Zwei Reformationen
Luther und Calvin - Alte und Neue Welt. Durchges. u. mit e. Nachw. v. Manfred Schulze
Zu den Gründungsmythen des deutschen Protestantismus gehört die Stilisierung Martin Luthers als ersten Protestanten und deutschen Propheten, dessen Protest gegen die »babylonische Gefangenschaft der Kirche« zur wundersamen Befreiung...
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Produktinformationen zu „Zwei Reformationen “
Zu den Gründungsmythen des deutschen Protestantismus gehört die Stilisierung Martin Luthers als ersten Protestanten und deutschen Propheten, dessen Protest gegen die »babylonische Gefangenschaft der Kirche« zur wundersamen Befreiung von der päpstlichen Tyrannei und zum Ausbruch aus dem finsteren Zeitalter des Mittelalters führte.
Obermans Essays widerlegen hingegen in streitbarer Auseinandersetzung die These, Martin Luther habe als einsame, revolutionäre Gestalt - gegen seine Zeit - die Moderne eingeläutet. Stattdessen interpretiert er den »reformatorischen Durchbruch« Martin Luthers im Zusammenhang der vielfältigen intellektuellen Strömungen und Frömmigkeitsbewegungen einer vitalen spätmittelalterlichen christlichen Gesellschaft, die bereits eine Vielzahl reformerischer Kräfte in sich barg. Wie schon in seinem früheren Buch über den Reformator führt er dem Leser zudem die überraschende Tatsache vor Augen, dass Luther - trotz seiner theologischen Neuansätze und seiner Entfremdung von der mönchischen Lebensweise - tief im spätmittelalterlichen Weltbild mitsamt seinen antisemitischen Elementen und seinen apokalyptischen Endzeiterwartungen verhaftet blieb.
Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor seine spannende Unterscheidung zwischen der von Wittenberg ausgehenden »ersten Reformation«, die für die deutschen Territorialstaaten prägend wurde, und der »zweiten Reformation« des humanistisch inspirierten Protestantismus, die von den protestantischen Flüchtlingen in den freien Städten ausging und eine völlig andere Zukunftsvision vertrat als Luther. Vor allem bei Calvin, dessen Biografie und Denken im zweiten Teil des Buches eingehend interpretiert werden, findet sich statt des Endzeitbewusstseins die Vision eines kulturell und sozial erneuerten Europa, die Oberman als den eigentlichen Beitrag des Protestantismus zur Moderne versteht.
Obermans Essays widerlegen hingegen in streitbarer Auseinandersetzung die These, Martin Luther habe als einsame, revolutionäre Gestalt - gegen seine Zeit - die Moderne eingeläutet. Stattdessen interpretiert er den »reformatorischen Durchbruch« Martin Luthers im Zusammenhang der vielfältigen intellektuellen Strömungen und Frömmigkeitsbewegungen einer vitalen spätmittelalterlichen christlichen Gesellschaft, die bereits eine Vielzahl reformerischer Kräfte in sich barg. Wie schon in seinem früheren Buch über den Reformator führt er dem Leser zudem die überraschende Tatsache vor Augen, dass Luther - trotz seiner theologischen Neuansätze und seiner Entfremdung von der mönchischen Lebensweise - tief im spätmittelalterlichen Weltbild mitsamt seinen antisemitischen Elementen und seinen apokalyptischen Endzeiterwartungen verhaftet blieb.
Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor seine spannende Unterscheidung zwischen der von Wittenberg ausgehenden »ersten Reformation«, die für die deutschen Territorialstaaten prägend wurde, und der »zweiten Reformation« des humanistisch inspirierten Protestantismus, die von den protestantischen Flüchtlingen in den freien Städten ausging und eine völlig andere Zukunftsvision vertrat als Luther. Vor allem bei Calvin, dessen Biografie und Denken im zweiten Teil des Buches eingehend interpretiert werden, findet sich statt des Endzeitbewusstseins die Vision eines kulturell und sozial erneuerten Europa, die Oberman als den eigentlichen Beitrag des Protestantismus zur Moderne versteht.
Klappentext zu „Zwei Reformationen “
Zu den Gründungsmythen des deutschen Protestantismus gehört die Stilisierung Martin Luthers als ersten Protestanten und deutschen Propheten, dessen Protest gegen die "babylonische Gefangenschaft der Kirche" zur wundersamen Befreiung von der päpstlichen Tyrannei und zum Ausbruch aus dem finsteren Zeitalter des Mittelalters führte.Obermans Essays widerlegen hingegen in streitbarer Auseinandersetzung die These, Martin Luther habe als einsame, revolutionäre Gestalt - gegen seine Zeit - die Moderne eingeläutet. Stattdessen interpretiert er den "reformatorischen Durchbruch" Martin Luthers im Zusammenhang der vielfältigen intellektuellen Strömungen und Frömmigkeitsbewegungen einer vitalen spätmittelalterlichen christlichen Gesellschaft, die bereits eine Vielzahl reformerischer Kräfte in sich barg. Wie schon in seinem früheren Buch über den Reformator führt er dem Leser zudem die überraschende Tatsache vor Augen, dass Luther - trotz seiner theologischen Neuansätze und seiner Entfremdungvon der mönchischen Lebensweise - tief im spätmittelalterlichen Weltbild mitsamt seinen antisemitischen Elementen und seinen apokalyptischen Endzeiterwartungen verhaftet blieb.
Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor seine spannende Unterscheidung zwischen der von Wittenberg ausgehenden "ersten Reformation", die für die deutschen Territorialstaaten prägend wurde, und der "zweiten Reformation" des humanistisch inspirierten Protestantismus, die von den protestantischen Flüchtlingen in den freien Städten ausging und eine völlig andere Zukunftsvision vertrat als Luther. Vor allem bei Calvin, dessen Biografie und Denken im zweiten Teil des Buches eingehend interpretiert werden, findet sich statt des Endzeitbewusstseins die Vision eines kulturell und sozial erneuerten Europa, die Oberman als den eigentlichen Beitrag des Protestantismus zur Moderne versteht.
Lese-Probe zu „Zwei Reformationen “
Ein Sturm braut sich zusammen Das lange fünfzehnte JahrhundertMan kann das fünfzehnte Jahrhundert als Zeit der Ruhe vor dem Sturm bezeichnen - vor dem Sturm der Reformation, der Religionskriege und der Revolution. Gemäß dieser Sichtweise standen Martin Luther und die Reformation am Beginn einer neuen Epoche der europäischen Geschichte und schufen eine Welt, die völlig anderen Zeiten entgegengehen sollte. Häufig als protestantischer Triumphalismus bezeichnet, handelt es sich um eine zutiefst in der deutschen Forschung des neunzehnten Jahrhunderts verwurzelte Sichtweise, wie sie sich auch in den Werken Leopold von Rankes findet und wie sie sich in Bernd Moellers Charakterisierung Luthers als "Person der Weltgeschichte" widerspiegelt. Als ich seinerzeit die Thematik der Vorläufer der Reformation aufgriff und geltend machte, wie lebendig die mittelalterliche Reform in allen Lebensbereichen war, behauptete ich, Luthers radikale Neuorientierung habe ihm das hohe Amt des Gegenreformers verliehen. Damals lebte ich in Cambridge, Massachussets, und ahnte nicht, dass ich bald 18 Jahre in Tübingen verbringen würde. Die Forschung zur Reformation wurde damals noch von den Schülern Karl Holls beherrscht, der als tadelloser, unfehlbarer Lutherinterpret galt. Holls strategisch auf die wichtigen Lehrstühle für Kirchengeschichte verteilten Lieblingsschüler waren allesamt, wie mir erst allmählich klar wurde, zu unkritischen Anhängern des Dritten Reiches geworden. Das deutsch-nationalistische Element der Hitlerschen Botschaft fiel in ihren Kreisen auf fruchtbaren Boden und fand leidenschaftliche Unterstützung (häufig in Artikeln, die ich nur schwer aufzufinden vermochte, weil sie aus Zeitschriften aus den dreißiger und vierziger Jahren herausgerissen worden waren). Man sollte die jüngsten Versuche einer Ehrenrettung oder apologetischen Reinigung und Rehabilitation unverbesserlicher nationalsozialistischer Lutherinterpreten wie Emanuel Hirsch in Göttingen und Werner Elert in Erlangen
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nicht als nebensächliches akademisches Drama verstehen. Vielmehr sind sie Teil einer planvollen Bemühung, die lutherzentrierte Weltanschauung des neunzehnten Jahrhunderts wiederherzustellen. Der Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm hat dieser Tendenz mutig widersprochen und in seinen Arbeiten zur schöpferischen Lebendigkeit des Spätmittelalters nicht zufällig einer neuen Erforschung des fünfzehnten Jahrhunderts Vorrang eingeräumt. Joseph Lortz, der sich 1939 durch einen zweibändigen Angriff gegen die Kirche des fünfzehnten Jahrhunderts einen Namen gemacht hat, zählte auf katholischer Seite zu den Theologen, die sich zum Nationalsozialismus hingezogen fühlten. Diejenigen Protestanten, die Lortz antworteten, verklärten seine Kritik zu einem Vorstoß in Richtung "Ökumene" und ersetzten sie durch eine wohlwollende Neudeutung der vorreformatorischen Epoche. Aus der Perspektive dieses weitreichenden Ansatzes handelte es sich um ein Zeitalter blühender Frömmigkeit ohne Unterdrückung, Märtyrer oder Inquisition, eine organische Vorstufe des Lutherereignisses.
Eine zweite, konkurrierende Perspektive auf das fünfzehnte Jahrhundert leitet sich aus der neuen sozialgeschichtlichen Darstellung Europas in der Frühen Neuzeit her. Dabei handelt es sich um die wichtigste und sichtbarste neue Richtung in unserem Forschungsgebiet, deren bedeutendere Vertreter aus der angelsächsischen Welt stammen. Diese Historiker brachten, indem sie die etablierte politische Geschichtsschreibung hinter sich ließen und sich kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Studien zuwandten, die entscheidende Bedeutung der Religion neu zur Geltung, auch wenn sie diese häufig unter der irreführenden Kategorie der "Volksreligion" marginalisierten. Dieses Konzept vermochte der Überprüfung durch die Forschung der vergangenen Jahrzehnte nicht standzuhalten. Während sich der Protestantismus der Bismarck-Zeit dem Wunder der Reformation widmete und vornehmlich deren Diskontinuität zum Mittelalter wahrnahm, haben unsere besten Sozialhistoriker ein neues Paradigma der Kontinuität erarbeitet, welches das Mittelalter und die Frühe Neuzeit als eine Epoche begreift, die von Luther und der Reformation zwar hinterfragt, aber nicht auseinander gerissen worden ist. Einer ihrer bedeutendsten Sprecher, Thomas A. Brady, jr., wendet sich zunehmend der Erforschung des Potentials und der Flexibilität des Heiligen Römischen Reiches zu, das imstande war, die - wie er zu glauben geneigt ist - kurzlebige Tragödie der Reformation zu meistern. Mit seiner Prämisse, der Bauernkrieg sei das von Luther verratene wichtigste Merkmal der Reformation gewesen, begriff Brady bereits früh, dass die romantische These Bernd Moellers von der städtischen Reformation unhaltbar war: Als dünnes Destillat der religiösen Propaganda und polemischer Predigten des sechzehnten Jahrhunderts ließ sie sich nicht durch eine archivalische Rekonstruktion gesellschaftlicher Unterstützung durch die Stadtbevölkerung fundieren. Gemäß dieser zweiten Meistererzählung erscheint die Reformation nur als Zwischenspiel, da sie rasch ihr Potential einbüßte und zwischen den Interessen der Herren und der Leibeigenen zerrieben und von innen durch die Kämpfe zwischen den Zeloten und der politisch denkenden Schicht geschwächt wurde.
Eine dritte interessante Perspektive ließe sich viel leichter zurückweisen, hätte nicht deren prominentester Vertreter, Heinz Schilling, kürzlich eine umfassende Studie über die Geschichte Europas zwischen 1250 und 1750 veröffentlicht, die die Dinge weit komplizierter erscheinen lässt. An anderer Stelle habe ich erhebliche Bedenken gegen Schillings strukturalistische Sicht der Geschichte als eines unvermeidlichen Prozesses geäußert, der vielfach als Fortschritt verstanden wird. Diese Interpretation drängt meiner Meinung nach die Kultur- und Mentalitätsgeschichte an den Rand und deutet die Religion lediglich als untergeordneten Faktor der Staatenbildung. In seiner neuen, umfassenderen Darstellung "Die neue Zeit" dagegen gelingt es Schilling, seine prozessuale Geschichtswahrnehmung einem überzeugenderen Standpunkt unterzuordnen.
Inzwischen sind jedoch zahlreiche deutsche wie amerikanische Historiker dem Ruf des frühen Schilling gefolgt und arbeiten mit solcher Energie und Intensität innerhalb der Grenzen von Konfessionalisierung und Staatenbildung, dass man diese Schule als eigenständigen Ansatz betrachten sollte. Er bietet den Vorteil, dass er die gesamte Diskussion über Kontinuität und Diskontinuität umgeht, indem er Luther und die Reformation als eine Sache der Konfessionen ernst nimmt, die dem Deutschland des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt haben. Bedauerlicherweise fördert dieser Ansatz gerade auf Grund seiner Beschäftigung mit der Moderne eine Fixierung auf die Gegenwart, die mir als eine der großen Schwächen der neueren Geschichtsschreibung erscheint. Ein typisches Beispiel dafür bietet Richard Marius' Buch "Martin Luther. The Christian Between God and Death", das - anstatt den Versuch zu unternehmen, die Zeit oder das Denken Martin Luthers zu verstehen - mehrere offensichtlich moderne Reaktionen auf den Reformator präsentiert und ihn im Grunde als fanatischen Fundamentalisten des 20. Jahrhunderts erscheinen lässt.
Eine solche Fixierung auf die Gegenwart mag zwar unterhaltsam sein, ist jedoch nicht haltbar. Was dagegen die faszinierende Vorstellung von einem Prozess der Reformation betrifft, so hat sie unser Verständnis des fünfzehnten Jahrhunderts stark beeinflusst. Wird der vermeintliche Prozess vom tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse zum Scheitern gebracht oder konterkariert, so postuliert man - je nach der metahistorischen Position des Autors, der darüber nachdenkt - entweder eine Krise oder einen Fehlschlag. Trotz verheißungsvoller Forschungsansätze sowie der nüchternen Rekonstruktion des allmählichen Wandels, den andere Forscher und ich umfassend dokumentiert haben, sind die Arbeiten zum 15. Jahrhundert voller Krisen- und Versagenstheorien, die fälschlicherweise im Sinne eines Prozesses dargestellt werden, der sich vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne erstreckt habe.
Laut einer mittelalterlichen Legende war es der Teufel, der vom Chronisten verlangte, Geschichte als Prozess zu erzählen, indem er eine unmittelbare Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, Ablauf und Folge herstellte. Das aus dem 14. Jahrhundert stammende Predigerhandbuch "Fasciculus morum" lehrte, dass einzig und allein der Teufel die Entfernung zwischen Himmel und Erde ermessen könne, da nur er - bei seinem Fall - einer direkten Linie gefolgt sei. Es ist überaus aufschlussreich, dass das westliche Denken die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "abwegig" in "irrig" umgedeutet hat. Was im buchstäblichen Sinne das "Verlassen einer direkten Linie" meinte, nahm die Bedeutung "abweichend" an. Nur wenn wir diesen Teufel austreiben, können wir unser Verständnis der Geschichte vertiefen und ein neues Bewusstsein für die unerwarteten Wendungen der Ereignisse auf den zufälligen Schnittpunkten krummer Linien gewinnen. Kurz, der gute Historiker muss "Abwege" gehen.
Im Folgenden befasse ich mich mit vier kulturellen Zusammenhängen, die ich als "Trends" bezeichnen möchte, um nicht in die terminologische Falle zu tappen, sie als einen einzigen vorherrschenden Prozess darzustellen. Ich werde jeden dieser Trends für sich - anstatt als untergeordnetes Element eines vorgegebenen Narrativs - als gleichwertigen Faktor behandeln und sie durch jenen Zeitraum hindurch verfolgen, den man modisch als "das lange fünfzehnte Jahrhundert" bezeichnet. Vor etwa vierzig Jahren musste man, um eine von lutherischen oder katholischen Konfessionsgrenzen unbeeinträchtigte Perspektive zu gewinnen, eine eigenständige Erforschung des Mittelalters einfordern. Heute dagegen kann man auf einen Fortschritt in der Erforschung aller vier Zusammenhänge zurückgreifen, der es ermöglicht, auf Kurs zu bleiben, ohne dass man Zuflucht zu den Scheuklappen nehmen muss, deren man einst zum Schutz gegen den ablenkenden Glanz späterer Ereignisse bedurfte. Wenn man sich weit in die Zeit der Renaissance und der Reformation - das "lange fünfzehnte Jahrhundert" - hineinwagt, vermag der Begriff vom "Spätmittelalter" Einseitigkeit und Vorurteilen entgegenzuwirken und seine Legitimität geltend zu machen. Die Erforschung des Spätmittelalters ist den Kinderschuhen entwachsen.
Vor beinahe 25 Jahren habe ich in einer vorläufigen Skizze die wichtigsten Trends des vierzehnten Jahrhunderts beschrieben. Ich möchte hier diese Fragen wieder aufnehmen, indem ich neue Herausforderungen, Ereignisse und Trends untersuche und dabei die Wirkung des Schwarzen Todes, den Aufstieg des dritten Standes, den Niedergang und das Überleben des Konziliarismus, die Mission der Klöster gegenüber den Massen sowie die aufbrandende Flut des Antisemitismus berücksichtige; abschließend kommen auch der Humanismus der Renaissance und die Streitfrage des neuen Lernens zur Sprache. Die verheerende Wirkung des Schwarzen Todes
Auch wenn man heute die Auswirkungen des Schwarzen Todes auf Europa nicht mehr als ganz so dramatisch darstellt wie früher, lassen sich seine schwerwiegenden demographischen Folgen kaum bestreiten. In ihrer ersten furchtbaren Phase von 1347 bis 1351 wütete die Beulenpest durch ganz Europa - von Marseille aus durch Frankreich, Italien, England, die Niederlande, Deutschland und Russland - und tötete ein Drittel der europäischen Bevölkerung von etwa 75 bis 80 Millionen Menschen. Erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts sollte die Bevölkerungszahl wieder das gleiche Niveau wie vor der Pest erreichen. Es ist daher verständlich, wenn Historiker die Zeit nach der Pest im fünfzehnten Jahrhundert gerne als Epoche der demographischen Krise bezeichnen. Die Probleme beginnen jedoch dort, wo wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des jähen Rückgangs der Land- wie der Stadtbevölkerung benennen sollen. Selbst die Auswirkungen auf die Mentalität, wie sie sich in der ars moriendi und im Totentanz ausdrücken, sind angesichts der Forschungsergebnisse von Jan de Vries, wonach "die Sterberate in einer Zeit zunahm, als die Beulenpest im Begriff war, ganz aus Europa zu verschwinden", nicht mehr selbstverständlich. Die neuere Forschung interessiert sich eher für die Art und Weise der Erholung und konzentriert sich entsprechend nicht mehr so sehr auf Untergang und Stagnation, sondern auf die Wiedererstarkung Europas durch ein innovatives Krisenmanagement. Mit den Worten Bartholomé Yuns: "Aus der Sicht der übrigen Welt markierte diese Epoche die Geburt Europas." Wir stehen vor einem ganzen Geflecht von Faktoren mit überaus unterschiedlichen regionalen Spielarten, die von geschichtlichen Zufällen wie Staatenbildung und Krieg bestimmt wurden.
Bedenkt man unseren ersten Zusammenhang, die intellektuelle Atmosphäre des fünfzehnten Jahrhunderts, erweist sich ein näherer Blick auf eine neuere Studie zur europäischen Pestepidemie von David Herlihy als hilfreich. Der Verfasser beschäftigt sich nacheinander mit der medizinischen Dimension, mit dem neuen wirtschaftlichen und demographischen System, das die "malthusianische Sackgasse" durchbrach, und schließlich - für uns entscheidend - mit den neuen Formen des Denkens und Empfindens. Während man die medizinische Geschichte des Schwarzen Todes heute vielleicht anders nuancieren würde, hat die Schlussfolgerung des zweiten Teils, welche eine besser entfaltete Wirtschaft, einen intensivierten Einsatz von Kapital, eine verfeinerte Technologie und einen höheren Lebensstandard als hervorstechende Kennzeichen der Erholung nach der Pest ausmacht, nach wie vor Bestand. Probleme ergeben sich jedoch, wenn man diese neuen Erkenntnisse der alten Vorstellung Gilsons vom Spätmittelalter als einer Sackgasse aufpfropft. Herlihy beschwört ein von Thomas von Aquin angeregtes Zerrbild des spätmittelalterlichen Nominalismus, um die Entstehung einer neuen Mentalität zu erklären: "Der menschliche Intellekt besaß nicht die Macht, zu den metaphysischen Strukturen des Universums vorzudringen. Ich kann nichts anderes tun, als die dahinfließenden Ereignisse zu beobachten. Zudem würde die Allmacht Gottes in letzter Konsequenz bedeuten, dass es keine festgelegte natürliche Ordnung geben kann. Gott könnte alles verändern, wie und wann er wollte. Die Nominalisten schauten auf ein von willkürlichen Bewegungen beherrschtes Universum. Aquins erhabenes Gefühl der Ordnung war mit der Erfahrung der Pest, ihrem unvorhersehbaren Auftauchen und Verlauf, ihren unbekannten Ursprüngen und ihrer zerstörerischen Wirkung nur schwer in Einklang zu bringen. Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein."
Während wir David Herlihy auf Grund seiner bahnbrechenden Beiträge zur mittelalterlichen Familiengeschichte und - in diesem Fall - wegen des allzu seltenen Bemühens, das Zusammenspiel von Geistes- und Sozialgeschichte darzustellen, mit Respekt und Dankbarkeit in Erinnerung behalten, mag seine Bewunderung für Thomas von Aquin als "diesen großen Dominikaner" mit seinem "erhabenen Gefühl der Ordnung" erklären, weshalb ein so außerordentlich kritischer Forscher unkritisch Annahmen der Vergangenheit wiederholt, die sich in den letzten dreißig Jahren als zu einseitig erwiesen haben. Dennoch kann man Herlihys Schlussfolgerung ohne weiteres akzeptieren: "Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein." Die Erfahrung der Pest ist einer der Faktoren, die zum Verständnis des Aufstiegs des Nominalismus im fünfzehnten Jahrhundert, seiner Neuerungen im gesamten Bereich von der Theologie bis zur Naturwissenschaft sowie zum Verständnis seines erfolgreichen Vordringens in die Schulen und Universitäten beitragen, wo er sich schließlich als "via moderna" etablierte. Was konservativen Thomisten jener Zeit als Bedrohung der Hierarchie zwischen Himmel und Erde erschien, war in Wirklichkeit eine Suche nach Ordnung mittels einer Grenzziehung zwischen den eigenständigen Bereichen von Glaube und Vernunft. Im Bereich des Glaubens gestattete die epochale Wendung vom Gott als Sein zum Gott als Person ein neues Verständnis der kirchlichen Quellen in Schrift und Tradition, im Sinne eines Zeugnisses für den persönlichen Gott des Bundes. Gleichzeitig konnte im Bereich der Vernunft, sobald die Physik von ihrer Zähmung durch die Metaphysik und der spekulativen Verbindung von Aristoteles und der Heiligen Schrift befreit war, die neue Suche nach den Naturgesetzen beginnen. In jeder Darstellung der Transformation des Westens bestätigte die entscheidende Metamorphose der todsündhaften Neugierde zur "bona curiositas" der Nominalisten die Erforschung der realen Welt; ihr kommt daher unter den Faktoren, welche die "Geburt Europas" erklären, ein hoher Stellenwert zu.
Nicht einmal in der "Cambridge History of Late Medieval Philosophy" hätte Herlihy von den neuen Erkenntnissen erfahren können, da dieses maßgebliche Werk nur gelegentlich auf das fünfzehnte Jahrhundert zu sprechen kommt. Obwohl John Emery Murdoch den Horizont der Wissenschaftsgeschichte erweitert und William Courtenay die Vorläufer der Philosophie des vierzehnten Jahrhunderts aufgespürt hat, hat noch niemand eine umfassende Studie über die Begegnung von Physik und Metaphysik im fünfzehnten Jahrhundert in Angriff genommen. Nur in ihrem abschließenden Abschnitt über "die Niederlage, Vernachlässigung und Wiederbelebung der Scholastik" behandelt die "Cambridge History" das fünfzehnte Jahrhundert, während dieser Zeitraum in den wichtigeren Kapiteln über "Glück" und "Gewissen" ignoriert wird. Dieser einseitige, altmodische Umgang mit der logischen Dimension des Nominalismus kann uns nicht dabei helfen, einen typischen Nominalisten wie Wessel Gansfort zu verstehen, der seine Abwendung von Thomas von Aquin und Duns Scotus hin zur "via moderna" als Bekehrung und als Schlüssel zu einem unerforschten intellektuellen Territorium deutete, das ihm den Weg zu einer neuen, streitbaren Interpretation des Christentums eröffnete. Obwohl er im exklusiven Diskurs der akademischen Disputationen entwickelt wurde und in der schwerfälligen Sprache der terministischen Logik daherkam, erwies sich der grundlegende Fortschritt bei der Veränderung der Begriffe in der jahrhundertealten Debatte über die "universalia" als radikale Wendung von der deduktiven zur induktiven Methode. Dies legitimierte eine neue, von übernatürlichen Prämissen unbeeinträchtigte Suche nach den Naturgesetzen. Während die vielen "incurati", die sich der Sache anschlossen, sicherstellten, dass die Theologie dem "itinerarium mentis ad Deum" diente, erhielt der Bereich der "artes" die Möglichkeit, das "itinerarium mentis ad mundum" zu verfolgen. Es ist wohl kein Zufall, dass in der Bibliothek des Nikolaus Kopernikus Bücher von Pierre d'Ailly, einem der Meister der "via moderna", gefunden wurden, die in der Tradition von Jean Buridan und Nicole Oresme stehen. Recht verstanden - als kreativer Standpunkt, von dem aus lange vertretene, aber nicht mehr zu haltende Prämissen neu bewertet werden konnten - war der vom Nominalismus geförderte neue kritische Geist Teil der intellektuellen Neuorientierung des "langen fünfzehnten Jahrhunderts". Ob und in welchem Ausmaß er einen Faktor im Streben nach Wohlstand und Wissen darstellte, das die treibende Kraft während des Zeitalters der Entdeckungen darstellte, ist für Historiker schwer zu beantworten. Dies scheint im Krisenmanagement des Schwarzen Todes nicht erkennbar zu sein. Nicht nur die Sterne ließen sich jedoch seither gleichsam mit neuen Augen sehen, sondern der gesamte Bereich der menschlichen Gesellschaft und Natur.
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Eine zweite, konkurrierende Perspektive auf das fünfzehnte Jahrhundert leitet sich aus der neuen sozialgeschichtlichen Darstellung Europas in der Frühen Neuzeit her. Dabei handelt es sich um die wichtigste und sichtbarste neue Richtung in unserem Forschungsgebiet, deren bedeutendere Vertreter aus der angelsächsischen Welt stammen. Diese Historiker brachten, indem sie die etablierte politische Geschichtsschreibung hinter sich ließen und sich kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Studien zuwandten, die entscheidende Bedeutung der Religion neu zur Geltung, auch wenn sie diese häufig unter der irreführenden Kategorie der "Volksreligion" marginalisierten. Dieses Konzept vermochte der Überprüfung durch die Forschung der vergangenen Jahrzehnte nicht standzuhalten. Während sich der Protestantismus der Bismarck-Zeit dem Wunder der Reformation widmete und vornehmlich deren Diskontinuität zum Mittelalter wahrnahm, haben unsere besten Sozialhistoriker ein neues Paradigma der Kontinuität erarbeitet, welches das Mittelalter und die Frühe Neuzeit als eine Epoche begreift, die von Luther und der Reformation zwar hinterfragt, aber nicht auseinander gerissen worden ist. Einer ihrer bedeutendsten Sprecher, Thomas A. Brady, jr., wendet sich zunehmend der Erforschung des Potentials und der Flexibilität des Heiligen Römischen Reiches zu, das imstande war, die - wie er zu glauben geneigt ist - kurzlebige Tragödie der Reformation zu meistern. Mit seiner Prämisse, der Bauernkrieg sei das von Luther verratene wichtigste Merkmal der Reformation gewesen, begriff Brady bereits früh, dass die romantische These Bernd Moellers von der städtischen Reformation unhaltbar war: Als dünnes Destillat der religiösen Propaganda und polemischer Predigten des sechzehnten Jahrhunderts ließ sie sich nicht durch eine archivalische Rekonstruktion gesellschaftlicher Unterstützung durch die Stadtbevölkerung fundieren. Gemäß dieser zweiten Meistererzählung erscheint die Reformation nur als Zwischenspiel, da sie rasch ihr Potential einbüßte und zwischen den Interessen der Herren und der Leibeigenen zerrieben und von innen durch die Kämpfe zwischen den Zeloten und der politisch denkenden Schicht geschwächt wurde.
Eine dritte interessante Perspektive ließe sich viel leichter zurückweisen, hätte nicht deren prominentester Vertreter, Heinz Schilling, kürzlich eine umfassende Studie über die Geschichte Europas zwischen 1250 und 1750 veröffentlicht, die die Dinge weit komplizierter erscheinen lässt. An anderer Stelle habe ich erhebliche Bedenken gegen Schillings strukturalistische Sicht der Geschichte als eines unvermeidlichen Prozesses geäußert, der vielfach als Fortschritt verstanden wird. Diese Interpretation drängt meiner Meinung nach die Kultur- und Mentalitätsgeschichte an den Rand und deutet die Religion lediglich als untergeordneten Faktor der Staatenbildung. In seiner neuen, umfassenderen Darstellung "Die neue Zeit" dagegen gelingt es Schilling, seine prozessuale Geschichtswahrnehmung einem überzeugenderen Standpunkt unterzuordnen.
Inzwischen sind jedoch zahlreiche deutsche wie amerikanische Historiker dem Ruf des frühen Schilling gefolgt und arbeiten mit solcher Energie und Intensität innerhalb der Grenzen von Konfessionalisierung und Staatenbildung, dass man diese Schule als eigenständigen Ansatz betrachten sollte. Er bietet den Vorteil, dass er die gesamte Diskussion über Kontinuität und Diskontinuität umgeht, indem er Luther und die Reformation als eine Sache der Konfessionen ernst nimmt, die dem Deutschland des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt haben. Bedauerlicherweise fördert dieser Ansatz gerade auf Grund seiner Beschäftigung mit der Moderne eine Fixierung auf die Gegenwart, die mir als eine der großen Schwächen der neueren Geschichtsschreibung erscheint. Ein typisches Beispiel dafür bietet Richard Marius' Buch "Martin Luther. The Christian Between God and Death", das - anstatt den Versuch zu unternehmen, die Zeit oder das Denken Martin Luthers zu verstehen - mehrere offensichtlich moderne Reaktionen auf den Reformator präsentiert und ihn im Grunde als fanatischen Fundamentalisten des 20. Jahrhunderts erscheinen lässt.
Eine solche Fixierung auf die Gegenwart mag zwar unterhaltsam sein, ist jedoch nicht haltbar. Was dagegen die faszinierende Vorstellung von einem Prozess der Reformation betrifft, so hat sie unser Verständnis des fünfzehnten Jahrhunderts stark beeinflusst. Wird der vermeintliche Prozess vom tatsächlichen Verlauf der Geschehnisse zum Scheitern gebracht oder konterkariert, so postuliert man - je nach der metahistorischen Position des Autors, der darüber nachdenkt - entweder eine Krise oder einen Fehlschlag. Trotz verheißungsvoller Forschungsansätze sowie der nüchternen Rekonstruktion des allmählichen Wandels, den andere Forscher und ich umfassend dokumentiert haben, sind die Arbeiten zum 15. Jahrhundert voller Krisen- und Versagenstheorien, die fälschlicherweise im Sinne eines Prozesses dargestellt werden, der sich vom Ende des Mittelalters bis zum Beginn der Moderne erstreckt habe.
Laut einer mittelalterlichen Legende war es der Teufel, der vom Chronisten verlangte, Geschichte als Prozess zu erzählen, indem er eine unmittelbare Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, Ablauf und Folge herstellte. Das aus dem 14. Jahrhundert stammende Predigerhandbuch "Fasciculus morum" lehrte, dass einzig und allein der Teufel die Entfernung zwischen Himmel und Erde ermessen könne, da nur er - bei seinem Fall - einer direkten Linie gefolgt sei. Es ist überaus aufschlussreich, dass das westliche Denken die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "abwegig" in "irrig" umgedeutet hat. Was im buchstäblichen Sinne das "Verlassen einer direkten Linie" meinte, nahm die Bedeutung "abweichend" an. Nur wenn wir diesen Teufel austreiben, können wir unser Verständnis der Geschichte vertiefen und ein neues Bewusstsein für die unerwarteten Wendungen der Ereignisse auf den zufälligen Schnittpunkten krummer Linien gewinnen. Kurz, der gute Historiker muss "Abwege" gehen.
Im Folgenden befasse ich mich mit vier kulturellen Zusammenhängen, die ich als "Trends" bezeichnen möchte, um nicht in die terminologische Falle zu tappen, sie als einen einzigen vorherrschenden Prozess darzustellen. Ich werde jeden dieser Trends für sich - anstatt als untergeordnetes Element eines vorgegebenen Narrativs - als gleichwertigen Faktor behandeln und sie durch jenen Zeitraum hindurch verfolgen, den man modisch als "das lange fünfzehnte Jahrhundert" bezeichnet. Vor etwa vierzig Jahren musste man, um eine von lutherischen oder katholischen Konfessionsgrenzen unbeeinträchtigte Perspektive zu gewinnen, eine eigenständige Erforschung des Mittelalters einfordern. Heute dagegen kann man auf einen Fortschritt in der Erforschung aller vier Zusammenhänge zurückgreifen, der es ermöglicht, auf Kurs zu bleiben, ohne dass man Zuflucht zu den Scheuklappen nehmen muss, deren man einst zum Schutz gegen den ablenkenden Glanz späterer Ereignisse bedurfte. Wenn man sich weit in die Zeit der Renaissance und der Reformation - das "lange fünfzehnte Jahrhundert" - hineinwagt, vermag der Begriff vom "Spätmittelalter" Einseitigkeit und Vorurteilen entgegenzuwirken und seine Legitimität geltend zu machen. Die Erforschung des Spätmittelalters ist den Kinderschuhen entwachsen.
Vor beinahe 25 Jahren habe ich in einer vorläufigen Skizze die wichtigsten Trends des vierzehnten Jahrhunderts beschrieben. Ich möchte hier diese Fragen wieder aufnehmen, indem ich neue Herausforderungen, Ereignisse und Trends untersuche und dabei die Wirkung des Schwarzen Todes, den Aufstieg des dritten Standes, den Niedergang und das Überleben des Konziliarismus, die Mission der Klöster gegenüber den Massen sowie die aufbrandende Flut des Antisemitismus berücksichtige; abschließend kommen auch der Humanismus der Renaissance und die Streitfrage des neuen Lernens zur Sprache. Die verheerende Wirkung des Schwarzen Todes
Auch wenn man heute die Auswirkungen des Schwarzen Todes auf Europa nicht mehr als ganz so dramatisch darstellt wie früher, lassen sich seine schwerwiegenden demographischen Folgen kaum bestreiten. In ihrer ersten furchtbaren Phase von 1347 bis 1351 wütete die Beulenpest durch ganz Europa - von Marseille aus durch Frankreich, Italien, England, die Niederlande, Deutschland und Russland - und tötete ein Drittel der europäischen Bevölkerung von etwa 75 bis 80 Millionen Menschen. Erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts sollte die Bevölkerungszahl wieder das gleiche Niveau wie vor der Pest erreichen. Es ist daher verständlich, wenn Historiker die Zeit nach der Pest im fünfzehnten Jahrhundert gerne als Epoche der demographischen Krise bezeichnen. Die Probleme beginnen jedoch dort, wo wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des jähen Rückgangs der Land- wie der Stadtbevölkerung benennen sollen. Selbst die Auswirkungen auf die Mentalität, wie sie sich in der ars moriendi und im Totentanz ausdrücken, sind angesichts der Forschungsergebnisse von Jan de Vries, wonach "die Sterberate in einer Zeit zunahm, als die Beulenpest im Begriff war, ganz aus Europa zu verschwinden", nicht mehr selbstverständlich. Die neuere Forschung interessiert sich eher für die Art und Weise der Erholung und konzentriert sich entsprechend nicht mehr so sehr auf Untergang und Stagnation, sondern auf die Wiedererstarkung Europas durch ein innovatives Krisenmanagement. Mit den Worten Bartholomé Yuns: "Aus der Sicht der übrigen Welt markierte diese Epoche die Geburt Europas." Wir stehen vor einem ganzen Geflecht von Faktoren mit überaus unterschiedlichen regionalen Spielarten, die von geschichtlichen Zufällen wie Staatenbildung und Krieg bestimmt wurden.
Bedenkt man unseren ersten Zusammenhang, die intellektuelle Atmosphäre des fünfzehnten Jahrhunderts, erweist sich ein näherer Blick auf eine neuere Studie zur europäischen Pestepidemie von David Herlihy als hilfreich. Der Verfasser beschäftigt sich nacheinander mit der medizinischen Dimension, mit dem neuen wirtschaftlichen und demographischen System, das die "malthusianische Sackgasse" durchbrach, und schließlich - für uns entscheidend - mit den neuen Formen des Denkens und Empfindens. Während man die medizinische Geschichte des Schwarzen Todes heute vielleicht anders nuancieren würde, hat die Schlussfolgerung des zweiten Teils, welche eine besser entfaltete Wirtschaft, einen intensivierten Einsatz von Kapital, eine verfeinerte Technologie und einen höheren Lebensstandard als hervorstechende Kennzeichen der Erholung nach der Pest ausmacht, nach wie vor Bestand. Probleme ergeben sich jedoch, wenn man diese neuen Erkenntnisse der alten Vorstellung Gilsons vom Spätmittelalter als einer Sackgasse aufpfropft. Herlihy beschwört ein von Thomas von Aquin angeregtes Zerrbild des spätmittelalterlichen Nominalismus, um die Entstehung einer neuen Mentalität zu erklären: "Der menschliche Intellekt besaß nicht die Macht, zu den metaphysischen Strukturen des Universums vorzudringen. Ich kann nichts anderes tun, als die dahinfließenden Ereignisse zu beobachten. Zudem würde die Allmacht Gottes in letzter Konsequenz bedeuten, dass es keine festgelegte natürliche Ordnung geben kann. Gott könnte alles verändern, wie und wann er wollte. Die Nominalisten schauten auf ein von willkürlichen Bewegungen beherrschtes Universum. Aquins erhabenes Gefühl der Ordnung war mit der Erfahrung der Pest, ihrem unvorhersehbaren Auftauchen und Verlauf, ihren unbekannten Ursprüngen und ihrer zerstörerischen Wirkung nur schwer in Einklang zu bringen. Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein."
Während wir David Herlihy auf Grund seiner bahnbrechenden Beiträge zur mittelalterlichen Familiengeschichte und - in diesem Fall - wegen des allzu seltenen Bemühens, das Zusammenspiel von Geistes- und Sozialgeschichte darzustellen, mit Respekt und Dankbarkeit in Erinnerung behalten, mag seine Bewunderung für Thomas von Aquin als "diesen großen Dominikaner" mit seinem "erhabenen Gefühl der Ordnung" erklären, weshalb ein so außerordentlich kritischer Forscher unkritisch Annahmen der Vergangenheit wiederholt, die sich in den letzten dreißig Jahren als zu einseitig erwiesen haben. Dennoch kann man Herlihys Schlussfolgerung ohne weiteres akzeptieren: "Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein." Die Erfahrung der Pest ist einer der Faktoren, die zum Verständnis des Aufstiegs des Nominalismus im fünfzehnten Jahrhundert, seiner Neuerungen im gesamten Bereich von der Theologie bis zur Naturwissenschaft sowie zum Verständnis seines erfolgreichen Vordringens in die Schulen und Universitäten beitragen, wo er sich schließlich als "via moderna" etablierte. Was konservativen Thomisten jener Zeit als Bedrohung der Hierarchie zwischen Himmel und Erde erschien, war in Wirklichkeit eine Suche nach Ordnung mittels einer Grenzziehung zwischen den eigenständigen Bereichen von Glaube und Vernunft. Im Bereich des Glaubens gestattete die epochale Wendung vom Gott als Sein zum Gott als Person ein neues Verständnis der kirchlichen Quellen in Schrift und Tradition, im Sinne eines Zeugnisses für den persönlichen Gott des Bundes. Gleichzeitig konnte im Bereich der Vernunft, sobald die Physik von ihrer Zähmung durch die Metaphysik und der spekulativen Verbindung von Aristoteles und der Heiligen Schrift befreit war, die neue Suche nach den Naturgesetzen beginnen. In jeder Darstellung der Transformation des Westens bestätigte die entscheidende Metamorphose der todsündhaften Neugierde zur "bona curiositas" der Nominalisten die Erforschung der realen Welt; ihr kommt daher unter den Faktoren, welche die "Geburt Europas" erklären, ein hoher Stellenwert zu.
Nicht einmal in der "Cambridge History of Late Medieval Philosophy" hätte Herlihy von den neuen Erkenntnissen erfahren können, da dieses maßgebliche Werk nur gelegentlich auf das fünfzehnte Jahrhundert zu sprechen kommt. Obwohl John Emery Murdoch den Horizont der Wissenschaftsgeschichte erweitert und William Courtenay die Vorläufer der Philosophie des vierzehnten Jahrhunderts aufgespürt hat, hat noch niemand eine umfassende Studie über die Begegnung von Physik und Metaphysik im fünfzehnten Jahrhundert in Angriff genommen. Nur in ihrem abschließenden Abschnitt über "die Niederlage, Vernachlässigung und Wiederbelebung der Scholastik" behandelt die "Cambridge History" das fünfzehnte Jahrhundert, während dieser Zeitraum in den wichtigeren Kapiteln über "Glück" und "Gewissen" ignoriert wird. Dieser einseitige, altmodische Umgang mit der logischen Dimension des Nominalismus kann uns nicht dabei helfen, einen typischen Nominalisten wie Wessel Gansfort zu verstehen, der seine Abwendung von Thomas von Aquin und Duns Scotus hin zur "via moderna" als Bekehrung und als Schlüssel zu einem unerforschten intellektuellen Territorium deutete, das ihm den Weg zu einer neuen, streitbaren Interpretation des Christentums eröffnete. Obwohl er im exklusiven Diskurs der akademischen Disputationen entwickelt wurde und in der schwerfälligen Sprache der terministischen Logik daherkam, erwies sich der grundlegende Fortschritt bei der Veränderung der Begriffe in der jahrhundertealten Debatte über die "universalia" als radikale Wendung von der deduktiven zur induktiven Methode. Dies legitimierte eine neue, von übernatürlichen Prämissen unbeeinträchtigte Suche nach den Naturgesetzen. Während die vielen "incurati", die sich der Sache anschlossen, sicherstellten, dass die Theologie dem "itinerarium mentis ad Deum" diente, erhielt der Bereich der "artes" die Möglichkeit, das "itinerarium mentis ad mundum" zu verfolgen. Es ist wohl kein Zufall, dass in der Bibliothek des Nikolaus Kopernikus Bücher von Pierre d'Ailly, einem der Meister der "via moderna", gefunden wurden, die in der Tradition von Jean Buridan und Nicole Oresme stehen. Recht verstanden - als kreativer Standpunkt, von dem aus lange vertretene, aber nicht mehr zu haltende Prämissen neu bewertet werden konnten - war der vom Nominalismus geförderte neue kritische Geist Teil der intellektuellen Neuorientierung des "langen fünfzehnten Jahrhunderts". Ob und in welchem Ausmaß er einen Faktor im Streben nach Wohlstand und Wissen darstellte, das die treibende Kraft während des Zeitalters der Entdeckungen darstellte, ist für Historiker schwer zu beantworten. Dies scheint im Krisenmanagement des Schwarzen Todes nicht erkennbar zu sein. Nicht nur die Sterne ließen sich jedoch seither gleichsam mit neuen Augen sehen, sondern der gesamte Bereich der menschlichen Gesellschaft und Natur.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Heiko A. Oberman
- 2003, 1, 316 Seiten, Maße: 13,8 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christian Wiese
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3886807932
- ISBN-13: 9783886807932
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