Zerbrechlich
Roman
Charlotte liebt ihr Kind Willow über alles. Doch Willow hat die Glasknochenkrankheit. Nun verklagt Charlotte ihre Frauenärztin, die die Krankheit hätte erkennen können. Doch dafür muss sie behaupten, sie hätte ihr Kind lieber nie bekommen.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zerbrechlich “
Charlotte liebt ihr Kind Willow über alles. Doch Willow hat die Glasknochenkrankheit. Nun verklagt Charlotte ihre Frauenärztin, die die Krankheit hätte erkennen können. Doch dafür muss sie behaupten, sie hätte ihr Kind lieber nie bekommen.
Klappentext zu „Zerbrechlich “
Willow, ihr lang ersehntes Kind, ist perfekt. Das ist das Erste, was Charlotte O'Keefe hört, als sie ihr Baby auf dem Ultraschallbild sieht. Ja, es ist perfekt. Daran ändert auch Willows Krankheit nichts. Charlotte liebt ihr Kind abgöttisch und will nur eins: es beschützen. Denn Willow braucht allen Schutz der Welt. Beim kleinsten Stoß brechen ihre Knochen. Jedoch auch ihr Herz kann brechen. Das scheint Charlotte zu vergessen, als sie vor Gericht das Geld für die richtige Behandlung erkämpfen will. Die Krankheit hätte früh erkannt und die Eltern gewarnt werden können. Charlotte muss jedoch behaupten, ihr geliebtes Kind sei besser nie geboren worden ...
Lese-Probe zu „Zerbrechlich “
Zerbrechlich von Jodi PicoultProlog
Charlotte
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14. Februar 2002 Ständig brechen oder zerbrechen irgendwelche Dinge. Gläser, Geschirr und Fingernägel. Autos, Schallplatten und Kartoffelchips. Man kann ein Pferd brechen oder einen Vertrag. Man kann das Eis brechen. Stimmen brechen; Schweigen wird gebrochen, und Tag und Nacht brechen an.
In den letzten beiden Monaten meiner Schwangerschaft habe ich mir eine Liste all dieser Dinge gemacht in der Hoffnung, es würde deine Geburt einfacher gestalten.
Versprechen werden gebrochen. Und Herzen.
In der Nacht vor deiner Geburt habe ich mich im Bett aufgesetzt, um der Liste etwas hinzuzufügen. Ich kramte im Nachttisch nach Stift und Papier, doch Sean legte seine warme Hand auf mein Bein. Charlotte?, fragte er. Ist alles in Ordnung?
Bevor ich ihm darauf antworten konnte, zog er mich in die Arme, drückte mich an sich, und ich schlief friedlich ein. Was ich niederschreiben wollte, war vergessen.
Erst Wochen später, als du schon da warst, fiel mir wieder ein, welcher Gedanke mich in jener Nacht geweckt hatte: Verwerfungen. Das sind die Stellen, an denen die Erde auseinanderbricht. Das sind die Stellen, wo Erdbeben entstehen und Vulkane geboren werden. Oder anders gesagt: Die Welt zerbröckelt unter uns; der feste Boden unter unseren Füßen ist Illusion.
Du bist während eines Sturms angekommen, den niemand vorausgesagt hat. Ein »Nordoster«, sagten die Meteorologen später, ein Blizzard, der eigentlich nach Norden in Richtung Kanada hätte ziehen sollen, anstatt sich in einen wahren Rausch zu steigern und über der Küste Neuenglands niederzugehen. Aus den Nachrichten verschwanden die Berichte überein Highschool-Pärchen, das sich in einem Altenheim wiedergetroffen und geheiratet hatte. Stattdessen wurde in einem fortgemeldet, wie stark der Sturm war und in welchen Gemeinden durch Vereisungen der Strom ausfiel. Amelia saß in der Küche und bastelte Valentinskarten, während ich beobachtete, wie sich über ein Meter Schnee vor der Glasschiebetür türmte. Im Fernsehen waren Bilder von Autos zu sehen, die von der Straße rutschten.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich auf den Bildschirm, ob es sich bei dem Fahrer des Streifenwagens, der mitblinkendem Blaulicht hinter einem umgestürzten Fahrzeugstand, um Sean handelte.
Ein lauter Knall an der Schiebetür ließ mich erschrocken zusammenzucken. »Mami!«, schrie Amelia; auch sie hatte sich erschreckt.
Ich drehte mich gerade um, als der nächste Hagelschlag einen fingerlangen Sprung in das dicke Glas machte, aus dem rasch ein faustgroßes Netz von Rissen wuchs. »Daddy wird das später wieder in Ordnung bringen«, sagte ich.
Das war der Augenblick, in dem meine Fruchtblase platzte. Amelia schaute zwischen meine Füße. »Dir ist da was passiert. «
Ich tappte zum Telefon, und als Sean nicht ans Handy ging, rief ich in der Zentrale an. »Ich bin die Frau von Sean O'Keefe«, sagte ich. »Bei mir haben die Wehen eingesetzt.« Der Diensthabende sagte, er werde einen Krankenwagen schicken, aber es könne eine Weile dauern; aufgrund der vielen Autounfälle seien alle unterwegs.
»Ist schon okay«, sagte ich und erinnerte mich, wie lange ich mit deiner Schwester in den Wehen gelegen hatte. »Vermutlich habe ich ohnehin noch Zeit.« Plötzlich überfiel mich eine derart starke Wehe, dass ich mich zusammenkrümmte und den Hörer fallen ließ. Amelia starrte mich mit aufgerissenen Augen an. »Alles in Ordnung, Liebling«, log ich und lächelte, bis mir die Wangen schmerzten. »Mir ist nur das Telefon runtergefallen.« Ich griff nach dem Hörer, und diesmal rief ich Piper an, der ich jetzt am ehesten zutraute, mich zu retten.
»Du kannst noch keine Wehen haben«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung, obwohl sie es natürlich besser wusste - sie war nicht nur meine beste Freundin, sie hatte auch mit mir an dem Geburtshilfekurs teilgenommen. »Der Kaiserschnitt ist erst für Montag angesetzt.«
»Ich glaube nicht, dass das Baby darüber informiert worden ist«, keuchte ich und biss die Zähne zusammen, weil schon wieder eine Wehe kam.
Piper sprach nicht aus, was wir beide dachten: dass ich dich nicht auf natürliche Weise zur Welt bringen durfte. »Wo ist Sean?«
»Ich ... ich weiß nicht ... oh, Piper!« »Atme«, sagte Piper instinktiv, und ich begann zu keuchen, ha-ha-hi-hi, wie ich es gelernt hatte. »Ich werde Gianna anrufen und ihr sagen, dass wir auf dem Weg sind.«
Gianna war Dr. Del Sol, die Spezialistin, die ich vor knappacht Wochen auf Pipers Bitte hin hinzugezogen hatte. »Wir?« »Wolltest du etwa selber fahren?«
Fünfzehn Minuten später hatte ich deine Schwester bestochen, das Fragen sein zu lassen, indem ich sie auf die Couchsetzte und Blau und Schlau einschaltete. Ich habe mich neben sie gesetzt, in Vaters Wintermantel, denn ein anderer passte mir nicht mehr.
Als damals bei Amelias Geburt die Wehen einsetzten, stand die gepackte Tasche bereits neben der Tür. Ich hatte einen Geburtsplan und eine eigens zusammengestellte Musikkassette bei mir, die im Kreißsaal gespielt werden sollte. Ich wusste, es würde schmerzhaft werden, doch dafür winkte eine schier unglaubliche Belohnung: das Kind, auf das ich monatelangsehnsüchtig gewartet hatte. Darum war ich bei meinen erstenWehen ganz aufgeregt gewesen.
Diesmal jedoch war ich wie versteinert. In meinem Bauchwarst du einfach sicherer als draußen.
Dann stand plötzlich Piper in ihrem leuchtend pinkfarbenen Parka in der Tür und füllte den Raum mit ihrer selbstbewussten Stimme. »Blau und Schlau?«, sagte sie und machte es sich nebendeiner Schwester bequem. »Das ist meine absolute Lieblingssendung, weißt du ... nach Jerry Springer natürlich.«
Amelia. Bis dahin hatte ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, wer auf sie aufpassen würde, während ich im Krankenhaus war, um dich zur Welt zu bringen. »Wie weit sind sie auseinander?«, fragte Piper.
Die Wehen kamen inzwischen alle sieben Minuten. Als die nächste wie eine Flut über mich hereinbrach, krallte ich mich in die Couchlehne und zählte bis zwanzig, den Blick fest auf die Risse in der Glastür gerichtet.
Um das Zentrum hatte sich spiralförmig Reif ausgebreitet. Ein beängstigender, wenn auch schöner Anblick. Piper nahm meine Hand. »Alles wird gut, Charlotte«, versprach sie mir, und weil ich eine Närrin war, habe ich ihr geglaubt.
Die Notaufnahme war voller Menschen, die bei Unfällen während des Sturms verletzt worden waren. Junge Männer hielten sich blutige Handtücher an den Kopf, und auf Tragen lagen jammernde Kinder. Piper führte mich an allen vorbei und in die Gynäkologie hinauf, wo Dr. Del Sol bereits im Gang auf und ab lief. Binnen zehn Minuten gab man mir eine Periduralanästhesie und fuhr mich in den Operationssaal für einen Kaiserschnitt.
Ich spielte dabei ein Spiel mit mir selbst: Wenn in diesem Gang eine gerade Zahl von Leuchtstoffröhren an der Decke hing, würde Sean noch rechtzeitig eintreffen. Wenn mehr Männer als Frauen im Aufzug waren, würde sich alles als falscherweisen, was die Ärzte mir gesagt hatten. Ohne dass ich Piperhatte bitten müssen, hatte sie sich OP-Kleidung angezogen, um notfalls für Sean an meiner Seite einspringen zu können. »Er wird schon noch rechtzeitig kommen«, sagte sie und schaute zu mir herunter.
Der Operationssaal war kalt und metallisch. Eine Krankenschwester mit grünen Augen - das war alles, was ich zwischen Maske und Kappe von ihr sehen konnte - hob mein Krankenhaushemd hoch und rieb mir den Bauch mit Betadine ein. Als sie das sterile Abdecktuch darüberlegten, bekam ich Angst. Wenn nun mein Unterleib nicht ausreichend betäubt war und ich das Skalpell noch spüren konnte? Was, wenn du entgegen all meiner Hoffnung die Geburt nicht überleben würdest?
Plötzlich flog die Tür auf, und Sean wehte mit einem kalten Luftzug herein. Er band sich eine Maske vors Gesicht und hatte sich das OP-Hemd nur halb in die Hose gesteckt. »Warten Sie!«, rief er. Er trat an den Tisch und berührte meine Wange. »Schatz«, sagte er. »Es tut mir leid. Als ich es gehört habe, bin ich so schnell wie möglich ...«
Piper tätschelte Sean den Arm. »Da ist ja das Publikum«, bemerkte sie und machte ihm Platz, doch nicht ohne mir noch mal schnell die Hand zu drücken. Und dann war Sean an meiner Seite. Ich spürte seine warmen Hände auf meinen Schultern, und der Klang seiner Stimme lenkte mich ab, als Dr. Del Sol das Skalpell ansetzte. »Ihr habt mir eine Heidenangst eingejagt«, sagte er. »Was habt ihr beide euch nur dabei gedacht, allein zu fahren?« »Dass wir das Kind nicht auf dem Küchenboden bekommen wollen?« Sean schüttelte den Kopf. »Es hätte etwas Furchtbares passieren können.«
Ich spürte ein Ziehen unter dem weißen Abdecktuch. Unwillkürlich atmete ich tief ein und drehte den Kopf zur Seite. Da habe ich es dann gesehen: das vergrößerte Ultraschallbildaus der 27. Woche mit deinen sieben Knochenbrüchen, den einwärtsgebogenen Gliedern. Es ist schon etwas Furchtbares passiert, dachte ich.
Und dann hast du geschrien, obwohl sie dich so behutsam hoch hoben, als wärst du aus Zuckerwatte. Du hast geschrien, doch nicht wie die normalen Neugeborenen. Du hast geschrien, als würden sie dich zerreißen. »Vorsichtig«, ermahnte Dr. DelSol die OP-Schwester. »Sie müssen das ganze ...«
Es gab ein Knacken, ein Geräusch wie beim Platzen einer Luftblase, und du hast noch lauter geschrien, was ich nicht für möglich gehalten hätte. »Oh Gott«, sagte die Krankenschwester, und ihre Stimme nahm einen hysterischen Tonfall an. »War das ein Bruch? War ich das?« Ich habe den Kopf nach dir gereckt, doch ich konnte nur deinen winzigen Mund und die feuerroten Wangen sehen.
Das Ärzteteam und die Krankenschwestern scharten sich um dich, konnten dein Weinen jedoch nicht stoppen. Ich glaube, bis zu dem Moment habe ich fest gehofft, all die Ultraschall- aufnahmen und Testergebnisse wären ein Irrtum. Bis zu dem Augenblick, wo ich dich schreien hörte, habe ich Angst gehabt, ich würde dich vielleicht nicht lieben können.
Sean schaute den Ärzten über die Schulter. »Sie ist perfekt«, sagte er und drehte sich zu mir um, doch seine Worte hatten einen Nachhall, als wollte er sie von mir bestätigt wissen.
Perfekte Babys schreien nicht so laut, dass es einem das Herz zerreißt. Perfekte Babys sehen nicht nur so aus, sie sind es auch. »Heb nicht ihren Arm hoch«, murmelte eine Krankenschwester. Und eine Kollegin erwiderte: »Wie soll ich sie denn wickeln, wenn ich sie nicht anfassen darf?« Und die ganze Zeit über hast du geschrien, und das in einer Tonlage, wie ich sie noch nie gehört hatte.
Willow, flüsterte ich. Das war der Name, auf den dein Vater und ich uns geeinigt hatten. Ich hatte ihn erst davon überzeugen müssen. Nein, so werde ich sie nicht nennen, hatte er gesagt. Willow heißt »Weide«, und Weiden trauern. Aber ich wollte dir eine Prophezeiung mit auf den Weg geben, den Namen eines Baumes, der sich biegt, anstatt zu brechen.
Willow, flüsterte ich erneut, und irgendwie hast du michgehört, trotz der aufgeregten Ärzte und Schwestern, der surrenden Geräte und trotz deiner Schmerzensschreie.
Willow, sagte ich laut, und du hast den Kopf nach mir gedreht, als hätte ich dich mit dem Wort umarmt. Willow, sagte ich erneut, und du hast aufgehört zu schreien - einfach so.
Als ich im fünften Monat schwanger war, habe ich von dem Restaurant, in dem ich früher gearbeitet habe, einen Anruf bekommen. Die Mutter des Patissiers hatte sich die Hüfte gebrochen, und für den Abend war ein Restaurantkritiker des Boston Globe angekündigt. Natürlich sei es unverschämt und sicher kein guter Zeitpunkt für mich, aber ob ich nicht eben reinkommen und schnell mein Millefeuille machen könne? Das mit dem Würzschokaladeneis, den Avocados und dem Bananenbrûlée?
Ich muss zugeben, ich war egoistisch. Ich fühlte mich träge und fett, und ich wollte mir zeigen, dass ich noch zu mehr taugte, als mit deiner Schwester Karten zu spielen und Koch- und Buntwäsche auseinander zu sortieren. Also habe ich Amelia bei ihrem Babysitter gelassen und bin zu Capers gefahren.
Die Küche hatte sich in all den Jahren, da ich nicht mehr dort gewesen war, nicht verändert, nur die Speisekammer hatte der neue Chefkoch umgestaltet. Sofort räumte ich mir einen Arbeitsplatz frei und machte mich an den Blätterteig. Irgendwann mittendrin ließ ich ein Stück Butter fallen und bückte mich, um es aufzuheben, bevor jemand darauf ausrutschen konnte. Dabei war mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass ich bei Weitem nicht mehr so beweglich in der Hüfte war wie noch vor wenigen Monaten. Ich spürte, wie du mir den Atem geraubt hast, als ich dir deinen stahl. »Tut mir leid, Schatz«, sagte ich laut und richtete mich wieder auf.
Nun frage ich mich: War das der Augenblick, wo dir die Knochen brachen? Habe ich dich verletzt, weil ich verhindern wollte, dass sich ein anderer verletzt?
Kurz nach drei in der Nacht bist du auf die Welt gekommen, aber bis zum nächsten Abend habe ich dich nicht mehr wiedergesehen. Alle halbe Stunde ging Sean, um sich von den Ärzten auf den neuesten Stand bringen zu lassen: Sie wird geröntgt. Sie nehmen ihr Blut ab. Sie glauben, es könnte auch ein Knöchel gebrochen sein. Und dann, um sechs Uhr, brachte er mir die bis dahin beste Nachricht: Typ III, sagte er. Sie hat sieben Brüche, die bereits verheilen, und vier neue, aber sie atmet normal. Ich lag im Krankenhausbett und lächelte wie blöde. Ich war sicher die einzige Wöchnerin auf der Geburtsstation, die sich über solch eine Neuigkeit freute.
Seit zwei Monaten wussten wir schon, dass du mit OI - Osteogenesis imperfecta, der so genannten Glasknochenkrankheit - geboren werden würdest, zwei Buchstaben, die unser ganzes Leben bestimmen sollten. Es handelt sich um eine Kollagenfehlbildung, die Knochen so brüchig macht, dass sie beim Stolpern, beim Umdrehen, ja sogar beim Niesen brechen können. Es gibt mehrere Typen davon, doch nur bei zweien kommt es zu Knochenbrüchen im Mutterleib, wie wir sie auf den Ultraschallbildern gesehen hatten. Trotzdem konnte uns der Radiologe seinerzeit nicht sagen, ob du nun Typ II hattest, was bei der Geburt tödlich gewesen wäre, oder Typ III, was ernst ist und zu immer weiteren Deformierungen führt. Nun wusste ich, dass du im Laufe der Jahre Hunderte Knochenbrüche haben würdest, doch wichtig war nur noch eins: dass du überhaupt am Leben warst.
Als der Sturm nachließ, fuhr Sean nach Hause, um deine Schwester zu holen, damit sie dich kennenlernen konnte. Ich schaute mir die Radarbilder im Fernsehen an, die zeigten, wieder Blizzard nach Süden zog und sich in einen alles lahmlegenden Eisregen verwandelte, der über Washington, D.C., niederging. Ich versuchte, mich ein wenig aufzusetzen, obwohl die frisch genähte OP-Wunde wie Feuer brannte. »Hey«, sagte Piper, kam herein und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe es schon gehört.«
»Ja«, sagte ich. »Wir sind ja so glücklich.« Piper zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie lächelte und nickte. »Sie ist jetzt auf dem Weg nach unten«, erzählte sie, und im selben Moment schob eine Krankenschwester ein Kinderkörbchen in den Raum.
»Sooo. Hier ist deine Mami«, trällerte sie.
Du lagst auf dem Rücken auf einem Kissen aus speziellem Schaumstoff, das sich dem Körper anpasst, und hast tief und fest geschlafen. Deine winzigen Ärmchen und Beinchen und dein linker Knöchel waren mit Bandagen umwickelt.
Sobald du älter wärst, so hieß es, würde man dir ansehen können, dass du unter OI leidest - zumindest wer sich auskennt. Die Beugung deiner Arme und Beine und die dreieckige Gesichtsform würden auffallen, und du würdest nie größer werden als einen Meter. Doch jetzt, in diesem Augenblick, sahst du trotz deiner Verbände makellos aus: eine pfirsichfarbene Haut, ein winziger himbeerroter Mund, die Haare widerspenstig und goldblond, die Wimpern so lang wie mein kleiner Fingernagel. Ich streckte die Hand aus, um dich zu streicheln - und zog siewieder zurück, weil ich mich erinnerte.
Ich hatte mir so sehr gewünscht, du mögest die Geburt überleben, dass ich über die Herausforderungen, die das für uns bedeutete, gar nicht nachgedacht hatte. Ich hatte ein wunderschönes kleines Mädchen, das so zerbrechlich war wie eine Seifenblase. Als deine Mutter sollte ich dich vor Schaden bewahren. Doch was würde werden, wenn ich dich immer wieder verletzte?
Piper und die Krankenschwester schauten einander an. »Du willst sie in den Arm nehmen, nicht wahr?«, fragte Piper. Sie schob die Hand als Stütze unter das Schaumstoffkissen, während die Krankenschwester die Seiten anhob, um deine Ärmchen zu stützen. Langsam legten sie mir das Kissen in die Armbeuge.
Hey, flüsterte ich und nahm dich ein wenig enger. Den rauen Schaumstoff in den Händen, fragte ich mich, wie lange es wohldauern würde, bis ich dich richtig spüren, deine Haut an meiner fühlen durfte. Ich dachte an Amelias Säuglingszeit: wie ich sie im Bett in den Arm nahm, wenn sie weinte, und mit ihr einschlief. Da habe ich zwar stets Angst gehabt, ich könnte michversehentlich auf sie legen und sie ersticken. Aber bei dir stellte es schon eine Gefahr dar, dich aus der Wiege zu heben.
Übersetzung: Rainer Schumacher
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright . 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
14. Februar 2002 Ständig brechen oder zerbrechen irgendwelche Dinge. Gläser, Geschirr und Fingernägel. Autos, Schallplatten und Kartoffelchips. Man kann ein Pferd brechen oder einen Vertrag. Man kann das Eis brechen. Stimmen brechen; Schweigen wird gebrochen, und Tag und Nacht brechen an.
In den letzten beiden Monaten meiner Schwangerschaft habe ich mir eine Liste all dieser Dinge gemacht in der Hoffnung, es würde deine Geburt einfacher gestalten.
Versprechen werden gebrochen. Und Herzen.
In der Nacht vor deiner Geburt habe ich mich im Bett aufgesetzt, um der Liste etwas hinzuzufügen. Ich kramte im Nachttisch nach Stift und Papier, doch Sean legte seine warme Hand auf mein Bein. Charlotte?, fragte er. Ist alles in Ordnung?
Bevor ich ihm darauf antworten konnte, zog er mich in die Arme, drückte mich an sich, und ich schlief friedlich ein. Was ich niederschreiben wollte, war vergessen.
Erst Wochen später, als du schon da warst, fiel mir wieder ein, welcher Gedanke mich in jener Nacht geweckt hatte: Verwerfungen. Das sind die Stellen, an denen die Erde auseinanderbricht. Das sind die Stellen, wo Erdbeben entstehen und Vulkane geboren werden. Oder anders gesagt: Die Welt zerbröckelt unter uns; der feste Boden unter unseren Füßen ist Illusion.
Du bist während eines Sturms angekommen, den niemand vorausgesagt hat. Ein »Nordoster«, sagten die Meteorologen später, ein Blizzard, der eigentlich nach Norden in Richtung Kanada hätte ziehen sollen, anstatt sich in einen wahren Rausch zu steigern und über der Küste Neuenglands niederzugehen. Aus den Nachrichten verschwanden die Berichte überein Highschool-Pärchen, das sich in einem Altenheim wiedergetroffen und geheiratet hatte. Stattdessen wurde in einem fortgemeldet, wie stark der Sturm war und in welchen Gemeinden durch Vereisungen der Strom ausfiel. Amelia saß in der Küche und bastelte Valentinskarten, während ich beobachtete, wie sich über ein Meter Schnee vor der Glasschiebetür türmte. Im Fernsehen waren Bilder von Autos zu sehen, die von der Straße rutschten.
Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich auf den Bildschirm, ob es sich bei dem Fahrer des Streifenwagens, der mitblinkendem Blaulicht hinter einem umgestürzten Fahrzeugstand, um Sean handelte.
Ein lauter Knall an der Schiebetür ließ mich erschrocken zusammenzucken. »Mami!«, schrie Amelia; auch sie hatte sich erschreckt.
Ich drehte mich gerade um, als der nächste Hagelschlag einen fingerlangen Sprung in das dicke Glas machte, aus dem rasch ein faustgroßes Netz von Rissen wuchs. »Daddy wird das später wieder in Ordnung bringen«, sagte ich.
Das war der Augenblick, in dem meine Fruchtblase platzte. Amelia schaute zwischen meine Füße. »Dir ist da was passiert. «
Ich tappte zum Telefon, und als Sean nicht ans Handy ging, rief ich in der Zentrale an. »Ich bin die Frau von Sean O'Keefe«, sagte ich. »Bei mir haben die Wehen eingesetzt.« Der Diensthabende sagte, er werde einen Krankenwagen schicken, aber es könne eine Weile dauern; aufgrund der vielen Autounfälle seien alle unterwegs.
»Ist schon okay«, sagte ich und erinnerte mich, wie lange ich mit deiner Schwester in den Wehen gelegen hatte. »Vermutlich habe ich ohnehin noch Zeit.« Plötzlich überfiel mich eine derart starke Wehe, dass ich mich zusammenkrümmte und den Hörer fallen ließ. Amelia starrte mich mit aufgerissenen Augen an. »Alles in Ordnung, Liebling«, log ich und lächelte, bis mir die Wangen schmerzten. »Mir ist nur das Telefon runtergefallen.« Ich griff nach dem Hörer, und diesmal rief ich Piper an, der ich jetzt am ehesten zutraute, mich zu retten.
»Du kannst noch keine Wehen haben«, erklärte sie im Brustton der Überzeugung, obwohl sie es natürlich besser wusste - sie war nicht nur meine beste Freundin, sie hatte auch mit mir an dem Geburtshilfekurs teilgenommen. »Der Kaiserschnitt ist erst für Montag angesetzt.«
»Ich glaube nicht, dass das Baby darüber informiert worden ist«, keuchte ich und biss die Zähne zusammen, weil schon wieder eine Wehe kam.
Piper sprach nicht aus, was wir beide dachten: dass ich dich nicht auf natürliche Weise zur Welt bringen durfte. »Wo ist Sean?«
»Ich ... ich weiß nicht ... oh, Piper!« »Atme«, sagte Piper instinktiv, und ich begann zu keuchen, ha-ha-hi-hi, wie ich es gelernt hatte. »Ich werde Gianna anrufen und ihr sagen, dass wir auf dem Weg sind.«
Gianna war Dr. Del Sol, die Spezialistin, die ich vor knappacht Wochen auf Pipers Bitte hin hinzugezogen hatte. »Wir?« »Wolltest du etwa selber fahren?«
Fünfzehn Minuten später hatte ich deine Schwester bestochen, das Fragen sein zu lassen, indem ich sie auf die Couchsetzte und Blau und Schlau einschaltete. Ich habe mich neben sie gesetzt, in Vaters Wintermantel, denn ein anderer passte mir nicht mehr.
Als damals bei Amelias Geburt die Wehen einsetzten, stand die gepackte Tasche bereits neben der Tür. Ich hatte einen Geburtsplan und eine eigens zusammengestellte Musikkassette bei mir, die im Kreißsaal gespielt werden sollte. Ich wusste, es würde schmerzhaft werden, doch dafür winkte eine schier unglaubliche Belohnung: das Kind, auf das ich monatelangsehnsüchtig gewartet hatte. Darum war ich bei meinen erstenWehen ganz aufgeregt gewesen.
Diesmal jedoch war ich wie versteinert. In meinem Bauchwarst du einfach sicherer als draußen.
Dann stand plötzlich Piper in ihrem leuchtend pinkfarbenen Parka in der Tür und füllte den Raum mit ihrer selbstbewussten Stimme. »Blau und Schlau?«, sagte sie und machte es sich nebendeiner Schwester bequem. »Das ist meine absolute Lieblingssendung, weißt du ... nach Jerry Springer natürlich.«
Amelia. Bis dahin hatte ich noch nicht einmal darüber nachgedacht, wer auf sie aufpassen würde, während ich im Krankenhaus war, um dich zur Welt zu bringen. »Wie weit sind sie auseinander?«, fragte Piper.
Die Wehen kamen inzwischen alle sieben Minuten. Als die nächste wie eine Flut über mich hereinbrach, krallte ich mich in die Couchlehne und zählte bis zwanzig, den Blick fest auf die Risse in der Glastür gerichtet.
Um das Zentrum hatte sich spiralförmig Reif ausgebreitet. Ein beängstigender, wenn auch schöner Anblick. Piper nahm meine Hand. »Alles wird gut, Charlotte«, versprach sie mir, und weil ich eine Närrin war, habe ich ihr geglaubt.
Die Notaufnahme war voller Menschen, die bei Unfällen während des Sturms verletzt worden waren. Junge Männer hielten sich blutige Handtücher an den Kopf, und auf Tragen lagen jammernde Kinder. Piper führte mich an allen vorbei und in die Gynäkologie hinauf, wo Dr. Del Sol bereits im Gang auf und ab lief. Binnen zehn Minuten gab man mir eine Periduralanästhesie und fuhr mich in den Operationssaal für einen Kaiserschnitt.
Ich spielte dabei ein Spiel mit mir selbst: Wenn in diesem Gang eine gerade Zahl von Leuchtstoffröhren an der Decke hing, würde Sean noch rechtzeitig eintreffen. Wenn mehr Männer als Frauen im Aufzug waren, würde sich alles als falscherweisen, was die Ärzte mir gesagt hatten. Ohne dass ich Piperhatte bitten müssen, hatte sie sich OP-Kleidung angezogen, um notfalls für Sean an meiner Seite einspringen zu können. »Er wird schon noch rechtzeitig kommen«, sagte sie und schaute zu mir herunter.
Der Operationssaal war kalt und metallisch. Eine Krankenschwester mit grünen Augen - das war alles, was ich zwischen Maske und Kappe von ihr sehen konnte - hob mein Krankenhaushemd hoch und rieb mir den Bauch mit Betadine ein. Als sie das sterile Abdecktuch darüberlegten, bekam ich Angst. Wenn nun mein Unterleib nicht ausreichend betäubt war und ich das Skalpell noch spüren konnte? Was, wenn du entgegen all meiner Hoffnung die Geburt nicht überleben würdest?
Plötzlich flog die Tür auf, und Sean wehte mit einem kalten Luftzug herein. Er band sich eine Maske vors Gesicht und hatte sich das OP-Hemd nur halb in die Hose gesteckt. »Warten Sie!«, rief er. Er trat an den Tisch und berührte meine Wange. »Schatz«, sagte er. »Es tut mir leid. Als ich es gehört habe, bin ich so schnell wie möglich ...«
Piper tätschelte Sean den Arm. »Da ist ja das Publikum«, bemerkte sie und machte ihm Platz, doch nicht ohne mir noch mal schnell die Hand zu drücken. Und dann war Sean an meiner Seite. Ich spürte seine warmen Hände auf meinen Schultern, und der Klang seiner Stimme lenkte mich ab, als Dr. Del Sol das Skalpell ansetzte. »Ihr habt mir eine Heidenangst eingejagt«, sagte er. »Was habt ihr beide euch nur dabei gedacht, allein zu fahren?« »Dass wir das Kind nicht auf dem Küchenboden bekommen wollen?« Sean schüttelte den Kopf. »Es hätte etwas Furchtbares passieren können.«
Ich spürte ein Ziehen unter dem weißen Abdecktuch. Unwillkürlich atmete ich tief ein und drehte den Kopf zur Seite. Da habe ich es dann gesehen: das vergrößerte Ultraschallbildaus der 27. Woche mit deinen sieben Knochenbrüchen, den einwärtsgebogenen Gliedern. Es ist schon etwas Furchtbares passiert, dachte ich.
Und dann hast du geschrien, obwohl sie dich so behutsam hoch hoben, als wärst du aus Zuckerwatte. Du hast geschrien, doch nicht wie die normalen Neugeborenen. Du hast geschrien, als würden sie dich zerreißen. »Vorsichtig«, ermahnte Dr. DelSol die OP-Schwester. »Sie müssen das ganze ...«
Es gab ein Knacken, ein Geräusch wie beim Platzen einer Luftblase, und du hast noch lauter geschrien, was ich nicht für möglich gehalten hätte. »Oh Gott«, sagte die Krankenschwester, und ihre Stimme nahm einen hysterischen Tonfall an. »War das ein Bruch? War ich das?« Ich habe den Kopf nach dir gereckt, doch ich konnte nur deinen winzigen Mund und die feuerroten Wangen sehen.
Das Ärzteteam und die Krankenschwestern scharten sich um dich, konnten dein Weinen jedoch nicht stoppen. Ich glaube, bis zu dem Moment habe ich fest gehofft, all die Ultraschall- aufnahmen und Testergebnisse wären ein Irrtum. Bis zu dem Augenblick, wo ich dich schreien hörte, habe ich Angst gehabt, ich würde dich vielleicht nicht lieben können.
Sean schaute den Ärzten über die Schulter. »Sie ist perfekt«, sagte er und drehte sich zu mir um, doch seine Worte hatten einen Nachhall, als wollte er sie von mir bestätigt wissen.
Perfekte Babys schreien nicht so laut, dass es einem das Herz zerreißt. Perfekte Babys sehen nicht nur so aus, sie sind es auch. »Heb nicht ihren Arm hoch«, murmelte eine Krankenschwester. Und eine Kollegin erwiderte: »Wie soll ich sie denn wickeln, wenn ich sie nicht anfassen darf?« Und die ganze Zeit über hast du geschrien, und das in einer Tonlage, wie ich sie noch nie gehört hatte.
Willow, flüsterte ich. Das war der Name, auf den dein Vater und ich uns geeinigt hatten. Ich hatte ihn erst davon überzeugen müssen. Nein, so werde ich sie nicht nennen, hatte er gesagt. Willow heißt »Weide«, und Weiden trauern. Aber ich wollte dir eine Prophezeiung mit auf den Weg geben, den Namen eines Baumes, der sich biegt, anstatt zu brechen.
Willow, flüsterte ich erneut, und irgendwie hast du michgehört, trotz der aufgeregten Ärzte und Schwestern, der surrenden Geräte und trotz deiner Schmerzensschreie.
Willow, sagte ich laut, und du hast den Kopf nach mir gedreht, als hätte ich dich mit dem Wort umarmt. Willow, sagte ich erneut, und du hast aufgehört zu schreien - einfach so.
Als ich im fünften Monat schwanger war, habe ich von dem Restaurant, in dem ich früher gearbeitet habe, einen Anruf bekommen. Die Mutter des Patissiers hatte sich die Hüfte gebrochen, und für den Abend war ein Restaurantkritiker des Boston Globe angekündigt. Natürlich sei es unverschämt und sicher kein guter Zeitpunkt für mich, aber ob ich nicht eben reinkommen und schnell mein Millefeuille machen könne? Das mit dem Würzschokaladeneis, den Avocados und dem Bananenbrûlée?
Ich muss zugeben, ich war egoistisch. Ich fühlte mich träge und fett, und ich wollte mir zeigen, dass ich noch zu mehr taugte, als mit deiner Schwester Karten zu spielen und Koch- und Buntwäsche auseinander zu sortieren. Also habe ich Amelia bei ihrem Babysitter gelassen und bin zu Capers gefahren.
Die Küche hatte sich in all den Jahren, da ich nicht mehr dort gewesen war, nicht verändert, nur die Speisekammer hatte der neue Chefkoch umgestaltet. Sofort räumte ich mir einen Arbeitsplatz frei und machte mich an den Blätterteig. Irgendwann mittendrin ließ ich ein Stück Butter fallen und bückte mich, um es aufzuheben, bevor jemand darauf ausrutschen konnte. Dabei war mir in aller Deutlichkeit bewusst, dass ich bei Weitem nicht mehr so beweglich in der Hüfte war wie noch vor wenigen Monaten. Ich spürte, wie du mir den Atem geraubt hast, als ich dir deinen stahl. »Tut mir leid, Schatz«, sagte ich laut und richtete mich wieder auf.
Nun frage ich mich: War das der Augenblick, wo dir die Knochen brachen? Habe ich dich verletzt, weil ich verhindern wollte, dass sich ein anderer verletzt?
Kurz nach drei in der Nacht bist du auf die Welt gekommen, aber bis zum nächsten Abend habe ich dich nicht mehr wiedergesehen. Alle halbe Stunde ging Sean, um sich von den Ärzten auf den neuesten Stand bringen zu lassen: Sie wird geröntgt. Sie nehmen ihr Blut ab. Sie glauben, es könnte auch ein Knöchel gebrochen sein. Und dann, um sechs Uhr, brachte er mir die bis dahin beste Nachricht: Typ III, sagte er. Sie hat sieben Brüche, die bereits verheilen, und vier neue, aber sie atmet normal. Ich lag im Krankenhausbett und lächelte wie blöde. Ich war sicher die einzige Wöchnerin auf der Geburtsstation, die sich über solch eine Neuigkeit freute.
Seit zwei Monaten wussten wir schon, dass du mit OI - Osteogenesis imperfecta, der so genannten Glasknochenkrankheit - geboren werden würdest, zwei Buchstaben, die unser ganzes Leben bestimmen sollten. Es handelt sich um eine Kollagenfehlbildung, die Knochen so brüchig macht, dass sie beim Stolpern, beim Umdrehen, ja sogar beim Niesen brechen können. Es gibt mehrere Typen davon, doch nur bei zweien kommt es zu Knochenbrüchen im Mutterleib, wie wir sie auf den Ultraschallbildern gesehen hatten. Trotzdem konnte uns der Radiologe seinerzeit nicht sagen, ob du nun Typ II hattest, was bei der Geburt tödlich gewesen wäre, oder Typ III, was ernst ist und zu immer weiteren Deformierungen führt. Nun wusste ich, dass du im Laufe der Jahre Hunderte Knochenbrüche haben würdest, doch wichtig war nur noch eins: dass du überhaupt am Leben warst.
Als der Sturm nachließ, fuhr Sean nach Hause, um deine Schwester zu holen, damit sie dich kennenlernen konnte. Ich schaute mir die Radarbilder im Fernsehen an, die zeigten, wieder Blizzard nach Süden zog und sich in einen alles lahmlegenden Eisregen verwandelte, der über Washington, D.C., niederging. Ich versuchte, mich ein wenig aufzusetzen, obwohl die frisch genähte OP-Wunde wie Feuer brannte. »Hey«, sagte Piper, kam herein und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe es schon gehört.«
»Ja«, sagte ich. »Wir sind ja so glücklich.« Piper zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie lächelte und nickte. »Sie ist jetzt auf dem Weg nach unten«, erzählte sie, und im selben Moment schob eine Krankenschwester ein Kinderkörbchen in den Raum.
»Sooo. Hier ist deine Mami«, trällerte sie.
Du lagst auf dem Rücken auf einem Kissen aus speziellem Schaumstoff, das sich dem Körper anpasst, und hast tief und fest geschlafen. Deine winzigen Ärmchen und Beinchen und dein linker Knöchel waren mit Bandagen umwickelt.
Sobald du älter wärst, so hieß es, würde man dir ansehen können, dass du unter OI leidest - zumindest wer sich auskennt. Die Beugung deiner Arme und Beine und die dreieckige Gesichtsform würden auffallen, und du würdest nie größer werden als einen Meter. Doch jetzt, in diesem Augenblick, sahst du trotz deiner Verbände makellos aus: eine pfirsichfarbene Haut, ein winziger himbeerroter Mund, die Haare widerspenstig und goldblond, die Wimpern so lang wie mein kleiner Fingernagel. Ich streckte die Hand aus, um dich zu streicheln - und zog siewieder zurück, weil ich mich erinnerte.
Ich hatte mir so sehr gewünscht, du mögest die Geburt überleben, dass ich über die Herausforderungen, die das für uns bedeutete, gar nicht nachgedacht hatte. Ich hatte ein wunderschönes kleines Mädchen, das so zerbrechlich war wie eine Seifenblase. Als deine Mutter sollte ich dich vor Schaden bewahren. Doch was würde werden, wenn ich dich immer wieder verletzte?
Piper und die Krankenschwester schauten einander an. »Du willst sie in den Arm nehmen, nicht wahr?«, fragte Piper. Sie schob die Hand als Stütze unter das Schaumstoffkissen, während die Krankenschwester die Seiten anhob, um deine Ärmchen zu stützen. Langsam legten sie mir das Kissen in die Armbeuge.
Hey, flüsterte ich und nahm dich ein wenig enger. Den rauen Schaumstoff in den Händen, fragte ich mich, wie lange es wohldauern würde, bis ich dich richtig spüren, deine Haut an meiner fühlen durfte. Ich dachte an Amelias Säuglingszeit: wie ich sie im Bett in den Arm nahm, wenn sie weinte, und mit ihr einschlief. Da habe ich zwar stets Angst gehabt, ich könnte michversehentlich auf sie legen und sie ersticken. Aber bei dir stellte es schon eine Gefahr dar, dich aus der Wiege zu heben.
Übersetzung: Rainer Schumacher
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright . 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Jodi Picoult
Jodi Picoult, geb. 1967 auf Long Island, lebt nach ihrem Studium in Princeton und Harvard zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern in Hanover, New Hampshire. 1992 veröffentlichte sie ihren ersten Roman. 2003 wurde sie für ihre Werke mit dem National England Book Award ausgezeichnet. Sie gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Erzählerinnen weltweit ihr Roman 'Beim Leben meiner Schwester' wurde in Hollywood verfilmt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jodi Picoult
- 2012, 624 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schumacher, Rainer
- Übersetzer: Rainer Schumacher
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166981
- ISBN-13: 9783404166985
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