Das größte Geschenk von allen (ePub)
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Das größte Geschenk von allen von Joseph PittmannAus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
Prolog
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Ihre Verbindung war scheinbar unzertrennlich, aufgebaut von der Kraft des Windes und der Präsenz der machtvollen Windmühle. An diesem Tag übte sie den ihr eigenen Zauber aus, während bittere Winterkälte näherrückte und die Natur sich für die bevorstehenden langen dunklen Monate in den Winterschlaf begab. An diesem Mittwochnachmittag im November ertappte er sich dabei, dass er durch die dünne Schneeschicht lief, die den Boden bedeckte, und sich unter die sich drehenden Flügel wagte. Hier suchte er am Vorabend der Weihnachtszeit Eingebung, Wissen und Kraft ; das alles würde er brauchen, um sich durch die Erinnerungen an eine von Traurigkeit durchsetzte Vergangenheit zu navigieren, die ihr zerbrechliches Glück zu zerstören drohte. Denn so wunderbar sie auch miteinander auskamen, waren die Tage und vor allem die Nächte nicht immer leicht gewesen, und die bevorstehende Weihnachtszeit würde sich als schwierigste Zeit erweisen, eine Prüfung dieser Bindung. »Annie, liebste Annie, kannst du mich hören?«, fragte er fast im Flüsterton in der Hoffnung, dass der wirbelnde Wind seine Worte vorwärts, aufwärts tragen würde. »Ich brauche deine Hilfe, Annie. Janey braucht deine Hilfe, und ich weiß, du bist die Einzige, die mir - uns - den Weg durch diese schwierige Zeit weisen kann. Thanksgiving steht vor der Tür, Annie, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, du könntest hier sein, um mit uns zu feiern. Es wäre unser beider erstes Thanks giving mit Janey gewesen. Wir drei zusammen, das Drum und Dran rundet das Geschenk unserer Liebe ab. Aber so ist es nicht gekommen. Wir sind nur zu zweit, und du fehlst uns. Über kurz oder lang ist Weihnachten, und wenn wir die Feiertage in Festtagslaune überstehen, dann wird es uns gut gehen, einfach gut, glaube ich. Bis dahin, Annie, kann ich einfach nicht vorhersagen, wie Janey auf bestimmte Situationen reagieren wird. Kannst du mir helfen, kannst du mir zeigen, wie ich unserer kostbaren Tochter diese Feiertage unvergesslich machen kann? Sie ist erst acht, und sie hat nur mich, und manchmal, Annie, frage ich mich, ob ich genug für sie bin?« Er bekam keine Antwort, nicht an diesem Tag. Ein paar leichte Schneeflocken fielen, der Wind war sacht, und die Flügel der Windmühle drehten sich langsam. Ihm war, als könnte die alte Mühle ihre riesigen Arme ausbreiten und die Ruhe willkommen heißen, die sich bald auf die kleine Ortschaft Linden Corners legen würde, auf ihre Einwohner und ihre Lebensart, die er so sehr schätzte. Als wäre sie an einem von tragischen Ereignissen überschatteten Weihnachtsfest irgendwie in der Lage, sie aus ihrem Kummer hinauszuheben. Für diesen Mann, einen netten, aber zerbrochenen Mann namens Brian Duncan, würde die bevorstehende Weihnachtszeit eine neue Erfahrung bedeuten, denn er wusste, dass der Erfolg der Feiertage allein auf seinen belasteten Schultern lag. Und so sehr er sich auch auf die Festtage freute, auf das Glück, einzukaufen und zu schenken, gab es Zeiten, in denen sein warmes Herz vor Angst erstarrte. Unsicherheit ließ ihn ganz plötzlich innehalten, so wie in diesem Moment. Als sie sich anschickten, eine Reise über die Behaglichkeit von Linden Corners hinaus zu unternehmen - seine erste offizielle Fahrt mit Janey zusammen -, ergriff ihn wieder einmal Panik, ein Gefühl, das ihn für gewöhnlich überkam, wenn Janey zu Bett gegangen war. Ein Zeitpunkt, an dem die Nacht seine Unsicherheiten weckte. Oft ging er an eine Stelle, an der er Annies Präsenz am besten spürte, und suchte ihre Weisheit. Jetzt, im Schatten der Windmühle - Annies Windmühle - wurde ihm allmählich klar, dass sie nicht immer für ihn dort sein konnte. Manche Entscheidungen musste er allein fällen. »Ich habe meiner Mutter gesagt, Annie, dass ich erst dann zu Thanksgiving komme, wenn sie Pfirsichkuchen macht«, sagte Brian mit einem Hauch Leichtfertigkeit, die er für nötig hielt. Das süße, klebrige Gebäck hatte er erst im vergangenen Sommer bei einem Picknick hoch oben über dem trägen Hudson River kennengelernt, auf einem Felsvorsprung, den er anschließend nach ihr benannt hatte. »Mutter hat behauptet, noch nie von so etwas gehört zu haben. Ich musste deinen Rezeptkasten suchen, und selbst nachdem ich ihn gefunden hatte, bezweifelte ich, dass es genauso schmecken würde. Der Kuchen würde zwar süß sein, aber die besondere Zutat, die du hineingegeben hast, würde fehlen - Liebe. Ein Stück von diesem Kuchen für Janey war wichtig, damit sie wusste, es ist ein Stück von dir. Es sollte ihr das Gefühl vermitteln, zu Hause zu sein, auch wenn sie es nicht ist.« Es gab noch mehr Fragen, mehr Bitten. Brian sprach, und er hörte zu. Dennoch bekam er keine Antwort, nur der Wind säuselte leise, Schneeflocken sanken herab, die Flügel drehten sich müßig. Nichts war anders, kein Zeichen wurde ihm zuteil, dass er gehört worden war. Just in diesem Augenblick lächelte Brian, vielleicht legte er diese Stille als Bestätigung dafür aus, dass auch er keine andere Richtung einschlagen musste, wenn der Wind es nicht machte. Behalte den Kurs bei, folge deiner Eingebung. Vertraue deinem Herzen. »Okay, Annie, ich glaube, jetzt höre ich dich«, sagte er mit schiefem Lächeln. So war sie, rätselhaft, schwer fassbar, selbst als sie in seinen Armen gelegen hatte. Er zog den Handschuh aus und legte die bloße Hand auf die Holztür der Windmühle, als suchte er nach einem Pulsschlag von drinnen. Die Tür war kalt. Dann, als er sich wieder dem Farmhaus zuwandte, tauchte die kleine Janey oben auf dem Hügel auf, Hand in Hand mit Gerta Connors, einer befreundeten Nachbarin und Großmutter ehrenhalber. Die beiden winkten ihm zu, und Janey riss sich plötzlich los. Sie rannte den Hügel hinunter, wobei ihre Stiefel schwache Abdrücke im Schnee hinterließen, als würde sie den Boden kaum berühren. »Brian, Brian, ich bin fertig für die Fahrt, komm, los. Wir haben eine weite Strecke vor uns«, sagte sie freudig erregt, angespornt durch ihren gefürchteten Tatendrang. Wo ein kleines Mädchen nur eine solche Energie herhatte, wusste Brian nicht zu sagen. Dann umschlang sie seine Taille und drückte ihn fest an sich. »Ich habe mich nur vergewissert, dass alles gesichert ist«, sagte er. »Jetzt sehe ich, dass es so ist.« Gemeinsam gingen sie den Hügel hinauf, wo Gerta geduldig wartete. Gerta, die sie eingeladen hatte, Thanksgiving mit ihr und ihren vier erwachsenen Töchtern zu verbringen, Gerta, die im vergangenen Jahr selbst einen furchtbaren Verlust erlitten und durchgehalten hatte, so wie sie alle. Das war ein Merkmal von Linden Corners. Brian hatte ihre Einladung höflich abgelehnt. Vielleicht brauchten sie beide diese erste Weihnachtszeit mit ihren eigenen Familien, erklärte er. Feiertage hatten mit Familie zu tun, sie sollte mit ihrer zusammen sein, er mit seiner. »Meine Mutter braucht ihre Familie in dieser Zeit mehr als im restlichen Jahr«, hob Brian mit einer kleinen Erläuterung an. Er sprach nicht oft über seine Familie ; sie hatten seine jüngste Reise nicht nachempfinden können und brachten kein Verständnis für sein neues Leben auf. »In dieser Zeit im Jahr erinnerte sich die Familie Duncan daran, was wir haben und was wir verloren haben. Vielleicht die einzige Zeit, in der wir wirklich daran denken. Wir verstehen uns so selten.« In jeder Familie gebe es verlorene und gefundene Schätze, hatte Gerta mit ihrer üblichen Anmut und ihrem Verständnis gesagt. Als sie wieder am Farmhaus waren, verabschiedeten sich Brian Duncan und Janey Sullivan von Gerta mit stillen, liebevollen Umarmungen und stiegen dann in Brians Wagen. Koffer lagen schon im Kofferraum, bereit zur Abreise. Brian fragte sich, ob er es auch war.
»Fertig ?«, wollte Brian von Janey wissen. Nur um sicherzugehen. »Das hab ich doch schon gesagt«, erwiderte sie nicht ohne einen Hauch von Empörung, was ihn an das kleine Mädchen erinnerte, das er zu Beginn des Sommers kennengelernt hatte, bevor etwas passiert war. An die Zeit, als sie sich an jenem schönen Sommertag zum erstem Mal begegnet waren, genau hier, am Fuße der Windmühle. »Wieso, hast du es dir anders überlegt ?« Brian wurde klar, dass sie ihm die Chance einräumte, seine Meinung zu ändern. Er grinste über ihre Reife, ihre Einfühlsamkeit. Manchmal fragte er sich, wer von ihnen beiden der Erwachsene, wer das Kind war. »Die Straße liegt vor uns«, sagte er. Bald hatten sie es sich auf ihren Sitzen bequem gemacht, waren die Auffahrt hinuntergefahren, die Reifen knirschten auf der dünnen Schneeschicht. Dann fing die gewundene Straße sie ein, führte sie aus Linden Corners hinaus, ein letztes Mal an der Windmühle vorbei, bis der Wagen um eine Ecke bog. Janey winkte ihr zu, während Brian den Blick auf die Straße gerichtet hielt, wenngleich er lächelte. Weil er seinen Wunsch bereits in den Wind gesprochen hatte und es jetzt an der Natur lag, seine Botschaft an den besonderen Ort zu senden, zu dem all seine Wünsche gehörten. Bald war Weihnachten. Überraschungen warteten auf sie, und nicht alle mussten ausgepackt werden. Eine Zeit der Liebe, der Hoffnung stand vor der Tür. Sie würden wieder in Linden Corners sein, um zu feiern. Vorerst war es an der Zeit, etwas über den anderen zu erfahren, darüber, was in ihren Herzen lebte.
Teil 1
Alte Bräuche
1
Wenn das Leben von Bräuchen bestimmt ist, dann war es unvermeidlich, dass meine Mutter mich zwei Wochen vor Thanksgiving anrief, um zu fragen, ob ich mich der Familie zum jährlichen Abendessen anschließen würde. Jedes Jahr derselbe Anruf, jedes Jahr fragt sie auf ihre betont unaufdringliche Art, und jedes Jahr antworte ich so, wie es von mir erwartet wird. Ja, natürlich, wo sollte ich sonst sein? Dieses Jahr aber hatte sich so viel verändert - in meinem Leben, aber auch in dem meiner Eltern -, dass ich mich fragen musste, ob der Begriff Brauchtum in eine verflossene Epoche gehörte, nur von Gedanken an die Vergangenheit aufrecht erhalten, und nicht mehr praktiziert wurde. Was ich meiner Mutter an diesem Tag antwortete, bewies in der Tat, dass Veränderung in der Luft lag, ein erster Schritt in die Zukunft. Denn ich setzte sie darüber in Kenntnis, dass ich mich zuerst mit Janey beraten müsse, bevor ich ihr antworten könne. »Brian, Lieber, das ist ganz lieb, aber man fragt Kinder nicht, was sie tun wollen. Man sagt es ihnen«, begann sie sachlich. »Nein, Mutter, Janey und ich sind ein Team. Wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam.« »Brian, mein Guter, du musst noch so viel über Kinder lernen.« Genau genommen dachte ich, meine Mutter müsste noch viel über ihren Sohn lernen. Ich war im Farmhaus in der Küche gewesen und hatte mir Gedanken über das Abendessen gemacht. Ich legte den Hörer auf, und mir blieb nichts anderes übrig, als den ganzen Tag lang zu brüten, beim Kochen, auch als Janey aus der Schule kam, erfüllt von einem ungetrübten Licht, das mich für gewöhnlich aufheiterte. Ich setzte meine beste Miene auf, als sie mir eifrig von ihrem Tag erzählte. Wir aßen ein fades Huhn, der alltägliche Notnagel für Deppen, und ich brachte es trotzdem nicht über mich, das Thema Feiertag anzuschneiden. Ich wartete bis zur Schlafenszeit, um Janey zu fragen, wie sie sich den bevorstehenden Feiertag vorstellte. »Thanksgiving? Woanders als in Linden Corners?« Ich nickte. »Du entscheidest.« »Willst du denn wegfahren, Brian?« »Ja, wenn du auch willst«, erwiderte ich. »Das klingt ausweichend.« »Wo hast du so ein großspuriges Wort gelernt?« Sie verdrehte die Augen. Wortschatz war für Janey nie ein Thema gewesen. »Ja, ausweichend.« Ich lachte. »Okay, okay. Ja, ich würde gern fahren.« »Gut. Dann will ich auch, wenn du willst«, sagte sie mit erbaulichem Lächeln. »Komisch, ich werde deine Familie kennenlernen. Bis jetzt habe ich noch nie an sie gedacht. Dass du Eltern hast ... ist deine Familie groß ? Wo wohnen sie ? Haben sie einen Hund ...« »Mach mal halblang. Alles zu seiner Zeit.« »Ich bin bloß neugierig. Bis jetzt warst du immer nur ... na ja, du warst Brian.« »Wir stammen alle irgendwoher.« Darüber dachte sie einen Moment nach, und ich befürchtete schon, die Unterhaltung würde einen Weg einschlagen, für den sie noch nicht bereit war. Ich war es jedenfalls nicht. Doch dann stellte sie einfach unschuldig fest : »Ich kann es kaum erwarten.« Ihre plötzliche Pause hatte in mir die Frage aufgeworfen, was sie sonst wohl noch dachte. Man konnte ihr immer ansehen, wenn die Räder ihres Verstandes arbeiteten, beinahe so, als würden sie ihre Augäpfel drehen. »Ist deine Mom so wie meine ?« Nein, sagte ich in Gedanken. Ich beantwortete ihre Frage lieber nicht direkt. »Jeder ist, wie er ist.« »Ausweichend«, sagte sie. Unwillkürlich musste ich lachen. »Also abgemacht, wir fahren. Du und ich, Hand in Hand.« »Hand in Hand«, stimmte Janey zu. So lief das mit uns. Als die Dunkelheit hereinbrach und Janey schlief, rief ich meine Mutter zurück und sagte ihr, sie könnte zwei Teller mehr auf den Tisch der Familie Duncan stellen, der Teil der Familie aus Linden Corners werde sich zu ihnen gesellen. »Du weißt, wie viel mir das bedeutet, Brian.« Ja, das wusste ich. Auch wenn die Annahme der Einladung damals ein relativ glatter Prozess gewesen sein mochte, so durchliefen mich jetzt, da wir um die Ecke Walnut Street in Philadelphia bogen und nur noch zwei Häuserblocks vom stattlichen neuen Haus meiner Eltern entfernt waren, Angst und Beklommenheit wie ein Monsun. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, und meine Nerven lagen blank, sobald ich den Wagen geparkt hatte. Die Fahrt hatte sechs Stunden gedauert (mit einer Essenspause), aber in Wirklichkeit war viel mehr Zeit verstrichen. Neun Monate waren vergangen, seitdem ich meine Eltern zuletzt gesehen hatte, und in dieser Zeit hatte sich meine Welt drastisch verändert, in einer Weise, wie sie niemand von uns hätte vorhersehen können, ich am allerwenigsten. Ich hatte meinen gut bezahlten Job als undankbarer Firmenschmarotzer aufgegeben, meine kleine Wohnung in New York untervermietet, und die vermeintliche Frau meiner Träume verlassen. Ich hatte mich auf eine Reise der Selbstfindung begeben und war an einem Ort gelandet, der nicht weit entfernt war, den aber von allem, was ich bisher gekannt hatte, Welten trennten. Ich hatte Annie Sullivan kennengelernt, und ich hatte sie geliebt, dann hatte ich sie verloren, wir alle hatten sie verloren, und demzufolge hatte ich das Sorgerecht für ihre einzige Tochter bekommen, die achtjährige Janey Sullivan, ein wunderbares Mädchen, so, wie ich es mir immer erträumt hatte. Seither war ich sehr eigen gewesen, wenn ich Janey neuen Dingen aussetzte. Ich hatte keine Besucher zugelassen, weder Freunde noch Familie, die nicht aus Linden Corners kamen, da diese Zeit des Übergangs zwischen Janey und mir ohne weitere Störung vonstatten gehen sollte. Selbst jetzt hatte ich meine Bedenken, dieses kostbare Mädchen aus den sicheren Grenzen ihres Leben herauszuholen, aber mir war auch klar, dass alles seine Zeit hatte, selbst ein Schritt nach vorn. »Welches Haus ist es ?«, fragte Janey und zeigte aus dem Seitenfenster auf die langen Häuserreihen, die beide Seiten der schwach beleuchteten Straße säumten, in der sowohl Stadthäuser im föderalistischen Stil, als auch Kolonialhäuser überwogen, klassische, restaurierte Bauten schmückten beide Seiten der Allee. Ein Meer aus Backsteinen und weißen Gittern. Ich machte Janey keinen Vorwurf, dass sie verwirrt war ; alle Häuser sahen gleich aus. Dennoch zeigte ich auf das Gebäude vorne links an der Ecke. »Das mit dem Licht über dem Portal.« »Wie gut, dass sie das Licht haben, da es so dunkel ist. Wie sollten wir es sonst finden ?« »Nun, Janey, ich habe immerhin die Adresse.« »Oh«, erwiderte sie kichernd, woraufhin ich lächeln musste, und das tat in diesem Moment gut. Mich beruhigte es zu sehen, wie entspannt Janey war. Wir hatten in einer Seitenstraße geparkt und die Koffer vorerst im Wagen gelassen. Unser Gepäck war ohnehin schon umfangreich genug. Und so machten wir uns, das ungleiche Team, Hand in Hand auf den Weg zur vornehmen Residenz von Kevin und Didi Duncan. Jahrelang hatten sie in den Vororten von Philadelphia gelebt (in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war) und hatten es dann im letzten Sommer genau umgekehrt gemacht wie all ihre Freunde. Sie waren in die Stadt gezogen, hatten das alte Haus verkauft und stattdessen dieses sehr ansehnliche Gebäude in diesem sehr ansehnlichen Teil der Stadt der Nächstenliebe erstanden. Einige von Dads Investitionen hatten sich offensichtlich bezahlt gemacht. Ich musste es selbst noch in Augenschein nehmen, fand das aber gut, denn hinter diesen Türen warteten keine Erinnerungen an vergangene Feiertage auf mich. Obwohl man seinen Erinnerungen nie richtig entkommt; auch wenn man Wände aufgebaut hat, kann der Verstand sie nach Belieben einreißen, angestoßen durch kleinste Wahrnehmungen. Als wir an die Treppe kamen, schaute ich in Janeys sommersprossiges Gesicht und fragte : »Bist du bereit ?« »Das fragst du andauernd«, sagte sie. »Ich glaube, die Frage ist, ob du bereit bist?« »Und ich glaube, die Antwort lautet: nicht so richtig.« »Komisch - das sind deine Eltern, Brian.« Als wären Janeys Worte ein magischer Schlüssel, ging die Haustür auf, helles Licht von innen beleuchtete uns und warf unsere Schatten auf den Bürgersteig hinter uns. Wir aber traten vor zu meiner Mutter, die im Türrahmen wartete. Sie trug einen schlichten, marineblauen Rock mit einer weißen Bluse, eine Perlenkette um den Hals. Parfümduft schwebte in der Luft. Ihr vertrauter Geruch. Verstehen Sie jetzt, was ich mit Erinnerungen meinte? Ich hatte das Bild meiner Mutter vor vielen Jahren vor Augen, wie sie mich ins Bett brachte, bevor sie mit meinem Vater zum Dinner ausging. Damals roch sie genauso wie heute. Verändert hatte sich ihr Haar - sie hatte es ergrauen lassen, und die Frisur saß perfekt. Sie wäre nicht Didi Duncan, wenn sie nicht ordentlich angezogen wäre, selbst zu dieser Tageszeit. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte sie. »Deinen Sohn«, erwiderte ich, dann meldete sich Janey: »Und mich, ich bin Janey.« Meine Mutter trat von der oberen Stufe und umarmte mich, was sich eher wie ein Luftkuss anfühlte, bevor sie sich bückte, damit sie mit Janey auf Augenhöhe war. »Na, du bist aber ein hübsches Ding, was, Jane?« »Janey«, korrigierte ich sie. Sie beachtete mich nicht, sondern konzentrierte sich auf Janey. »Das ist so ein kindischer Name, findest du nicht?« »Ich bin ein Kind«, stellte Janey fest. »Unsinn, Liebes. Du bist in den letzten Monaten enorm gewachsen, nicht wahr? Kommt rein, ihr beiden.« Wir folgten ihr und schlossen die kriechende Kälte hinter uns aus. Wir betraten eine Diele, die liebevoll mit antikem Holz bestückt war, und wurden zum Wohnzimmer geleitet, in dem ein warmes Feuer im Kamin flackerte. Mein Vater, Kevin Duncan, saß neben dem knisternden Feuer in einem ledernen Ohrensessel, noch immer in Anzug und Krawatte, das Hemd bis an den Hals zugeknöpft. So war mein Vater. Unbeweglich war ein Wort, das ihn perfekt beschrieb. Er veränderte sich nie. Er las gerade im Wall Street Journal, und auf dem Tisch neben ihm stand ein Glas mit seinem traditionellen trockenen Manhattan, der erfolgreiche Unternehmer im Entspannungsmodus. Als er uns hereinkommen sah, legte er die Zeitung sacht auf einen zum Sessel passenden Polsterhocker. »Hallo, mein Sohn, schön, dich zu sehen«, sagte er und schüttelte mir mit seinem kräftigen, festen Griff die Hand. Seine Begrüßung war effizient und geschäftsmäßig wie eh und je; das war seine Art, erkannte es nicht anders. Er war ein großgewachsener Mann, einsfünfundachtzig und kräftig gebaut, und ich stellte ihn mir in seinem Büro vor, auch wenn er nicht der Chef gewesen wäre, würde er dennoch eine einschüchternde Haltung einnehmen. Allerdings geschah an diesem Abend ein überraschendes Kunststück. Als Janey hinter mir hervorlugte, reckte sie ihren Hals, damit sie meinen Vater sehen konnte, und in diesem Augenblick rief sie mit weit aufgerissenen Augen aus : »Wow, bist du groß.« Das Gesicht des gestrengen Geschäftsmanns legte sich in Falten, und ein Lächeln fand den Weg auf sein gerötetes Gesicht. »Hoppla ! Na, dann wollen wir mal einen Blick auf dich werfen, junge Dame«, sagte er. »Dafür müsstest du dich auf den Boden setzen.« Kevin Duncan, dieser große, breite Mann mit dichtem, grauem Haar und einer Brille auf der Nase, der mich immer eingeschüchtert hatte, fing jetzt tatsächlich an zu lachen - was man sonst nicht an ihm kannte. Statt sich auf den Boden zu setzen, wie Janey vorgeschlagen hatte, hob er das kleine Mädchen auf seine kräftigen Arme, und mir wurde klar, dass das Unmögliche gelungen war, Janey hatte das Herz eines Geldriesen zum Schmelzen gebracht. Ich spürte, wie sich die in meinen Schultern aufgestaute Anspannung löste, und merkte, dass dieses Thanksgiving vielleicht doch gar nicht so schlimm werden würde. Meine Mutter war hinter uns ins Zimmer getreten und hatte den Wortwechsel mitbekommen zwischen ihrem Mann und ihrer ... mein Gott, fast hätte ich Enkelin gedacht. Ich musste mit meiner Wortwahl vorsichtig sein; Janey und ich hatten bisher solche Bezeichnungen vermieden, viel zu kompliziert. Wir vier setzten uns ins Wohnzimmer und plauderten fröhlich, Janey genoss ein Glas Apfelsaft, ich ein Mineralwasser mit Eis, während mein Vater und meine Mutter ihre Manhattans tranken. Ihre Aufmerksamkeit galt hauptsächlich Janey. Sie erkundigten sich nach Schule und Freundschaften, fragten nicht nach ihrer Mutter, Annie, oder nach den schwierigen Zeiten, die das Mädchen in seinem Leben bereits durchgemacht hatte. Die Windmühle, die uns zusammengebracht hatte, wurde nicht erwähnt. Während sie sich unterhielten, saß ich auf meiner Stuhlkante und wartete ängstlich auf einen Fehltritt. Gegen zehn Uhr forderte die Aufregung der langen Fahrt und die Begegnung Janeys mit meinen Eltern endlich ihren Tribut, wir beschlossen, Janey zu Bett zu bringen. Ich holte die Koffer aus dem Wagen und versuchte, Janey in ihrem Zimmer einzurichten. Sie hatte offensichtlich frischen Wind bekommen, denn sie schaute sich eifrig die alten Fotos an, die meine Eltern an die Wände gehängt hatten. »Bist du das, Brian?«, fragte Janey und zeigte auf einen dämlichen Halbwüchsigen, der für sein Abschlussfoto auf der Highschool posierte. Ich war damals siebzehn und sah aus wie zwölf. »Jetzt siehst du anders aus - besser.« Als ich mich bei ihr bedankte, deutete sie auf die beiden anderen, ähnlich gestalteten Porträts, die über meinem hingen, das eines dunkelhaarigen, gut aussehenden jungen Mannes und das einer jungen Frau, deren Augen das gesamte Bild beherrschten. Auch das waren Fotos vom Abschluss der Highschool. »Wer ist das?«, fragte sie. »Das eine ist Rebecca, meine Schwester.« »Sie ist hübsch. Und wer ist der andere Typ? Er sieht nicht so aus ...« »Nicht so dämlich? Wie ich ?« »Ja«, erwiderte sie mit spitzbübischem Lächeln. Bevor ich auf ihre Frage einging, betrachtete ich das betreffende Foto, und mir kamen Erinnerungen, hervorgerufen durch sein ruppiges, gutes Aussehen. Einen Moment lang schaute ich mich nach den Trophäen und Auszeichnungen um, nach den Schleifen und gerahmten Zitaten, die seine Wände schmückten, doch dann fiel mir ein, dass es nicht mehr sein Zimmer war. Nicht einmal das Haus, in dem er aufgewachsen war, keiner von uns. Plötzlich war ich überrascht, dass die Fotos hier aufgehängt und nicht wie andere Erinnerungsstücke weggelegt worden waren. Ich fragte mich, wie es meinen Eltern wohl gegangen war, als sie das alte Haus verpackten und sich von einem Raum verabschiedeten, der in der Zeit stehen geblieben war. Dann antwortete ich. »Das ist mein Bruder Philip.« Unsere Unterhaltung wurde rasch unterbrochen, als meine Mutter durch die Tür stürmte. Sie räusperte sich wissend. Über Fotos wollte sie nicht sprechen. Als sie sah, dass ich noch nicht weit gekommen war, Janey ins Bett zu bringen, warf sie mich kurzerhand hinaus. »Mal ehrlich, was weißt du denn schon über die Fürsorge für kleine Mädchen, Brian ?« Meine Mutter stellte gern Fragen, wartete jedoch nur selten auf eine Antwort. Dieser Abend war eine solche Gelegenheit, obwohl ich ihr durchaus zuversichtlich hätte antworten können. Denn ich wusste viel. Janey hatte mir geholfen, den neugierigen Verstand eines heranwachsenden Kindes zu ergründen, oh, sie hatte mir sehr geholfen. Doch ich ließ meiner Mutter die Freude, Janey zu bemuttern, sagte gute Nacht, wurde dabei stürmisch von Janey umarmt, während meine Mutter mir ein höfliches Lächeln schenkte, und zog mich schließlich ins andere Gästezimmer zurück. Und als ich mich an dem Abend bemühte einzuschlafen, hoffte ich, am nächsten Tag und in den kommenden Wochen in der Lage zu sein, die Gefühle zu erwidern, die Janeys herzlicher Umarmung zugrunde lagen. Sie war in einem fremden Haus, begegnete fremden Menschen, und obwohl ich mit ihnen verwandt war, konnte es für sie keine leichte Übung gewesen sein, hierher zu kommen. Und wir standen erst am Anfang der Vorweihnachtszeit. Wie sehr sie mich brauchen würde, jagte mir beinahe Angst ein. Wie sehr ich sie brauchen würde, erschreckte mich.
2
Zum Essen um vier Uhr nachmittags wären wir zu acht, informierte uns meine Mutter, als wir aufwachten, und mir gefiel der Gedanke nicht, den ganzen Tag im Haus herumzuhängen, ihr beim Kochen und meinem Vater beim Lesen zuzuschauen. Achtjährige Mädchen brauchen viel mehr Anregung. Ich auch. Außerdem bat uns meine Mutter auf ihre unumwundene Art, »nicht herumzutrampeln«. Janey und ich mummelten uns für den ungewöhnlich kalten Novembertag dick ein, entkamen dem Haus und verbrachten einen großen Teil des Morgens damit, den historischen Teil Philadelphias zu erkunden, der in der Nähe lag, einschließlich Liberty Bell und Constitution Hall, obwohl die meisten Sehenswürdigkeiten verständlicherweise am Feiertag geschlossen waren. Dennoch verschaffte es uns die Gelegenheit, den Vorbereitungen aus dem Weg zu gehen. »Wer kommt denn zum Essen?«, fragte Janey mich unterwegs. Gute Frage. Ich hatte nicht nachgefragt, und meine Mutter hatte von sich aus nichts herausgerückt. »Wahrscheinlich müssen wir abwarten.« Janey schenkte mir einen forschenden Blick. Zweifellos wunderte sie sich, warum ich es nicht wissen wollte. Kurz nach zwei kamen wir zurück und sahen, dass der Tisch mit dem feinen Porzellan und Besteck meiner Großmutter gedeckt war, nebst Kristallgläsern für Wasser und Wein, noch ein Familienbrauch der Duncans. Als Kinder wurden wir gewarnt: »Wenn ihr etwas kaputt macht ... werdet ihr es bereuen.« Das war meiner Mutter ernst. Selbst damals war sie nicht unbedingt für Warmherzigkeit und kuschelige Momente bekannt. Außerdem wurde uns bei unserer Rückkehr klar, dass wir nicht allein waren, aus vier waren sechs geworden. Die ersten Gäste waren eingetroffen, die besten Freunde meiner Eltern und der Geschäftspartner meines Vaters, Harry Henderson mit seiner (dritten) Frau Katrina, die, beide tadellos gekleidet, mit einem Weinglas im Wohnzimmer saßen und an Käse und Crackern knabberten. Janey und ich zogen passendere Sachen für Mutters förmliches Thanksgiving an und gingen wieder nach unten, um ordentlich vorgestellt zu werden. Ich hatte die Hendersons bei zahlreichen Gelegenheiten getroffen, daher stand Janey diesmal im Rampenlicht, und während sie die Erwachsenen höfl ich anlächelte, fragte ich mich, wie viel man ihnen über Janeys Lage bereits mitgeteilt hatte - und fand es schneller heraus als erwartet. »Ach, bist du hübsch«, sagte Harry. »Ja, freut mich, dich kennenzulernen, Janey«, sagte Katrina Henderson. »Ich wette, Brian ist der beste Dad überhaupt. Du hast großes Glück.« Schweigen legte sich über den Raum, nur das Knistern des Feuers war zu hören. Mein Vater schaute mich um Vergebung bittend an, meine Mutter schlug die Hand vor den Mund und versuchte vergeblich, das scharfe »iek« zu unterdrücken. Janey aber bekam die peinliche Situation in den Griff, als sie schlicht, unschuldig und ohne Beurteilung sagte : »Oh, Brian ist nicht mein Dad. Er ist ... er ist Brian, und er sorgt sehr gut für mich.« »Natürlich, mein Liebes«, sagte meine Mutter, trat hinter Janey und drängte sie förmlich aus dem Zimmer mit der Aussicht auf eine Süßigkeit, die in der Küche auf sie warte. Als könnte eine so leicht durchschaubare Handlung das ungemütliche Schweigen vertreiben. Ich schaute hinter Janey her und fragte mich, ob ich ihr folgen sollte. Aber ich blieb. »Tut mir so leid, Brian, ich wusste nicht, wie ich dich nennen sollte«, sagte Katrina, »und, na ja, du musst schon zugeben, dass es eine missliche Lage ist, in die man da gerät.« »Wenn du meinst, dann überleg dir mal, wie Janey sich fühlt. Entschuldigt«, sagte ich, froh, ihrer Gesellschaft entkommen zu sein. Ich ging, um nach Janey zu sehen. Sie saß am Küchentisch und trank ein Glas Mineralwasser, während meine Mutter den Truthahn begoss; und dabei hatte ich gedacht, sie würde Janey trösten. Ich fragte meine Mutter, ob ich einen Augenblick mit Janey allein sein könne, und zum Glück rettete mich das Klingeln an der Haustür davor, zwei Mal bitten zu müssen. Vermutlich waren die nächsten Gäste gekommen. Meine Güte, ich konnte es kaum erwarten zu sehen, wen meine Mutter noch in ihre Thanksgiving-Falle gelockt hatte. Sie warf ein Geschirrtuch beiseite und fragte, ob ich mich um den Truthahn kümmern könne; »er braucht Aufmerksamkeit«. Tja, genau wie Janey. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. Janey nickte, während sie einen tiefen Schluck aus ihrem Glas nahm. »Du hast zu bestimmen, wir können nach Hause fahren, wahrscheinlich werden wir noch rechtzeitig dort sein, um ...« »Um zu schlafen«, sagte sie empört. »Es ist eine lange Fahrt, weißt du noch?« »Wir werden morgen früh sofort aufbrechen, okay?« »Versprochen?« »Ehrenwort !«, sagte ich und legte die Hand aufs Herz. Sie stellte das Glas ab und rümpfte die Nase. »Brian, was ist ein Brauch?« »Das ist ... na ja, wenn man andauernd dasselbe macht«, sagte ich, wohl wissend, dass mir nicht unbedingt die beste Definition eingefallen war. »Okay, ich will dir ein Beispiel nennen. Ich habe dir doch erklärt, dass ich zu Thanksgiving immer zu meinen Eltern zum Essen gefahren bin? Das ist ein Brauch. Und zu Weihnachten schmücken wir immer den Baum am Abend vor dem großen Tag, gerade rechtzeitig, damit Santa Claus kommen und alle tollen Geschenke liefern kann. So wurde es Jahr für Jahr gemacht, sogar als meine Eltern noch keine Kinder hatten. Ich glaube, so lief es auch ab, als sie selbst noch Kinder waren. So haben ihre Eltern gefeiert.« »Wow, Heiligabend ? Das ist echt spät, um den Baum aufzustellen. Mom und ich haben drüben in Green's Farms immer unseren eigenen Baum geschlagen und lange vor Weihnachten aufgestellt, ungefähr zwei Wochen vorher.« »Siehst du, das ist ein Brauch, Janey. Dein Brauch.« »Oh«, sagte sie und musste lächeln, denn nun wusste sie, dass sogar sie im zarten Alter von acht Jahren einen Brauch hatte. Wahrscheinlich nicht nur den einen, was ihr nicht bewusst war. Ihre Laune besserte sich, die Unbehaglichkeit verschwand, und wir gesellten uns wieder zu den anderen im Wohnzimmer. Die letzten beiden Gäste waren eingetroffen, und ich war einfach platt, als ich sie erblickte. Meine launische, schwierige, ach so herausfordernde, nicht zu vergessen vorteilhaft geschiedene Schwester, Rebecca Louise Duncan Samson Herbert. Begleitet wurde sie von ihrem neuesten Freund namens Rex, wie ich erfuhr, wahrscheinlich der erste Rex, den ich je kennengelernt hatte, wahrscheinlich auch der letzte. Rebecca war zehn Jahre älter als ich, und Rex war zehn Jahre jünger als sie, womit wir gleich alt waren, dennoch wirkte er jünger, was von den Tattoos auf seinen bloßen Armen unterstrichen wurde. Die beiden schienen perfekt zueinander zu passen, denn beide mussten noch erwachsen werden. Meine Schwester gab mir einen Kuss auf die Wange, Rex schüttelte mir die Hand, redete mich mit »Alter« an, und die beiden wedelten ohne Begeisterung mit der Hand, als sie Janey vorgestellt wurden. »Wo ist Junior ?«, fragte ich meine Schwester. »Bei seinem Vater, Schweinehund«, sagte sie, obwohl niemandem, der zugehört hatte - und das waren wir alle -, klar war, wen sie als Schweinehund bezeichnete, ihren Ex oder ihren Sohn. Bei meiner Schwester konnte man nie wissen. Dann, als ihr auffi el, dass Janey noch immer an meiner Seite klebte, entschuldigte sie sich für ihre Ausdrucksweise. »Huch, Verzeihung, bin es nicht gewohnt, dass Kinder zugegen sind.« Toll. Sollte ein lustiger Nachmittag sein. Junior war ihr Sohn aus erster Ehe, er war zehn Jahre alt und wäre an diesem Tag, offen gestanden, ein netter Spielkamerad gewesen (ich hatte damit gerechnet, dass meine Schwester ihren Sohn mitbrachte, keinen beschränkten Lustknaben), weil mir klar war, dass Janey in diesem Meer von Erwachsenen verloren war. Was hatte sie mit dieser Gruppe gemeinsam? Vier Erwachsene, die über Geld und Geschäfte reden und tratschen würden, meine Schwester und ihr Lustknabe, und ... ich. Genau, vielleicht könnte ich mich mit Janey an den Kindertisch setzen, wir beide in dieser rauen See hilflos treibend. Rebecca machte sich auf die Suche nach einem Getränk, Rex folgte ihr wie ein Schoßhund, und als niemand herschaute, drehte sich Janey zu mir um und sagte: »Können wir uns noch einmal die Freiheitsglocke anschauen?« »Da war beim ersten Mal geschlossen, Janey.« »Ich weiß«, erwiderte sie, woraufhin ich ein Lachen unterdrücken musste. Niemand hörte den Wortwechsel, so vertieft waren sie in ihr eigenes belangloses Geschwätz. Wir waren weit entfernt von der freundlichen Behaglichkeit von Linden Corners und stellten fest, dass unser heimeliges Farmhaus verzweifelt nach uns rief. Ich stellte mir vor, wie Greta sich, erfüllt von Liebe, an einen Tisch setzte, ihre vier Töchter und Schwiegersöhne, deren goldige Kinder, das perfekte Thanksgiving, wie man es in Fernsehfi lmen sieht. Was der Familie Duncan die Illusion von Perfektion verlieh, war der üppig dekorierte Tisch, der jetzt überladen war mit Essen, einem riesigen Truthahn, den mein Vater liebend gern zerteilte, »wie bei einer Machtergreifung, wenn Stück für Stück entfernt wird«, sagte er und erhielt ein herzhaftes Lachen vom jovialen Harry Henderson. Außerdem gab es drei Sorten Kartoffeln und Füllung aus gerösteten Kastanien und Preiselbeeren, Brötchen und warmes Krustenbrot, auch Gemüse, ein Festmahl, an dem wir uns satt essen konnten. Das war auch gut so, da die Unterhaltung uns womöglich hätte verhungern lassen. Mein Vater und Harry sprachen über das Geschäft - Börsen und das Auf und Ab an den sprunghaften Märkten -, während meine Mutter und Katrina Gesellschaftsklatsch austauschten.
»Oh, da fällt mir ein«, schaltete Rebecca sich ein, die entschieden hatte, dass sie uns auf der Stelle berichten musste, wie sie Rex kennengelernt hatte. Sie erzählte von einer gesellschaftlichen Veranstaltung für ein Krankenhaus am Ort, die »so stinklangweilig war, ich hätte sterben können, wenn ich nicht dem guten alten Rexy begegnet wäre«. »Ja, so nennt sie mich, Rexy. Hat mir zu Weihnachten eine Leine verpasst«, sagte Rex. »Wuff.« Ich dachte, meine Mutter würde umfallen. Janey kicherte laut. »Endlich noch einer, dessen Name sich gut anhört, wenn man am Ende ein ›y‹ anhängt. So haben Brian und ich uns kennengelernt - am Fuße einer Windmühle. Da habe ich ihn Brian-y genannt und dann pfui gesagt. Brian-y. Das hört sich nicht gut an, oder?« »Nicht im Geringsten«, sagte meine Mutter rasch. »Was ist mit dieser Windmühle?«, fragte Katrina. »Klingt wunderbar.« »Die gehörte meiner Mom«, erwiderte Janey. »Sie ist richtig groß, und schön ist sie auch, und Brian gefällt sie, nicht wahr, Brian? Sie hat riesige Flügel, die sich im Wind drehen, und manchmal stelle ich mir vor, wie sie Geschichten spinnt, und ich gehe hin und höre zu, weil in Wirklichkeit meine Mom sie mir erzählt. Sie hat mir immer tolle Geschichten erzählt.« Janeys Wortschwall brachte plötzlich alle am Tisch zum Schweigen, Erwachsene schauten sich um, als wären sie angesichts der Inhaltsschwere verstummt. Mein Vater ergriff als Erster wieder das Wort, sah zu Janey hinüber und sagte: »Nun, junge Dame, du hast ja wohl die Begabung deiner Mutter geerbt, Geschichten zu erzählen, weil mir die sehr gefallen hat. Danke, Janey, dass du meinen Tisch zu Thanksgiving mit deiner netten Gegenwart beehrst.« »Kein Problem«, sagte sie. »Danke, dass du mich eingeladen hast. »Jederzeit, Jane«, sagte meine Mutter. »Du bist einfach köstlich. Ein Sonnenscheinchen.«
Meine Eltern fingen meinen Blick auf, ich formte rasch ein »Danke« mit den Lippen und verzieh meiner Mutter sogar ihre kleine Schrulle, »Jane« zu Janey zu sagen. »Oh, Brian, ich habe ganz vergessen, dass ich dich grüßen soll«, sagte Rebecca und übernahm wieder das Kommando am Tisch, als wäre nichts von Bedeutung passiert. »Ich wollte es dir gleich sagen, als wir uns sahen, aber ich bin bei derselben Wohltätigkeitsveranstaltung, auf der ich Rexy kennenlernte, Lucy Watkins über den Weg gelaufen. Ich soll dich unbedingt von ihr grüßen.« »Wer ist Lucy ?«, fragte Janey. »Niemand«, erwiderte ich und fügte dann sarkastisch hinzu, »Danke, Becs.« Sie zuckte mit den Schultern, und einen Moment lang schien es, als hätte sich der Ton verändert. Nicht so glücklich. »Lucy Watkins war Brians erste Liebe - sie waren auf der Highschool und im College die ganze Zeit zusammen, und es sah so aus, als würden sie mal heiraten und ich hätte eine ganze Schar Enkelkinder«, sagte meine Mutter. »Wie ich hörte, hat sie jetzt zwei Kinder, ihr Mann ist Arzt. Sie hat es ganz gut getroffen, die Lucy. Ich glaube, jetzt heißt sie Lucy Abrams.« Janey warf mir einen eigenartigen Blick zu, den ich nicht einordnen konnte, doch dann ließ sie den Gedanken fallen, was immer es war. Auch ich ließ es auf sich beruhen, und endlich wandte sich die Unterhaltung anderen Dingen zu. Der Rest der Mahlzeit verlief ereignislos. Wir alle hatten genug gegessen und getrunken, alle waren dankbar für das, was wir hatten, dieses Festessen, die Gesellschaft und den Wohlstand, der uns umgab. Nachdem die leeren Teller abgeräumt und die Dessertschalen eingedeckt waren, verkündete meine Mutter, nun sei es an der Zeit für uns alle, kundzutun, wofür wir am meisten dankbar seien. Mir wurde bang ums Herz. Ich hatte gehofft, Janey dieses alljährliche Ritual zu ersparen, da ich der Meinung war, es könnte diesem Mädchen, das in dem Jahr so viel verloren hatte, sehr schwerfallen, für irgendetwas dankbar zu sein. »Ich dachte, wir hätten das hinter uns«, sagte ich. »Brian, mein Lieber, das ist ein Brauch, und das weißt du, auch wenn er sich im Lauf der Jahre ein wenig verändert hat.« Sie fuhr fort, den Versammelten zu erklären, wie dieses besondere Ereignis früher vor der Mahlzeit begangen wurde, »bis Kevins wiederholte Klagen über den Truthahn, der kalt wurde, uns dazu brachten, es vor den Nachtisch zu schieben. Unsere Mahlzeiten waren immer so umfangreich, so viele Menschen waren in einer Zeit bei uns, in der man für so vieles dankbar sein musste.« Meine Mutter verlor den Faden, und ich spürte, dass sie an Philip dachte, was sie stets verwirrte. Es gelang ihr, sich zu fangen, und sie sagte : »Rebecca war immer für so vieles dankbar, nicht wahr, Liebes ?« »Heute Abend werde ich kurz und bündig sein«, schlug Rebecca vor. »Ich bin immer dankbar für Nachtisch«, sagte Janey. »Gut«, erwiderte meine Mutter. »Jane hat uns zu einem hervorragenden Start verholfen. Sonst noch jemand ?« Während wir der Reihe nach dran waren, behielt ich Janey sorgfältig im Auge und fragte mich, ob sie alles gesagt hatte, was sie wollte. Nachdem mein Vater konstatiert hatte, wie froh er sei, dass sein Glück in dem Jahr angehalten habe, fuhr meine Mutter fort, sie sei so begeistert von ihrem neuen Haus. Rebecca und Rex waren dankbar, einander gefunden zu haben, die Hendersons folgten mit ihren geistlosen Dankesbekundungen. Dann richteten sich alle Augen auf mich. »Ich bin dankbar für die Kraft des Windes, der durch unser Leben weht und seine Richtung wechselt, dankbar, dass er mich in Linden Corners am Fuße der Windmühle abgeworfen hat. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit Annie Sullivan hatte, und am dankbarsten bin ich für ihre wunderbare Tochter Janey, die helles Licht in mein Leben bringt, auch wenn die Sonne nicht scheint.« »Das war sehr schön gesagt, Brian, sehr ... von Herzen und poetisch«, stellte meine Mutter fest. »Und wer möchte jetzt Kuchen ? Ich habe Apfel, Kirsch, sogar einen Pfirsichkuchen - auf Brians Wunsch ... ja, Jane, was möchtest du ?« Janey unterbrach meine Mutter durch Handheben. »Komme ich denn nicht an die Reihe, um zu sagen, wofür ich dankbar bin ?« »Das hast du doch schon, Liebes, du warst für den Nachtisch dankbar. Also, Pfirsichkuchen ? Ich habe gehört, den magst du am liebsten.« »Mom, lass sie sprechen.« Wieder wurde es still im Zimmer, als alle auf Janey schauten. Sie warf mir einen schnellen, unsicheren Blick zu. Ich reichte ihr eine Hand zur Unterstützung, die sie dankbar annahm. Ich drückte sie liebevoll. »Ich sollte eigentlich keinen Grund haben, dankbar zu sein, nicht in diesem Jahr. Furchtbare Dinge sind passiert, schreckliche Sachen, die mir den Menschen genommen haben, den ich am meisten liebte, den einzigen Menschen, auf den ich mich verlassen konnte, dachte ich. Aber vielleicht war das selbstsüchtiges Denken, weil ich jetzt weiß, dass ich wirklich großes Glück habe, denn ich habe Brian, und auch wenn er nicht mein richtiger Vater ist, so ist er doch etwas Besonderes. Er ist mein bester Freund, und ich bin dankbar, dass ich etwas mit ihm teilen kann ...« Sie hielt inne, schaute mich an, sah, dass mir Tränen über die Wangen liefen, und fuhr lächelnd fort : »Ich bin einfach dankbar, dass ich seine Bräuche und seine Familie miterleben kann.« Als wir uns alle dem Kuchen und dem Kaffee widmeten, begann eine belebte, wahrhaft dankbare Versammlung von Menschen von Neuem. Denn in dem Augenblick setzte ein brandneuer Brauch ein, ein freundlicheres, warmherzigeres Thanksgiving der Familie Duncan war geboren. Das Kind unter uns hatte uns eine Lektion erteilt, die wir so bald nicht vergessen würden.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ihre Verbindung war scheinbar unzertrennlich, aufgebaut von der Kraft des Windes und der Präsenz der machtvollen Windmühle. An diesem Tag übte sie den ihr eigenen Zauber aus, während bittere Winterkälte näherrückte und die Natur sich für die bevorstehenden langen dunklen Monate in den Winterschlaf begab. An diesem Mittwochnachmittag im November ertappte er sich dabei, dass er durch die dünne Schneeschicht lief, die den Boden bedeckte, und sich unter die sich drehenden Flügel wagte. Hier suchte er am Vorabend der Weihnachtszeit Eingebung, Wissen und Kraft ; das alles würde er brauchen, um sich durch die Erinnerungen an eine von Traurigkeit durchsetzte Vergangenheit zu navigieren, die ihr zerbrechliches Glück zu zerstören drohte. Denn so wunderbar sie auch miteinander auskamen, waren die Tage und vor allem die Nächte nicht immer leicht gewesen, und die bevorstehende Weihnachtszeit würde sich als schwierigste Zeit erweisen, eine Prüfung dieser Bindung. »Annie, liebste Annie, kannst du mich hören?«, fragte er fast im Flüsterton in der Hoffnung, dass der wirbelnde Wind seine Worte vorwärts, aufwärts tragen würde. »Ich brauche deine Hilfe, Annie. Janey braucht deine Hilfe, und ich weiß, du bist die Einzige, die mir - uns - den Weg durch diese schwierige Zeit weisen kann. Thanksgiving steht vor der Tür, Annie, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, du könntest hier sein, um mit uns zu feiern. Es wäre unser beider erstes Thanks giving mit Janey gewesen. Wir drei zusammen, das Drum und Dran rundet das Geschenk unserer Liebe ab. Aber so ist es nicht gekommen. Wir sind nur zu zweit, und du fehlst uns. Über kurz oder lang ist Weihnachten, und wenn wir die Feiertage in Festtagslaune überstehen, dann wird es uns gut gehen, einfach gut, glaube ich. Bis dahin, Annie, kann ich einfach nicht vorhersagen, wie Janey auf bestimmte Situationen reagieren wird. Kannst du mir helfen, kannst du mir zeigen, wie ich unserer kostbaren Tochter diese Feiertage unvergesslich machen kann? Sie ist erst acht, und sie hat nur mich, und manchmal, Annie, frage ich mich, ob ich genug für sie bin?« Er bekam keine Antwort, nicht an diesem Tag. Ein paar leichte Schneeflocken fielen, der Wind war sacht, und die Flügel der Windmühle drehten sich langsam. Ihm war, als könnte die alte Mühle ihre riesigen Arme ausbreiten und die Ruhe willkommen heißen, die sich bald auf die kleine Ortschaft Linden Corners legen würde, auf ihre Einwohner und ihre Lebensart, die er so sehr schätzte. Als wäre sie an einem von tragischen Ereignissen überschatteten Weihnachtsfest irgendwie in der Lage, sie aus ihrem Kummer hinauszuheben. Für diesen Mann, einen netten, aber zerbrochenen Mann namens Brian Duncan, würde die bevorstehende Weihnachtszeit eine neue Erfahrung bedeuten, denn er wusste, dass der Erfolg der Feiertage allein auf seinen belasteten Schultern lag. Und so sehr er sich auch auf die Festtage freute, auf das Glück, einzukaufen und zu schenken, gab es Zeiten, in denen sein warmes Herz vor Angst erstarrte. Unsicherheit ließ ihn ganz plötzlich innehalten, so wie in diesem Moment. Als sie sich anschickten, eine Reise über die Behaglichkeit von Linden Corners hinaus zu unternehmen - seine erste offizielle Fahrt mit Janey zusammen -, ergriff ihn wieder einmal Panik, ein Gefühl, das ihn für gewöhnlich überkam, wenn Janey zu Bett gegangen war. Ein Zeitpunkt, an dem die Nacht seine Unsicherheiten weckte. Oft ging er an eine Stelle, an der er Annies Präsenz am besten spürte, und suchte ihre Weisheit. Jetzt, im Schatten der Windmühle - Annies Windmühle - wurde ihm allmählich klar, dass sie nicht immer für ihn dort sein konnte. Manche Entscheidungen musste er allein fällen. »Ich habe meiner Mutter gesagt, Annie, dass ich erst dann zu Thanksgiving komme, wenn sie Pfirsichkuchen macht«, sagte Brian mit einem Hauch Leichtfertigkeit, die er für nötig hielt. Das süße, klebrige Gebäck hatte er erst im vergangenen Sommer bei einem Picknick hoch oben über dem trägen Hudson River kennengelernt, auf einem Felsvorsprung, den er anschließend nach ihr benannt hatte. »Mutter hat behauptet, noch nie von so etwas gehört zu haben. Ich musste deinen Rezeptkasten suchen, und selbst nachdem ich ihn gefunden hatte, bezweifelte ich, dass es genauso schmecken würde. Der Kuchen würde zwar süß sein, aber die besondere Zutat, die du hineingegeben hast, würde fehlen - Liebe. Ein Stück von diesem Kuchen für Janey war wichtig, damit sie wusste, es ist ein Stück von dir. Es sollte ihr das Gefühl vermitteln, zu Hause zu sein, auch wenn sie es nicht ist.« Es gab noch mehr Fragen, mehr Bitten. Brian sprach, und er hörte zu. Dennoch bekam er keine Antwort, nur der Wind säuselte leise, Schneeflocken sanken herab, die Flügel drehten sich müßig. Nichts war anders, kein Zeichen wurde ihm zuteil, dass er gehört worden war. Just in diesem Augenblick lächelte Brian, vielleicht legte er diese Stille als Bestätigung dafür aus, dass auch er keine andere Richtung einschlagen musste, wenn der Wind es nicht machte. Behalte den Kurs bei, folge deiner Eingebung. Vertraue deinem Herzen. »Okay, Annie, ich glaube, jetzt höre ich dich«, sagte er mit schiefem Lächeln. So war sie, rätselhaft, schwer fassbar, selbst als sie in seinen Armen gelegen hatte. Er zog den Handschuh aus und legte die bloße Hand auf die Holztür der Windmühle, als suchte er nach einem Pulsschlag von drinnen. Die Tür war kalt. Dann, als er sich wieder dem Farmhaus zuwandte, tauchte die kleine Janey oben auf dem Hügel auf, Hand in Hand mit Gerta Connors, einer befreundeten Nachbarin und Großmutter ehrenhalber. Die beiden winkten ihm zu, und Janey riss sich plötzlich los. Sie rannte den Hügel hinunter, wobei ihre Stiefel schwache Abdrücke im Schnee hinterließen, als würde sie den Boden kaum berühren. »Brian, Brian, ich bin fertig für die Fahrt, komm, los. Wir haben eine weite Strecke vor uns«, sagte sie freudig erregt, angespornt durch ihren gefürchteten Tatendrang. Wo ein kleines Mädchen nur eine solche Energie herhatte, wusste Brian nicht zu sagen. Dann umschlang sie seine Taille und drückte ihn fest an sich. »Ich habe mich nur vergewissert, dass alles gesichert ist«, sagte er. »Jetzt sehe ich, dass es so ist.« Gemeinsam gingen sie den Hügel hinauf, wo Gerta geduldig wartete. Gerta, die sie eingeladen hatte, Thanksgiving mit ihr und ihren vier erwachsenen Töchtern zu verbringen, Gerta, die im vergangenen Jahr selbst einen furchtbaren Verlust erlitten und durchgehalten hatte, so wie sie alle. Das war ein Merkmal von Linden Corners. Brian hatte ihre Einladung höflich abgelehnt. Vielleicht brauchten sie beide diese erste Weihnachtszeit mit ihren eigenen Familien, erklärte er. Feiertage hatten mit Familie zu tun, sie sollte mit ihrer zusammen sein, er mit seiner. »Meine Mutter braucht ihre Familie in dieser Zeit mehr als im restlichen Jahr«, hob Brian mit einer kleinen Erläuterung an. Er sprach nicht oft über seine Familie ; sie hatten seine jüngste Reise nicht nachempfinden können und brachten kein Verständnis für sein neues Leben auf. »In dieser Zeit im Jahr erinnerte sich die Familie Duncan daran, was wir haben und was wir verloren haben. Vielleicht die einzige Zeit, in der wir wirklich daran denken. Wir verstehen uns so selten.« In jeder Familie gebe es verlorene und gefundene Schätze, hatte Gerta mit ihrer üblichen Anmut und ihrem Verständnis gesagt. Als sie wieder am Farmhaus waren, verabschiedeten sich Brian Duncan und Janey Sullivan von Gerta mit stillen, liebevollen Umarmungen und stiegen dann in Brians Wagen. Koffer lagen schon im Kofferraum, bereit zur Abreise. Brian fragte sich, ob er es auch war.
»Fertig ?«, wollte Brian von Janey wissen. Nur um sicherzugehen. »Das hab ich doch schon gesagt«, erwiderte sie nicht ohne einen Hauch von Empörung, was ihn an das kleine Mädchen erinnerte, das er zu Beginn des Sommers kennengelernt hatte, bevor etwas passiert war. An die Zeit, als sie sich an jenem schönen Sommertag zum erstem Mal begegnet waren, genau hier, am Fuße der Windmühle. »Wieso, hast du es dir anders überlegt ?« Brian wurde klar, dass sie ihm die Chance einräumte, seine Meinung zu ändern. Er grinste über ihre Reife, ihre Einfühlsamkeit. Manchmal fragte er sich, wer von ihnen beiden der Erwachsene, wer das Kind war. »Die Straße liegt vor uns«, sagte er. Bald hatten sie es sich auf ihren Sitzen bequem gemacht, waren die Auffahrt hinuntergefahren, die Reifen knirschten auf der dünnen Schneeschicht. Dann fing die gewundene Straße sie ein, führte sie aus Linden Corners hinaus, ein letztes Mal an der Windmühle vorbei, bis der Wagen um eine Ecke bog. Janey winkte ihr zu, während Brian den Blick auf die Straße gerichtet hielt, wenngleich er lächelte. Weil er seinen Wunsch bereits in den Wind gesprochen hatte und es jetzt an der Natur lag, seine Botschaft an den besonderen Ort zu senden, zu dem all seine Wünsche gehörten. Bald war Weihnachten. Überraschungen warteten auf sie, und nicht alle mussten ausgepackt werden. Eine Zeit der Liebe, der Hoffnung stand vor der Tür. Sie würden wieder in Linden Corners sein, um zu feiern. Vorerst war es an der Zeit, etwas über den anderen zu erfahren, darüber, was in ihren Herzen lebte.
Teil 1
Alte Bräuche
1
Wenn das Leben von Bräuchen bestimmt ist, dann war es unvermeidlich, dass meine Mutter mich zwei Wochen vor Thanksgiving anrief, um zu fragen, ob ich mich der Familie zum jährlichen Abendessen anschließen würde. Jedes Jahr derselbe Anruf, jedes Jahr fragt sie auf ihre betont unaufdringliche Art, und jedes Jahr antworte ich so, wie es von mir erwartet wird. Ja, natürlich, wo sollte ich sonst sein? Dieses Jahr aber hatte sich so viel verändert - in meinem Leben, aber auch in dem meiner Eltern -, dass ich mich fragen musste, ob der Begriff Brauchtum in eine verflossene Epoche gehörte, nur von Gedanken an die Vergangenheit aufrecht erhalten, und nicht mehr praktiziert wurde. Was ich meiner Mutter an diesem Tag antwortete, bewies in der Tat, dass Veränderung in der Luft lag, ein erster Schritt in die Zukunft. Denn ich setzte sie darüber in Kenntnis, dass ich mich zuerst mit Janey beraten müsse, bevor ich ihr antworten könne. »Brian, Lieber, das ist ganz lieb, aber man fragt Kinder nicht, was sie tun wollen. Man sagt es ihnen«, begann sie sachlich. »Nein, Mutter, Janey und ich sind ein Team. Wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam.« »Brian, mein Guter, du musst noch so viel über Kinder lernen.« Genau genommen dachte ich, meine Mutter müsste noch viel über ihren Sohn lernen. Ich war im Farmhaus in der Küche gewesen und hatte mir Gedanken über das Abendessen gemacht. Ich legte den Hörer auf, und mir blieb nichts anderes übrig, als den ganzen Tag lang zu brüten, beim Kochen, auch als Janey aus der Schule kam, erfüllt von einem ungetrübten Licht, das mich für gewöhnlich aufheiterte. Ich setzte meine beste Miene auf, als sie mir eifrig von ihrem Tag erzählte. Wir aßen ein fades Huhn, der alltägliche Notnagel für Deppen, und ich brachte es trotzdem nicht über mich, das Thema Feiertag anzuschneiden. Ich wartete bis zur Schlafenszeit, um Janey zu fragen, wie sie sich den bevorstehenden Feiertag vorstellte. »Thanksgiving? Woanders als in Linden Corners?« Ich nickte. »Du entscheidest.« »Willst du denn wegfahren, Brian?« »Ja, wenn du auch willst«, erwiderte ich. »Das klingt ausweichend.« »Wo hast du so ein großspuriges Wort gelernt?« Sie verdrehte die Augen. Wortschatz war für Janey nie ein Thema gewesen. »Ja, ausweichend.« Ich lachte. »Okay, okay. Ja, ich würde gern fahren.« »Gut. Dann will ich auch, wenn du willst«, sagte sie mit erbaulichem Lächeln. »Komisch, ich werde deine Familie kennenlernen. Bis jetzt habe ich noch nie an sie gedacht. Dass du Eltern hast ... ist deine Familie groß ? Wo wohnen sie ? Haben sie einen Hund ...« »Mach mal halblang. Alles zu seiner Zeit.« »Ich bin bloß neugierig. Bis jetzt warst du immer nur ... na ja, du warst Brian.« »Wir stammen alle irgendwoher.« Darüber dachte sie einen Moment nach, und ich befürchtete schon, die Unterhaltung würde einen Weg einschlagen, für den sie noch nicht bereit war. Ich war es jedenfalls nicht. Doch dann stellte sie einfach unschuldig fest : »Ich kann es kaum erwarten.« Ihre plötzliche Pause hatte in mir die Frage aufgeworfen, was sie sonst wohl noch dachte. Man konnte ihr immer ansehen, wenn die Räder ihres Verstandes arbeiteten, beinahe so, als würden sie ihre Augäpfel drehen. »Ist deine Mom so wie meine ?« Nein, sagte ich in Gedanken. Ich beantwortete ihre Frage lieber nicht direkt. »Jeder ist, wie er ist.« »Ausweichend«, sagte sie. Unwillkürlich musste ich lachen. »Also abgemacht, wir fahren. Du und ich, Hand in Hand.« »Hand in Hand«, stimmte Janey zu. So lief das mit uns. Als die Dunkelheit hereinbrach und Janey schlief, rief ich meine Mutter zurück und sagte ihr, sie könnte zwei Teller mehr auf den Tisch der Familie Duncan stellen, der Teil der Familie aus Linden Corners werde sich zu ihnen gesellen. »Du weißt, wie viel mir das bedeutet, Brian.« Ja, das wusste ich. Auch wenn die Annahme der Einladung damals ein relativ glatter Prozess gewesen sein mochte, so durchliefen mich jetzt, da wir um die Ecke Walnut Street in Philadelphia bogen und nur noch zwei Häuserblocks vom stattlichen neuen Haus meiner Eltern entfernt waren, Angst und Beklommenheit wie ein Monsun. Schweiß bildete sich auf meiner Stirn, und meine Nerven lagen blank, sobald ich den Wagen geparkt hatte. Die Fahrt hatte sechs Stunden gedauert (mit einer Essenspause), aber in Wirklichkeit war viel mehr Zeit verstrichen. Neun Monate waren vergangen, seitdem ich meine Eltern zuletzt gesehen hatte, und in dieser Zeit hatte sich meine Welt drastisch verändert, in einer Weise, wie sie niemand von uns hätte vorhersehen können, ich am allerwenigsten. Ich hatte meinen gut bezahlten Job als undankbarer Firmenschmarotzer aufgegeben, meine kleine Wohnung in New York untervermietet, und die vermeintliche Frau meiner Träume verlassen. Ich hatte mich auf eine Reise der Selbstfindung begeben und war an einem Ort gelandet, der nicht weit entfernt war, den aber von allem, was ich bisher gekannt hatte, Welten trennten. Ich hatte Annie Sullivan kennengelernt, und ich hatte sie geliebt, dann hatte ich sie verloren, wir alle hatten sie verloren, und demzufolge hatte ich das Sorgerecht für ihre einzige Tochter bekommen, die achtjährige Janey Sullivan, ein wunderbares Mädchen, so, wie ich es mir immer erträumt hatte. Seither war ich sehr eigen gewesen, wenn ich Janey neuen Dingen aussetzte. Ich hatte keine Besucher zugelassen, weder Freunde noch Familie, die nicht aus Linden Corners kamen, da diese Zeit des Übergangs zwischen Janey und mir ohne weitere Störung vonstatten gehen sollte. Selbst jetzt hatte ich meine Bedenken, dieses kostbare Mädchen aus den sicheren Grenzen ihres Leben herauszuholen, aber mir war auch klar, dass alles seine Zeit hatte, selbst ein Schritt nach vorn. »Welches Haus ist es ?«, fragte Janey und zeigte aus dem Seitenfenster auf die langen Häuserreihen, die beide Seiten der schwach beleuchteten Straße säumten, in der sowohl Stadthäuser im föderalistischen Stil, als auch Kolonialhäuser überwogen, klassische, restaurierte Bauten schmückten beide Seiten der Allee. Ein Meer aus Backsteinen und weißen Gittern. Ich machte Janey keinen Vorwurf, dass sie verwirrt war ; alle Häuser sahen gleich aus. Dennoch zeigte ich auf das Gebäude vorne links an der Ecke. »Das mit dem Licht über dem Portal.« »Wie gut, dass sie das Licht haben, da es so dunkel ist. Wie sollten wir es sonst finden ?« »Nun, Janey, ich habe immerhin die Adresse.« »Oh«, erwiderte sie kichernd, woraufhin ich lächeln musste, und das tat in diesem Moment gut. Mich beruhigte es zu sehen, wie entspannt Janey war. Wir hatten in einer Seitenstraße geparkt und die Koffer vorerst im Wagen gelassen. Unser Gepäck war ohnehin schon umfangreich genug. Und so machten wir uns, das ungleiche Team, Hand in Hand auf den Weg zur vornehmen Residenz von Kevin und Didi Duncan. Jahrelang hatten sie in den Vororten von Philadelphia gelebt (in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war) und hatten es dann im letzten Sommer genau umgekehrt gemacht wie all ihre Freunde. Sie waren in die Stadt gezogen, hatten das alte Haus verkauft und stattdessen dieses sehr ansehnliche Gebäude in diesem sehr ansehnlichen Teil der Stadt der Nächstenliebe erstanden. Einige von Dads Investitionen hatten sich offensichtlich bezahlt gemacht. Ich musste es selbst noch in Augenschein nehmen, fand das aber gut, denn hinter diesen Türen warteten keine Erinnerungen an vergangene Feiertage auf mich. Obwohl man seinen Erinnerungen nie richtig entkommt; auch wenn man Wände aufgebaut hat, kann der Verstand sie nach Belieben einreißen, angestoßen durch kleinste Wahrnehmungen. Als wir an die Treppe kamen, schaute ich in Janeys sommersprossiges Gesicht und fragte : »Bist du bereit ?« »Das fragst du andauernd«, sagte sie. »Ich glaube, die Frage ist, ob du bereit bist?« »Und ich glaube, die Antwort lautet: nicht so richtig.« »Komisch - das sind deine Eltern, Brian.« Als wären Janeys Worte ein magischer Schlüssel, ging die Haustür auf, helles Licht von innen beleuchtete uns und warf unsere Schatten auf den Bürgersteig hinter uns. Wir aber traten vor zu meiner Mutter, die im Türrahmen wartete. Sie trug einen schlichten, marineblauen Rock mit einer weißen Bluse, eine Perlenkette um den Hals. Parfümduft schwebte in der Luft. Ihr vertrauter Geruch. Verstehen Sie jetzt, was ich mit Erinnerungen meinte? Ich hatte das Bild meiner Mutter vor vielen Jahren vor Augen, wie sie mich ins Bett brachte, bevor sie mit meinem Vater zum Dinner ausging. Damals roch sie genauso wie heute. Verändert hatte sich ihr Haar - sie hatte es ergrauen lassen, und die Frisur saß perfekt. Sie wäre nicht Didi Duncan, wenn sie nicht ordentlich angezogen wäre, selbst zu dieser Tageszeit. »Na, wen haben wir denn da?«, fragte sie. »Deinen Sohn«, erwiderte ich, dann meldete sich Janey: »Und mich, ich bin Janey.« Meine Mutter trat von der oberen Stufe und umarmte mich, was sich eher wie ein Luftkuss anfühlte, bevor sie sich bückte, damit sie mit Janey auf Augenhöhe war. »Na, du bist aber ein hübsches Ding, was, Jane?« »Janey«, korrigierte ich sie. Sie beachtete mich nicht, sondern konzentrierte sich auf Janey. »Das ist so ein kindischer Name, findest du nicht?« »Ich bin ein Kind«, stellte Janey fest. »Unsinn, Liebes. Du bist in den letzten Monaten enorm gewachsen, nicht wahr? Kommt rein, ihr beiden.« Wir folgten ihr und schlossen die kriechende Kälte hinter uns aus. Wir betraten eine Diele, die liebevoll mit antikem Holz bestückt war, und wurden zum Wohnzimmer geleitet, in dem ein warmes Feuer im Kamin flackerte. Mein Vater, Kevin Duncan, saß neben dem knisternden Feuer in einem ledernen Ohrensessel, noch immer in Anzug und Krawatte, das Hemd bis an den Hals zugeknöpft. So war mein Vater. Unbeweglich war ein Wort, das ihn perfekt beschrieb. Er veränderte sich nie. Er las gerade im Wall Street Journal, und auf dem Tisch neben ihm stand ein Glas mit seinem traditionellen trockenen Manhattan, der erfolgreiche Unternehmer im Entspannungsmodus. Als er uns hereinkommen sah, legte er die Zeitung sacht auf einen zum Sessel passenden Polsterhocker. »Hallo, mein Sohn, schön, dich zu sehen«, sagte er und schüttelte mir mit seinem kräftigen, festen Griff die Hand. Seine Begrüßung war effizient und geschäftsmäßig wie eh und je; das war seine Art, erkannte es nicht anders. Er war ein großgewachsener Mann, einsfünfundachtzig und kräftig gebaut, und ich stellte ihn mir in seinem Büro vor, auch wenn er nicht der Chef gewesen wäre, würde er dennoch eine einschüchternde Haltung einnehmen. Allerdings geschah an diesem Abend ein überraschendes Kunststück. Als Janey hinter mir hervorlugte, reckte sie ihren Hals, damit sie meinen Vater sehen konnte, und in diesem Augenblick rief sie mit weit aufgerissenen Augen aus : »Wow, bist du groß.« Das Gesicht des gestrengen Geschäftsmanns legte sich in Falten, und ein Lächeln fand den Weg auf sein gerötetes Gesicht. »Hoppla ! Na, dann wollen wir mal einen Blick auf dich werfen, junge Dame«, sagte er. »Dafür müsstest du dich auf den Boden setzen.« Kevin Duncan, dieser große, breite Mann mit dichtem, grauem Haar und einer Brille auf der Nase, der mich immer eingeschüchtert hatte, fing jetzt tatsächlich an zu lachen - was man sonst nicht an ihm kannte. Statt sich auf den Boden zu setzen, wie Janey vorgeschlagen hatte, hob er das kleine Mädchen auf seine kräftigen Arme, und mir wurde klar, dass das Unmögliche gelungen war, Janey hatte das Herz eines Geldriesen zum Schmelzen gebracht. Ich spürte, wie sich die in meinen Schultern aufgestaute Anspannung löste, und merkte, dass dieses Thanksgiving vielleicht doch gar nicht so schlimm werden würde. Meine Mutter war hinter uns ins Zimmer getreten und hatte den Wortwechsel mitbekommen zwischen ihrem Mann und ihrer ... mein Gott, fast hätte ich Enkelin gedacht. Ich musste mit meiner Wortwahl vorsichtig sein; Janey und ich hatten bisher solche Bezeichnungen vermieden, viel zu kompliziert. Wir vier setzten uns ins Wohnzimmer und plauderten fröhlich, Janey genoss ein Glas Apfelsaft, ich ein Mineralwasser mit Eis, während mein Vater und meine Mutter ihre Manhattans tranken. Ihre Aufmerksamkeit galt hauptsächlich Janey. Sie erkundigten sich nach Schule und Freundschaften, fragten nicht nach ihrer Mutter, Annie, oder nach den schwierigen Zeiten, die das Mädchen in seinem Leben bereits durchgemacht hatte. Die Windmühle, die uns zusammengebracht hatte, wurde nicht erwähnt. Während sie sich unterhielten, saß ich auf meiner Stuhlkante und wartete ängstlich auf einen Fehltritt. Gegen zehn Uhr forderte die Aufregung der langen Fahrt und die Begegnung Janeys mit meinen Eltern endlich ihren Tribut, wir beschlossen, Janey zu Bett zu bringen. Ich holte die Koffer aus dem Wagen und versuchte, Janey in ihrem Zimmer einzurichten. Sie hatte offensichtlich frischen Wind bekommen, denn sie schaute sich eifrig die alten Fotos an, die meine Eltern an die Wände gehängt hatten. »Bist du das, Brian?«, fragte Janey und zeigte auf einen dämlichen Halbwüchsigen, der für sein Abschlussfoto auf der Highschool posierte. Ich war damals siebzehn und sah aus wie zwölf. »Jetzt siehst du anders aus - besser.« Als ich mich bei ihr bedankte, deutete sie auf die beiden anderen, ähnlich gestalteten Porträts, die über meinem hingen, das eines dunkelhaarigen, gut aussehenden jungen Mannes und das einer jungen Frau, deren Augen das gesamte Bild beherrschten. Auch das waren Fotos vom Abschluss der Highschool. »Wer ist das?«, fragte sie. »Das eine ist Rebecca, meine Schwester.« »Sie ist hübsch. Und wer ist der andere Typ? Er sieht nicht so aus ...« »Nicht so dämlich? Wie ich ?« »Ja«, erwiderte sie mit spitzbübischem Lächeln. Bevor ich auf ihre Frage einging, betrachtete ich das betreffende Foto, und mir kamen Erinnerungen, hervorgerufen durch sein ruppiges, gutes Aussehen. Einen Moment lang schaute ich mich nach den Trophäen und Auszeichnungen um, nach den Schleifen und gerahmten Zitaten, die seine Wände schmückten, doch dann fiel mir ein, dass es nicht mehr sein Zimmer war. Nicht einmal das Haus, in dem er aufgewachsen war, keiner von uns. Plötzlich war ich überrascht, dass die Fotos hier aufgehängt und nicht wie andere Erinnerungsstücke weggelegt worden waren. Ich fragte mich, wie es meinen Eltern wohl gegangen war, als sie das alte Haus verpackten und sich von einem Raum verabschiedeten, der in der Zeit stehen geblieben war. Dann antwortete ich. »Das ist mein Bruder Philip.« Unsere Unterhaltung wurde rasch unterbrochen, als meine Mutter durch die Tür stürmte. Sie räusperte sich wissend. Über Fotos wollte sie nicht sprechen. Als sie sah, dass ich noch nicht weit gekommen war, Janey ins Bett zu bringen, warf sie mich kurzerhand hinaus. »Mal ehrlich, was weißt du denn schon über die Fürsorge für kleine Mädchen, Brian ?« Meine Mutter stellte gern Fragen, wartete jedoch nur selten auf eine Antwort. Dieser Abend war eine solche Gelegenheit, obwohl ich ihr durchaus zuversichtlich hätte antworten können. Denn ich wusste viel. Janey hatte mir geholfen, den neugierigen Verstand eines heranwachsenden Kindes zu ergründen, oh, sie hatte mir sehr geholfen. Doch ich ließ meiner Mutter die Freude, Janey zu bemuttern, sagte gute Nacht, wurde dabei stürmisch von Janey umarmt, während meine Mutter mir ein höfliches Lächeln schenkte, und zog mich schließlich ins andere Gästezimmer zurück. Und als ich mich an dem Abend bemühte einzuschlafen, hoffte ich, am nächsten Tag und in den kommenden Wochen in der Lage zu sein, die Gefühle zu erwidern, die Janeys herzlicher Umarmung zugrunde lagen. Sie war in einem fremden Haus, begegnete fremden Menschen, und obwohl ich mit ihnen verwandt war, konnte es für sie keine leichte Übung gewesen sein, hierher zu kommen. Und wir standen erst am Anfang der Vorweihnachtszeit. Wie sehr sie mich brauchen würde, jagte mir beinahe Angst ein. Wie sehr ich sie brauchen würde, erschreckte mich.
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Zum Essen um vier Uhr nachmittags wären wir zu acht, informierte uns meine Mutter, als wir aufwachten, und mir gefiel der Gedanke nicht, den ganzen Tag im Haus herumzuhängen, ihr beim Kochen und meinem Vater beim Lesen zuzuschauen. Achtjährige Mädchen brauchen viel mehr Anregung. Ich auch. Außerdem bat uns meine Mutter auf ihre unumwundene Art, »nicht herumzutrampeln«. Janey und ich mummelten uns für den ungewöhnlich kalten Novembertag dick ein, entkamen dem Haus und verbrachten einen großen Teil des Morgens damit, den historischen Teil Philadelphias zu erkunden, der in der Nähe lag, einschließlich Liberty Bell und Constitution Hall, obwohl die meisten Sehenswürdigkeiten verständlicherweise am Feiertag geschlossen waren. Dennoch verschaffte es uns die Gelegenheit, den Vorbereitungen aus dem Weg zu gehen. »Wer kommt denn zum Essen?«, fragte Janey mich unterwegs. Gute Frage. Ich hatte nicht nachgefragt, und meine Mutter hatte von sich aus nichts herausgerückt. »Wahrscheinlich müssen wir abwarten.« Janey schenkte mir einen forschenden Blick. Zweifellos wunderte sie sich, warum ich es nicht wissen wollte. Kurz nach zwei kamen wir zurück und sahen, dass der Tisch mit dem feinen Porzellan und Besteck meiner Großmutter gedeckt war, nebst Kristallgläsern für Wasser und Wein, noch ein Familienbrauch der Duncans. Als Kinder wurden wir gewarnt: »Wenn ihr etwas kaputt macht ... werdet ihr es bereuen.« Das war meiner Mutter ernst. Selbst damals war sie nicht unbedingt für Warmherzigkeit und kuschelige Momente bekannt. Außerdem wurde uns bei unserer Rückkehr klar, dass wir nicht allein waren, aus vier waren sechs geworden. Die ersten Gäste waren eingetroffen, die besten Freunde meiner Eltern und der Geschäftspartner meines Vaters, Harry Henderson mit seiner (dritten) Frau Katrina, die, beide tadellos gekleidet, mit einem Weinglas im Wohnzimmer saßen und an Käse und Crackern knabberten. Janey und ich zogen passendere Sachen für Mutters förmliches Thanksgiving an und gingen wieder nach unten, um ordentlich vorgestellt zu werden. Ich hatte die Hendersons bei zahlreichen Gelegenheiten getroffen, daher stand Janey diesmal im Rampenlicht, und während sie die Erwachsenen höfl ich anlächelte, fragte ich mich, wie viel man ihnen über Janeys Lage bereits mitgeteilt hatte - und fand es schneller heraus als erwartet. »Ach, bist du hübsch«, sagte Harry. »Ja, freut mich, dich kennenzulernen, Janey«, sagte Katrina Henderson. »Ich wette, Brian ist der beste Dad überhaupt. Du hast großes Glück.« Schweigen legte sich über den Raum, nur das Knistern des Feuers war zu hören. Mein Vater schaute mich um Vergebung bittend an, meine Mutter schlug die Hand vor den Mund und versuchte vergeblich, das scharfe »iek« zu unterdrücken. Janey aber bekam die peinliche Situation in den Griff, als sie schlicht, unschuldig und ohne Beurteilung sagte : »Oh, Brian ist nicht mein Dad. Er ist ... er ist Brian, und er sorgt sehr gut für mich.« »Natürlich, mein Liebes«, sagte meine Mutter, trat hinter Janey und drängte sie förmlich aus dem Zimmer mit der Aussicht auf eine Süßigkeit, die in der Küche auf sie warte. Als könnte eine so leicht durchschaubare Handlung das ungemütliche Schweigen vertreiben. Ich schaute hinter Janey her und fragte mich, ob ich ihr folgen sollte. Aber ich blieb. »Tut mir so leid, Brian, ich wusste nicht, wie ich dich nennen sollte«, sagte Katrina, »und, na ja, du musst schon zugeben, dass es eine missliche Lage ist, in die man da gerät.« »Wenn du meinst, dann überleg dir mal, wie Janey sich fühlt. Entschuldigt«, sagte ich, froh, ihrer Gesellschaft entkommen zu sein. Ich ging, um nach Janey zu sehen. Sie saß am Küchentisch und trank ein Glas Mineralwasser, während meine Mutter den Truthahn begoss; und dabei hatte ich gedacht, sie würde Janey trösten. Ich fragte meine Mutter, ob ich einen Augenblick mit Janey allein sein könne, und zum Glück rettete mich das Klingeln an der Haustür davor, zwei Mal bitten zu müssen. Vermutlich waren die nächsten Gäste gekommen. Meine Güte, ich konnte es kaum erwarten zu sehen, wen meine Mutter noch in ihre Thanksgiving-Falle gelockt hatte. Sie warf ein Geschirrtuch beiseite und fragte, ob ich mich um den Truthahn kümmern könne; »er braucht Aufmerksamkeit«. Tja, genau wie Janey. »Alles in Ordnung?«, fragte ich. Janey nickte, während sie einen tiefen Schluck aus ihrem Glas nahm. »Du hast zu bestimmen, wir können nach Hause fahren, wahrscheinlich werden wir noch rechtzeitig dort sein, um ...« »Um zu schlafen«, sagte sie empört. »Es ist eine lange Fahrt, weißt du noch?« »Wir werden morgen früh sofort aufbrechen, okay?« »Versprochen?« »Ehrenwort !«, sagte ich und legte die Hand aufs Herz. Sie stellte das Glas ab und rümpfte die Nase. »Brian, was ist ein Brauch?« »Das ist ... na ja, wenn man andauernd dasselbe macht«, sagte ich, wohl wissend, dass mir nicht unbedingt die beste Definition eingefallen war. »Okay, ich will dir ein Beispiel nennen. Ich habe dir doch erklärt, dass ich zu Thanksgiving immer zu meinen Eltern zum Essen gefahren bin? Das ist ein Brauch. Und zu Weihnachten schmücken wir immer den Baum am Abend vor dem großen Tag, gerade rechtzeitig, damit Santa Claus kommen und alle tollen Geschenke liefern kann. So wurde es Jahr für Jahr gemacht, sogar als meine Eltern noch keine Kinder hatten. Ich glaube, so lief es auch ab, als sie selbst noch Kinder waren. So haben ihre Eltern gefeiert.« »Wow, Heiligabend ? Das ist echt spät, um den Baum aufzustellen. Mom und ich haben drüben in Green's Farms immer unseren eigenen Baum geschlagen und lange vor Weihnachten aufgestellt, ungefähr zwei Wochen vorher.« »Siehst du, das ist ein Brauch, Janey. Dein Brauch.« »Oh«, sagte sie und musste lächeln, denn nun wusste sie, dass sogar sie im zarten Alter von acht Jahren einen Brauch hatte. Wahrscheinlich nicht nur den einen, was ihr nicht bewusst war. Ihre Laune besserte sich, die Unbehaglichkeit verschwand, und wir gesellten uns wieder zu den anderen im Wohnzimmer. Die letzten beiden Gäste waren eingetroffen, und ich war einfach platt, als ich sie erblickte. Meine launische, schwierige, ach so herausfordernde, nicht zu vergessen vorteilhaft geschiedene Schwester, Rebecca Louise Duncan Samson Herbert. Begleitet wurde sie von ihrem neuesten Freund namens Rex, wie ich erfuhr, wahrscheinlich der erste Rex, den ich je kennengelernt hatte, wahrscheinlich auch der letzte. Rebecca war zehn Jahre älter als ich, und Rex war zehn Jahre jünger als sie, womit wir gleich alt waren, dennoch wirkte er jünger, was von den Tattoos auf seinen bloßen Armen unterstrichen wurde. Die beiden schienen perfekt zueinander zu passen, denn beide mussten noch erwachsen werden. Meine Schwester gab mir einen Kuss auf die Wange, Rex schüttelte mir die Hand, redete mich mit »Alter« an, und die beiden wedelten ohne Begeisterung mit der Hand, als sie Janey vorgestellt wurden. »Wo ist Junior ?«, fragte ich meine Schwester. »Bei seinem Vater, Schweinehund«, sagte sie, obwohl niemandem, der zugehört hatte - und das waren wir alle -, klar war, wen sie als Schweinehund bezeichnete, ihren Ex oder ihren Sohn. Bei meiner Schwester konnte man nie wissen. Dann, als ihr auffi el, dass Janey noch immer an meiner Seite klebte, entschuldigte sie sich für ihre Ausdrucksweise. »Huch, Verzeihung, bin es nicht gewohnt, dass Kinder zugegen sind.« Toll. Sollte ein lustiger Nachmittag sein. Junior war ihr Sohn aus erster Ehe, er war zehn Jahre alt und wäre an diesem Tag, offen gestanden, ein netter Spielkamerad gewesen (ich hatte damit gerechnet, dass meine Schwester ihren Sohn mitbrachte, keinen beschränkten Lustknaben), weil mir klar war, dass Janey in diesem Meer von Erwachsenen verloren war. Was hatte sie mit dieser Gruppe gemeinsam? Vier Erwachsene, die über Geld und Geschäfte reden und tratschen würden, meine Schwester und ihr Lustknabe, und ... ich. Genau, vielleicht könnte ich mich mit Janey an den Kindertisch setzen, wir beide in dieser rauen See hilflos treibend. Rebecca machte sich auf die Suche nach einem Getränk, Rex folgte ihr wie ein Schoßhund, und als niemand herschaute, drehte sich Janey zu mir um und sagte: »Können wir uns noch einmal die Freiheitsglocke anschauen?« »Da war beim ersten Mal geschlossen, Janey.« »Ich weiß«, erwiderte sie, woraufhin ich ein Lachen unterdrücken musste. Niemand hörte den Wortwechsel, so vertieft waren sie in ihr eigenes belangloses Geschwätz. Wir waren weit entfernt von der freundlichen Behaglichkeit von Linden Corners und stellten fest, dass unser heimeliges Farmhaus verzweifelt nach uns rief. Ich stellte mir vor, wie Greta sich, erfüllt von Liebe, an einen Tisch setzte, ihre vier Töchter und Schwiegersöhne, deren goldige Kinder, das perfekte Thanksgiving, wie man es in Fernsehfi lmen sieht. Was der Familie Duncan die Illusion von Perfektion verlieh, war der üppig dekorierte Tisch, der jetzt überladen war mit Essen, einem riesigen Truthahn, den mein Vater liebend gern zerteilte, »wie bei einer Machtergreifung, wenn Stück für Stück entfernt wird«, sagte er und erhielt ein herzhaftes Lachen vom jovialen Harry Henderson. Außerdem gab es drei Sorten Kartoffeln und Füllung aus gerösteten Kastanien und Preiselbeeren, Brötchen und warmes Krustenbrot, auch Gemüse, ein Festmahl, an dem wir uns satt essen konnten. Das war auch gut so, da die Unterhaltung uns womöglich hätte verhungern lassen. Mein Vater und Harry sprachen über das Geschäft - Börsen und das Auf und Ab an den sprunghaften Märkten -, während meine Mutter und Katrina Gesellschaftsklatsch austauschten.
»Oh, da fällt mir ein«, schaltete Rebecca sich ein, die entschieden hatte, dass sie uns auf der Stelle berichten musste, wie sie Rex kennengelernt hatte. Sie erzählte von einer gesellschaftlichen Veranstaltung für ein Krankenhaus am Ort, die »so stinklangweilig war, ich hätte sterben können, wenn ich nicht dem guten alten Rexy begegnet wäre«. »Ja, so nennt sie mich, Rexy. Hat mir zu Weihnachten eine Leine verpasst«, sagte Rex. »Wuff.« Ich dachte, meine Mutter würde umfallen. Janey kicherte laut. »Endlich noch einer, dessen Name sich gut anhört, wenn man am Ende ein ›y‹ anhängt. So haben Brian und ich uns kennengelernt - am Fuße einer Windmühle. Da habe ich ihn Brian-y genannt und dann pfui gesagt. Brian-y. Das hört sich nicht gut an, oder?« »Nicht im Geringsten«, sagte meine Mutter rasch. »Was ist mit dieser Windmühle?«, fragte Katrina. »Klingt wunderbar.« »Die gehörte meiner Mom«, erwiderte Janey. »Sie ist richtig groß, und schön ist sie auch, und Brian gefällt sie, nicht wahr, Brian? Sie hat riesige Flügel, die sich im Wind drehen, und manchmal stelle ich mir vor, wie sie Geschichten spinnt, und ich gehe hin und höre zu, weil in Wirklichkeit meine Mom sie mir erzählt. Sie hat mir immer tolle Geschichten erzählt.« Janeys Wortschwall brachte plötzlich alle am Tisch zum Schweigen, Erwachsene schauten sich um, als wären sie angesichts der Inhaltsschwere verstummt. Mein Vater ergriff als Erster wieder das Wort, sah zu Janey hinüber und sagte: »Nun, junge Dame, du hast ja wohl die Begabung deiner Mutter geerbt, Geschichten zu erzählen, weil mir die sehr gefallen hat. Danke, Janey, dass du meinen Tisch zu Thanksgiving mit deiner netten Gegenwart beehrst.« »Kein Problem«, sagte sie. »Danke, dass du mich eingeladen hast. »Jederzeit, Jane«, sagte meine Mutter. »Du bist einfach köstlich. Ein Sonnenscheinchen.«
Meine Eltern fingen meinen Blick auf, ich formte rasch ein »Danke« mit den Lippen und verzieh meiner Mutter sogar ihre kleine Schrulle, »Jane« zu Janey zu sagen. »Oh, Brian, ich habe ganz vergessen, dass ich dich grüßen soll«, sagte Rebecca und übernahm wieder das Kommando am Tisch, als wäre nichts von Bedeutung passiert. »Ich wollte es dir gleich sagen, als wir uns sahen, aber ich bin bei derselben Wohltätigkeitsveranstaltung, auf der ich Rexy kennenlernte, Lucy Watkins über den Weg gelaufen. Ich soll dich unbedingt von ihr grüßen.« »Wer ist Lucy ?«, fragte Janey. »Niemand«, erwiderte ich und fügte dann sarkastisch hinzu, »Danke, Becs.« Sie zuckte mit den Schultern, und einen Moment lang schien es, als hätte sich der Ton verändert. Nicht so glücklich. »Lucy Watkins war Brians erste Liebe - sie waren auf der Highschool und im College die ganze Zeit zusammen, und es sah so aus, als würden sie mal heiraten und ich hätte eine ganze Schar Enkelkinder«, sagte meine Mutter. »Wie ich hörte, hat sie jetzt zwei Kinder, ihr Mann ist Arzt. Sie hat es ganz gut getroffen, die Lucy. Ich glaube, jetzt heißt sie Lucy Abrams.« Janey warf mir einen eigenartigen Blick zu, den ich nicht einordnen konnte, doch dann ließ sie den Gedanken fallen, was immer es war. Auch ich ließ es auf sich beruhen, und endlich wandte sich die Unterhaltung anderen Dingen zu. Der Rest der Mahlzeit verlief ereignislos. Wir alle hatten genug gegessen und getrunken, alle waren dankbar für das, was wir hatten, dieses Festessen, die Gesellschaft und den Wohlstand, der uns umgab. Nachdem die leeren Teller abgeräumt und die Dessertschalen eingedeckt waren, verkündete meine Mutter, nun sei es an der Zeit für uns alle, kundzutun, wofür wir am meisten dankbar seien. Mir wurde bang ums Herz. Ich hatte gehofft, Janey dieses alljährliche Ritual zu ersparen, da ich der Meinung war, es könnte diesem Mädchen, das in dem Jahr so viel verloren hatte, sehr schwerfallen, für irgendetwas dankbar zu sein. »Ich dachte, wir hätten das hinter uns«, sagte ich. »Brian, mein Lieber, das ist ein Brauch, und das weißt du, auch wenn er sich im Lauf der Jahre ein wenig verändert hat.« Sie fuhr fort, den Versammelten zu erklären, wie dieses besondere Ereignis früher vor der Mahlzeit begangen wurde, »bis Kevins wiederholte Klagen über den Truthahn, der kalt wurde, uns dazu brachten, es vor den Nachtisch zu schieben. Unsere Mahlzeiten waren immer so umfangreich, so viele Menschen waren in einer Zeit bei uns, in der man für so vieles dankbar sein musste.« Meine Mutter verlor den Faden, und ich spürte, dass sie an Philip dachte, was sie stets verwirrte. Es gelang ihr, sich zu fangen, und sie sagte : »Rebecca war immer für so vieles dankbar, nicht wahr, Liebes ?« »Heute Abend werde ich kurz und bündig sein«, schlug Rebecca vor. »Ich bin immer dankbar für Nachtisch«, sagte Janey. »Gut«, erwiderte meine Mutter. »Jane hat uns zu einem hervorragenden Start verholfen. Sonst noch jemand ?« Während wir der Reihe nach dran waren, behielt ich Janey sorgfältig im Auge und fragte mich, ob sie alles gesagt hatte, was sie wollte. Nachdem mein Vater konstatiert hatte, wie froh er sei, dass sein Glück in dem Jahr angehalten habe, fuhr meine Mutter fort, sie sei so begeistert von ihrem neuen Haus. Rebecca und Rex waren dankbar, einander gefunden zu haben, die Hendersons folgten mit ihren geistlosen Dankesbekundungen. Dann richteten sich alle Augen auf mich. »Ich bin dankbar für die Kraft des Windes, der durch unser Leben weht und seine Richtung wechselt, dankbar, dass er mich in Linden Corners am Fuße der Windmühle abgeworfen hat. Ich bin dankbar für die Zeit, die ich mit Annie Sullivan hatte, und am dankbarsten bin ich für ihre wunderbare Tochter Janey, die helles Licht in mein Leben bringt, auch wenn die Sonne nicht scheint.« »Das war sehr schön gesagt, Brian, sehr ... von Herzen und poetisch«, stellte meine Mutter fest. »Und wer möchte jetzt Kuchen ? Ich habe Apfel, Kirsch, sogar einen Pfirsichkuchen - auf Brians Wunsch ... ja, Jane, was möchtest du ?« Janey unterbrach meine Mutter durch Handheben. »Komme ich denn nicht an die Reihe, um zu sagen, wofür ich dankbar bin ?« »Das hast du doch schon, Liebes, du warst für den Nachtisch dankbar. Also, Pfirsichkuchen ? Ich habe gehört, den magst du am liebsten.« »Mom, lass sie sprechen.« Wieder wurde es still im Zimmer, als alle auf Janey schauten. Sie warf mir einen schnellen, unsicheren Blick zu. Ich reichte ihr eine Hand zur Unterstützung, die sie dankbar annahm. Ich drückte sie liebevoll. »Ich sollte eigentlich keinen Grund haben, dankbar zu sein, nicht in diesem Jahr. Furchtbare Dinge sind passiert, schreckliche Sachen, die mir den Menschen genommen haben, den ich am meisten liebte, den einzigen Menschen, auf den ich mich verlassen konnte, dachte ich. Aber vielleicht war das selbstsüchtiges Denken, weil ich jetzt weiß, dass ich wirklich großes Glück habe, denn ich habe Brian, und auch wenn er nicht mein richtiger Vater ist, so ist er doch etwas Besonderes. Er ist mein bester Freund, und ich bin dankbar, dass ich etwas mit ihm teilen kann ...« Sie hielt inne, schaute mich an, sah, dass mir Tränen über die Wangen liefen, und fuhr lächelnd fort : »Ich bin einfach dankbar, dass ich seine Bräuche und seine Familie miterleben kann.« Als wir uns alle dem Kuchen und dem Kaffee widmeten, begann eine belebte, wahrhaft dankbare Versammlung von Menschen von Neuem. Denn in dem Augenblick setzte ein brandneuer Brauch ein, ein freundlicheres, warmherzigeres Thanksgiving der Familie Duncan war geboren. Das Kind unter uns hatte uns eine Lektion erteilt, die wir so bald nicht vergessen würden.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Joseph Pittman
Joseph Pittman ist in New York geboren und lebt auch heute dort. Seit vielen Jahren ist er als Lektor und Verleger in verschiedenen US-Verlagen tätig. Neben seinen Romanen rund um den kleinen, verschlafenen Ort Linden Corners schreibt er auch erfolgreiche Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joseph Pittman
- 2012, 352 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863655672
- ISBN-13: 9783863655679
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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