Der Gardeniengarten (ePub)
Drei Generationen - eine Familie - Liebe und Verlust
Zweiundachtzig Jahre alt ist Iris Black, und den größten Teil ihres Lebens hat sie in Kairo verbracht. Doch als ihre Enkelin Ruby aus England sie besucht, ist es vorbei mit den beschaulichen...
Zweiundachtzig Jahre alt ist Iris Black, und den größten Teil ihres Lebens hat sie in Kairo verbracht. Doch als ihre Enkelin Ruby aus England sie besucht, ist es vorbei mit den beschaulichen...
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Produktinformationen zu „Der Gardeniengarten (ePub)“
Drei Generationen - eine Familie - Liebe und Verlust
Zweiundachtzig Jahre alt ist Iris Black, und den größten Teil ihres Lebens hat sie in Kairo verbracht. Doch als ihre Enkelin Ruby aus England sie besucht, ist es vorbei mit den beschaulichen Tagen der alten Dame. Denn Ruby hat viele Fragen und sie führen Iris weit zurück in ihre Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und an eine große, unerfüllte Liebe.
"Rosie Thomas schreibt mit einer hinreißenden Sinnenfreude."
The Times
Zweiundachtzig Jahre alt ist Iris Black, und den größten Teil ihres Lebens hat sie in Kairo verbracht. Doch als ihre Enkelin Ruby aus England sie besucht, ist es vorbei mit den beschaulichen Tagen der alten Dame. Denn Ruby hat viele Fragen und sie führen Iris weit zurück in ihre Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Und an eine große, unerfüllte Liebe.
"Rosie Thomas schreibt mit einer hinreißenden Sinnenfreude."
The Times
Lese-Probe zu „Der Gardeniengarten (ePub)“
Aus dem Englischen von Maria Mill 1
Ich erinnere mich. Und obwohl ich die Worte im stillen Zimmer laut vor mich hin sage und höre, wie das Flüstern in den düsteren Winkeln des Hauses erstirbt, weiß ich, es stimmt nicht. Denn ich tue es nicht, ich erinnere mich nicht. Ich bin alt und werde allmählich vergesslich. Manchmal weiß ich, dass weite Strecken meines Gedächtnisses dahin sind - zerronnen, verschwunden, außerhalb meiner Reichweite. Versuche ich etwa, mir einen bestimmten Tag in Erinnerung zu rufen, ein ganzes Jahr oder gar ein verflixtes Jahrzehnt, darf ich froh sein, wenn ich noch die nackten Fakten zusammenkriege. Häufiger aber ist da gar nichts. Nur gähnende Leere. Kann ich mich jedoch mal besinnen, wo und mit wem ich irgendwo gelebt habe und warum, und versuche dann, noch mal heraufzubeschwören, wie es dort war, wie sich mein Leben anfühlte und was mich antrieb, Morgen für Morgen aufzuwachen und die nächste Tagesreise zu durchmessen, so gelingt mir das nicht. Vertraute, ja, sogar geliebte Gesichter sind lautlos zerronnen, ebenso wie die Namen dieser Menschen, Daten kostbarer Anfänge, teurer Gedenktage und Ereignisse, die mir einst bedeutsam schienen, alles weggebrochen, begraben, verschwunden. Dieses Verschwinden ist wie die Wüste selbst. Sand weht von den vier Enden der Erde herein, lagert sich langsam in Verwehungen und geriffelten Dünen ab, verwischt die steilsten und stolzesten Bauten und begräbt sie am Ende unter sich.
... mehr
Und genau das geschieht nun mit mir. Der Sand der Zeit. (Ein Klischee zwar, aber darum nicht weniger treffend.) Zweiundachtzig Jahre bin ich alt. Der Tod, der nicht mehr allzu fern sein kann, schreckt mich nicht. Noch fürchte ich das allumfassende Vergessen, denn völlig zu vergessen, bedeutet ja, dass man auch dieses vergessen hat. Was mir allerdings Bange macht, ist das Zwischenstadium. Ich habe Angst vor dem allmählichen Abbau. Nach lebenslanger Unabhängigkeit - selbstsüchtiger Unabhängigkeit, wie meine Tochter zu Recht behaupten würde, ja -, graut mir davor, wieder zum Kind zu werden, hilflos in einem Ozean der Verwirrung treibend, aus dem die grausamen hellen Momente wie Felsbänke heraus ragen. Ich will nicht in meinem Sessel sitzen und mich von Mam duh oder Tantchen mit Brei füttern lassen ; und erst recht mag ich nicht medizinischem Fachpersonal ausgeliefert sein, das mir seine wohlmeinende Altenpflege angedeihen lässt. Ich weiß, was ich da zu gewärtigen habe. Bin schließlich selbst Ärztin und mag mich zwar an zu wenig erinnern, habe allerdings auch schon zu viel gesehen. Da kommt Mamduh. Seine Lederpantoffeln wischen leise über die Dielen der Frauentreppe. An meinem Gehör ist nichts auszusetzen. Knarrend öffnet sich die schwere Tür, sodass ich eine Ecke des durchbrochenen Holzgitters sehe, das die Galerie zur Empfangshalle hin abschirmt. Das durchs Gitter einfallende Licht übersät Boden und Wände mit Halbmonden und Sternen. »Guten Abend, Ma'am Iris«, sagt Mamduh leise. Die ehrerbietige Form der Anrede hat sich so verschliffen, so abgegriffen vom langen Gebrauch, dass sie zum Kosenamen geworden ist, Mam'riis. »Haben Sie womöglich geschlafen ?« »Nein«, erwidere ich ihm. Ich habe nachgedacht. Hin und her überlegt. Mamduh stellt sein Tablett ab. Ein Glas Minztee, süß und duftend. Eine Leinenserviette, ein paar süße Gebäckdreieicke, die ich nicht mag. Ich esse nur noch wenig inzwischen. Die glänzend kaffeebraune Kuppel von Mamduhs Glatzkopf ist mit dunkleren Flecken und großen braunen unregelmäßigen Muttermalen gesprenkelt. In der grellen weißen Sonne draußen hat er immer den Tarbusch auf, ich weiß. Wenn ich sehe, wie er ihn mit beiden Händen hochnimmt und auf dem Kopf zurechtrückt, ehe er auf den Markt geht, versetzt mich das in Zeiten zurück, als der rote Blumentopf-Fes für jeden Effendi der Stadt noch unverzichtbares Kleidungsstück war. Mamduh reicht mir mein Glas mit Tee. Ich nehme es entgegen, krümme die Finger um die abgegriffenen Silberringe des Henkels und recke den Kopf nach vorn, um das Aroma einzuatmen. »Tantchen hat Baklava gebacken«, meint er und schlägt einladend die Serviette zurück. »Später. Geh jetzt, Mamduh. Du musst selber was essen.« Seit Sonnenaufgang dürfte Mamduh weder einen Bissen gegessen noch einen Schluck Wasser getrunken haben. Es ist Ramadan. Als ich wieder allein bin, trinke ich meinen Tee und lausche dabei den Geräuschen der Stadt. Die mit Kopfstein gepflasterte Gasse vor meinem vergitterten Fenster ist eng, kaum breit genug für ein Auto, und jenseits des Mauerwinkels, der meinen Eingang beschirmt, kommen nur noch die Stufen der großen Moschee. Vom Verkehr, der sich von Betonstraßenschleifen ergießt und die moderne Stadt wie eine Flutwelle überschwemmt, hört man hier nicht mehr als ein dumpfes Grollen. Viel näher bei der Hand ist da das Geschrei und Gelächter der Familien, die ihre Abendmahlzeit zubereiten und sich in der kühlen Dunkelheit zum Essen versammeln. Man hört das Rattern von Rädern über Steine und einen heiseren, warnenden Schrei, als ein Eselskarren vorbeikommt und dann ein paar perlende Musiknoten, als sich irgendwo eine Tür öffnet und wieder schließt. All dies im Ohr, könnte es immer noch dasselbe Kairo wie vor sechzig Jahren sein.
Manche Dinge werde ich nie vergessen. Darf es nicht. Denn was bliebe mir sonst? Ich schließe die Augen. Das Glas in meinen Fingern kippt und die letzten Tropfen der Flüssigkeit rinnen auf die zerschlissenen Kissen. Vor sechzig Jahren waren diese Straßen von Militär bevölkert. Scharen britischer Offiziere und Mannschaften, Neuseeländer und Australier, Franzosen, Kanadier, Inder, Griechen, Südafrikaner und Polen - alle in ihrer staubigen Kakikluft. Die Stadt war ein ausgedörrter Magnet für die Truppen, die auf der Suche nach Bars und Bordellen hereingeströmt kamen, wann immer der Wüstenkrieg sie entließ. Der Aussicht auf den Tod im Sand den Rücken kehrend, tranken und vögelten sie mit all der Energie der Jugend, und Kairo nahm sie in seinem ihm eigenen uralten Gleichmut in sich auf. Am Ende war ja auch dieser Krieg nur eine weitere - wenn auch noch im Werden begriffene - Schicht der Geschichte, die den Ruinen der Jahrtausende ihren eigenen Staub und Schutt hinzufügte. Entlang des fruchtbaren Niltalstreifens liegt mehr an Historie begraben als irgendwo sonst auf der Welt. Einer dieser Soldaten von damals war mein Geliebter. Der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe. Er hieß Captain Alexander Napier Molyneux. Xan. Er trug das gleiche Kakibuschhemd und die gleiche weite Hose wie alle anderen, unterschied sich lediglich durch Rang- und Regimentsabzeichen von ihnen, doch er besaß auch noch eine weitere »Anonymität«. Xan war weder flamboyant noch mysteriös. In einer Gruppe von Offizieren in einer Bar im Shepheard Hotel oder einer der Partys, die wir alle in Garden City oder Zamalek besuchten, wäre er einem nicht aufgefallen, weil er einfach zu gewöhnlich wirkte. Dieser Mangel an besonderen Merkmalen war Absicht. Xan arbeitete tief in der Wüste, und eines seiner Talente war es - wo auch immer er sich befand -, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Er ritt sein Pferd wie der Kavallerieoffizier, der er auch war, doch wenn man ihn mit über Kopf und Gesicht gezogener weißer Kufi ya auf einem Kamel erblickte, hielt man ihn für einen Araber. Im Gezira Club spielte er Tennis und alberte am Pool herum wie jede andere Zierde der Kairoer Cocktail-Gesellschaft, dann aber verschwand er auf mehrere Tage oder auch gleich eine Woche, und nicht mal im Treibhaus der anglo-ägyptischen Schickeria wurde darüber geraunt oder geklatscht, wo er abgeblieben sein könnte. Er verschwand in der der Wüste wie eine Eidechse, die unter einen Felsen glitt. Ich liebte ihn auf den ersten Blick. Ich erinnere mich. Neue Straßen und Betonhochhäuser und Einkaufsstraßen haben einen Großteil jenes Kairo, das wir kannten, ausgelöscht, doch in der Entrückung dieses Abends kehren alle Einzelheiten - auch die jenes ersten Abends - wieder. So viele Tausend Male habe ich ihn mir schon in Erinnerung gerufen, dass er mir realer erscheint als meine zweiundachtzigjährige Wirklichkeit. Gott sei Dank ist mir wenigstens das noch nicht abhanden gekommen. Und so habe ich ihn in Erinnerung : Es war eine stickige Nacht, erfüllt vom Duft der Tuberosen. In einem üppigen Garten waren zwei Dutzend runde Tischchen aufgestellt, während in den Zweigen der Mangobäume und Akazien Laternen hingen und hinter hohen Fenstern in einem getäfelten Ballsaal ein Orchester spielte. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, eben den kriegsbedingten Entbehrungen Londons entronnen und vom Glamour Kairos nicht weniger berauscht als von den Champagnercocktails. Meine Freundin Faria führte mich kichernd an einen Tisch und stellte mich einer Gruppe von Männern in Abendgarderobe vor. Eine Flasche Whisky stand da und eine Phalanx von Gläsern, und der Rauch der Zigarren wetteiferte mit dem Tuberosenduft.
»Das ist Iris Black. Bleib, wo du bist, Jessie, bitte !« Doch der junge Mann mit dem hellblonden Schopf war bereits aufgestanden und hob, den Kopf tief gesenkt, meine Hand an seine Lippen. Sein Schnurrbart kitzelte meine Finger. »Ich kann unmöglich sitzen bleiben«, murmelte er. »Sie ist zu schön.« Ich selbst sah mich immer noch als die Londoner Tippse, die sich mit einem winzigen Verdienst in einer Kellerwohnung in South Kensington durchschlug, doch hatte ich während meiner Wochen in Kairo schon genug dazugelernt, um nicht gleich einen forschenden Blick über die Schulter zu werfen : wer wohl die Schönheit sein könnte ? Hier, in diesem exotischen Garten, in dem das Orchester spielte und die mir von meinem Begleiter verehrte Orchidee am Mieder meines Abendkleides prangte, wusste ich, dass damit nur ich gemeint sein konnte. »Frederick James. Captain, Elftes Husarenregiment«, murmelte er. Dann ließ er meine Hand wieder los und richtete sich auf. Er war schlank und nicht besonders groß. »Aus irgendeinem Grund nennen mich alle Jessie James.« Er winkelte den Arm ab, und seine locker geballte Faust ruhte eine Sekunde lang auf der geschmeidigen Flanke seines Smokings. Es gab eine Menge ziemlich tuntige junge Männer in Kairo. Mehrere Male hatte ich gehört, dass man die RAF-Jungs auch unter der Bezeichnung »fliegende Schwuchteln« zusammenfasste, doch Jessie James schien nicht in diese Kategorie zu fallen. Trotz seiner Haare und des perfekt geschneiderten Smokings wirkte er taff. Sein Gesicht war sonnenverbrannt, und in seinen Augen lag etwas Düsteres, das nicht zu seiner sonstigen spielerischen Art zu passen schien. »Sehr erfreut«, erwiderte ich. »Ah, sie ist ja so nett, unsere Iris«, gluckste Faria. »Eine ganz liebe, aus einer Diplomatenfamilie. Als sie zwölf war, ist ihr Daddy nämlich hier in Kairo Kanzleichef gewesen. Sie ist praktisch Ägypterin.«
Faria war eine meiner beiden Wohngenossinnen. Zwei Jahre älter als ich, hatte mich die elegante Tochter einer vermögenden anglo-ägyptischen Familie fast sofort nach meiner Ankunft unter ihre Fittiche genommen. Faria war mit dem Sohn eines der Geschäftspartner ihres Vaters verlobt, erzählte gern überall, dass sie so gut wie verheiratet sei, und war folglich ideal geeignet, um für Sarah und mich die Anstandsdame zu spielen. Hinter dem Rücken eines jeden jungen Mannes, mit dem wir uns gerade unterhielten, zwinkerte sie uns heftig zu. Tatsächlich war Ali häufig auf Geschäftsreise in Alexandria, Beirut oder Jerusalem, und Faria wäre die Aufmerksamkeit einer Anstandsdame vermutlich eher zugute gekommen als uns. Man zog uns in die Gruppe hinein. Stühle wurden gebracht und an den Tisch geschoben, während die Offiziere uns eifrig Platz machten. Ich akzeptierte ein Glas Whisky und forschte gleichzeitig in den schimmernden Garten nach meinem Begleiter. Sandy Allardyce war einer der jungen Männer von der britischen Botschaft. Der jedem, der ihm zuhören mochte, beteuerte, dass er sich nichts sehnlicher wünsche, als endlich die Uniform anzulegen, er aber leider noch immer an seinen Büroschreibtisch gefesselt sei. Ich nahm an, er fühlte sich unwohl in Gesellschaft so vieler tatsächlich kämpfender Männer, und bekämpfte dies, indem er zu viel trank. Binnen einer Stunde nach unserer Ankunft hatte sich sein rosiges Gesicht rot verfärbt. »Sie haben also schon als kleines Mädchen hier gelebt?«, bemerkte einer der Offiziere. Der Mann neben ihm zündete sich eine Zigarette an, und ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, das einen Moment lang von der umbrafarbenen Flamme erhellt wurde. »Nur während der Ferien. Die meiste Zeit war ich in England auf dem Internat.« Faria lachte überschwenglich über einen Witz, den ein anderer gemacht hatte, und warf den Kopf in den Nacken, um ihre samtige Kehle und die an ihren Ohren baumelnden Diamanten und Perlentropfen zu entblößen. Jessie beugte sich vor, um erneut meine Aufmerksamkeit einzufordern. »Suchen Sie Sandy? Ich habe Sie mit ihm tanzen sehen.« Er hatte mein Unbehagen bemerkt. »Ja«, erwiderte ich dankbar. »Er hat mich mitgebracht. Ich sollte mich wohl mal nach ihm umsehen. Er ...« Ich wollte noch etwas über die Orchidee sagen und befingerte schon die wächserne Spitze eines der Blütenblätter. Doch dann bewegte der Mann mit der Zigarette seinen Stuhl, sodass das Licht einer der Kerzenlaternen sein Gesicht deutlicher hervortreten ließ. Man hörte, wie das Orchester einen letzten Akkord schmetterte und ein Beifallssturm losbrach, während ein Tanz zu Ende ging. Ich schaute ihn an und vergaß, was immer ich in dem Moment hatte sagen wollen, was allerdings auch keine große Rolle spielte. Die Konversation auf Kairoer Partys war zutiefst oberflächlich. Die Augen des Mannes glänzten vor Belustigung. Er war dunkelhaarig, dunkelhäutig. Und er hätte düster wirken können, wäre da nicht so viel Lebensfreude in seinen Zügen gewesen. Er beugte sich über den Tisch. Ich sah, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog. »Tanzen Sie nicht mit Allardyce ! Und falls es um die Entscheidung zwischen mir und Jessie geht - tja, dann haben Sie eigentlich gar keine Wahl, oder ?« »Alexander.« Jessie zog eine Schnute. »Nicht jetzt, mein Lieber«, sagte der Mann. Er umfasste meine Stuhllehne, ich stand auf, und er reichte mir seinen Arm. »Xan Molyneux«, meinte er dann in aller Ruhe. Zusammen schlenderten wir über den Rasen und unters Geäst der Bäume. Das von der Hitze verdorrte Gras roch beißend und ganz und gar nicht nach englischem Garten. Nie hatte ich mich so fern der Heimat gefühlt und dennoch so glücklich und frei von Heimweh. »Ich heiße Iris.« »Ich weiß. Faria hat Sie ja schon vorgestellt. Ist Sie eine Freundin von Ihnen ?« »Ja. Wir teilen uns eine Wohnung. Sarah Walker-Wilson wohnt ebenfalls mit uns zusammen. Sicher kennen Sie sie ?« Ich halt's nicht aus, dachte ich. Alle Männer in Kairo vergöttern Sarah. In den sechs Wochen seit meinem Einzug hatte Sarah noch keinen einzigen Abend daheim verbracht. Xan neigte den Kopf, bis seine Wange fast die meine berührte. »Die drei Blumen von Garden City«, murmelte er. Garden City war das Kairoer Viertel, in dem wir wohnten. Ich wusste nicht so recht, ob das ein Scherz sein sollte oder doch nicht. Wir erreichten die Tanzfläche. Xans Miene war heiter, und als er mich in die Arme nahm, summte er die Melodie. Er fragte mich nicht, ob mir die Band gefiel oder ob ich am Abend darauf Mrs Diaz' Party in Heliopolis besuchen würde. Wir tanzten nur einfach. Er war ein guter Tänzer, wenn ich auch schon Partner gehabt hatte, die es noch besser konnten. Es war wohl eher so, dass Xan den Tanzsschritten, der Musik und mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, was das Herumwirbeln auf einer überfüllten Tanzfläche, begleitet vom Gedudel eines ägyptischen Orchesters, zu etwas Einzigartigem machte und ihm einen gewissen Zauber verlieh. Gelächter erhellte sein Gesicht, und die Freude, die genau dieser herausgegriffene Moment ihm bereitete, strahlte von ihm aus. Ich spürte die Energie, die wie ein Puls unter dem schwarzen Stoff seiner Jacke pochte, sich durch meine Hände und Arme fortpflanzte und zwischen uns vibrierte, und in mir begann ein Antwort- Rhythmus zu klopfen. Wir spürten es beide, ließen uns davon mitreißen und verloren uns noch stärker im Tanz und ineinander. Wir sahen uns in die Augen, sprachen nicht mehr, sondern verständigten uns in einer Sprache, die mir bis dahin unbekannt gewesen war. Jener erste Tanz ging nahtlos in den nächsten über und dann in den folgenden.
Beschwipst war ich nun nicht mehr von Champagner und Whisky, sondern wurde immer berauschter vor Erregung, von der Musik und Xan Molyneux' Nähe. Ich sah, wie uns der Orchesterleiter über die Schulter einen Blick zuwarf, und auch einige der anderen Paare musterten uns kritisch, doch das war mir gleichgültig, und auch Xan hatte nur noch Augen für mich. Wir hatten kaum mehr als ein Dutzend Worte gewechselt, doch ich hatte das Gefühl, ihn schon zu kennen, und besser als jeden anderen, der mir in Kairo begegnet war. Auch verspürte ich die klare und absolute Gewissheit, dass von diesem Zeitpunkt an alles möglich war und sein würde. Seligkeit und Vorfreude verzwirnten sich derart fest miteinander, dass es kaum noch zu ertragen war, und auf einmal wurde mir schwindlig. Während Xan mich noch ausgelassen im Kreis herumwirbelte, geriet ich ins Stolpern und verlor auf meinem hohen Absatz das Gleichgewicht. Ein heißer Schmerz fuhr mir durchs Fußgelenk und bis hinauf in die Wade, und ich wäre gestürzt, hätte er mir den Arm nicht noch fester um die Taille geschlungen. »Alles in Ordnung ?« Ich holte Luft und stieß sie dann heftig wieder aus, um nicht aufzujaulen. »Nur ... den Knöchel verstaucht.« Die Tänzer bildeten einen Kreis um uns. »Hier, ich werd Sie tragen.« Er schob den anderen Arm unter meine Schenkel und wollte mir beim Aufstehen helfen. In diesem Augenblick entdeckte ich Sandy. Dunkelrot im Gesicht, wütend kam er durch die Tanzenden auf uns zu, und die Knöpfe platzen ihm fast vom Hemd. Seine Augen schienen in verschiedene Richtungen zu blicken. »Was ist denn hier los ?«, brüllte er. »Molyneux. Sie ... was machen Sie da eigentlich ?« »Ich helfe Miss Black auf einen Stuhl«, antwortete Xan trocken. »Sie hat sich den Knöchel verstaucht.«
Ich machte einen Schritt von ihm weg und wäre fast gestürzt, worauf Xan mir sofort beisprang und wir beinahe zusammen gefallen wären. Während wir uns in einem Durcheinander aus Armen und Beinen aufrichteten, lachte ich trotz meiner Schmerzen im Knöchel zu ihm auf - und hörte Sandy beleidigt aufjaulen. Mit fuchtelnden Armen stürzte er sich auf Xan und packte ihn am Revers seines Smokings. Xan ließ mich los und drehte sich zu Sandy um, der ihm einen heftigen Kinnhaken verpasste. »Lassen Sie mein Mädel in Ruhe«, schrie Sandy, doch kaum hatte er seinen fatalen Hieb platziert, verließ ihn sichtlich der Kampfesmut. Er blickte sich im Kreis der Gaffer um, konnte jedoch keine bereitwillige Unterstützung entdecken. Sein großes, glänzendes rotes Gesicht schien in sich zusammenzufallen, wobei ihm der Whisky als allen Poren troff. Belämmert sah ich zu, balancierte auf einem Fuß und hätte am liebsten in die klebrige Luft hinausposaunt - aber so, dass es nur Xan hörte -, dass ich ganz und gar nicht Sandys Mädchen sei, und schämte mich gleichzeitig dafür. »Hören Sie mal, Allardyce, ich will wirklich keine Revanche«, meinte Xan gedehnt. Er schob eine Hand in die Tasche seiner Smokingjacke und klang belustigt - und ganz und gar nicht verstört. »Das gäbe eine viel zu schlimme Sauerei.« »Da hat er recht«, fuhr eine andere Stimme dazwischen. Jessie James war in Begleitung Farias erschienen. Farias scharfe Augen erfassten die Situation sofort. Sie streckte den Arm aus, und ich stützte mich auf sie, während Sandy mich auf der anderen Seite packte. Seine Hand war feucht und heiß, und kleine glitzernde Schweißrinnsale liefen ihm vom Haaransatz in den steifen Kragen. Zwar ruckte er noch mit dem Kopf in Richtung von Xan und Jessie, doch er befand sich bereits auf dem Rückzug. »Das ist nicht lustig.« »Lachen wir etwa ?«, fragte Jessie unschuldig. Sandy kehrte ihnen den Rücken zu und murmelte an mich gewandt : »Komm, holen wir uns noch was zu trinken. Das wird schon wieder.« Faria schnalzte mit der Zunge. »Nein, tut es nicht. Ich bringe Iris nach Hause. Sehen Sie nicht, dass sie verletzt ist ?« Das Orchester begann wieder zu spielen, die anderen Tänzer wandten sich ab und verloren das Interesse. Und eine Minute später hinkte ich in die Halle hinaus, auf einer Seite von Faria gestützt, während Sandy auf der anderen torkelte. Ein riesengroßer Kristalllüster goss Diamanten aus Licht über uns aus. Ich spürte Xan und Jessie eher hinter uns, als dass ich sie sah, während gleichzeitig Lady Gibson Pasha mit ausgestreckten Händen, als wolle sie mich einfangen, auf uns zugewogt kam. Unsere Gastgeberin trug einen goldenen Turban und ein Kollier aus hühnereigroßen Smaragden. »Mein liebes, liebes Mädchen, Sie Ärmste. Sie müssen Ihren Fuß hoch betten, wir benötigen einen Eisbeutel.« In die Hände klatschend rief sie einem vorbeikommenden Diener zu, er möge doch Eis bringen. Ich wollte in Xans Nähe bleiben und mich möglichst weit von Sandy entfernen. Auch nach Hause wollte ich und in einem dunklen Raum liegen, um die chaotischen und erstaunlichen Geschehnisse dieses Abends zu rekapitulieren. »Eigentlich ist es nichts. Es tut mir so leid, Lady Gibson. Nur eine dumme Verrenkung.« »Daddys Wagen und Chauffeur sind da«, meinte Faria. »Wir fahren nach Hause. Ich sorge dafür, dass man sich um Iris kümmert. « Sandy nickte heftig. Inzwischen war er blass geworden. Ein weiterer Diener wartete schon mit Farias kleinem Schwanendaunen- Bolero und dem indischen Schal meiner Mutter, der mir als Abendstola diente. Und während Lady Gibsons Anweisungen noch hinter uns herdrifteten, humpelten wir zum Vordereingang hinaus. Amman Pashas Chauffeur wartete mit dem großen schwarzen Wagen neben der Treppe. Er öffnete die Wagentür, und ich wurde auf eine ausgedehnte cremefarbene Lederfläche verfrachtet. Neben mir sackte Sandy in sich zusammen, schnaufte und zerrte an den Enden seines Binders, um den Knoten zu lockern. Faria schob sich auf der anderen Seite in den Fond. Der Wagen begann über den Kies zu rollen. Ich drehte mich, um aus dem Rückfenster zu gucken und erhaschte einen letzten Blick auf Xan und Jessie, die nebeneinander am Fuß der Treppe standen, schwarzer Schopf und blonder, und uns nachsahen. Zwar konnte ich Xans Gesicht nicht wirklich erkennen, doch ich bildete mir ein, dass er immer noch lächelte. »Gottogott«, ächzte Sandy. »Mein lieber Schwan.« Er zerknüllte seinen Schlips und stopfte ihn sich in die Tasche, ehe er den Kopf in die Wagenpolster zurücksinken ließ. »Wir setzen Sie an der Botschaft ab«, meinte Faria kühl und beugte sich nach vorn, um dem Fahrer auf Arabisch Anweisungen zu geben. Wir sausten über die Bulak-Brücke, und ich sah das im schwarzen Wasser gespiegelte, zersplitterte Mosaik aus gelben und weißen Lichtern, während wir hinter der Kathedrale nach Süden abbogen. »Oje !« Faria gähnte. »Ich habe völlig vergessen, dem Dichter Bescheid zu sagen, dass wir gehen. Was wird er bloß denken ?« Es war dies keine Frage, die eine Antwort erforderte. Jeremy - auch der Dichter genannt - war der glühendste unter Farias Verehrern, ein dünner, schwermütiger junger Mann, der für das British Council arbeitete. Ali war fort, und Jeremy war an diesem Abend ihr Begleiter gewesen. Er würde denken, was er vermutlich immer dachte : dass ihm die exquisite und sorglose Faria wieder mal durchs Netz gegangen war. Sandy war eingedöst. Ich hörte ihn röchelnd atmen. Whiskydunst und Farias Parfüm vermischten sich mit dem Geruch des Leders und der einzigartigen Kairoer Gestanksmixtur aus Benzin, Räucherstäbchen und Tierkot. Faria zog eine türkische Zigarette aus ihrer Tasche, ließ ihr goldenes Feuerzeug aufschnappen und inhalierte tief. Ich schüttelte den Kopf, als sie es mir hinhielt. Der Schmerz in meinem Knöchel war heftig, und die damit einhergehende leichte Übelkeit schärfte meine Sinne. Jede Abzweigung unserer Route prägte ich mir ein, die schwarze Silhouette jeder Kuppel vor dem nur geringfügig helleren Himmel, das Adlerprofi l eines alten Bettlers, der auf einer Türschwelle hockte. Jedes Detail war wichtig und kostbar. Jede winzige Impression wollte ich aufnehmen und festhalten und bewahren, weil diese Nacht so bedeutsam war. Daran hatte ich nie einen Zweifel. Wir hielten in der Nähe der Botschaftspforte und rüttelten Sandy wach. Wieder ächzte er und murmelte wirr, während er auf die Straße hinausplumpste. Der Wagen brauste weiter. Über dem Botschaftsgebäude, hinter dem Mast mit der schlaff herabhängenden Unionsflagge, konnte ich die Wipfel riesiger Bäume erkennen, die die Rasenflächen beschatteten, auf denen ich als Kind bei Teeempfängen präsentiert worden war. Da hatte ich mich dann stets gerne fortgestohlen und auf den darunterliegenden Nil gestarrt, wie er mit den Segeln der Feluken beflaggt langsam und olivfarben dahinfloss. Später lag ich bei geöffneten Fensterläden im Bett und betrachtete den Himmel. Mein bandagierter Knöchel pochte und hielt mich wach, doch das war mir egal. Mein einziger Gedanke galt Xan, Xan, den Faria kaum beachtet und der mich auf den ersten Blick in seinen Bann geschlagen hatte. Während ich glitschig vor Schweiß unter dem dünnen Baumwolllaken lag, ließen mich Lachen, Sehnsucht und Erwartung erschauern. Schon in jener ersten schlaflosen Nacht hatte ich keinen Zweifel, dass Xan und ich uns wiedersehen würden. Ich wollte ihm sagen, dass ich niemals »Sandy Allardyce' Mädel« gewesen war, und wir würden Anspruch aufeinander erheben. Genauso musste es sein. Wie einfach, wie unschuldig das heute erscheint. Und so voller Freude.
Garden City lag am Nil, war eine Enklave aus gewundenen Straßen mit hohen kakaobraunen und schmutzigweißen Häusern und Wohnblöcken, umgeben von tiefen Gärten aus dichtem staubigem Grün. Unsere Wohnung gehörte Farias Eltern, die nicht weit von uns eine prachtvolle Villa bewohnten. Wir hatten Fußböden aus Massivparkett und schwere Möbel, und jeder Raum besaß einen Deckenventilator, der träge die heiße Luft aufwirbelte. Wir hatten auch große gerippte Metallheizkörper, die gelegentlich hohl-rasselnde Geräusche von sich gaben und aus denen rostigbraunes Wasser tröpfelte. Faria nahm die Hitze überhaupt nicht wahr, und ihr schwarzes Haar ähnelte stets einem glänzenden Flügel, statt sich im feuchten Wind zu kräuseln, wie meines es tat, aber sie fürchtete die Kälte. Ging sie abends aus, zog sie sich stets ein kleines Bolero aus weißen Federn oder ein Seidensamtcape über die nackten Schultern. Mein Zimmer war ein schmaler hoher Kasten am Ende eines Korridors, etwas abseits des Haupttrakts der Wohnung gelegen. Auch das Mobiliar war bescheidener, und aus meinem Fenster blickte ich auf einen Jacarandabaum im Garten der Nachbarn. Zwar kannte ich Faria und Sarah nicht besonders gut, doch sie waren eine muntere Gesellschaft, und ich war glücklich, in einer so komfortablen Wohnung leben zu dürfen. Sie lag sogar günstig, das heißt in der Nähe meiner Arbeitsstelle, dem Generalhauptquartier des Britischen Heeres, das sich gleich bei der Sharia Qasr el Aini in einer Seitenstraße befand. Ich war Bürogehilfin und Verwaltungsassistentin eines Oberstleutnants des Geheimdiensts namens Roderick Boyce, den alle nur Roddy Boy nannten. Oberst Boyce und mein Vater gehörten demselben Londoner Club an und waren vor dem Krieg miteinander auf die Jagd gegangen. Ein Brief meines Vaters, und ein Gespräch, bei dem mein künftiger Chef darüber reminiszierte, wie mein Vater damals auf seiner großen kastanienbraunen Stute über einen Zaun hinweggesetzt war, genügte, um mir die Stelle zu sichern.
Am Morgen nach meiner ersten Begegnung mit Xan stand ich früh auf, um zur Arbeit zu gehen, wie auch sonst jeden Tag seit meiner Rückkehr nach Kairo. An den stickigen Nachmittagen duckten sich die Straßen unter der aus weißem Himmel brutal herunterbrennenden Sonne, doch um acht Uhr früh war es noch kühl genug, um die kurze Strecke zwischen Wohnung und Büro zu Fuß zurückzulegen. An diesem Tag musste ich wegen meines dick bandagierten Knöchels ein Taxi nehmen. Roddy Boy schaute mich an, als ich auf einem Gehstock von Farias Vater an meinen Schreibtisch hüpfte. »Du liebes bisschen ! Tennis ? Kamelrennen ? Oder noch Anstrengenderes ?« »Tanzen«, versetzte ich. »Ah. Dacht ich mir's doch.« Roddy Boy hielt mein gesellschaftliches Leben gerne für etwas hektischer und glamouröser, als es tatsächlich war. »Aber ich hoffe doch, Ihre Verletzung wird Sie nicht am Tippen hindern ?« »Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. Ich drehte einen Stoß aus Anforderungsformblättern und Durchschlagpapier in meine Schreibmaschine und zwang mich zu konzentrierter Arbeit. Als ich endlich wieder nach Hause kam, begrüßte mich Mamduh, der Suffragi, der sich um uns und die Wohnung kümmerte, auf die ihm eigene, würdevolle Art : »Guten Tag, Miss Iris. Das ist vor einer Stunde für Sie abgegeben worden.« »Oh, wie schön !« Es war ein großer Strauß weißer Lilien, Gardenien und Tuberosen. Ich vergrub das Gesicht in den kühlen Blüten. Das intensive Parfüm brachte mir den vorhergegangenen Abend, Kerzenlicht, Musik, Zigarren und Xans Gesicht, sogar noch ein wenig lebhafter in Erinnerung. Mamduh strahlte. Er freute sich für mich ; normalerweise waren die Gebinde für Sarah. Verlegen setzte ich mich und öffnete das Kuvert, das mit den Blumen gekommen war. Eine schlichte weiße Karte mit der knappen Botschaft : Ich hoffe, Ihr Knöchel ist bald wieder heil. Unterschrieben war sie lediglich mit X. Das war alles. Noch immer stand Mamduh in seiner weißen Galabiya herum und wartete auf weiteres. Faria klagte, dass er sich zu viele Freiheiten erlaube, und es ihn nichts angehe, wann sie abends nach Hause kam, aber ich mochte den großen Mann und sein breites Lächeln, das stets von einem klugen Blick begleitet war. Mamduh entging nichts. Was wahrscheinlich auch Farias Mutter wusste. »Bloß von einem Freund«, sagte ich. »Natürlich, Miss. Ich werde für Sie in Wasser stellen.« Oft wirkte die Wohnung wie ein Blumenladen. Sarah und Faria fragten mich nicht einmal, von wem mein Bouquet stammte. Ich bewunderte meine Blumen und wartete, doch eine Woche verging, und dann noch eine. Der ganze Monat Juni des Jahres 1941 kroch im Schneckentempo dahin, und von Xan hörte ich nichts mehr. In meinem Vorzimmer im Generalhauptquartier tippte ich meine Berichte, überbrachte Signale für Roddy Boy und plauderte mit den Stabsoffi zieren, die, um Roddy zu besuchen, eilig bei uns ein und aus gingen. Als Zivilistin befand ich mich auf der niedrigsten Freigabestufe, und viele der Geheimpläne, die in Roddy Boys Büro gefl attert kamen und dann wieder hinausfl atterten, passierten zunächst einmal meinen Schreibtisch. Die alliierten Truppen hatten sich - abgesehen von jenen, die in Tobruk belagert wurden - nach Ägypten zurückgezogen, und die Deutschen standen an der libyschen Grenze. Um sie zu vertreiben, wurde die Operation Battleaxe auf den Weg gebracht, währenddessen das Generalhauptquartier kurzeitig in Hektik verfiel und Roddy Boy sich nicht mehr zu seinen meist langen Nachmittagen im Turf Club einfand. »Wir sind ihrer verdammten Feuerkraft einfach nicht gewachsen«, ächzte Roddy hinter seinem Schreibtisch. Fast hundert unserer Panzer fielen deutschen Panzerabwehrge schützen zum Opfer, ihre schwelenden Wracks blieben unter einem dicken Leichentuch aus Staub und Rauch liegen. Und viele der Besatzungen waren tot oder verwundet. Als es langsam Juli wurde, begann ich jede Einladung, die ich nur kriegen konnte, anzunehmen. Ich ging zu Cocktail partys und Tennisturnieren, zu Kostümbällen und Dichterlesungen im British Council und durchforstete dort das Publikum in der Hoffnung, Xan irgendwo zu entdecken. Jeden Mittag saß ich neben dem Pool im Gezira Club, stets in der Erwartung, etwas von ihm zu hören. Nur einmal begegnete ich einem der anderen Offiziere, die bei Lady Gibson Pashas Party an seinem Tisch gesessen hatten. »Xan ?«, meinte er vage. »Keine Ahnung. Scheint nicht in der Stadt zu sein, oder ?« Er war einfach verschwunden, und Jessie James mit ihm. Meine Gewissheit verebbte. Vielleicht war er ja versetzt worden. Vielleicht war er verheiratet. Vielleicht - war es möglich ? - zog er tatsächlich andere Zerstreuungen vor. Vielleicht war er tot. Ich behielt meine Ängste für mich. Was ich empfand, erschien mir zu bedeutsam, aber auch zu zweifelhaft, zu zerbrechlich, um es mit Faria und Sarah zu teilen. »Du bist ja zur Zeit ungeheuer gesellig«, meinte Faria mit hochgezogener Braue. »Warum sollte ich daheimbleiben, wenn ich auch ausgehen kann.« Ich zuckte die Achseln. Und dann, gegen Ende der ersten Juliwoche, an einem Abend, an dem die Hitze das Umziehen vor dem Ausgehen, ja jede Bewegung zur Anstrengung machte, klingelte das Telefon in der Halle, und ich hörte, wie Mamduh sich meldete. Sein großer runder Kopf erschien im Türrahmen. »Für Sie, Miss.« »Hallo ?«, sprach ich in den Hörer.
»Ich bin's, Xan«, sagte er. »Kann ich vorbeikommen und Sie besuchen ?« Ich legte den Kopf gegen den Türrahmen, und Stromstöße der Erleichterung und des Jubels durchzuckten meine Wirbelsäule. »Ja«, brachte ich über die Lippen. »Jetzt ?« »Jetzt gleich.« »Ja«, sagte ich noch einmal. »Ja, kommen Sie doch.« So war das damals. Ich öffne die Augen, erblicke den dämmrigen, stillen Raum. Auf die Kissen wurde Tee verschüttet, und auch auf der Vorderseite meines Kleids sehe ich ein paar dunkle klebrige Tropfen. Ich bin fürchterlich schläfrig, zu müde, mich aufzusetzen und abzuwischen. Aber das spielt keine Rolle. Wer sieht es denn schon, außer Mamduh und Tantchen? Schlaf. Träum. Immer diese Träume. Scheiße. Scheiß drauf, verdammt noch mal, dachte Ruby, als sie einen Blick auf das erhaschte, was sich jenseits der Türe befand. Ist das tatsächlich hier so ? Es war dunkel draußen. Jenseits einer Schranke sah sie eine wogende Mauer aus Köpfen, winkenden Armen und schreienden Gesichtern, von grässlichen Neondeckenleuchten grell in Licht und Schatten getaucht. Der Flughafen war zwar feuchtkalt klimatisiert, doch sie konnte die Hitze bereits spüren, die ihr jedes Mal, wenn die Türen aufglitten und sich zischend wieder schlossen, entgegenrollte. Die Masse der eintreffenden Passagiere, deren wulstige Gepäckstücke gegen ihren Rucksack drückten und sie nach rechts und links stießen, schob sie mit sich nach vorn. Wieder öffneten sich die Türen, und diesmal gehörte auch sie zu der von ihnen ausgespienen Menschenmasse. Heiße, feuchte Luft strömte ihr in die Lungen. Und sofort spürte sie den kribbelnden Schweiß unter den Armen und am Haaransatz.
Eine Welle von Geschrei erhob sich um sie herum. Hände grabschten nach ihren Armen und versuchten ihr den Rucksack vom Rücken zu zerren. »Lady ! Taxi, sehr gut, billig.« »Hotel, Lady. Schöne Hotel.« »Aufhören«, schrie Ruby. »Lasst mich in Ruhe!« Mit einem derartigen Ansturm hatte sie nicht gerechnet. Alarmiert entwand sie sich den klammernden Händen, die jedoch im Nu von einem Dutzend anderer Händepaare ersetzt wurden, die sie in verschiedene Richtungen zu drängen versuchten. »Taxi hier ! Lady, ich zeige Ihnen.« Jenseits des unmittelbaren Gedränges sah sie nun einen Strom hupender Autos, einen Saum von Palmen mit gezackten Wedeln, die sich vor dem trüben Sternenhimmel abzeichneten, eine Schlange von Scheinwerfern entlang einer Hochstraße. Ruby starrte in die wallende See dunkler Gesichter, Schnurrbärte, aufgerissener Münder. Ganz hinten in der Menge entdeckte sie ein jüngeres Gesicht, das flehentlich zu ihr herblickte. Sie riss ihren Arm los und deutete auf das Gesicht. »Sie. Taxi ?« Sofort tauchte der Mann durch das Gedränge der Körper, umfasste mit einer Hand ihr Handgelenk und schnappte sich mit der andern ihren Rucksack. Ihre kleinere Nylontasche hielt Ruby fest an sich gepresst. Gemeinsam eilten sie durch die Menge und erreichten den offeneren Raum jenseits davon. »Kommen Sie«, schrie der Mann und deutete über die Dächer Hunderter hupender schwarzweißer Taxis. Ein brechend voller Bus fuhr an ihnen vorbei und verfehlte sie nur um Zentimeter. Das Taxi des Fahrers parkte unter einer der Palmen. Daran gelehnt saßen zwei zerlumpte Kinder. Die Fahrer gab ihnen eine Münze, warf Rubys Rucksack in den Kofferraum und öffnete die Beifahrertür. Erleichtert ließ Ruby sich auf die Rückbank sinken. Die Sprungfedern des Sitzes waren gebrochen und fleckiger Schaumstoff quoll aus einem Riss des braunen Plastiküberzugs. Das Wageninnere roch stark nach Zigaretten und billigen Luftauffrischern. Der Fahrer legte den Gang ein, und röhrend setzten sie sich in Bewegung, um dann in einer Schlange an der Flughafenausfahrt fast sofort wieder ruckartig zum Stehen zu kommen. Obwohl es dunkel war, herrschte beträchtliche Hitze. Dieses Phänomen war Ruby noch nie begegnet. Sie schloss die Augen, merkte dabei, dass sogar ihre Lider vor Schweiß klebten, und zwang sich, sie wieder zu öffnen. Sie durfte jetzt nicht einfach abschalten, noch nicht. Über die Schulter warf ihr der Fahrer ein Lächeln zu. Die Zähne in seinem braunen Gesicht waren weiß wie bei einer Karikatur. Er wirkte jung, kaum älter als sie selbst. »Wohin ?« Sie entfaltete einen Zettel, den sie während des gesamten Flugs in ihrer Jeanstasche stecken gehabt hatte, und las die Adresse vor. »Warum Sie wollen dahin? Ich kenne schöne Hotel, sehr sauber, billig. Besser, ich bringe dahin.« »Wir fahren genau zu der Adresse, die ich Ihnen genannt habe«, beharrte Ruby. »Keine Diskussionen. Kapiert?« Das amüsierte ihn. Er lachte und schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. Der Verkehr kam wieder in Gang. Überall gab es Straßen, mit Natriumdampflampen beleuchtete Hochstraßenabschnitte überwölbten komplizierte Kreuzungen, und alle waren sie von tristen Betonhochhäusern gesäumt und mit riesigen Plakatwänden gepflastert. Gesichter gigantischer Frauen mit schwarzen Augenbrauen und Kuhwimpern schmachteten sich über den Straßenlaternen an. Jeder Straßenmeter war mit hupenden Autos, Lkws und großen blauen Bussen verstopft. Die Straßenschilder zeigten einen Kode aus Schnörkeln und Punkten. Ruby fläzte sich auf dem ausgeleierten Sitz und starrte hinaus. Ihre Miene verriet nichts, doch innerlich rang sie um jene trotzige Haltung, die sie aufrecht gehalten hatte, seit sie von zu Hause abgehauen war. Jetzt, wo sie tatsächlich da war, merkte sie auch, dass sie an ihr Ziel kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Abzuhauen und wegzubleiben, darauf war sie fixiert gewesen. Nun aber tauchten alle möglichen anderen Probleme auf und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser Stadt umgehen sollte, war völlig ratlos. Und keiner ahnte, wo sie war; keiner erwartete sie. Zwar befand sie sich nicht das erste Mal in einer solchen Situation, durchaus nicht, aber noch nie hatte sie sie in einer so fremden Umgebung erlebt. Sie fühlte sich sehr fern von Zuhause, doch sie schob den Gedanken beiseite. »Wie viel ?«, fragte sie. Sie hatte den Rest ihres Geldes an der Wechselstube am Flughafen in ägyptische Pfund getauscht. Dafür hatte sie ein beruhigend dickes Notenbündel erhalten, weswegen sie sich überhaupt das Taxi geleistet hatte. Allein der Gedanke, sich hier einen Bus zu suchen, war ihr einfach zu viel gewesen. Der Fahrer schwang das Steuer herum, um einen mit Töpfen und Blechschüsseln beladenen Eselskarren zu überholen, der sich auf der inneren Fahrspur der Autobahn dahinschleppte. Er warf ihr ein rasches Lächeln zu. »Ah, Geld, kein Broblem. Woher Sie kommen?« »London.« »Sehr schöne Stadt. David Beckham.« »Ja. Oder vielmehr nein. Wie auch immer.« Wenigstens bewegten sie sich jetzt, wahrscheinlich in Richtung Stadtzentrum, wo immer sich das auch befand. Flughäfen lagen ja immer meilenweit außerhalb am Scheiß-Stadtrand, nicht wahr? »Ich heiße Nafouz.« »Ah ja.« Eine Pause trat ein. Nafouz griff unter das Armaturenbrett, brachte eine Schachtel Marlboro zum Vorschein und drehte sich halb um, um ihr eine anzubieten. Ruby zögerte. Sie hatte keine Zigaretten mehr und Lust auf eine. »Danke.« Sie entzündete sie mit ihrem eigenen Bic und ignorierte seines. »Haben Sie Boyfriend in Kairo ?« Ruby brach in prustendes Hohngelächter aus. »Ich war noch nie hier.« »Ich kann Boyfriend sein.« Außer dass ihr seine Zähne aufgefallen waren, hatte sie ihm bisher kaum einen Blick gegönnt, doch nun registrierte sie die Knitter im Kragen seines weißen Hemds, und wie das Innenfutter der schwarzen Lederjacke den Hemdenstoff stellenweise verschmutzt hatte. Sein schwarzes Haar trug er lang und hatte es aus dem Gesicht nach hinten gekämmt. Nicht übel im Grunde. Sie hob den Kopf. Das wenigstens war vertrautes Terrain. »Du. Träumst. Wohl«, stellte sie klar. Nafouz' begeistertes Gelächter erfüllte den Wagen. Und mit den Händen trommelte er aufs Lenkrad, als sei dies der lustigste Witz, den er je gehört hatte. »Ich träume immer. Träumen billig. Kostet nichts.« »Acht mal auf die Straße, ja ?« Sie kuschelte sich in ihre Ecke, rauchte und starrte hinaus aufs Häusermeer. Natürlich war sie auch vorher schon im Ausland gewesen, mit Lesley und Andrew in Gegenden wie der Toskana oder Kos oder dem Loiretal (und das war vielleicht langweilig gewesen), aber noch nie hatte sie etwas wie dieses dampfende Chaos aus Beton und Metall erlebt. Während sie sich dem, was wohl die Mitte der Stadt sein musste, näherten, wurde der Stau sogar noch schlimmer. Immer wieder standen sie über längere Zeitstrecken, während der sie in die Seitengassen hineinlugte. Da gab es winzige offene Läden, vor denen Männer rauchend an Blechtischen saßen. Aus offenen Einfahrten fi elen breite Strahlenbündel und beleuchteten Frauen mit schwarzen Tüchern auf dem Kopf, die von Kindern umgeben auf steinernen Stufen hockten. Es gab Kisten voller runder glänzender Gemüse und schiefe Türme aus Coladosen, reichlich Abfall in den Rinnsteinen, magere Hunde, die an all dem herumschnüffelten. Männer, die von Tabletts herunter Waren verkauften, schrien diese an den Straßenecken aus, andere gebeugte alte Männer schoben Handkarren durch den Verkehr. Überall blinkten Neonlichter, und unaufhörlich wurde gehupt. »Ganz schön hektisch hier«, meinte sie schließlich, um es mit einer beiläufigen Phrase kleiner und weniger bedrohlich zu machen. Nafouz zuckte die Achseln. »Wer Ihre Freunde in Kairo ?« Entweder war er jetzt neugierig, oder er machte sich wirklich Sorgen um sie. Weder das eine noch das andere kam ihr gelegen. »Familie«, sagte sie, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie fuhren nun durch kleinere Gassen und hatten die großen Durchgangsstraßen hinter sich gelassen. Ruby blinzelte nach oben und erblickte Zwiebelkuppeln und hohe schlanke Türme vor dunkelblauem Himmel. Die Straße war so eng, dass nur ein Wagen durchpasste. Die auf ihren Hausstufen sitzenden Frauen hoben die Köpfe und starrten auf das vorübergleitende Taxi. Direkt vor ihnen befand sich eine große Kuppel, die einen Bogen in den Himmel schnitt, sowie ein Trio dünner Nadeln, die sich daneben erhoben. Als Nafouz nicht mehr weiterfahren konnte, hielt er an. Die Straße hatte sich in eine Kopfsteinpflastergasse verwandelt, und machte direkt vor ihnen einen scharfen Knick. Eine Steinsäule versperrte ihnen den Weg. Im Winkel einer hellen schlichten Wand befand sich eine Tür mit einer kleinen Steintreppe davor. »Hier ist das Haus«, verkündete Nafouz. Ruby starrte auf die Tür. Sie konnte lediglich erkennen, dass sie blau gestrichen war, alter Anstrich, der Blasen geworfen hatte und gesplittertes Holz preisgab. Sie hatte sich keine großen Gedanken gemacht über das, was sie erwarten mochte, dies allerdings sicherlich nicht. Es gab hier nichts, keinerlei Hinweis darauf, was oder wer sich hinter der Tür befand. Sie nahm all ihre Entschlossenheit zusammen. »Ja. Wie viel Geld wollen Sie jetzt?« Sie öffnete ihre Nylontasche, und Discman, Kopfhörer, ein Apfel und Make-up tübchen rollten über den Sitz. »Fünfzig Fund.« »Fünfzig ? Glaubst du vielleicht, ich bin blöd oder was? Ich gebe Ihnen zwanzig.« Sie öffnete ihr Portemonnaie und zupfte an zerfetzten schmutzigen Scheinen. »Von Flughafen zu Zentrum fünfzig.« Nafouz lächelte nicht mehr. »Hau ab, ja ?« Ruby klaubte ihre Habseligkeiten zusammen und hüpfte aus dem Wagen, doch der Fahrer war schneller. Schon war er um den Wagen herumgerannt und hielt die Kofferraumtür heruntergedrückt, sodass sie nicht an ihren Rucksack kam. Sie standen sich gegenüber, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. »Fünfundzwanzig«, sagte Ruby. »Fünfzig.« »Gib mir meinen verdammten Rucksack.« Sie trat ihm, so heftig sie konnte, gegen das Schienbein. Leider hatte sie nur Flipflops an. Nafouz jaulte auf. »Lady, Lady. Das ist schlechte Benehmen.« »Ah ja ? Und jetzt geben Sie meinen Rucksack her.« »Zuerst Sie bezahlen.« Aber langsam wurde Nafouz weich. Der Widerstand dieser Touristin hatte schon ein Fünkchen Respekt verdient. Gewöhnlich gaben sie einfach nach und rückten das Geld heraus. »Dreißig«, meinte er kapitulierend. »Herrgott noch mal.« Doch sie seufzte und holte eine weitere Note aus ihrer Börse, zerknüllte sie und schleuderte sie gegen den Ärmel seiner Lederjacke. Nafouz' Lächeln war wieder zurückgekehrt. Dreißig ägyptische Pfund war der übliche Preis für eine Fahrt vom Flughafen in die Stadt. Ruby nahm ihren Rucksack und warf ihn über die Schulter. Mit baumelnden Kopfhörerkabeln und dem Inhalt ihrer zweiten Tasche in den Armen marschierte sie die Steinstufen hinauf, ohne sich auch noch einmal umzusehen. Sie hörte Nafouz den Wagen wenden, und dann das Quietschen der Reifen, als er davonbrauste. Sobald er fort war, tat ihr der Verlust dieser wenn auch kurzen Bekanntschaft schon leid. Vielleicht hätte sie ihn ja bitten sollen zu warten. Was, wenn niemand da war ? Was, wenn die Adresse falsch war? Wohin sollte sie gehen, in dieser Stadt, in der sie nicht einmal die Straßenschilder lesen konnte? Dann hob sie wieder den Kopf und straffte aufs Neue die Schultern. Es gab keinen Türklopfer, nichts. Sie pochte an den blasigen Anstrich. Es roch nach eingetrockneter Pisse in dieser Gasse, ein Duft, der mit allen möglichen anderen üblen Gerüchen im Wettstreit lag. Kein Laut drang aus dem Hausinnern. Ruby ballte die Faust und hämmerte noch heftiger an die Tür. Ein Gedicht, das sie in der Schule auswendig hatten lernen müssen, kam ihr in den Sinn, und ohne weiter nachzudenken, brüllte sie die Worte im gleichen Takt, wie sie klopfte : »›Ist denn da jemand ?‹, fragte der Reisende ?« Plötzlich öffnete sich knarrend die Tür, und ein etwa dreißig Zentimeter breiter Streifen trüben Lichts wurde sichtbar. Ruby war so verblüfft, dass ihre Stimme zu einem Piepsen absank. Undeutlich konnte sie einen großen dicken Mann in weißem Gewand erkennen. Sie sagte : »Ich bin Ruby Sawyer.« Der Mann warf nur einen Blick auf sie und versuchte gleich wieder, die Tür zu schließen. Doch Ruby streckte den Fuß aus und schob ihn in den Spalt. Schon das zweite Mal wünschte sie sich, sie hätte richtige Schuhe angezogen. Sie wiederholte ihren Namen, diesmal lauter, aber offensichtlich genügte dies nicht. Laut fügte sie hinzu : »Ich bin gekommen, um meine Großmutter zu besuchen. Lassen Sie mich doch bitte rein.«
Der Widerstand ließ ein wenig nach. Sofort schob sie die Schulter an die Tür und stemmte sich heftig dagegen. Die Tür schwang auf, und unter dem Geklapper ihrer herunterpurzelnden Habseligkeiten stolperte sie ins Haus. Das Gesicht des Mannes war ein purpurroter Vollmond der Missbilligung. Er runzelte die Stirn, aber er half ihr beim Aufstehen. Ruby blickte sich um. Ihr erster Eindruck war der eines Kircheninnern. Es gab einen Steinboden, modrige Holzvertäfelungen, eine schwache trübe Lampe, die an Ketten in einem Glasgehäuse hing. Auch nach Weihrauch und irgendeiner Art würzigen Essens roch es. »Madam ruht«, meinte der Mann frostig. Am besten fuhr sie hier offenbar, wenn sie sich gewinnend zeigte. »Ich möchte meine Großmutter nicht stören. Und auch sonst niemanden. Es tut mir leid, wenn ich zu laut war. Aber, Sie wissen ja ...« Der Mann kam ihr nicht zu Hilfe. Er fuhr fort, sie teilnahmslos anzustarren. »Ich ... ich bin den ganzen Weg von London hierher gekommen. Meine Mutter, Sie wissen schon ... ähm, meine Mutter ist die Tochter von Madam. Wissen Sie das?« Wieder trat eine Pause ein. Ob er es nun wusste oder auch nicht, die verwandtschaftliche Beziehung schien ihn nicht zu beeindrucken. Zumindest jedoch seufzte er nun schwer und meinte, »Folgen Sie mir bitte. Lassen Sie das hier.« Er deutete auf ihr Gepäck. Sie ließ es gerne stehen. Er ging ihr voran durch einen Bogen und einen kahlen Raum. Hinter einer schweren Tür befand sich eine von Wänden umschlossene Holztreppe. Die Lampen waren trübe Funzeln, nur einfache, von Metallgittern geschützte Glühbirnen in den Winkeln der Wände. Sie gingen die Treppe hinauf und einen vertäfelten Korridor entlang. Es war ein großes Haus, dachte Ruby, aber staubig und schmucklos, und all die Treppen, Ecken und Gitter verliehen ihm etwas Geheimnisvolles. Ein Ort der Schatten und des Flüsterns. Hier drinnen war es viel kühler als draußen. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken.
Der Mann stand nun vor einer geschlossenen Tür. Er neigte den Kopf und lauschte. Sie sah, dass sein Gesicht nun weich und besorgt wirkte. Kein Laut war zu hören, sodass er einen Riegel hob und langsam die Tür aufdrückte. Und da war ein brennendes Licht in einer Träne aus karmesinrotem Glas und unter einem Fenster mit geschlossenen Läden ein geschnitzter Diwan voller Kissen. In einem niedrigen Sessel mit gepolstertem Fußschemel saß mit geschlossenen Augen eine sehr alte Frau. Auf dem Kelim lag ein umgeschüttetes Glas. Ruby machte einen Schritt nach vorn, und die Frau schlug die Augen auf. Ein Traum ? Jemand, den ich mal kannte und der, während ich in die andere Richtung geschaut habe, unterm Sand verscharrt wurde? Ich habe Angst vor diesen Gespenstern, die da plötzlich aus der Vergangenheit auftauchen. Ich fürchte mich vor ihnen, weil ich sie nicht zuordnen kann ... Und die Angst macht mich wütend. »Wer ist das, Mamduh? Was soll denn das? Lass nicht irgendwelche Leute rein, als wär das hier eine öffentliche Bibliothek. Gehen Sie weg.« Die Frau, Erscheinung, wer immer sie auch sein mag, regt sich nicht. Mamduh kniet sich hin, hebt das Glas auf und stellt es aufs Tablett zurück. Ich sehe die Flecken auf seinem alten kahlen Schädel. Sofort habe ich Mitleid und fühle mich verwirrt. Ich strecke die Hand nach ihm aus, sie zittert. »Verzeih mir. Wer ist sie ?« Die Frau - sehr jung noch und von merkwürdigem Aussehen - tritt näher. »Ich bin Ruby.« »Wer ?« »Deine Enkelin. Lesleys Tochter.« »Nein.« Lesleys Tochter ? Eine Erinnerung exhumiert sich selbst. Ein blasses, ziemlich pummliges Kind mit Woll-Kilt und Haarspangen. Still, aber irgendwie aufmüpfi g. Stimmt das auch so ? »Doch, das bin ich. Und du bist Oma Iris, die Mutter meiner Mutter, Kairo-Oma. Das letzte Mal hab ich dich gesehen, als ich zehn war. Als du auf Heimaturlaub warst.« Ich bin müde. Die Anstrengung des Erinnerns ist zu groß. Arme Lesley, denke ich. »Weiß sie, dass du hier bist ?« Das Kind blinzelt. Nun, da ich sie betrachte, sehe ich, dass sie kaum mehr als ein Kind ist. Mit ihrer verblüffenden Schminke und den ungewöhnlichen Metallringen und -schrauben, die sie in Nase und Ohren gedreht hat, bemüht sie sich zwar sehr, einen anderen Eindruck zu erwecken, ebenso wie mit dem fünfzehn Zentimeter breiten blassen Bauchstreifen zwischen den beiden Hälften ihres Aufzugs, aber ich würde sie nicht auf mehr als achtzehn oder neunzehn schätzen. »Deine Mutter. Weiß sie Bescheid ?« »Nein, eigentlich nicht.« Ihre Antwort ist trocken, doch zu meiner Überraschung entlockt mir die Art, wie sie es sagt, fast ein Lächeln. Mamduh hat das Teeglas aufgehoben, das Tablett weggeräumt. Nun steht er hinter mir, ein schützender Berg. »Ma'am Iris, es ist spät«, protestiert er. »Ich weiß.« Zu dem Kind sage ich: »Ich weiß nicht, warum du hier bist, Fräulein ... Du wirst sofort wieder dahin zurückkehren, woher du gekommen bist. Ich bin jetzt zu müde, aber morgen früh werde ich mich mit dir unterhalten.« »Soll ich Ihnen Tantchen schicken«, fragt mich Mamduh. »Nein.« Ich will jetzt nicht ausgezogen und zu Bett gebracht werden. Dieses Kind braucht nicht zu wissen, dass das manchmal geschieht. »Hol sie nur, damit sie ein Bett für, für ... wie sagtest du gleich, heißt du ?« »Ruby.« Der Name einer Prostituierten, was ja durchaus zu ihrem Erscheinungsbild passt. Was hat sich Lesley dabei nur gedacht ? »Ein Bett und etwas zu essen, falls sie das möchte. Danke, Mamduh. Gute Nacht, Ruby.« Plötzlich lächelt das Mädchen. Ohne den finsteren Blick wirkt sie sogar noch jünger. Ich gehe in mein Zimmer. Als ich endlich liege und die weißen Vorhänge um mein Bett herum zugezogen sind, verlässt mich das Verlangen nach Schlaf. Ich liege da, starre auf die schimmernden Musselinfalten, sehe Gesichter und höre Stimmen. Mit geradezu majestätischer Missbilligung führte Mamduh Ruby wieder nach unten. Eine kleine alte Frau, vielleicht einen Meter fünfzig groß, mit weißem Tuch um Kopf und Hals, erschien im Korridor. Die zwei redeten schnell miteinander. »Möchten Sie etwas essen ?«, fragte Mamduh dann steif. »Nein, vielen Dank. Ich hab im Flugzeug gegessen.« »Dann gehen Sie mit Tantchen!« Ruby nahm ihr Gepäck wieder auf und folgte der alten Frau die Treppe hinauf und durch die düsteren Korridore in ein kleines Zimmer mit einem Diwan, der unter einem Bogenfenster stand. Tantchen, falls sie denn wirklich so hieß, zeigte ihr ein Badezimmer auf der anderen Gangseite. Darin gab es einen an der Decke befestigen Spülkasten mit Kette, die Klosettschüssel war mit wirbelndem blauem und weißem Blattwerk gemustert. Es gab einen altmodischen Duschkopf, groß wie ein Essteller, ein Lattenrost über dem Abguss und einen blau lackierten Stuhl mit ein paar gefalteten Handtüchern darauf. »Danke«, sagte Ruby. »Ahlan wa sahlan«, murmelte Tantchen. Als sie fort war, schälte sich Ruby aus ihren Kleidern und ließ sie zu Boden fallen. Und wie sie war, kroch sie unter das dünne gestärkte Laken und sank sofort in einen traumlosen Schlaf.
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Und genau das geschieht nun mit mir. Der Sand der Zeit. (Ein Klischee zwar, aber darum nicht weniger treffend.) Zweiundachtzig Jahre bin ich alt. Der Tod, der nicht mehr allzu fern sein kann, schreckt mich nicht. Noch fürchte ich das allumfassende Vergessen, denn völlig zu vergessen, bedeutet ja, dass man auch dieses vergessen hat. Was mir allerdings Bange macht, ist das Zwischenstadium. Ich habe Angst vor dem allmählichen Abbau. Nach lebenslanger Unabhängigkeit - selbstsüchtiger Unabhängigkeit, wie meine Tochter zu Recht behaupten würde, ja -, graut mir davor, wieder zum Kind zu werden, hilflos in einem Ozean der Verwirrung treibend, aus dem die grausamen hellen Momente wie Felsbänke heraus ragen. Ich will nicht in meinem Sessel sitzen und mich von Mam duh oder Tantchen mit Brei füttern lassen ; und erst recht mag ich nicht medizinischem Fachpersonal ausgeliefert sein, das mir seine wohlmeinende Altenpflege angedeihen lässt. Ich weiß, was ich da zu gewärtigen habe. Bin schließlich selbst Ärztin und mag mich zwar an zu wenig erinnern, habe allerdings auch schon zu viel gesehen. Da kommt Mamduh. Seine Lederpantoffeln wischen leise über die Dielen der Frauentreppe. An meinem Gehör ist nichts auszusetzen. Knarrend öffnet sich die schwere Tür, sodass ich eine Ecke des durchbrochenen Holzgitters sehe, das die Galerie zur Empfangshalle hin abschirmt. Das durchs Gitter einfallende Licht übersät Boden und Wände mit Halbmonden und Sternen. »Guten Abend, Ma'am Iris«, sagt Mamduh leise. Die ehrerbietige Form der Anrede hat sich so verschliffen, so abgegriffen vom langen Gebrauch, dass sie zum Kosenamen geworden ist, Mam'riis. »Haben Sie womöglich geschlafen ?« »Nein«, erwidere ich ihm. Ich habe nachgedacht. Hin und her überlegt. Mamduh stellt sein Tablett ab. Ein Glas Minztee, süß und duftend. Eine Leinenserviette, ein paar süße Gebäckdreieicke, die ich nicht mag. Ich esse nur noch wenig inzwischen. Die glänzend kaffeebraune Kuppel von Mamduhs Glatzkopf ist mit dunkleren Flecken und großen braunen unregelmäßigen Muttermalen gesprenkelt. In der grellen weißen Sonne draußen hat er immer den Tarbusch auf, ich weiß. Wenn ich sehe, wie er ihn mit beiden Händen hochnimmt und auf dem Kopf zurechtrückt, ehe er auf den Markt geht, versetzt mich das in Zeiten zurück, als der rote Blumentopf-Fes für jeden Effendi der Stadt noch unverzichtbares Kleidungsstück war. Mamduh reicht mir mein Glas mit Tee. Ich nehme es entgegen, krümme die Finger um die abgegriffenen Silberringe des Henkels und recke den Kopf nach vorn, um das Aroma einzuatmen. »Tantchen hat Baklava gebacken«, meint er und schlägt einladend die Serviette zurück. »Später. Geh jetzt, Mamduh. Du musst selber was essen.« Seit Sonnenaufgang dürfte Mamduh weder einen Bissen gegessen noch einen Schluck Wasser getrunken haben. Es ist Ramadan. Als ich wieder allein bin, trinke ich meinen Tee und lausche dabei den Geräuschen der Stadt. Die mit Kopfstein gepflasterte Gasse vor meinem vergitterten Fenster ist eng, kaum breit genug für ein Auto, und jenseits des Mauerwinkels, der meinen Eingang beschirmt, kommen nur noch die Stufen der großen Moschee. Vom Verkehr, der sich von Betonstraßenschleifen ergießt und die moderne Stadt wie eine Flutwelle überschwemmt, hört man hier nicht mehr als ein dumpfes Grollen. Viel näher bei der Hand ist da das Geschrei und Gelächter der Familien, die ihre Abendmahlzeit zubereiten und sich in der kühlen Dunkelheit zum Essen versammeln. Man hört das Rattern von Rädern über Steine und einen heiseren, warnenden Schrei, als ein Eselskarren vorbeikommt und dann ein paar perlende Musiknoten, als sich irgendwo eine Tür öffnet und wieder schließt. All dies im Ohr, könnte es immer noch dasselbe Kairo wie vor sechzig Jahren sein.
Manche Dinge werde ich nie vergessen. Darf es nicht. Denn was bliebe mir sonst? Ich schließe die Augen. Das Glas in meinen Fingern kippt und die letzten Tropfen der Flüssigkeit rinnen auf die zerschlissenen Kissen. Vor sechzig Jahren waren diese Straßen von Militär bevölkert. Scharen britischer Offiziere und Mannschaften, Neuseeländer und Australier, Franzosen, Kanadier, Inder, Griechen, Südafrikaner und Polen - alle in ihrer staubigen Kakikluft. Die Stadt war ein ausgedörrter Magnet für die Truppen, die auf der Suche nach Bars und Bordellen hereingeströmt kamen, wann immer der Wüstenkrieg sie entließ. Der Aussicht auf den Tod im Sand den Rücken kehrend, tranken und vögelten sie mit all der Energie der Jugend, und Kairo nahm sie in seinem ihm eigenen uralten Gleichmut in sich auf. Am Ende war ja auch dieser Krieg nur eine weitere - wenn auch noch im Werden begriffene - Schicht der Geschichte, die den Ruinen der Jahrtausende ihren eigenen Staub und Schutt hinzufügte. Entlang des fruchtbaren Niltalstreifens liegt mehr an Historie begraben als irgendwo sonst auf der Welt. Einer dieser Soldaten von damals war mein Geliebter. Der einzige Mann, den ich jemals geliebt habe. Er hieß Captain Alexander Napier Molyneux. Xan. Er trug das gleiche Kakibuschhemd und die gleiche weite Hose wie alle anderen, unterschied sich lediglich durch Rang- und Regimentsabzeichen von ihnen, doch er besaß auch noch eine weitere »Anonymität«. Xan war weder flamboyant noch mysteriös. In einer Gruppe von Offizieren in einer Bar im Shepheard Hotel oder einer der Partys, die wir alle in Garden City oder Zamalek besuchten, wäre er einem nicht aufgefallen, weil er einfach zu gewöhnlich wirkte. Dieser Mangel an besonderen Merkmalen war Absicht. Xan arbeitete tief in der Wüste, und eines seiner Talente war es - wo auch immer er sich befand -, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Er ritt sein Pferd wie der Kavallerieoffizier, der er auch war, doch wenn man ihn mit über Kopf und Gesicht gezogener weißer Kufi ya auf einem Kamel erblickte, hielt man ihn für einen Araber. Im Gezira Club spielte er Tennis und alberte am Pool herum wie jede andere Zierde der Kairoer Cocktail-Gesellschaft, dann aber verschwand er auf mehrere Tage oder auch gleich eine Woche, und nicht mal im Treibhaus der anglo-ägyptischen Schickeria wurde darüber geraunt oder geklatscht, wo er abgeblieben sein könnte. Er verschwand in der der Wüste wie eine Eidechse, die unter einen Felsen glitt. Ich liebte ihn auf den ersten Blick. Ich erinnere mich. Neue Straßen und Betonhochhäuser und Einkaufsstraßen haben einen Großteil jenes Kairo, das wir kannten, ausgelöscht, doch in der Entrückung dieses Abends kehren alle Einzelheiten - auch die jenes ersten Abends - wieder. So viele Tausend Male habe ich ihn mir schon in Erinnerung gerufen, dass er mir realer erscheint als meine zweiundachtzigjährige Wirklichkeit. Gott sei Dank ist mir wenigstens das noch nicht abhanden gekommen. Und so habe ich ihn in Erinnerung : Es war eine stickige Nacht, erfüllt vom Duft der Tuberosen. In einem üppigen Garten waren zwei Dutzend runde Tischchen aufgestellt, während in den Zweigen der Mangobäume und Akazien Laternen hingen und hinter hohen Fenstern in einem getäfelten Ballsaal ein Orchester spielte. Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, eben den kriegsbedingten Entbehrungen Londons entronnen und vom Glamour Kairos nicht weniger berauscht als von den Champagnercocktails. Meine Freundin Faria führte mich kichernd an einen Tisch und stellte mich einer Gruppe von Männern in Abendgarderobe vor. Eine Flasche Whisky stand da und eine Phalanx von Gläsern, und der Rauch der Zigarren wetteiferte mit dem Tuberosenduft.
»Das ist Iris Black. Bleib, wo du bist, Jessie, bitte !« Doch der junge Mann mit dem hellblonden Schopf war bereits aufgestanden und hob, den Kopf tief gesenkt, meine Hand an seine Lippen. Sein Schnurrbart kitzelte meine Finger. »Ich kann unmöglich sitzen bleiben«, murmelte er. »Sie ist zu schön.« Ich selbst sah mich immer noch als die Londoner Tippse, die sich mit einem winzigen Verdienst in einer Kellerwohnung in South Kensington durchschlug, doch hatte ich während meiner Wochen in Kairo schon genug dazugelernt, um nicht gleich einen forschenden Blick über die Schulter zu werfen : wer wohl die Schönheit sein könnte ? Hier, in diesem exotischen Garten, in dem das Orchester spielte und die mir von meinem Begleiter verehrte Orchidee am Mieder meines Abendkleides prangte, wusste ich, dass damit nur ich gemeint sein konnte. »Frederick James. Captain, Elftes Husarenregiment«, murmelte er. Dann ließ er meine Hand wieder los und richtete sich auf. Er war schlank und nicht besonders groß. »Aus irgendeinem Grund nennen mich alle Jessie James.« Er winkelte den Arm ab, und seine locker geballte Faust ruhte eine Sekunde lang auf der geschmeidigen Flanke seines Smokings. Es gab eine Menge ziemlich tuntige junge Männer in Kairo. Mehrere Male hatte ich gehört, dass man die RAF-Jungs auch unter der Bezeichnung »fliegende Schwuchteln« zusammenfasste, doch Jessie James schien nicht in diese Kategorie zu fallen. Trotz seiner Haare und des perfekt geschneiderten Smokings wirkte er taff. Sein Gesicht war sonnenverbrannt, und in seinen Augen lag etwas Düsteres, das nicht zu seiner sonstigen spielerischen Art zu passen schien. »Sehr erfreut«, erwiderte ich. »Ah, sie ist ja so nett, unsere Iris«, gluckste Faria. »Eine ganz liebe, aus einer Diplomatenfamilie. Als sie zwölf war, ist ihr Daddy nämlich hier in Kairo Kanzleichef gewesen. Sie ist praktisch Ägypterin.«
Faria war eine meiner beiden Wohngenossinnen. Zwei Jahre älter als ich, hatte mich die elegante Tochter einer vermögenden anglo-ägyptischen Familie fast sofort nach meiner Ankunft unter ihre Fittiche genommen. Faria war mit dem Sohn eines der Geschäftspartner ihres Vaters verlobt, erzählte gern überall, dass sie so gut wie verheiratet sei, und war folglich ideal geeignet, um für Sarah und mich die Anstandsdame zu spielen. Hinter dem Rücken eines jeden jungen Mannes, mit dem wir uns gerade unterhielten, zwinkerte sie uns heftig zu. Tatsächlich war Ali häufig auf Geschäftsreise in Alexandria, Beirut oder Jerusalem, und Faria wäre die Aufmerksamkeit einer Anstandsdame vermutlich eher zugute gekommen als uns. Man zog uns in die Gruppe hinein. Stühle wurden gebracht und an den Tisch geschoben, während die Offiziere uns eifrig Platz machten. Ich akzeptierte ein Glas Whisky und forschte gleichzeitig in den schimmernden Garten nach meinem Begleiter. Sandy Allardyce war einer der jungen Männer von der britischen Botschaft. Der jedem, der ihm zuhören mochte, beteuerte, dass er sich nichts sehnlicher wünsche, als endlich die Uniform anzulegen, er aber leider noch immer an seinen Büroschreibtisch gefesselt sei. Ich nahm an, er fühlte sich unwohl in Gesellschaft so vieler tatsächlich kämpfender Männer, und bekämpfte dies, indem er zu viel trank. Binnen einer Stunde nach unserer Ankunft hatte sich sein rosiges Gesicht rot verfärbt. »Sie haben also schon als kleines Mädchen hier gelebt?«, bemerkte einer der Offiziere. Der Mann neben ihm zündete sich eine Zigarette an, und ich erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, das einen Moment lang von der umbrafarbenen Flamme erhellt wurde. »Nur während der Ferien. Die meiste Zeit war ich in England auf dem Internat.« Faria lachte überschwenglich über einen Witz, den ein anderer gemacht hatte, und warf den Kopf in den Nacken, um ihre samtige Kehle und die an ihren Ohren baumelnden Diamanten und Perlentropfen zu entblößen. Jessie beugte sich vor, um erneut meine Aufmerksamkeit einzufordern. »Suchen Sie Sandy? Ich habe Sie mit ihm tanzen sehen.« Er hatte mein Unbehagen bemerkt. »Ja«, erwiderte ich dankbar. »Er hat mich mitgebracht. Ich sollte mich wohl mal nach ihm umsehen. Er ...« Ich wollte noch etwas über die Orchidee sagen und befingerte schon die wächserne Spitze eines der Blütenblätter. Doch dann bewegte der Mann mit der Zigarette seinen Stuhl, sodass das Licht einer der Kerzenlaternen sein Gesicht deutlicher hervortreten ließ. Man hörte, wie das Orchester einen letzten Akkord schmetterte und ein Beifallssturm losbrach, während ein Tanz zu Ende ging. Ich schaute ihn an und vergaß, was immer ich in dem Moment hatte sagen wollen, was allerdings auch keine große Rolle spielte. Die Konversation auf Kairoer Partys war zutiefst oberflächlich. Die Augen des Mannes glänzten vor Belustigung. Er war dunkelhaarig, dunkelhäutig. Und er hätte düster wirken können, wäre da nicht so viel Lebensfreude in seinen Zügen gewesen. Er beugte sich über den Tisch. Ich sah, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog. »Tanzen Sie nicht mit Allardyce ! Und falls es um die Entscheidung zwischen mir und Jessie geht - tja, dann haben Sie eigentlich gar keine Wahl, oder ?« »Alexander.« Jessie zog eine Schnute. »Nicht jetzt, mein Lieber«, sagte der Mann. Er umfasste meine Stuhllehne, ich stand auf, und er reichte mir seinen Arm. »Xan Molyneux«, meinte er dann in aller Ruhe. Zusammen schlenderten wir über den Rasen und unters Geäst der Bäume. Das von der Hitze verdorrte Gras roch beißend und ganz und gar nicht nach englischem Garten. Nie hatte ich mich so fern der Heimat gefühlt und dennoch so glücklich und frei von Heimweh. »Ich heiße Iris.« »Ich weiß. Faria hat Sie ja schon vorgestellt. Ist Sie eine Freundin von Ihnen ?« »Ja. Wir teilen uns eine Wohnung. Sarah Walker-Wilson wohnt ebenfalls mit uns zusammen. Sicher kennen Sie sie ?« Ich halt's nicht aus, dachte ich. Alle Männer in Kairo vergöttern Sarah. In den sechs Wochen seit meinem Einzug hatte Sarah noch keinen einzigen Abend daheim verbracht. Xan neigte den Kopf, bis seine Wange fast die meine berührte. »Die drei Blumen von Garden City«, murmelte er. Garden City war das Kairoer Viertel, in dem wir wohnten. Ich wusste nicht so recht, ob das ein Scherz sein sollte oder doch nicht. Wir erreichten die Tanzfläche. Xans Miene war heiter, und als er mich in die Arme nahm, summte er die Melodie. Er fragte mich nicht, ob mir die Band gefiel oder ob ich am Abend darauf Mrs Diaz' Party in Heliopolis besuchen würde. Wir tanzten nur einfach. Er war ein guter Tänzer, wenn ich auch schon Partner gehabt hatte, die es noch besser konnten. Es war wohl eher so, dass Xan den Tanzsschritten, der Musik und mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, was das Herumwirbeln auf einer überfüllten Tanzfläche, begleitet vom Gedudel eines ägyptischen Orchesters, zu etwas Einzigartigem machte und ihm einen gewissen Zauber verlieh. Gelächter erhellte sein Gesicht, und die Freude, die genau dieser herausgegriffene Moment ihm bereitete, strahlte von ihm aus. Ich spürte die Energie, die wie ein Puls unter dem schwarzen Stoff seiner Jacke pochte, sich durch meine Hände und Arme fortpflanzte und zwischen uns vibrierte, und in mir begann ein Antwort- Rhythmus zu klopfen. Wir spürten es beide, ließen uns davon mitreißen und verloren uns noch stärker im Tanz und ineinander. Wir sahen uns in die Augen, sprachen nicht mehr, sondern verständigten uns in einer Sprache, die mir bis dahin unbekannt gewesen war. Jener erste Tanz ging nahtlos in den nächsten über und dann in den folgenden.
Beschwipst war ich nun nicht mehr von Champagner und Whisky, sondern wurde immer berauschter vor Erregung, von der Musik und Xan Molyneux' Nähe. Ich sah, wie uns der Orchesterleiter über die Schulter einen Blick zuwarf, und auch einige der anderen Paare musterten uns kritisch, doch das war mir gleichgültig, und auch Xan hatte nur noch Augen für mich. Wir hatten kaum mehr als ein Dutzend Worte gewechselt, doch ich hatte das Gefühl, ihn schon zu kennen, und besser als jeden anderen, der mir in Kairo begegnet war. Auch verspürte ich die klare und absolute Gewissheit, dass von diesem Zeitpunkt an alles möglich war und sein würde. Seligkeit und Vorfreude verzwirnten sich derart fest miteinander, dass es kaum noch zu ertragen war, und auf einmal wurde mir schwindlig. Während Xan mich noch ausgelassen im Kreis herumwirbelte, geriet ich ins Stolpern und verlor auf meinem hohen Absatz das Gleichgewicht. Ein heißer Schmerz fuhr mir durchs Fußgelenk und bis hinauf in die Wade, und ich wäre gestürzt, hätte er mir den Arm nicht noch fester um die Taille geschlungen. »Alles in Ordnung ?« Ich holte Luft und stieß sie dann heftig wieder aus, um nicht aufzujaulen. »Nur ... den Knöchel verstaucht.« Die Tänzer bildeten einen Kreis um uns. »Hier, ich werd Sie tragen.« Er schob den anderen Arm unter meine Schenkel und wollte mir beim Aufstehen helfen. In diesem Augenblick entdeckte ich Sandy. Dunkelrot im Gesicht, wütend kam er durch die Tanzenden auf uns zu, und die Knöpfe platzen ihm fast vom Hemd. Seine Augen schienen in verschiedene Richtungen zu blicken. »Was ist denn hier los ?«, brüllte er. »Molyneux. Sie ... was machen Sie da eigentlich ?« »Ich helfe Miss Black auf einen Stuhl«, antwortete Xan trocken. »Sie hat sich den Knöchel verstaucht.«
Ich machte einen Schritt von ihm weg und wäre fast gestürzt, worauf Xan mir sofort beisprang und wir beinahe zusammen gefallen wären. Während wir uns in einem Durcheinander aus Armen und Beinen aufrichteten, lachte ich trotz meiner Schmerzen im Knöchel zu ihm auf - und hörte Sandy beleidigt aufjaulen. Mit fuchtelnden Armen stürzte er sich auf Xan und packte ihn am Revers seines Smokings. Xan ließ mich los und drehte sich zu Sandy um, der ihm einen heftigen Kinnhaken verpasste. »Lassen Sie mein Mädel in Ruhe«, schrie Sandy, doch kaum hatte er seinen fatalen Hieb platziert, verließ ihn sichtlich der Kampfesmut. Er blickte sich im Kreis der Gaffer um, konnte jedoch keine bereitwillige Unterstützung entdecken. Sein großes, glänzendes rotes Gesicht schien in sich zusammenzufallen, wobei ihm der Whisky als allen Poren troff. Belämmert sah ich zu, balancierte auf einem Fuß und hätte am liebsten in die klebrige Luft hinausposaunt - aber so, dass es nur Xan hörte -, dass ich ganz und gar nicht Sandys Mädchen sei, und schämte mich gleichzeitig dafür. »Hören Sie mal, Allardyce, ich will wirklich keine Revanche«, meinte Xan gedehnt. Er schob eine Hand in die Tasche seiner Smokingjacke und klang belustigt - und ganz und gar nicht verstört. »Das gäbe eine viel zu schlimme Sauerei.« »Da hat er recht«, fuhr eine andere Stimme dazwischen. Jessie James war in Begleitung Farias erschienen. Farias scharfe Augen erfassten die Situation sofort. Sie streckte den Arm aus, und ich stützte mich auf sie, während Sandy mich auf der anderen Seite packte. Seine Hand war feucht und heiß, und kleine glitzernde Schweißrinnsale liefen ihm vom Haaransatz in den steifen Kragen. Zwar ruckte er noch mit dem Kopf in Richtung von Xan und Jessie, doch er befand sich bereits auf dem Rückzug. »Das ist nicht lustig.« »Lachen wir etwa ?«, fragte Jessie unschuldig. Sandy kehrte ihnen den Rücken zu und murmelte an mich gewandt : »Komm, holen wir uns noch was zu trinken. Das wird schon wieder.« Faria schnalzte mit der Zunge. »Nein, tut es nicht. Ich bringe Iris nach Hause. Sehen Sie nicht, dass sie verletzt ist ?« Das Orchester begann wieder zu spielen, die anderen Tänzer wandten sich ab und verloren das Interesse. Und eine Minute später hinkte ich in die Halle hinaus, auf einer Seite von Faria gestützt, während Sandy auf der anderen torkelte. Ein riesengroßer Kristalllüster goss Diamanten aus Licht über uns aus. Ich spürte Xan und Jessie eher hinter uns, als dass ich sie sah, während gleichzeitig Lady Gibson Pasha mit ausgestreckten Händen, als wolle sie mich einfangen, auf uns zugewogt kam. Unsere Gastgeberin trug einen goldenen Turban und ein Kollier aus hühnereigroßen Smaragden. »Mein liebes, liebes Mädchen, Sie Ärmste. Sie müssen Ihren Fuß hoch betten, wir benötigen einen Eisbeutel.« In die Hände klatschend rief sie einem vorbeikommenden Diener zu, er möge doch Eis bringen. Ich wollte in Xans Nähe bleiben und mich möglichst weit von Sandy entfernen. Auch nach Hause wollte ich und in einem dunklen Raum liegen, um die chaotischen und erstaunlichen Geschehnisse dieses Abends zu rekapitulieren. »Eigentlich ist es nichts. Es tut mir so leid, Lady Gibson. Nur eine dumme Verrenkung.« »Daddys Wagen und Chauffeur sind da«, meinte Faria. »Wir fahren nach Hause. Ich sorge dafür, dass man sich um Iris kümmert. « Sandy nickte heftig. Inzwischen war er blass geworden. Ein weiterer Diener wartete schon mit Farias kleinem Schwanendaunen- Bolero und dem indischen Schal meiner Mutter, der mir als Abendstola diente. Und während Lady Gibsons Anweisungen noch hinter uns herdrifteten, humpelten wir zum Vordereingang hinaus. Amman Pashas Chauffeur wartete mit dem großen schwarzen Wagen neben der Treppe. Er öffnete die Wagentür, und ich wurde auf eine ausgedehnte cremefarbene Lederfläche verfrachtet. Neben mir sackte Sandy in sich zusammen, schnaufte und zerrte an den Enden seines Binders, um den Knoten zu lockern. Faria schob sich auf der anderen Seite in den Fond. Der Wagen begann über den Kies zu rollen. Ich drehte mich, um aus dem Rückfenster zu gucken und erhaschte einen letzten Blick auf Xan und Jessie, die nebeneinander am Fuß der Treppe standen, schwarzer Schopf und blonder, und uns nachsahen. Zwar konnte ich Xans Gesicht nicht wirklich erkennen, doch ich bildete mir ein, dass er immer noch lächelte. »Gottogott«, ächzte Sandy. »Mein lieber Schwan.« Er zerknüllte seinen Schlips und stopfte ihn sich in die Tasche, ehe er den Kopf in die Wagenpolster zurücksinken ließ. »Wir setzen Sie an der Botschaft ab«, meinte Faria kühl und beugte sich nach vorn, um dem Fahrer auf Arabisch Anweisungen zu geben. Wir sausten über die Bulak-Brücke, und ich sah das im schwarzen Wasser gespiegelte, zersplitterte Mosaik aus gelben und weißen Lichtern, während wir hinter der Kathedrale nach Süden abbogen. »Oje !« Faria gähnte. »Ich habe völlig vergessen, dem Dichter Bescheid zu sagen, dass wir gehen. Was wird er bloß denken ?« Es war dies keine Frage, die eine Antwort erforderte. Jeremy - auch der Dichter genannt - war der glühendste unter Farias Verehrern, ein dünner, schwermütiger junger Mann, der für das British Council arbeitete. Ali war fort, und Jeremy war an diesem Abend ihr Begleiter gewesen. Er würde denken, was er vermutlich immer dachte : dass ihm die exquisite und sorglose Faria wieder mal durchs Netz gegangen war. Sandy war eingedöst. Ich hörte ihn röchelnd atmen. Whiskydunst und Farias Parfüm vermischten sich mit dem Geruch des Leders und der einzigartigen Kairoer Gestanksmixtur aus Benzin, Räucherstäbchen und Tierkot. Faria zog eine türkische Zigarette aus ihrer Tasche, ließ ihr goldenes Feuerzeug aufschnappen und inhalierte tief. Ich schüttelte den Kopf, als sie es mir hinhielt. Der Schmerz in meinem Knöchel war heftig, und die damit einhergehende leichte Übelkeit schärfte meine Sinne. Jede Abzweigung unserer Route prägte ich mir ein, die schwarze Silhouette jeder Kuppel vor dem nur geringfügig helleren Himmel, das Adlerprofi l eines alten Bettlers, der auf einer Türschwelle hockte. Jedes Detail war wichtig und kostbar. Jede winzige Impression wollte ich aufnehmen und festhalten und bewahren, weil diese Nacht so bedeutsam war. Daran hatte ich nie einen Zweifel. Wir hielten in der Nähe der Botschaftspforte und rüttelten Sandy wach. Wieder ächzte er und murmelte wirr, während er auf die Straße hinausplumpste. Der Wagen brauste weiter. Über dem Botschaftsgebäude, hinter dem Mast mit der schlaff herabhängenden Unionsflagge, konnte ich die Wipfel riesiger Bäume erkennen, die die Rasenflächen beschatteten, auf denen ich als Kind bei Teeempfängen präsentiert worden war. Da hatte ich mich dann stets gerne fortgestohlen und auf den darunterliegenden Nil gestarrt, wie er mit den Segeln der Feluken beflaggt langsam und olivfarben dahinfloss. Später lag ich bei geöffneten Fensterläden im Bett und betrachtete den Himmel. Mein bandagierter Knöchel pochte und hielt mich wach, doch das war mir egal. Mein einziger Gedanke galt Xan, Xan, den Faria kaum beachtet und der mich auf den ersten Blick in seinen Bann geschlagen hatte. Während ich glitschig vor Schweiß unter dem dünnen Baumwolllaken lag, ließen mich Lachen, Sehnsucht und Erwartung erschauern. Schon in jener ersten schlaflosen Nacht hatte ich keinen Zweifel, dass Xan und ich uns wiedersehen würden. Ich wollte ihm sagen, dass ich niemals »Sandy Allardyce' Mädel« gewesen war, und wir würden Anspruch aufeinander erheben. Genauso musste es sein. Wie einfach, wie unschuldig das heute erscheint. Und so voller Freude.
Garden City lag am Nil, war eine Enklave aus gewundenen Straßen mit hohen kakaobraunen und schmutzigweißen Häusern und Wohnblöcken, umgeben von tiefen Gärten aus dichtem staubigem Grün. Unsere Wohnung gehörte Farias Eltern, die nicht weit von uns eine prachtvolle Villa bewohnten. Wir hatten Fußböden aus Massivparkett und schwere Möbel, und jeder Raum besaß einen Deckenventilator, der träge die heiße Luft aufwirbelte. Wir hatten auch große gerippte Metallheizkörper, die gelegentlich hohl-rasselnde Geräusche von sich gaben und aus denen rostigbraunes Wasser tröpfelte. Faria nahm die Hitze überhaupt nicht wahr, und ihr schwarzes Haar ähnelte stets einem glänzenden Flügel, statt sich im feuchten Wind zu kräuseln, wie meines es tat, aber sie fürchtete die Kälte. Ging sie abends aus, zog sie sich stets ein kleines Bolero aus weißen Federn oder ein Seidensamtcape über die nackten Schultern. Mein Zimmer war ein schmaler hoher Kasten am Ende eines Korridors, etwas abseits des Haupttrakts der Wohnung gelegen. Auch das Mobiliar war bescheidener, und aus meinem Fenster blickte ich auf einen Jacarandabaum im Garten der Nachbarn. Zwar kannte ich Faria und Sarah nicht besonders gut, doch sie waren eine muntere Gesellschaft, und ich war glücklich, in einer so komfortablen Wohnung leben zu dürfen. Sie lag sogar günstig, das heißt in der Nähe meiner Arbeitsstelle, dem Generalhauptquartier des Britischen Heeres, das sich gleich bei der Sharia Qasr el Aini in einer Seitenstraße befand. Ich war Bürogehilfin und Verwaltungsassistentin eines Oberstleutnants des Geheimdiensts namens Roderick Boyce, den alle nur Roddy Boy nannten. Oberst Boyce und mein Vater gehörten demselben Londoner Club an und waren vor dem Krieg miteinander auf die Jagd gegangen. Ein Brief meines Vaters, und ein Gespräch, bei dem mein künftiger Chef darüber reminiszierte, wie mein Vater damals auf seiner großen kastanienbraunen Stute über einen Zaun hinweggesetzt war, genügte, um mir die Stelle zu sichern.
Am Morgen nach meiner ersten Begegnung mit Xan stand ich früh auf, um zur Arbeit zu gehen, wie auch sonst jeden Tag seit meiner Rückkehr nach Kairo. An den stickigen Nachmittagen duckten sich die Straßen unter der aus weißem Himmel brutal herunterbrennenden Sonne, doch um acht Uhr früh war es noch kühl genug, um die kurze Strecke zwischen Wohnung und Büro zu Fuß zurückzulegen. An diesem Tag musste ich wegen meines dick bandagierten Knöchels ein Taxi nehmen. Roddy Boy schaute mich an, als ich auf einem Gehstock von Farias Vater an meinen Schreibtisch hüpfte. »Du liebes bisschen ! Tennis ? Kamelrennen ? Oder noch Anstrengenderes ?« »Tanzen«, versetzte ich. »Ah. Dacht ich mir's doch.« Roddy Boy hielt mein gesellschaftliches Leben gerne für etwas hektischer und glamouröser, als es tatsächlich war. »Aber ich hoffe doch, Ihre Verletzung wird Sie nicht am Tippen hindern ?« »Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. Ich drehte einen Stoß aus Anforderungsformblättern und Durchschlagpapier in meine Schreibmaschine und zwang mich zu konzentrierter Arbeit. Als ich endlich wieder nach Hause kam, begrüßte mich Mamduh, der Suffragi, der sich um uns und die Wohnung kümmerte, auf die ihm eigene, würdevolle Art : »Guten Tag, Miss Iris. Das ist vor einer Stunde für Sie abgegeben worden.« »Oh, wie schön !« Es war ein großer Strauß weißer Lilien, Gardenien und Tuberosen. Ich vergrub das Gesicht in den kühlen Blüten. Das intensive Parfüm brachte mir den vorhergegangenen Abend, Kerzenlicht, Musik, Zigarren und Xans Gesicht, sogar noch ein wenig lebhafter in Erinnerung. Mamduh strahlte. Er freute sich für mich ; normalerweise waren die Gebinde für Sarah. Verlegen setzte ich mich und öffnete das Kuvert, das mit den Blumen gekommen war. Eine schlichte weiße Karte mit der knappen Botschaft : Ich hoffe, Ihr Knöchel ist bald wieder heil. Unterschrieben war sie lediglich mit X. Das war alles. Noch immer stand Mamduh in seiner weißen Galabiya herum und wartete auf weiteres. Faria klagte, dass er sich zu viele Freiheiten erlaube, und es ihn nichts angehe, wann sie abends nach Hause kam, aber ich mochte den großen Mann und sein breites Lächeln, das stets von einem klugen Blick begleitet war. Mamduh entging nichts. Was wahrscheinlich auch Farias Mutter wusste. »Bloß von einem Freund«, sagte ich. »Natürlich, Miss. Ich werde für Sie in Wasser stellen.« Oft wirkte die Wohnung wie ein Blumenladen. Sarah und Faria fragten mich nicht einmal, von wem mein Bouquet stammte. Ich bewunderte meine Blumen und wartete, doch eine Woche verging, und dann noch eine. Der ganze Monat Juni des Jahres 1941 kroch im Schneckentempo dahin, und von Xan hörte ich nichts mehr. In meinem Vorzimmer im Generalhauptquartier tippte ich meine Berichte, überbrachte Signale für Roddy Boy und plauderte mit den Stabsoffi zieren, die, um Roddy zu besuchen, eilig bei uns ein und aus gingen. Als Zivilistin befand ich mich auf der niedrigsten Freigabestufe, und viele der Geheimpläne, die in Roddy Boys Büro gefl attert kamen und dann wieder hinausfl atterten, passierten zunächst einmal meinen Schreibtisch. Die alliierten Truppen hatten sich - abgesehen von jenen, die in Tobruk belagert wurden - nach Ägypten zurückgezogen, und die Deutschen standen an der libyschen Grenze. Um sie zu vertreiben, wurde die Operation Battleaxe auf den Weg gebracht, währenddessen das Generalhauptquartier kurzeitig in Hektik verfiel und Roddy Boy sich nicht mehr zu seinen meist langen Nachmittagen im Turf Club einfand. »Wir sind ihrer verdammten Feuerkraft einfach nicht gewachsen«, ächzte Roddy hinter seinem Schreibtisch. Fast hundert unserer Panzer fielen deutschen Panzerabwehrge schützen zum Opfer, ihre schwelenden Wracks blieben unter einem dicken Leichentuch aus Staub und Rauch liegen. Und viele der Besatzungen waren tot oder verwundet. Als es langsam Juli wurde, begann ich jede Einladung, die ich nur kriegen konnte, anzunehmen. Ich ging zu Cocktail partys und Tennisturnieren, zu Kostümbällen und Dichterlesungen im British Council und durchforstete dort das Publikum in der Hoffnung, Xan irgendwo zu entdecken. Jeden Mittag saß ich neben dem Pool im Gezira Club, stets in der Erwartung, etwas von ihm zu hören. Nur einmal begegnete ich einem der anderen Offiziere, die bei Lady Gibson Pashas Party an seinem Tisch gesessen hatten. »Xan ?«, meinte er vage. »Keine Ahnung. Scheint nicht in der Stadt zu sein, oder ?« Er war einfach verschwunden, und Jessie James mit ihm. Meine Gewissheit verebbte. Vielleicht war er ja versetzt worden. Vielleicht war er verheiratet. Vielleicht - war es möglich ? - zog er tatsächlich andere Zerstreuungen vor. Vielleicht war er tot. Ich behielt meine Ängste für mich. Was ich empfand, erschien mir zu bedeutsam, aber auch zu zweifelhaft, zu zerbrechlich, um es mit Faria und Sarah zu teilen. »Du bist ja zur Zeit ungeheuer gesellig«, meinte Faria mit hochgezogener Braue. »Warum sollte ich daheimbleiben, wenn ich auch ausgehen kann.« Ich zuckte die Achseln. Und dann, gegen Ende der ersten Juliwoche, an einem Abend, an dem die Hitze das Umziehen vor dem Ausgehen, ja jede Bewegung zur Anstrengung machte, klingelte das Telefon in der Halle, und ich hörte, wie Mamduh sich meldete. Sein großer runder Kopf erschien im Türrahmen. »Für Sie, Miss.« »Hallo ?«, sprach ich in den Hörer.
»Ich bin's, Xan«, sagte er. »Kann ich vorbeikommen und Sie besuchen ?« Ich legte den Kopf gegen den Türrahmen, und Stromstöße der Erleichterung und des Jubels durchzuckten meine Wirbelsäule. »Ja«, brachte ich über die Lippen. »Jetzt ?« »Jetzt gleich.« »Ja«, sagte ich noch einmal. »Ja, kommen Sie doch.« So war das damals. Ich öffne die Augen, erblicke den dämmrigen, stillen Raum. Auf die Kissen wurde Tee verschüttet, und auch auf der Vorderseite meines Kleids sehe ich ein paar dunkle klebrige Tropfen. Ich bin fürchterlich schläfrig, zu müde, mich aufzusetzen und abzuwischen. Aber das spielt keine Rolle. Wer sieht es denn schon, außer Mamduh und Tantchen? Schlaf. Träum. Immer diese Träume. Scheiße. Scheiß drauf, verdammt noch mal, dachte Ruby, als sie einen Blick auf das erhaschte, was sich jenseits der Türe befand. Ist das tatsächlich hier so ? Es war dunkel draußen. Jenseits einer Schranke sah sie eine wogende Mauer aus Köpfen, winkenden Armen und schreienden Gesichtern, von grässlichen Neondeckenleuchten grell in Licht und Schatten getaucht. Der Flughafen war zwar feuchtkalt klimatisiert, doch sie konnte die Hitze bereits spüren, die ihr jedes Mal, wenn die Türen aufglitten und sich zischend wieder schlossen, entgegenrollte. Die Masse der eintreffenden Passagiere, deren wulstige Gepäckstücke gegen ihren Rucksack drückten und sie nach rechts und links stießen, schob sie mit sich nach vorn. Wieder öffneten sich die Türen, und diesmal gehörte auch sie zu der von ihnen ausgespienen Menschenmasse. Heiße, feuchte Luft strömte ihr in die Lungen. Und sofort spürte sie den kribbelnden Schweiß unter den Armen und am Haaransatz.
Eine Welle von Geschrei erhob sich um sie herum. Hände grabschten nach ihren Armen und versuchten ihr den Rucksack vom Rücken zu zerren. »Lady ! Taxi, sehr gut, billig.« »Hotel, Lady. Schöne Hotel.« »Aufhören«, schrie Ruby. »Lasst mich in Ruhe!« Mit einem derartigen Ansturm hatte sie nicht gerechnet. Alarmiert entwand sie sich den klammernden Händen, die jedoch im Nu von einem Dutzend anderer Händepaare ersetzt wurden, die sie in verschiedene Richtungen zu drängen versuchten. »Taxi hier ! Lady, ich zeige Ihnen.« Jenseits des unmittelbaren Gedränges sah sie nun einen Strom hupender Autos, einen Saum von Palmen mit gezackten Wedeln, die sich vor dem trüben Sternenhimmel abzeichneten, eine Schlange von Scheinwerfern entlang einer Hochstraße. Ruby starrte in die wallende See dunkler Gesichter, Schnurrbärte, aufgerissener Münder. Ganz hinten in der Menge entdeckte sie ein jüngeres Gesicht, das flehentlich zu ihr herblickte. Sie riss ihren Arm los und deutete auf das Gesicht. »Sie. Taxi ?« Sofort tauchte der Mann durch das Gedränge der Körper, umfasste mit einer Hand ihr Handgelenk und schnappte sich mit der andern ihren Rucksack. Ihre kleinere Nylontasche hielt Ruby fest an sich gepresst. Gemeinsam eilten sie durch die Menge und erreichten den offeneren Raum jenseits davon. »Kommen Sie«, schrie der Mann und deutete über die Dächer Hunderter hupender schwarzweißer Taxis. Ein brechend voller Bus fuhr an ihnen vorbei und verfehlte sie nur um Zentimeter. Das Taxi des Fahrers parkte unter einer der Palmen. Daran gelehnt saßen zwei zerlumpte Kinder. Die Fahrer gab ihnen eine Münze, warf Rubys Rucksack in den Kofferraum und öffnete die Beifahrertür. Erleichtert ließ Ruby sich auf die Rückbank sinken. Die Sprungfedern des Sitzes waren gebrochen und fleckiger Schaumstoff quoll aus einem Riss des braunen Plastiküberzugs. Das Wageninnere roch stark nach Zigaretten und billigen Luftauffrischern. Der Fahrer legte den Gang ein, und röhrend setzten sie sich in Bewegung, um dann in einer Schlange an der Flughafenausfahrt fast sofort wieder ruckartig zum Stehen zu kommen. Obwohl es dunkel war, herrschte beträchtliche Hitze. Dieses Phänomen war Ruby noch nie begegnet. Sie schloss die Augen, merkte dabei, dass sogar ihre Lider vor Schweiß klebten, und zwang sich, sie wieder zu öffnen. Sie durfte jetzt nicht einfach abschalten, noch nicht. Über die Schulter warf ihr der Fahrer ein Lächeln zu. Die Zähne in seinem braunen Gesicht waren weiß wie bei einer Karikatur. Er wirkte jung, kaum älter als sie selbst. »Wohin ?« Sie entfaltete einen Zettel, den sie während des gesamten Flugs in ihrer Jeanstasche stecken gehabt hatte, und las die Adresse vor. »Warum Sie wollen dahin? Ich kenne schöne Hotel, sehr sauber, billig. Besser, ich bringe dahin.« »Wir fahren genau zu der Adresse, die ich Ihnen genannt habe«, beharrte Ruby. »Keine Diskussionen. Kapiert?« Das amüsierte ihn. Er lachte und schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad. Der Verkehr kam wieder in Gang. Überall gab es Straßen, mit Natriumdampflampen beleuchtete Hochstraßenabschnitte überwölbten komplizierte Kreuzungen, und alle waren sie von tristen Betonhochhäusern gesäumt und mit riesigen Plakatwänden gepflastert. Gesichter gigantischer Frauen mit schwarzen Augenbrauen und Kuhwimpern schmachteten sich über den Straßenlaternen an. Jeder Straßenmeter war mit hupenden Autos, Lkws und großen blauen Bussen verstopft. Die Straßenschilder zeigten einen Kode aus Schnörkeln und Punkten. Ruby fläzte sich auf dem ausgeleierten Sitz und starrte hinaus. Ihre Miene verriet nichts, doch innerlich rang sie um jene trotzige Haltung, die sie aufrecht gehalten hatte, seit sie von zu Hause abgehauen war. Jetzt, wo sie tatsächlich da war, merkte sie auch, dass sie an ihr Ziel kaum einen Gedanken verschwendet hatte. Abzuhauen und wegzubleiben, darauf war sie fixiert gewesen. Nun aber tauchten alle möglichen anderen Probleme auf und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht, wie sie mit dieser Stadt umgehen sollte, war völlig ratlos. Und keiner ahnte, wo sie war; keiner erwartete sie. Zwar befand sie sich nicht das erste Mal in einer solchen Situation, durchaus nicht, aber noch nie hatte sie sie in einer so fremden Umgebung erlebt. Sie fühlte sich sehr fern von Zuhause, doch sie schob den Gedanken beiseite. »Wie viel ?«, fragte sie. Sie hatte den Rest ihres Geldes an der Wechselstube am Flughafen in ägyptische Pfund getauscht. Dafür hatte sie ein beruhigend dickes Notenbündel erhalten, weswegen sie sich überhaupt das Taxi geleistet hatte. Allein der Gedanke, sich hier einen Bus zu suchen, war ihr einfach zu viel gewesen. Der Fahrer schwang das Steuer herum, um einen mit Töpfen und Blechschüsseln beladenen Eselskarren zu überholen, der sich auf der inneren Fahrspur der Autobahn dahinschleppte. Er warf ihr ein rasches Lächeln zu. »Ah, Geld, kein Broblem. Woher Sie kommen?« »London.« »Sehr schöne Stadt. David Beckham.« »Ja. Oder vielmehr nein. Wie auch immer.« Wenigstens bewegten sie sich jetzt, wahrscheinlich in Richtung Stadtzentrum, wo immer sich das auch befand. Flughäfen lagen ja immer meilenweit außerhalb am Scheiß-Stadtrand, nicht wahr? »Ich heiße Nafouz.« »Ah ja.« Eine Pause trat ein. Nafouz griff unter das Armaturenbrett, brachte eine Schachtel Marlboro zum Vorschein und drehte sich halb um, um ihr eine anzubieten. Ruby zögerte. Sie hatte keine Zigaretten mehr und Lust auf eine. »Danke.« Sie entzündete sie mit ihrem eigenen Bic und ignorierte seines. »Haben Sie Boyfriend in Kairo ?« Ruby brach in prustendes Hohngelächter aus. »Ich war noch nie hier.« »Ich kann Boyfriend sein.« Außer dass ihr seine Zähne aufgefallen waren, hatte sie ihm bisher kaum einen Blick gegönnt, doch nun registrierte sie die Knitter im Kragen seines weißen Hemds, und wie das Innenfutter der schwarzen Lederjacke den Hemdenstoff stellenweise verschmutzt hatte. Sein schwarzes Haar trug er lang und hatte es aus dem Gesicht nach hinten gekämmt. Nicht übel im Grunde. Sie hob den Kopf. Das wenigstens war vertrautes Terrain. »Du. Träumst. Wohl«, stellte sie klar. Nafouz' begeistertes Gelächter erfüllte den Wagen. Und mit den Händen trommelte er aufs Lenkrad, als sei dies der lustigste Witz, den er je gehört hatte. »Ich träume immer. Träumen billig. Kostet nichts.« »Acht mal auf die Straße, ja ?« Sie kuschelte sich in ihre Ecke, rauchte und starrte hinaus aufs Häusermeer. Natürlich war sie auch vorher schon im Ausland gewesen, mit Lesley und Andrew in Gegenden wie der Toskana oder Kos oder dem Loiretal (und das war vielleicht langweilig gewesen), aber noch nie hatte sie etwas wie dieses dampfende Chaos aus Beton und Metall erlebt. Während sie sich dem, was wohl die Mitte der Stadt sein musste, näherten, wurde der Stau sogar noch schlimmer. Immer wieder standen sie über längere Zeitstrecken, während der sie in die Seitengassen hineinlugte. Da gab es winzige offene Läden, vor denen Männer rauchend an Blechtischen saßen. Aus offenen Einfahrten fi elen breite Strahlenbündel und beleuchteten Frauen mit schwarzen Tüchern auf dem Kopf, die von Kindern umgeben auf steinernen Stufen hockten. Es gab Kisten voller runder glänzender Gemüse und schiefe Türme aus Coladosen, reichlich Abfall in den Rinnsteinen, magere Hunde, die an all dem herumschnüffelten. Männer, die von Tabletts herunter Waren verkauften, schrien diese an den Straßenecken aus, andere gebeugte alte Männer schoben Handkarren durch den Verkehr. Überall blinkten Neonlichter, und unaufhörlich wurde gehupt. »Ganz schön hektisch hier«, meinte sie schließlich, um es mit einer beiläufigen Phrase kleiner und weniger bedrohlich zu machen. Nafouz zuckte die Achseln. »Wer Ihre Freunde in Kairo ?« Entweder war er jetzt neugierig, oder er machte sich wirklich Sorgen um sie. Weder das eine noch das andere kam ihr gelegen. »Familie«, sagte sie, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie fuhren nun durch kleinere Gassen und hatten die großen Durchgangsstraßen hinter sich gelassen. Ruby blinzelte nach oben und erblickte Zwiebelkuppeln und hohe schlanke Türme vor dunkelblauem Himmel. Die Straße war so eng, dass nur ein Wagen durchpasste. Die auf ihren Hausstufen sitzenden Frauen hoben die Köpfe und starrten auf das vorübergleitende Taxi. Direkt vor ihnen befand sich eine große Kuppel, die einen Bogen in den Himmel schnitt, sowie ein Trio dünner Nadeln, die sich daneben erhoben. Als Nafouz nicht mehr weiterfahren konnte, hielt er an. Die Straße hatte sich in eine Kopfsteinpflastergasse verwandelt, und machte direkt vor ihnen einen scharfen Knick. Eine Steinsäule versperrte ihnen den Weg. Im Winkel einer hellen schlichten Wand befand sich eine Tür mit einer kleinen Steintreppe davor. »Hier ist das Haus«, verkündete Nafouz. Ruby starrte auf die Tür. Sie konnte lediglich erkennen, dass sie blau gestrichen war, alter Anstrich, der Blasen geworfen hatte und gesplittertes Holz preisgab. Sie hatte sich keine großen Gedanken gemacht über das, was sie erwarten mochte, dies allerdings sicherlich nicht. Es gab hier nichts, keinerlei Hinweis darauf, was oder wer sich hinter der Tür befand. Sie nahm all ihre Entschlossenheit zusammen. »Ja. Wie viel Geld wollen Sie jetzt?« Sie öffnete ihre Nylontasche, und Discman, Kopfhörer, ein Apfel und Make-up tübchen rollten über den Sitz. »Fünfzig Fund.« »Fünfzig ? Glaubst du vielleicht, ich bin blöd oder was? Ich gebe Ihnen zwanzig.« Sie öffnete ihr Portemonnaie und zupfte an zerfetzten schmutzigen Scheinen. »Von Flughafen zu Zentrum fünfzig.« Nafouz lächelte nicht mehr. »Hau ab, ja ?« Ruby klaubte ihre Habseligkeiten zusammen und hüpfte aus dem Wagen, doch der Fahrer war schneller. Schon war er um den Wagen herumgerannt und hielt die Kofferraumtür heruntergedrückt, sodass sie nicht an ihren Rucksack kam. Sie standen sich gegenüber, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. »Fünfundzwanzig«, sagte Ruby. »Fünfzig.« »Gib mir meinen verdammten Rucksack.« Sie trat ihm, so heftig sie konnte, gegen das Schienbein. Leider hatte sie nur Flipflops an. Nafouz jaulte auf. »Lady, Lady. Das ist schlechte Benehmen.« »Ah ja ? Und jetzt geben Sie meinen Rucksack her.« »Zuerst Sie bezahlen.« Aber langsam wurde Nafouz weich. Der Widerstand dieser Touristin hatte schon ein Fünkchen Respekt verdient. Gewöhnlich gaben sie einfach nach und rückten das Geld heraus. »Dreißig«, meinte er kapitulierend. »Herrgott noch mal.« Doch sie seufzte und holte eine weitere Note aus ihrer Börse, zerknüllte sie und schleuderte sie gegen den Ärmel seiner Lederjacke. Nafouz' Lächeln war wieder zurückgekehrt. Dreißig ägyptische Pfund war der übliche Preis für eine Fahrt vom Flughafen in die Stadt. Ruby nahm ihren Rucksack und warf ihn über die Schulter. Mit baumelnden Kopfhörerkabeln und dem Inhalt ihrer zweiten Tasche in den Armen marschierte sie die Steinstufen hinauf, ohne sich auch noch einmal umzusehen. Sie hörte Nafouz den Wagen wenden, und dann das Quietschen der Reifen, als er davonbrauste. Sobald er fort war, tat ihr der Verlust dieser wenn auch kurzen Bekanntschaft schon leid. Vielleicht hätte sie ihn ja bitten sollen zu warten. Was, wenn niemand da war ? Was, wenn die Adresse falsch war? Wohin sollte sie gehen, in dieser Stadt, in der sie nicht einmal die Straßenschilder lesen konnte? Dann hob sie wieder den Kopf und straffte aufs Neue die Schultern. Es gab keinen Türklopfer, nichts. Sie pochte an den blasigen Anstrich. Es roch nach eingetrockneter Pisse in dieser Gasse, ein Duft, der mit allen möglichen anderen üblen Gerüchen im Wettstreit lag. Kein Laut drang aus dem Hausinnern. Ruby ballte die Faust und hämmerte noch heftiger an die Tür. Ein Gedicht, das sie in der Schule auswendig hatten lernen müssen, kam ihr in den Sinn, und ohne weiter nachzudenken, brüllte sie die Worte im gleichen Takt, wie sie klopfte : »›Ist denn da jemand ?‹, fragte der Reisende ?« Plötzlich öffnete sich knarrend die Tür, und ein etwa dreißig Zentimeter breiter Streifen trüben Lichts wurde sichtbar. Ruby war so verblüfft, dass ihre Stimme zu einem Piepsen absank. Undeutlich konnte sie einen großen dicken Mann in weißem Gewand erkennen. Sie sagte : »Ich bin Ruby Sawyer.« Der Mann warf nur einen Blick auf sie und versuchte gleich wieder, die Tür zu schließen. Doch Ruby streckte den Fuß aus und schob ihn in den Spalt. Schon das zweite Mal wünschte sie sich, sie hätte richtige Schuhe angezogen. Sie wiederholte ihren Namen, diesmal lauter, aber offensichtlich genügte dies nicht. Laut fügte sie hinzu : »Ich bin gekommen, um meine Großmutter zu besuchen. Lassen Sie mich doch bitte rein.«
Der Widerstand ließ ein wenig nach. Sofort schob sie die Schulter an die Tür und stemmte sich heftig dagegen. Die Tür schwang auf, und unter dem Geklapper ihrer herunterpurzelnden Habseligkeiten stolperte sie ins Haus. Das Gesicht des Mannes war ein purpurroter Vollmond der Missbilligung. Er runzelte die Stirn, aber er half ihr beim Aufstehen. Ruby blickte sich um. Ihr erster Eindruck war der eines Kircheninnern. Es gab einen Steinboden, modrige Holzvertäfelungen, eine schwache trübe Lampe, die an Ketten in einem Glasgehäuse hing. Auch nach Weihrauch und irgendeiner Art würzigen Essens roch es. »Madam ruht«, meinte der Mann frostig. Am besten fuhr sie hier offenbar, wenn sie sich gewinnend zeigte. »Ich möchte meine Großmutter nicht stören. Und auch sonst niemanden. Es tut mir leid, wenn ich zu laut war. Aber, Sie wissen ja ...« Der Mann kam ihr nicht zu Hilfe. Er fuhr fort, sie teilnahmslos anzustarren. »Ich ... ich bin den ganzen Weg von London hierher gekommen. Meine Mutter, Sie wissen schon ... ähm, meine Mutter ist die Tochter von Madam. Wissen Sie das?« Wieder trat eine Pause ein. Ob er es nun wusste oder auch nicht, die verwandtschaftliche Beziehung schien ihn nicht zu beeindrucken. Zumindest jedoch seufzte er nun schwer und meinte, »Folgen Sie mir bitte. Lassen Sie das hier.« Er deutete auf ihr Gepäck. Sie ließ es gerne stehen. Er ging ihr voran durch einen Bogen und einen kahlen Raum. Hinter einer schweren Tür befand sich eine von Wänden umschlossene Holztreppe. Die Lampen waren trübe Funzeln, nur einfache, von Metallgittern geschützte Glühbirnen in den Winkeln der Wände. Sie gingen die Treppe hinauf und einen vertäfelten Korridor entlang. Es war ein großes Haus, dachte Ruby, aber staubig und schmucklos, und all die Treppen, Ecken und Gitter verliehen ihm etwas Geheimnisvolles. Ein Ort der Schatten und des Flüsterns. Hier drinnen war es viel kühler als draußen. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken.
Der Mann stand nun vor einer geschlossenen Tür. Er neigte den Kopf und lauschte. Sie sah, dass sein Gesicht nun weich und besorgt wirkte. Kein Laut war zu hören, sodass er einen Riegel hob und langsam die Tür aufdrückte. Und da war ein brennendes Licht in einer Träne aus karmesinrotem Glas und unter einem Fenster mit geschlossenen Läden ein geschnitzter Diwan voller Kissen. In einem niedrigen Sessel mit gepolstertem Fußschemel saß mit geschlossenen Augen eine sehr alte Frau. Auf dem Kelim lag ein umgeschüttetes Glas. Ruby machte einen Schritt nach vorn, und die Frau schlug die Augen auf. Ein Traum ? Jemand, den ich mal kannte und der, während ich in die andere Richtung geschaut habe, unterm Sand verscharrt wurde? Ich habe Angst vor diesen Gespenstern, die da plötzlich aus der Vergangenheit auftauchen. Ich fürchte mich vor ihnen, weil ich sie nicht zuordnen kann ... Und die Angst macht mich wütend. »Wer ist das, Mamduh? Was soll denn das? Lass nicht irgendwelche Leute rein, als wär das hier eine öffentliche Bibliothek. Gehen Sie weg.« Die Frau, Erscheinung, wer immer sie auch sein mag, regt sich nicht. Mamduh kniet sich hin, hebt das Glas auf und stellt es aufs Tablett zurück. Ich sehe die Flecken auf seinem alten kahlen Schädel. Sofort habe ich Mitleid und fühle mich verwirrt. Ich strecke die Hand nach ihm aus, sie zittert. »Verzeih mir. Wer ist sie ?« Die Frau - sehr jung noch und von merkwürdigem Aussehen - tritt näher. »Ich bin Ruby.« »Wer ?« »Deine Enkelin. Lesleys Tochter.« »Nein.« Lesleys Tochter ? Eine Erinnerung exhumiert sich selbst. Ein blasses, ziemlich pummliges Kind mit Woll-Kilt und Haarspangen. Still, aber irgendwie aufmüpfi g. Stimmt das auch so ? »Doch, das bin ich. Und du bist Oma Iris, die Mutter meiner Mutter, Kairo-Oma. Das letzte Mal hab ich dich gesehen, als ich zehn war. Als du auf Heimaturlaub warst.« Ich bin müde. Die Anstrengung des Erinnerns ist zu groß. Arme Lesley, denke ich. »Weiß sie, dass du hier bist ?« Das Kind blinzelt. Nun, da ich sie betrachte, sehe ich, dass sie kaum mehr als ein Kind ist. Mit ihrer verblüffenden Schminke und den ungewöhnlichen Metallringen und -schrauben, die sie in Nase und Ohren gedreht hat, bemüht sie sich zwar sehr, einen anderen Eindruck zu erwecken, ebenso wie mit dem fünfzehn Zentimeter breiten blassen Bauchstreifen zwischen den beiden Hälften ihres Aufzugs, aber ich würde sie nicht auf mehr als achtzehn oder neunzehn schätzen. »Deine Mutter. Weiß sie Bescheid ?« »Nein, eigentlich nicht.« Ihre Antwort ist trocken, doch zu meiner Überraschung entlockt mir die Art, wie sie es sagt, fast ein Lächeln. Mamduh hat das Teeglas aufgehoben, das Tablett weggeräumt. Nun steht er hinter mir, ein schützender Berg. »Ma'am Iris, es ist spät«, protestiert er. »Ich weiß.« Zu dem Kind sage ich: »Ich weiß nicht, warum du hier bist, Fräulein ... Du wirst sofort wieder dahin zurückkehren, woher du gekommen bist. Ich bin jetzt zu müde, aber morgen früh werde ich mich mit dir unterhalten.« »Soll ich Ihnen Tantchen schicken«, fragt mich Mamduh. »Nein.« Ich will jetzt nicht ausgezogen und zu Bett gebracht werden. Dieses Kind braucht nicht zu wissen, dass das manchmal geschieht. »Hol sie nur, damit sie ein Bett für, für ... wie sagtest du gleich, heißt du ?« »Ruby.« Der Name einer Prostituierten, was ja durchaus zu ihrem Erscheinungsbild passt. Was hat sich Lesley dabei nur gedacht ? »Ein Bett und etwas zu essen, falls sie das möchte. Danke, Mamduh. Gute Nacht, Ruby.« Plötzlich lächelt das Mädchen. Ohne den finsteren Blick wirkt sie sogar noch jünger. Ich gehe in mein Zimmer. Als ich endlich liege und die weißen Vorhänge um mein Bett herum zugezogen sind, verlässt mich das Verlangen nach Schlaf. Ich liege da, starre auf die schimmernden Musselinfalten, sehe Gesichter und höre Stimmen. Mit geradezu majestätischer Missbilligung führte Mamduh Ruby wieder nach unten. Eine kleine alte Frau, vielleicht einen Meter fünfzig groß, mit weißem Tuch um Kopf und Hals, erschien im Korridor. Die zwei redeten schnell miteinander. »Möchten Sie etwas essen ?«, fragte Mamduh dann steif. »Nein, vielen Dank. Ich hab im Flugzeug gegessen.« »Dann gehen Sie mit Tantchen!« Ruby nahm ihr Gepäck wieder auf und folgte der alten Frau die Treppe hinauf und durch die düsteren Korridore in ein kleines Zimmer mit einem Diwan, der unter einem Bogenfenster stand. Tantchen, falls sie denn wirklich so hieß, zeigte ihr ein Badezimmer auf der anderen Gangseite. Darin gab es einen an der Decke befestigen Spülkasten mit Kette, die Klosettschüssel war mit wirbelndem blauem und weißem Blattwerk gemustert. Es gab einen altmodischen Duschkopf, groß wie ein Essteller, ein Lattenrost über dem Abguss und einen blau lackierten Stuhl mit ein paar gefalteten Handtüchern darauf. »Danke«, sagte Ruby. »Ahlan wa sahlan«, murmelte Tantchen. Als sie fort war, schälte sich Ruby aus ihren Kleidern und ließ sie zu Boden fallen. Und wie sie war, kroch sie unter das dünne gestärkte Laken und sank sofort in einen traumlosen Schlaf.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Rosie Thomas
Rosie Thomas ist eine begeisterte Reisende und Bergsteigerin. Sie ist in den Alpen und im Himalaya unterwegs gewesen, hat an einer Autorallye von Peking nach Paris teilgenommen, verbrachte einige Zeit auf einer winzigen bulgarischen Forschungsstation in der Antarktis und hat für die Recherchen zu diesem Roman Ladakh und Kaschmir bereist. Sie lebt in London und hat eine ganze Reihe von erfolgreichen Romanen geschrieben. "Der Kaschmirschal" ist bei Weltbild bereits auf Deutsch erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rosie Thomas
- 2013, 396 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild GmbH & Co. KG
- ISBN-10: 3863658116
- ISBN-13: 9783863658113
- Erscheinungsdatum: 29.07.2013
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Rezension zu „Der Gardeniengarten (ePub)“
"Rosie Thomas schreibt mit einer hinreißenden Sinnenfreude." The Times
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