ob er den Müll wegschaffen wollte.« Sie deutete auf das Telefon. »Gib her. Mir ist es völlig egal, dass er fast schon als nächster Präsident gilt.«
»Schatz, ich lasse nicht zu, dass er dich wegholt.« Ich schnippte ein Stück abgeblätterte Farbe von der Fensterbank.
Sie horchte auf die Schritte im Stockwerk unter uns. »Schichtwechsel?«
Ich nickte und schaute einer Barke zu, die langsam den Ashley hinauftuckerte.
»Sag bloß nicht, dass er auch mit ihnen geredet hat.«
»O doch. Hat alle wirklich sehr beruhigt. Im Grunde hat er ihnen unter dem Deckmantel eines aufmunternden >weiter so!< ordentlich die Leviten gelesen. Ich finde toll, wie er dir das, was er will, unter dem Vorwand verkauft, es sei zu deinem Besten.« Ich schüttelte den Kopf. »Manipulation mit Taschenspielertricks.«
© Ullstein Verlag
Übersetzung: Ulrike Bischoff
Nicht ohne Grund heißen sie »Kritiker«.
Auf der Staffelei vor mir stand eine weiße Leinwand. Verstaubt, von der Sonne ausgebleicht und rissig. Leer. Wie ich.
Ich stieg aus dem Fenster, ging am Dach entlang und die Eisentreppe zum »Krähennest« hinauf. Ich schnupperte die salzige Luft und schaute übers Wasser. Irgendwo schrie eine Möwe. Die Luft war drückend schwül und hüllte die Stadt in Stille. Trotz des klaren Himmels roch es nach Regen. Der Vollmond stand hoch und warf Schatten aufs Wasser, das ein Stück entfernt an die Ufermauer plätscherte. Südöstlich funkelten die fernen Lichter von Fort Sumpter. Vor mir flossen Ashley und Cooper zusammen. Die meisten Charlestoner behaupten, an dieser Stelle entspringe aus den beiden Flüssen der Atlantik. Nördlich davon lag Sullivan’s Island mit dem Strand, wo wir früher oft schwimmen gegangen waren. Ich schloss die Augen und lauschte dem Widerhall unseres Lachens.
Das war schon eine Weile her.
Hinter mir lag die »heilige Stadt«, deren Spitztürme um die Wette in den Himmel ragten. Unter mir zog sich mein Schatten auf dem Dach in die Länge. Er zerrte an meinen Hosenbeinen, lockte mich und zog mich hinunter. Das Eisengitter, das mich zurückhielt, hatte die Lokallegende Philip Simmons vor gut fünfzig Jahren angefertigt. Er war mittlerweile in seinen Neunzigern, und seine Arbeiten waren in Charleston inzwischen groß in Mode und sehr gefragt. Das »Krähennest« hatte zum Haus gehört und den Sturm überdauert. In den dreizehn Jahren, die wir hier wohnten, war dieser acht Quadratmeter große Ausguck mir zur nächtlichen Plattform geworden, von der aus ich die Welt betrachtete. Meine einzigartige, einsame Zuflucht.
In meiner Tasche vibrierte mein Handy. Auf dem Display erkannte ich die Vorwahl von Texas. »Hallo?«
»Chris Michaels?«
»Am Apparat.«
»Hier ist Anita Becker, die Assistentin von Dr. Paul Virth.«
»Ja?« Mein Atem ging rascher. Von ihren nächsten Worten hing so viel ab.
Sie stockte. »Wir wollten Ihnen Bescheid geben ...« Ich wusste es, noch bevor sie es aussprach, »... dass der Kontrollausschuss getagt und die Parameter der Studie festgelegt hat. Vorerst nehmen wir nur Primärfälle, keine Sekundärfälle.« Der Wind drehte und ließ den Wetterhahn quietschend umschwenken. Er zeigte nun nach Süden. »Wenn die Studie so verläuft, wie wir hoffen, haben wir vor, sie im nächsten Jahr um Sekundärfälle zu ...« Entweder brach sie ab, oder ich hörte nicht mehr zu. »Wir schicken Abbie ein Empfehlungsschreiben für eine Studie von Doktor Plist und Mackles am Sloan Kettering.«
»Danke ... vielen Dank.« Ich klappte das Handy zu. Das Problem bei einem »Verzweiflungspass« im American Football ist, dass er so lange in der Luft hängt und die meisten in der Endzone fallen gelassen werden. Deshalb heißt er in Amerika auch Ave-Maria-Pass.
Weil er von Anfang an hoffnungslos ist.
Atemlos kletterte ich hinunter und stieg durch das Fenster. Das Handy meldete sich erneut, aber ich ließ es klingeln. Eine Minute verging, bis es wieder klingelte. Ich schaute aufs Display: »Dr. Ruddy«.
»He, Ruddy.«
»Chris.« Seine Stimme war ruhig. Gedämpft. Ich sah ihn vor mir, wie er sich auf seinen Schreibtisch stützte und den Kopf in die Hand legte. Sein Stuhl knarrte. »Die Untersuchungsergebnisse sind da. Wenn Sie beide den Lautsprecher am Telefon einschalten, könnten wir sie vielleicht besprechen.«
Sein Tonfall sagte mir schon genug. »Ruddy, sie schläft. Endlich. Gestern auch schon fast den ganzen Tag. Vielleicht sagen Sie es einfach mir.« Er las zwischen den Zeilen.
»Einverstanden.« Pause. »Ähm, sie sind, ähm ...« Es schnürte ihm die Kehle zu. Ruddy war von Anfang an unser behandelnder Arzt gewesen. »Chris ... es tut mir leid.«
Wir lauschten gegenseitig auf unser gespanntes Lauschen. »Wie lange?«
»Eine Woche. Vielleicht zwei. Oder länger, wenn Sie sie dazu bewegen können, liegen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten.«
Ich täuschte ein Lachen vor. »Sie wissen genau, dass das aussichtslos ist.«
Ein tiefes Seufzen. »Ja.«
Ich steckte das Handy wieder ein und kratzte meinen Zweitagebart. Meine Augen blickten starr aufs Wasser, aber im Geiste war ich ein paar hundert Meilen weit weg.
Ich schlich die Treppe hinunter und ließ die Finger über die Zierleiste an der Wand gleiten. Die Stufen der schmalen Stiege waren aus dreißig Zentimeter tiefen Kiefernbrettern, die fast zweihundert Jahre alt waren und laut knarrten – sie erzählten vom Alter und von betrunkenen Piraten, die einst auf ihnen nach unten getorkelt waren.
Das Geräusch ließ sie die Augen aufschlagen, aber ich bezweifelte, dass sie geschlafen hatte. Kämpfer schlafen nicht zwischen den Runden. Durch die offenen Fenster drang eine schwache Zugluft in unser Zimmer und machte ihr Gänsehaut an den Waden.
Unten waren Schritte zu hören, also schloss ich die Schlafzimmertür. Ich setzte mich neben sie, zog die Fleecedecke über ihre Beine und lehnte mich an das Betthaupt. Sie flüsterte: »Wie lange habe ich geschlafen?«
Ich zuckte die Achseln.
»Seit gestern?«
»Fast.« Den Schmerz bekamen wir zwar mit Medikamenten in den Griff, nicht aber ihre betäubenden Nebenwirkungen. Stundenlang lag sie still und reglos da und focht einen inneren Kampf aus, dem ich nur hilflos zuschauen konnte. Aus Gründen, die keiner von uns erklären konnte, erlebte sie dann wieder Momente – manchmal sogar Tage – völliger Klarheit, in denen alles wie weggefegt war, der Schmerz nachließ und sie so normal war wie eh und je. Ohne Vorwarnung kehrte er dann zurück, und ihr einsamer Kampf begann von vorn. So lernt man, zwischen Müdigkeit und Erschöpfung zu unterscheiden. Gegen Müdigkeit hilft Schlaf, gegen Erschöpfung richtet er nichts aus.
Sie schnupperte und roch die letzten Reste seines Aftershaves, die noch in der Luft hingen. Ich schob das Fenster weiter auf. Sie hob eine Augenbraue. »Er war hier?«
Ich starrte aufs Wasser. »Ja.«
»Wie war’s?«
»Wie üblich.«
»So gut? Worum geht es dieses Mal?«
»Er ...«, ich deutete mit den Fingern Gänsefüßchen an, »verlegt dich.«
Sie richtete sich auf. »Wohin?«
Gänsefüßchen: »Nach Hause.«
Sie schüttelte den Kopf und blies beim Ausatmen die Wangen auf wie ein Kugelfisch. »Für ihn ist es, als ob er das mit meiner Mutter noch mal erleben würde.« Ich zuckte die Achseln. »Wie seid ihr verblieben?«
»Ich gar nicht. Er.«
»Und?«
»Er schickt morgen früh ein paar Leute her, um dich >abzuholen<.«
»Das klingt, als ob er den Müll wegschaffen wollte.« Sie deutete auf das Telefon. »Gib her. Mir ist es völlig egal, dass er fast schon als nächster Präsident gilt.«
»Schatz, ich lasse nicht zu, dass er dich wegholt.« Ich schnippte ein Stück abgeblätterte Farbe von der Fensterbank.
Sie horchte auf die Schritte im Stockwerk unter uns. »Schichtwechsel?«
Ich nickte und schaute einer Barke zu, die langsam den Ashley hinauftuckerte.
»Sag bloß nicht, dass er auch mit ihnen geredet hat.«
»O doch. Hat alle wirklich sehr beruhigt. Im Grunde hat er ihnen unter dem Deckmantel eines aufmunternden >weiter so!< ordentlich die Leviten gelesen. Ich finde toll, wie er dir das, was er will, unter dem Vorwand verkauft, es sei zu deinem Besten.« Ich schüttelte den Kopf. »Manipulation mit Taschenspielertricks.«
© Ullstein Verlag
Übersetzung: Ulrike Bischoff
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Bibliographische Angaben
- Autor: Charles Martin
- 2009, 448 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Engl. v. Ulrike Bischoff
- Übersetzer: Ulrike Bischoff
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548269966
- ISBN-13: 9783548269962
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