Zug um Zug
Helmut Schmidt und Peer Steinbrück tauschen sich aus - gezielt, ohne Politjargon, Zug um Zug.
Sie sprechen über die großen politischen Themen, die momentan die Menschen bewegen.
Sie zählen zu den...
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Produktinformationen zu „Zug um Zug “
Helmut Schmidt und Peer Steinbrück tauschen sich aus - gezielt, ohne Politjargon, Zug um Zug.
Sie sprechen über die großen politischen Themen, die momentan die Menschen bewegen.
Sie zählen zu den bedeutendsten Politikern ihrer Generation und sie verbindet eine langjährige Freundschaft. Sie stehen für Zuverlässigkeit, wegweisende Entscheidungen und klare, oft unbequeme Positionen. Sie treffen sich - diesmal nicht zum Schachspielen, sondern um über große politische Themen zu reden, die zurzeit die Menschen bewegen.
SPIEGEL Bestseller!
Lese-Probe zu „Zug um Zug “
Zug um Zug von Helmut Schmidt und Peer SteinbrückGlobale Verschiebungen
Steinbrück: Das politisch beherrschende Thema dieser Monate ist - neben den Turbulenzen in der europäischen Wirtschaftsunion - die Lage und Perspektive der USA. Helmut, Sie waren jüngst in den USA - allerdings vor der Abstufung ihrer Bonität -, und mich interessiert sehr, welche Eindrücke Sie aus Ihren Gesprächen in New York und Washington mitgenommen haben. Wie schätzen Sie nach Ihrem Besuch die wirtschaftliche Situation, aber auch die politische, vor allen Dingen die innenpolitische Lage in den USA ein?
Schmidt: Ich war nicht in Washington, ich war nur in New York, konnte dort aber eine Reihe alter Freunde treffen, Henry Kissinger, George Shultz oder den früheren US-Finanzminister Robert Rubin. Mein Gesamteindruck ist ziemlich eindeutig, nämlich der einer nicht unerheblichen ökonomischen und innenpolitischen Unsicherheit. Hinzu kommt eine allgemeine Kriegsmüdigkeit in der öffentlichen Meinung der USA, die sich im Wesentlichen auf Afghanistan erstreckt. Die ökonomische Unsicherheit hat vor allem zu tun mit der relativ hohen Arbeitslosigkeit und der Aussichtslosigkeit, einen Job zu finden. Sie hat auch zu tun damit, dass viele Familien ihre Häuser verloren haben, die ihnen bis gestern als Eigentum gehörten, die sie aber als Pfand für ein Hypothekendarlehen zurückgeben mussten. Die innenpolitische Unsicherheit hängt zusammen mit der inneren Unsicherheit der Republikanischen Partei, die einerseits im Abgeordnetenhaus die Mehrheit stellt, andererseits aber schwankt zwischen bedingungsloser Opposition und begrenzter Kooperation mit der Regierung.
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Steinbrück: Während in Europa das Parteiensystem sich eher entideologisiert hat, scheint sich das Parteiensystem der USA ideologisch eher weiter aufzuladen und zurückzufallen auf den Stand fundamentaler parteipolitischer Auseinandersetzungen, die wir in Europa eigentlich hinter uns haben. Ist der Eindruck richtig, dass das amerikanische demokratische System, das seit je auf eine Machtverteilung zwischen Zentralregierung und Einzelstaaten, Präsident und Kongress, Exekutive und Jurisdiktion angelegt ist und daher auf Kompromissfähigkeit setzt, zunehmend paralysiert ist und es immer schwieriger werden könnte, Entscheidungen in beiden Häusern des Kongresses durchzusetzen?
Schmidt: Peer, dass es paralysiert ist, scheint mir übertrieben. Es könnte sein, dass sich die Konzentration der Befugnisse auf die Person des Präsidenten, wie sie seit über zweihundert Jahren in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben ist, in der modernen Welt als ein Risiko herausstellt. Ein amerikanischer Präsident soll zugleich Oberhaupt des Staates und Regierungschef sein, oder anders ausgedrückt, er soll nach innen und nach außen die Nation repräsentieren, zugleich aber als ein unter parteipolitischen Vorzeichen gewählter Regierungschef handeln.
Steinbrück: Diesen Webfehler müssten wir dann allerdings auch der Verfassung der Fünften Französischen Republik zuordnen.
Schmidt: Im Übrigen bin ich unsicher, ob Ihre Einschätzung, was die Polarisierung angeht, auf beide großen Parteien in Amerika zutrifft. Sie trifft ganz gewiss zu auf erhebliche Teile der Republikanischen Partei, wahrscheinlich weniger der Demokratischen Partei. Nach einem kurzen Besuch kann man sich allerdings nicht anmaßen, ein ausreichend begründetes Urteil zu fällen. Dennoch fiel mir auf, dass die Republikaner auf Polarisierung drängen. Zwar halten sie sich bis jetzt zurück, was die Frage nach dem Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei angeht; bis zu den Wahlen sind es ja noch fast anderthalb Jahre. Aber es gibt natürlich schon sehr viele öffentliche Diskussionen über die in Betracht kommenden Personen. Einige haben sich schon bereit erklärt zu kandidieren, andere lassen die Frage zwar offen, geben aber gleichzeitig zu erkennen: Vielleicht wären sie bereit. Als ich dort war, feierte die frühere Gouverneurin von Alaska, Frau Palin, auf einer Tour durch die Ostküstenstaaten gerade einen enormen publizistischen Erfolg. Einige meiner Gesprächspartner waren der Ansicht, man müsse durchaus mit der Möglichkeit rechnen, dass Frau Palin als Kandidatin antritt.
Was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, hat der als Redner glänzende Obama große Erwartungen geweckt, die er aber mangels parlamentarischer Mehrheit und weil er sich an der Wirklichkeit der weltpolitischen Lage stößt, nur zu einem ganz kleinen Teil erfüllen kann. Für mich persönlich gehört zu den enttäuschendsten Ergebnissen seiner Politik, dass er Guantánamo nicht wirklich hat auflösen können.
Steinbrück: Er ist mit der Hypothek gigantischer Erwartungen angetreten, die er in der steinigen politischen Ebene bisher aber nicht erfüllen konnte. Ein Rätsel bleibt für mich, warum er die aberwitzigen Steuerprivilegien für die Reichen aus der Zeit von Bush jr. nicht abgeschafft hat, als er dies mit einer Mehrheit im Kongress noch hätte durchsetzen können, um so zur Konsolidierung des US-Haushaltes beizutragen. Was mich wundert in den Gesprächen, die ich mit Amerikanern führe, ist die Tatsache, dass die öffentliche Verschuldung der USA in der Wahrnehmung der meisten Amerikaner lange Zeit keine besondere Rolle spielte - »Deficits don't matter«, meinte Vizepräsident Dick Cheney. Diese Einstellung mag sich in jüngster Zeit geändert haben. Trotzdem: Die gesamtstaatliche Verschuldung läuft langsam auf 15 Billionen US-Dollar hinaus; hinzu kommen die jährlichen Leistungsbilanzdefizite, die auch als Indiz abnehmender Wettbewerbsfähigkeit interpretiert werden dürfen, und die private Verschuldung - also Konsum auf Pump. In der amerikanischen Staatsverschuldung und ihrer Finanzierung sehe ich eines der großen Risiken für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung. Die amerikanische Zentralbank hat in nie gekannter Höhe Staatsanleihen und Unternehmensanleihen aufgekauft und damit eine ungeheure Liquidität geschaffen - was inflationäre Tendenzen in Gang setzen könnte, die schnell über die Grenzen der USA hinausschwappen.
Schmidt: Die private Verschuldung, die Sie erwähnen, hat sich im Wesentlichen ausgewirkt auf dem Sektor der Einfamilienhäuser. Die Leute haben ihre Häuser verloren, weil sie die Hypothek nicht bedienen konnten. Die seit Jahren andauernde Arbeitslosigkeit ist für sie aber noch viel schlimmer. Was sie berührt, ist der Umstand, dass sie soundso lange nun schon keinen Job haben und dass die Aussicht, morgen oder übermorgen einen zu bekommen, nicht sonderlich groß erscheint. Ich glaube mit Blick auf die Vitalität der Amerikaner allerdings nicht, dass die hohe Arbeitslosigkeit in den USA eine dauerhafte Beeinträchtigung bleibt.
Steinbrück: Da bin ich mir nicht sicher angesichts des Verlustes von Kapazitäten und Know-how in der US-Industrie und angesichts des Tempos, in dem Schwellenländer auch bei technologisch anspruchsvollsten Fertigkeiten aufholen. Und was die Mechanismen der Immobilienfinanzierung in den USA angeht, so belasten die Schulden letzten Endes die Bilanzen der amerikanischen Banken. Die Frage ist, ob dadurch nicht früher oder später erneut einige Banken in den USA marode werden oder zumindest in erhebliche Labilitäten geraten könnten, ob also hier nicht eine weitere Erschütterung droht. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Amerikaner, politisch vermittelt, endlich von dieser Droge der Verschuldung entwöhnt werden müssten. Die Regierung - egal wer sie stellt - müsste die Courage haben, den Amerikanern zu erläutern, erstens: Wir können die Steuern nicht senken, sondern wir müssen sie, im Gegenteil, erhöhen. Und zweitens: Wir müssen Ausgaben senken, insbesondere auch im amerikanischen Militärhaushalt, der nach wie vor eine Größenordnung von 670 bis 700 Milliarden Dollar beansprucht. Mit einem Wort: Ich habe den Eindruck, dass ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen Finanzpolitik vorgenommen werden müsste, der allerdings nur sehr schwer zu vermitteln ist und angesichts der fiskal-populistischen Haltung vieler Republikaner neue Zerreißproben begründen würde.
Schmidt: Die Wünschbarkeit eines solchen Paradigmenwechsels kann ich nur unterstreichen. Nicht aber habe ich den Eindruck, dass die gegenwärtige Administration mit vollem Ernst und voller Kraft in diese Richtung arbeitet. Ausdrücklich unterstreichen möchte ich auch Ihre Bemerkung über den amerikanischen Militärhaushalt, zu dem ja die Kriegskosten für Afghanistan noch dazugerechnet werden müssen. Da ist in der Tat jedes Maß verlorengegangen. Oder genauer: Da herrschen noch die alten Maßstäbe aus der Zeit des Kalten Krieges.
Steinbrück: Gerade die Kürzung des Militärhaushaltes wird aber gegenüber den Republikanern kaum durchzusetzen sein; für sie ist das Militär ein Tabu, weil sie darin ein Indiz oder eine Art Referenz für die Stärke Amerikas sehen. Im Übrigen sind sie nicht nur strikt gegen Steuererhöhungen, sondern treten sogar mit dem in meinen Augen völlig illusionsgeladenen Versprechen von Steuersenkungen auf. Und deshalb fürchte ich, dass die Auseinandersetzungen bei unterschiedlichen Mehrheiten im Senat und im Repräsentantenhaus noch sehr viel heftiger und aggressiver werden könnten und die politische Atmosphäre insgesamt noch vergifteter. Obama hat Kompromisse machen müssen, um mit der Anhebung der Schuldengrenze von derzeit 14,3 Billionen US-Dollar die Zahlungsunfähigkeit der USA mit desaströsen Folgen zu verhindern, und doch wird am Ende ihm die Verantwortung für die nach wie vor ungelösten Haushaltsprobleme zugeordnet werden.
Schmidt: Jede Regierung muss Kompromisse machen. Demokratie ohne den Willen zum Kompromiss kann nicht funktionieren. Wenn ich ein Gesetz durch das Parlament bringen will, dann muss ich eine Mehrheit davon überzeugen, dass die Vorlage richtig ist. Das Zustandebringen einer parlamentarischen Mehrheit setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Kompromiss voraus. Das ist in jeder Demokratie der Welt das Gleiche, im Detail sieht es dann von Fall zu Fall anders aus. Aber ich stimme Ihnen zu, dass die amerikanische Demokratie gegenwärtig gehandikapt ist, und das liegt vor allem an der Republikanischen Partei, die einerseits beflügelt ist von ihrem Wahlerfolg bei den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus, andererseits tief enttäuscht, weil sie die Regierungsgewalt verloren hat. Die Republikanische Partei in ihrem augenblicklichen Zustand macht das Finden von tragfähigen Kompromissen sehr schwierig. Darunter leidet die Administration Obama, die im Übrigen nicht nur innenpolitisch, nicht nur ökonomisch, sondern eben auch sicherheitspolitisch - siehe Afghanistan - ein wirklich schlimmes Erbe übernommen hat. Das darf man nicht vergessen.
Steinbrück: Der Begriff »Kompromiss« ist in Deutschland - vielleicht als Restante des deutschen Idealismus - negativ besetzt, obwohl er von konstitutiver Bedeutung für das Funktionieren einer Demokratie ist, damit wir uns nicht die Köpfe einschlagen -
Schmidt: Peer, darf ich dazwischenfahren? Diese Neigung der Deutschen, den Kompromiss schon vom Prinzip her moralisch für zweifelhaft zu halten, hat nicht nur in der Redewendung vom »faulen Kompromiss« ihren Niederschlag gefunden, sondern auch im Text der Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit. Natürlich muss Einigkeit herrschen in Bezug auf elementare Grundlagen unserer Gesellschaft, die Würde der Person zum Beispiel oder das Prinzip der Gerechtigkeit; wenn es um die Bejahung dieser Prinzipien geht, habe ich überhaupt keine Bedenken gegen das schöne Lied »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Aber sofern Einigkeit dahingehend missverstanden wird, dass es eigentlich ein Verstoß sei gegen das Ideal, wenn man Kompromisse schließen muss, dann muss ich widersprechen. Man begegnet dieser Auffassung häufig gerade unter jungen Leuten, und dann frage ich mich, ob die Erziehung dieser jungen Deutschen an Schulen und Universitäten möglicherweise unzureichend war. Entschuldigen Sie, Peer, diese Abschweifung.
Steinbrück: Die Betonung der Einigkeit hat eine lange Tradition im deutschen Idealismus, der für eine ganze Reihe von Versperrungen im gesellschaftlichen und politischen Feld verantwortlich ist, unter anderem für unsere Neigung, Fragen immer grundsätzlich anzugehen und prinzipienorientiert zu debattieren. Bei ganz und gar nebensächlichen Fragen genügt es uns nicht, zu sagen, es geht um Leben und Tod - nein, es geht um mehr als das! Was uns in der deutschen Politik manchmal fehlt, ist eine Portion britischer Common Sense, eine Portion skandinavischer Pragmatismus und manchmal auch eine gewisse mediterrane Leichtfüßigkeit.
Aber ich will zurück zu dem in meinen Augen durchaus beunruhigenden Szenario, dass 2012 vielleicht nicht gerade Sarah Palin die Wahlen gewinnt, aber doch ein radikaler, dem religiösen Fundamentalismus zuneigender, auf die Innenpolitik fixierter Republikaner Präsident der Vereinigen Staaten von Amerika wird. Die Riege der republikanischen Bewerber, die sich mit Unterstützung der Tea-Party-Bewegung warmlaufen, lässt einem den Atem stocken.
Was würde ein solcher Präsident Ihrer Meinung nach bedeuten in den Außenbeziehungen der USA und in dem Zusammenwirken zwischen den USA und Europa? Mich beschäftigt die Frage, ob darüber nicht die in der amerikanischen Geschichte mehrfach zum Vorschein gekommenen isolationistischen Tendenzen wieder stärker werden könnten, zumal wenn die Auslandserfahrungen dieses Präsidenten gegen null tendieren, wie das ja bei Bush jr. der Fall war und wie es wohl auch für den texanischen Gouverneur Perry gilt.
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Copyright © 2011
by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Steinbrück: Während in Europa das Parteiensystem sich eher entideologisiert hat, scheint sich das Parteiensystem der USA ideologisch eher weiter aufzuladen und zurückzufallen auf den Stand fundamentaler parteipolitischer Auseinandersetzungen, die wir in Europa eigentlich hinter uns haben. Ist der Eindruck richtig, dass das amerikanische demokratische System, das seit je auf eine Machtverteilung zwischen Zentralregierung und Einzelstaaten, Präsident und Kongress, Exekutive und Jurisdiktion angelegt ist und daher auf Kompromissfähigkeit setzt, zunehmend paralysiert ist und es immer schwieriger werden könnte, Entscheidungen in beiden Häusern des Kongresses durchzusetzen?
Schmidt: Peer, dass es paralysiert ist, scheint mir übertrieben. Es könnte sein, dass sich die Konzentration der Befugnisse auf die Person des Präsidenten, wie sie seit über zweihundert Jahren in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben ist, in der modernen Welt als ein Risiko herausstellt. Ein amerikanischer Präsident soll zugleich Oberhaupt des Staates und Regierungschef sein, oder anders ausgedrückt, er soll nach innen und nach außen die Nation repräsentieren, zugleich aber als ein unter parteipolitischen Vorzeichen gewählter Regierungschef handeln.
Steinbrück: Diesen Webfehler müssten wir dann allerdings auch der Verfassung der Fünften Französischen Republik zuordnen.
Schmidt: Im Übrigen bin ich unsicher, ob Ihre Einschätzung, was die Polarisierung angeht, auf beide großen Parteien in Amerika zutrifft. Sie trifft ganz gewiss zu auf erhebliche Teile der Republikanischen Partei, wahrscheinlich weniger der Demokratischen Partei. Nach einem kurzen Besuch kann man sich allerdings nicht anmaßen, ein ausreichend begründetes Urteil zu fällen. Dennoch fiel mir auf, dass die Republikaner auf Polarisierung drängen. Zwar halten sie sich bis jetzt zurück, was die Frage nach dem Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei angeht; bis zu den Wahlen sind es ja noch fast anderthalb Jahre. Aber es gibt natürlich schon sehr viele öffentliche Diskussionen über die in Betracht kommenden Personen. Einige haben sich schon bereit erklärt zu kandidieren, andere lassen die Frage zwar offen, geben aber gleichzeitig zu erkennen: Vielleicht wären sie bereit. Als ich dort war, feierte die frühere Gouverneurin von Alaska, Frau Palin, auf einer Tour durch die Ostküstenstaaten gerade einen enormen publizistischen Erfolg. Einige meiner Gesprächspartner waren der Ansicht, man müsse durchaus mit der Möglichkeit rechnen, dass Frau Palin als Kandidatin antritt.
Was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, hat der als Redner glänzende Obama große Erwartungen geweckt, die er aber mangels parlamentarischer Mehrheit und weil er sich an der Wirklichkeit der weltpolitischen Lage stößt, nur zu einem ganz kleinen Teil erfüllen kann. Für mich persönlich gehört zu den enttäuschendsten Ergebnissen seiner Politik, dass er Guantánamo nicht wirklich hat auflösen können.
Steinbrück: Er ist mit der Hypothek gigantischer Erwartungen angetreten, die er in der steinigen politischen Ebene bisher aber nicht erfüllen konnte. Ein Rätsel bleibt für mich, warum er die aberwitzigen Steuerprivilegien für die Reichen aus der Zeit von Bush jr. nicht abgeschafft hat, als er dies mit einer Mehrheit im Kongress noch hätte durchsetzen können, um so zur Konsolidierung des US-Haushaltes beizutragen. Was mich wundert in den Gesprächen, die ich mit Amerikanern führe, ist die Tatsache, dass die öffentliche Verschuldung der USA in der Wahrnehmung der meisten Amerikaner lange Zeit keine besondere Rolle spielte - »Deficits don't matter«, meinte Vizepräsident Dick Cheney. Diese Einstellung mag sich in jüngster Zeit geändert haben. Trotzdem: Die gesamtstaatliche Verschuldung läuft langsam auf 15 Billionen US-Dollar hinaus; hinzu kommen die jährlichen Leistungsbilanzdefizite, die auch als Indiz abnehmender Wettbewerbsfähigkeit interpretiert werden dürfen, und die private Verschuldung - also Konsum auf Pump. In der amerikanischen Staatsverschuldung und ihrer Finanzierung sehe ich eines der großen Risiken für die weitere weltwirtschaftliche Entwicklung. Die amerikanische Zentralbank hat in nie gekannter Höhe Staatsanleihen und Unternehmensanleihen aufgekauft und damit eine ungeheure Liquidität geschaffen - was inflationäre Tendenzen in Gang setzen könnte, die schnell über die Grenzen der USA hinausschwappen.
Schmidt: Die private Verschuldung, die Sie erwähnen, hat sich im Wesentlichen ausgewirkt auf dem Sektor der Einfamilienhäuser. Die Leute haben ihre Häuser verloren, weil sie die Hypothek nicht bedienen konnten. Die seit Jahren andauernde Arbeitslosigkeit ist für sie aber noch viel schlimmer. Was sie berührt, ist der Umstand, dass sie soundso lange nun schon keinen Job haben und dass die Aussicht, morgen oder übermorgen einen zu bekommen, nicht sonderlich groß erscheint. Ich glaube mit Blick auf die Vitalität der Amerikaner allerdings nicht, dass die hohe Arbeitslosigkeit in den USA eine dauerhafte Beeinträchtigung bleibt.
Steinbrück: Da bin ich mir nicht sicher angesichts des Verlustes von Kapazitäten und Know-how in der US-Industrie und angesichts des Tempos, in dem Schwellenländer auch bei technologisch anspruchsvollsten Fertigkeiten aufholen. Und was die Mechanismen der Immobilienfinanzierung in den USA angeht, so belasten die Schulden letzten Endes die Bilanzen der amerikanischen Banken. Die Frage ist, ob dadurch nicht früher oder später erneut einige Banken in den USA marode werden oder zumindest in erhebliche Labilitäten geraten könnten, ob also hier nicht eine weitere Erschütterung droht. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Amerikaner, politisch vermittelt, endlich von dieser Droge der Verschuldung entwöhnt werden müssten. Die Regierung - egal wer sie stellt - müsste die Courage haben, den Amerikanern zu erläutern, erstens: Wir können die Steuern nicht senken, sondern wir müssen sie, im Gegenteil, erhöhen. Und zweitens: Wir müssen Ausgaben senken, insbesondere auch im amerikanischen Militärhaushalt, der nach wie vor eine Größenordnung von 670 bis 700 Milliarden Dollar beansprucht. Mit einem Wort: Ich habe den Eindruck, dass ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen Finanzpolitik vorgenommen werden müsste, der allerdings nur sehr schwer zu vermitteln ist und angesichts der fiskal-populistischen Haltung vieler Republikaner neue Zerreißproben begründen würde.
Schmidt: Die Wünschbarkeit eines solchen Paradigmenwechsels kann ich nur unterstreichen. Nicht aber habe ich den Eindruck, dass die gegenwärtige Administration mit vollem Ernst und voller Kraft in diese Richtung arbeitet. Ausdrücklich unterstreichen möchte ich auch Ihre Bemerkung über den amerikanischen Militärhaushalt, zu dem ja die Kriegskosten für Afghanistan noch dazugerechnet werden müssen. Da ist in der Tat jedes Maß verlorengegangen. Oder genauer: Da herrschen noch die alten Maßstäbe aus der Zeit des Kalten Krieges.
Steinbrück: Gerade die Kürzung des Militärhaushaltes wird aber gegenüber den Republikanern kaum durchzusetzen sein; für sie ist das Militär ein Tabu, weil sie darin ein Indiz oder eine Art Referenz für die Stärke Amerikas sehen. Im Übrigen sind sie nicht nur strikt gegen Steuererhöhungen, sondern treten sogar mit dem in meinen Augen völlig illusionsgeladenen Versprechen von Steuersenkungen auf. Und deshalb fürchte ich, dass die Auseinandersetzungen bei unterschiedlichen Mehrheiten im Senat und im Repräsentantenhaus noch sehr viel heftiger und aggressiver werden könnten und die politische Atmosphäre insgesamt noch vergifteter. Obama hat Kompromisse machen müssen, um mit der Anhebung der Schuldengrenze von derzeit 14,3 Billionen US-Dollar die Zahlungsunfähigkeit der USA mit desaströsen Folgen zu verhindern, und doch wird am Ende ihm die Verantwortung für die nach wie vor ungelösten Haushaltsprobleme zugeordnet werden.
Schmidt: Jede Regierung muss Kompromisse machen. Demokratie ohne den Willen zum Kompromiss kann nicht funktionieren. Wenn ich ein Gesetz durch das Parlament bringen will, dann muss ich eine Mehrheit davon überzeugen, dass die Vorlage richtig ist. Das Zustandebringen einer parlamentarischen Mehrheit setzt die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Kompromiss voraus. Das ist in jeder Demokratie der Welt das Gleiche, im Detail sieht es dann von Fall zu Fall anders aus. Aber ich stimme Ihnen zu, dass die amerikanische Demokratie gegenwärtig gehandikapt ist, und das liegt vor allem an der Republikanischen Partei, die einerseits beflügelt ist von ihrem Wahlerfolg bei den letzten Wahlen zum Abgeordnetenhaus, andererseits tief enttäuscht, weil sie die Regierungsgewalt verloren hat. Die Republikanische Partei in ihrem augenblicklichen Zustand macht das Finden von tragfähigen Kompromissen sehr schwierig. Darunter leidet die Administration Obama, die im Übrigen nicht nur innenpolitisch, nicht nur ökonomisch, sondern eben auch sicherheitspolitisch - siehe Afghanistan - ein wirklich schlimmes Erbe übernommen hat. Das darf man nicht vergessen.
Steinbrück: Der Begriff »Kompromiss« ist in Deutschland - vielleicht als Restante des deutschen Idealismus - negativ besetzt, obwohl er von konstitutiver Bedeutung für das Funktionieren einer Demokratie ist, damit wir uns nicht die Köpfe einschlagen -
Schmidt: Peer, darf ich dazwischenfahren? Diese Neigung der Deutschen, den Kompromiss schon vom Prinzip her moralisch für zweifelhaft zu halten, hat nicht nur in der Redewendung vom »faulen Kompromiss« ihren Niederschlag gefunden, sondern auch im Text der Nationalhymne: Einigkeit und Recht und Freiheit. Natürlich muss Einigkeit herrschen in Bezug auf elementare Grundlagen unserer Gesellschaft, die Würde der Person zum Beispiel oder das Prinzip der Gerechtigkeit; wenn es um die Bejahung dieser Prinzipien geht, habe ich überhaupt keine Bedenken gegen das schöne Lied »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Aber sofern Einigkeit dahingehend missverstanden wird, dass es eigentlich ein Verstoß sei gegen das Ideal, wenn man Kompromisse schließen muss, dann muss ich widersprechen. Man begegnet dieser Auffassung häufig gerade unter jungen Leuten, und dann frage ich mich, ob die Erziehung dieser jungen Deutschen an Schulen und Universitäten möglicherweise unzureichend war. Entschuldigen Sie, Peer, diese Abschweifung.
Steinbrück: Die Betonung der Einigkeit hat eine lange Tradition im deutschen Idealismus, der für eine ganze Reihe von Versperrungen im gesellschaftlichen und politischen Feld verantwortlich ist, unter anderem für unsere Neigung, Fragen immer grundsätzlich anzugehen und prinzipienorientiert zu debattieren. Bei ganz und gar nebensächlichen Fragen genügt es uns nicht, zu sagen, es geht um Leben und Tod - nein, es geht um mehr als das! Was uns in der deutschen Politik manchmal fehlt, ist eine Portion britischer Common Sense, eine Portion skandinavischer Pragmatismus und manchmal auch eine gewisse mediterrane Leichtfüßigkeit.
Aber ich will zurück zu dem in meinen Augen durchaus beunruhigenden Szenario, dass 2012 vielleicht nicht gerade Sarah Palin die Wahlen gewinnt, aber doch ein radikaler, dem religiösen Fundamentalismus zuneigender, auf die Innenpolitik fixierter Republikaner Präsident der Vereinigen Staaten von Amerika wird. Die Riege der republikanischen Bewerber, die sich mit Unterstützung der Tea-Party-Bewegung warmlaufen, lässt einem den Atem stocken.
Was würde ein solcher Präsident Ihrer Meinung nach bedeuten in den Außenbeziehungen der USA und in dem Zusammenwirken zwischen den USA und Europa? Mich beschäftigt die Frage, ob darüber nicht die in der amerikanischen Geschichte mehrfach zum Vorschein gekommenen isolationistischen Tendenzen wieder stärker werden könnten, zumal wenn die Auslandserfahrungen dieses Präsidenten gegen null tendieren, wie das ja bei Bush jr. der Fall war und wie es wohl auch für den texanischen Gouverneur Perry gilt.
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Copyright © 2011
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Autoren-Porträt von Helmut Schmidt, Peer Steinbrück
Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, wurde 1918 in Hamburg geboren. Nach seinem Abschied aus der aktiven Politik kam er 1983 als Mitherausgeber zur Zeit. Neben seinen Beiträgen für die Zeit, veröffentlichte er zahlreiche Bücher. Bei Hoffmann und Campe erschienen Einmischungen. Ausgewählte Zeitartikel von 1982 bis heute (2010), Zug um Zug (mit Peer Steinbrück, 2011), Mein Europa (2013) und Dann wäre ich Hafendirektor geworden (2015). Helmut Schmidt starb am 10. November 2015 in Hamburg. Peer Steinbrück, geboren 1947 in Hamburg, ist Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 2002 bis 2005 war er Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister. Sein Buch Unterm Strich (Hoffmann und Campe Verlag, 2010) stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Vertagte Zukunft ist Steinbrücks erste Veröffentlichung seit der Wahl im September 2013.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Helmut Schmidt , Peer Steinbrück
- 2011, 320 Seiten, Maße: 14,5 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455501974
- ISBN-13: 9783455501971
- Erscheinungsdatum: 24.10.2011
Pressezitat
»Wer [...] selbst liest, der wird mit Substanz belohnt.« Ärzte Zeitung, 16.12.2011
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