Zeig mir die Sterne
Zeig mir die Sterne von Linda Gillard
Kapitel 1
Marianne
Dies ist keine Geistergeschichte. Nicht wirklich. Aber es war Weihnachten, und mir war, als hätte ich einen Geist gesehen. Oder vielmehr einen gehört. Nur, dass man Geister nicht hört, oder? Klirrende Ketten oder unheimliches Stöhnen vielleicht, aber im Großen und Ganzen sieht man Geister. Zumindest soweit ich weiß – eine Erfahrung, die mir bisher erspart geblieben ist.
Doch ich glaubte, einen gehört zu haben.
Vorsichtig stieg sie aus dem Taxi, langte noch einmal ins Innere des Wagens, griff nach einer Aktenmappe und einer Einkaufstüte. Behutsam stellte sie beides auf den Bordstein und kramte dann in der geräumigen Handtasche nach ihrem Geldbeutel.
Während das Taxi davonfuhr, drehte sie sich in Richtung des grauen Reihenhauses auf der anderen Straßenseite, das mit seinem für Edinburgh typischen Georgianischen Stil diese gewisse vornehme Anonymität ausstrahlte. Sie trug einen langen Wollmantel, dazu einen modischen Samthut. Mit der Stiefelspitze tastete sie sich langsam ein Stück nach vorn und trat dann sacht auf einen Gullydeckel
Sie war noch nicht einmal vier Schritte gegangen, da hörte sie das Zischen von bremsenden Rädern und das Geräusch eines rutschenden Fahrrads auf dem Gehsteig, gefolgt vom zornigen Ausruf eines jungen Mannes.
»Herrgott! Haben Sie Tomaten auf den Augen? Sind Sie blind oder was? «
Den Schrecken noch in den Gliedern, drehte die Frau sich zu dem Radfahrer um, rückte den verrutschten Hut zurecht, die Hände zittrig, die Stimme jedoch klar und fest. »Ja, in der Tat, das bin ich. «
Marianne
Ganz recht. Ich bin blind.
Als Sehender ist man zunächst vor den Kopf gestoßen und braucht eine Weile, bis man das begriffen und all die gängigen Klischees abgerufen hat, das weiß ich schon.
Aber, so höre ich ihn fragen, sollte ich da nicht besser einen Labrador als Blindenhund bei mir haben? Oder mit einem weißen Stock wedeln? Oder zumindest eine riesige dunkle Brille auf der Nase tragen, so wie Roy Orbison und Ray Charles?
Ich weiß, ich weiß – ich bin selbst schuld, wenn ich so völlig normal aussehend durch die Gegend laufe (Nun ja, dass ich normal aussehe, hat man mir gesagt. Woher sollte ich das sonst wissen?).
»Ich bin blind, und Sie dürfen nicht mit dem Rad auf dem Gehsteig fahren. Und falls Sie eine Klingel haben, wäre mein Vorschlag, diese in Zukunft auch zu benutzen.«
Aber da war der Radfahrer schon längst wieder weg. Sie bückte sich, um die Einkaufstasche aufzuheben, die sie vor Schreck hatte fallen lassen, und fühlte Glasscherben, hörte, wie auslaufende Flüssigkeit gleichmäßig auf den Gehsteig tropfte. Etwas beklommen stieg sie die Stufen zur Haustür hinauf, während sie erneut in ihrer Handtasche wühlte, diesmal nach dem Haustürschlüssel. Burgundersoße ohne Burgunder – eine Katastrophe. Wie sollte das gehen? Rinderbraten auf Burgunder Art ohne die entsprechende Soße? Zudem dürften die Meringennester jetzt ebenso ruiniert sein wie ihre Nerven. Sie kramte weiter in ihrer Handtasche, stieß an das kalte Metall ihres Handys und überlegte kurz, ob sie ihre Schwester anrufen und ihr auf die Schnelle noch eine Einkaufsliste durchgeben sollte.
Da bekam sie den Haustürschlüssel zu fassen, doch er rutschte ihr sogleich aus den kältestarren Fingern. Sie keuchte, spitzte die Ohren, um die Richtung des leisen, klingenden Tons zu orten, den er beim Auftreffen auf den Boden erzeugt hatte. Sie beugte sich hinunter, strich mit bloßen Händen über die steinernen Stufen, verfluchte den Radfahrer, Weihnachten und vor allem ihre Blindheit. Als plötzlich etwas Feuchtes und Federleichtes auf ihrem Handrücken landete.
Schnee ...
Sie spürte ein Kribbeln in den Augen, als ihr die Tränen kamen, und blinzelte rasch, ließ ihre Hand noch einmal über die Stufen gleiten, tauchte sie dann in das Blattwerk einer Topfpflanze, rüttelte daran und lauschte nach dem Klingeln eines fallenden Schlüssels.
Stille.
Was nun? Sich auf die Stufen zu hocken und in Tränen auszubrechen würde sie auch nicht weiterbringen. Da vernahm sie plötzlich Schritte, die näher kamen und dann abrupt vor ihr stehen blieben – männliche Schritte. Sie spürte ein altbekanntes Gefühl der Angst in sich aufwallen.
»Kann ich Ihnen helfen?« Eine Männerstimme – kein ein- heimischer Dialekt, und auch die Stimme kam ihr nicht bekannt vor. Oder doch?
»Ich habe meinen Haustürschlüssel fallen lassen und kann ihn nicht finden. Ich bin blind.«
Sie hörte, wie in seinen Hosentaschen Kleingeld klimperte, während er eilig die Stufen hinaufstieg. »Hier ... er ist die Kellertreppe hinuntergefallen.« Er nahm ihre durchgefrorene Hand und legte ihr den Schlüssel in den Handteller. » Che gelida manina ... «, murmelte er.
»Ja, meine Handschuhe habe ich auch verloren. Müssen mir wohl irgendwo heruntergefallen sein.«
»Nein, sie baumeln aus Ihrer Manteltasche.« »Tatsächlich?« Sie tastete nach den Handschuhen. »Danke. Und danke, dass Sie meinen Schlüssel gefunden haben.« »Keine Ursache. Und noch etwas ... Aus Ihrer Einkaufstüte tropft Blut.«
»Oh, das ist Rotwein. Den habe ich auch fallen lassen. Nicht mein Tag heute.« Sie öffnete ihre Handtasche und schob die Handschuhe hinein. »Mögen Sie Opern? Oder plappern Sie öfter mal einfach so auf Italienisch drauflos?«
»Ich stehe auf Puccini.«
Sie überlegte. »Musikalisch sehr ansprechend, aber inhaltlich nicht vertretbar, wenn Sie mich fragen. Frauen als passive Opfer glanzvoller Männer. Ziemlich daneben für das einundzwanzigste Jahrhundert.«
»So habe ich das noch gar nicht betrachtet.«
»Natürlich nicht. Sie sind ja auch ein Mann.«
»Ein chromosomenbedingter Missstand. Tut mir leid.«
Sie lachte. »Nein, mir tut es leid. Verzeihen Sie, dass ich so unhöflich und barsch war – ich war ziemlich durch den Wind, weil ich den Schlüssel verloren hatte. Dabei war ich nur auf mich selbst sauer und habe das an Ihnen ausgelassen. Nicht gerade die feine Art. Normalerweise trage ich den Schlüssel an einer Kette um mein Handgelenk, damit er nicht herunterfallen kann, aber heute war ich in Eile und habe mir die Mühe nicht gemacht ... Sind Sie von der Insel Skye?«
Er zögerte kurz mit der Antwort. »Äh, ich bin dort auf- gewachsen. Geboren bin ich auf Harris. Aber meine Eltern sehnten sich nach Großstadtleben, und so zogen wir nach Portree auf Skye.« Sie lachte. »Sagen Sie bloß, Sie kennen Portree?«
»Nur vom Hörensagen. Ich kannte mal jemanden von dort ... einen Sgiathanaich, einen waschechten Insulaner.«
»Wir Sgiathanaich sind sehr heimatverbunden. Wir kehren immer gerne zurück.«
»Sie auch?«
»Ja, wann immer ich kann. Es ist fantastisch dort. Wenn auch ein bisschen leblos.«
»Dann muss die Enttäuschung für Ihre Eltern ja groß gewesen sein – von wegen Großstadtleben meine ich.« »Eigentlich nicht.« Sie spürte, wie er lächelte. »Nachdem sie den Kulturschock einmal verdaut hatten, lebten sie sehr glücklich dort und entschliefen friedlich zu Hause in ihrem Bett.« »Nun, es gibt weit schlimmere Arten zu sterben.«
»Ja. Viel schlimmere.«
»Danke für Ihre Hilfe.«
»Gern geschehen. Kommen Sie mit den Glasscherben alleine zurecht?«
»Ja, meine Schwester wird sich darum kümmern und mich erst einmal tüchtig schelten, weil ich mal wieder so verdammt unabhängig sein wollte. Ich lasse die Tasche einfach solange auf den Stufen stehen. Die Lebensmittel sind sowieso dahin.«
»Sind Sie sicher, dass ich nichts mehr für Sie tun kann?«
»Danke, ich komme zurecht.«
Sie hörte seine Tritte auf den Stufen. Er ging hinunter, entfernte sich. »Vielleicht treffe ich Sie ja mal in der Oper? Ich nehme an, Turandot entspricht ihrem strengen, feministisch-kritischen Geschmack.« Seine Stimme klang nun weiter weg.
»Ja, die Frau gefällt mir. Macht mit den Männern kurzen Prozess. Wer nicht besteht – Kopf ab! «
»Aber der Prinz verblüfft sie schließlich. Mit seinem Namen.«
»Ja. Am Ende triumphiert bei Puccini eben doch der Weiberhass.«
»Kommen Sie, Sie sind ganz durchgefroren. Ab ins Haus mit Ihnen. Und putzen Sie sich die Schuhe ab – Sie stehen in einer Lache Rotwein.«
»Aus der fast eine Lache Tränen geworden wäre.« »Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder – zufällig.« »Na ja, sehen tun Sie allenfalls mich, ich Sie bestimmt nicht.«
© Heyne Verlag
Übersetzung: Regina Schneider
- Autor: Linda Gillard
- 2009, 384 Seiten, Maße: 11,7 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Regina Schneider
- Übersetzer: Regina Schneider
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453406249
- ISBN-13: 9783453406247
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