Der Stern der Kirilows (ePub)
Auf der Suche nach der Vergangenheit
Sie kennt ihren Geburtstag nicht, weiß nicht, woher sie kommt. Die vierjährige Lydia Kirilow hat in den Wirren der Oktoberrevolution ihre Familie verloren. Nur der Diamant, der in ihren Unterröcken eingenäht gefunden...
Sie kennt ihren Geburtstag nicht, weiß nicht, woher sie kommt. Die vierjährige Lydia Kirilow hat in den Wirren der Oktoberrevolution ihre Familie verloren. Nur der Diamant, der in ihren Unterröcken eingenäht gefunden...
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Produktinformationen zu „Der Stern der Kirilows (ePub)“
Auf der Suche nach der Vergangenheit
Sie kennt ihren Geburtstag nicht, weiß nicht, woher sie kommt. Die vierjährige Lydia Kirilow hat in den Wirren der Oktoberrevolution ihre Familie verloren. Nur der Diamant, der in ihren Unterröcken eingenäht gefunden wird, gibt einen Hinweis auf ihre Herkunft. Der britische Diplomat Sir Edward Stone Leigh rettet die Kleine aus tödlicher Gefahr und nimmt sie mit nach England. Dort wächst Lydia behütet auf - doch als sie älter wird, wächst in ihr der Wunsch, mehr über ihre Familie zu erfahren. Da taucht eines Tages der charmante Nikolai Andropow auf, der sie einlädt, ihn auf einer Reise nach Russland zu begleiten. Doch am Horizont der Geschichte ziehen schon wieder dunkle Wolken auf...
"Eine zauberhafte Geschichte!" Judith Lennox
Sie kennt ihren Geburtstag nicht, weiß nicht, woher sie kommt. Die vierjährige Lydia Kirilow hat in den Wirren der Oktoberrevolution ihre Familie verloren. Nur der Diamant, der in ihren Unterröcken eingenäht gefunden wird, gibt einen Hinweis auf ihre Herkunft. Der britische Diplomat Sir Edward Stone Leigh rettet die Kleine aus tödlicher Gefahr und nimmt sie mit nach England. Dort wächst Lydia behütet auf - doch als sie älter wird, wächst in ihr der Wunsch, mehr über ihre Familie zu erfahren. Da taucht eines Tages der charmante Nikolai Andropow auf, der sie einlädt, ihn auf einer Reise nach Russland zu begleiten. Doch am Horizont der Geschichte ziehen schon wieder dunkle Wolken auf...
"Eine zauberhafte Geschichte!" Judith Lennox
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Der Stern der Kirilows von Mary NicholsFlucht aus Russland 1920-1930
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1 November 1920
Gräfin Anna Jurjewna Kirilowa weinte. Michail, seit dreizehn Jahren ihr geliebter Gatte, schickte sie fort, und das konnte sie nicht ertragen. Sie weinte so heftig, dass es ihr nicht gelang, die Nadel einzufädeln. Sie weinte um das komfortable Leben, das ihr genommen worden war, um ihren Ehemann und ihre Kinder, um ihr einst so elegantes Zuhause, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft, um Russland. Die zierliche Frau Mitte dreißig war von einer zerbrechlichen Schönheit, die der Härte des neuen Regimes nicht standhalten würde, wie ihr Mann befürchtete; naiv und weltfremd, war sie von der Obhut ihres Vaters in die Obhut ihres Gatten übergegangen und hatte bis zur Revolution weder Mangel noch Furcht gekannt, hatte niemals einen Finger krümmen müssen, nicht einmal, um sich anzukleiden. Jetzt existierte nur noch Furcht. »Lass uns hierbleiben, Mischa«, flehte sie zum hundertsten Mal. »Hier wird uns nichts zustoßen. Uns wird doch gewiss niemand belästigen? Wir haben bereits unser Palais in St. Petersburg aufgegeben, ist das denn nicht genug?« Sie hatte vergessen, oder weigerte sich anzuerkennen, dass die Stadt inzwischen Petrograd genannt wurde. Im Frühjahr 1918 waren sie bei Nacht und Nebel geflohen, als offensichtlich wurde, dass das alte Regime dem Untergang geweiht war, dass sich die Soldaten und Matrosen, die den Aufstand niederwerfen sollten, den Revolutionären angeschlossen hatten. Der Zar, der sich auf dem Rückweg vom militärischen Hauptquartier befunden hatte, angeblich um die Situation unter Kontrolle zu bringen, war an der Weiterfahrt gehindert und verhaftet worden. Chaos war ausgebrochen: Menschen wurden erschossen, nur weil sie gewagt hatten, gegen die Gewalt zu protestieren, andere wollten die Stadt mit Karren voll persönlicher Habe verlassen, wurden angehalten und zurückgeschickt. Ein Großteil verlegte sich aufs Plündern, hauptsächlich von Möbeln, die zu Feuerholz zerhackt werden konnten. Da Michail noch Schlimmeres befürchtete, hatte er seine kleine Familie in ihre Datscha nahe der kleinen Stadt Petrowsk in den Vorbergen der Ukraine gebracht. Er erinnerte sich noch an die Ausflüge, die er als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern von dort aus ans Schwarze Meer gemacht hatte, um zu picknicken, zu baden und die Wärme zu genießen, an Ponyritte und Spaziergänge im Wald, an das Schwimmen im See, ans Jagen und Angeln, an Traubenernten auf den sonnigen Hängen, an die Feigen, die direkt vom Baum gegessen wurden. Falls sich damals jemand Gedanken um die Zukunft gemacht hatte, war das nicht bis zu ihm, dem kleinen Jungen, durchgedrungen. Nachdem er 1907 geheiratet hatte, war er jedes Jahr mit seiner Frau hierhergekommen, um den Sommer mit seiner verwitweten Mutter in der Datscha zu verbringen, und nach Andrejs Geburt wurde auch sein kleiner Sohn Teil des jährlichen Exodus, zusammen mit seinen Kindermädchen, Michails Leibdiener und Annas Zofe. Der Weltkrieg, der fast die gesamte zivilisierte Welt in Mitleidenschaft zog, hatte dem ein Ende bereitet; Michail war in die Armee eingetreten, und es gab keine Reisen in die Ukraine mehr. Andrej besaß vage Erinnerungen an die sorglosen Ferien, aber Lydia, geboren 1916, war noch nie dort gewesen. Als die Zeit gekommen war, Petrograd zu verlassen, hatte Anna den Kindern von der Villa und dem Anwesen erzählt, hatte alles in rosigen Farben geschildert, daher waren zumindest die Kinder froh gewesen, das matschige Petrograd hinter sich zu lassen, ohne den wahren Grund für ihre Flucht zu ahnen. In früheren Zeiten waren sie luxuriös gereist, mit eigenen Abteilen und Schlafgelegenheiten im Zug, sowie riesigen Gepäckbergen, ohne die sie, wie Michails Mutter schwor, keineswegs auskommen konnten, aber als sie 1918 aus Petrograd flohen, hatten sie sich mit einem überfüllten Güterzug begnügen müssen und nur so viel Gepäck mitnehmen dürfen, wie sie tragen konnten. Ihre Reisegefährten hatten eine seltsame Mischung dargestellt: wohlhabende Kulaken in Pelzmänteln, Börsenmakler in Anzügen und Wildlederschuhen, Ladenbesitzer, die nichts mehr zu verkaufen hatten, ehemalige Dienstboten, Armeedeserteure, abgesetzte Popen, Bauern in bestickten Blusen und Fellstiefeln, zusammengepfercht in einem engen Viehwaggon. Der Zug hatte ständig angehalten, Menschen waren hinuntergesprungen, an den Waggons entlanggelaufen, hatten ängstlich gefragt: »Warum haben wir angehalten?«, hatten versucht, Lebensmittel und Wasser zu kaufen, bevor sie zurückgescheucht wurden und der Zug sich ruckelnd wieder in Bewegung gesetzt hatte. Bei einem sehr langen Aufenthalt in Kiew hatten alle wie auf glühenden Kohlen gesessen, während Papiere überprüft und einige Passagiere von Wachen abgeführt wurden, ohne dass man erfuhr, welcher Vergehen man sie beschuldigte. Noch mehr Menschen hatten sich in die Waggons gedrängt, und nach einer weiteren vierundzwanzigstündigen Verzögerung, in der niemand seinen Platz zu verlassen wagte, es sei denn, um hin und wieder dem Ruf der Natur zu folgen, hatte sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt. Als sie sechsunddreißig Stunden später endlich die Datscha erreichten, waren sie alle erschöpft, zerschlagen und sehr hungrig, da sie ihren geringen Proviant schon zu Anfang der Reise verzehrt hatten in der Annahme, unterwegs mehr kaufen zu können; doch Michail war es nur gelungen, einen halben Laib altbackenes Brot und ein kleines Stück Ziegenkäse zu erwerben. Kirilhor war eine große weiße Villa, Mittelpunkt eines ausgedehnten Anwesens und einst sehr prächtig. Dienstboten hatten sich um die Villa gekümmert, hatten die Böden geschrubbt, die schweren Perserteppiche ausgeklopft, die Möbel poliert und köstliche Mahlzeiten zubereitet, doch jetzt war das Haus heruntergekommen und verblichen, die Farbe abgeblättert, die Fenster und viele schöne Möbelstücke zerbrochen. Die Himmelbetten, die eleganten Kleiderschränke und Kommoden, die roten Plüschsofas und Sessel, der Flügel, die Gemälde und Wandbehänge waren fast alle verbrannt oder geplündert worden. Der Garten am Haus war verwildert und überwuchert, der Park ringsum von Bauern beschlagnahmt und unter ihnen aufgeteilt worden. Die Bäume waren gefällt und zu Feuerholz zersägt worden, und dort, wo einst stattliche Pappeln, Linden und Eichen gestanden hatten, wurde jetzt Gemüse angebaut. In der Remise standen noch eine Kutsche und eine Droschki, für welche die Bauern anscheinend keine Verwendung gefunden hatten. Aber ohne Pferde waren beide nutzlos. Michail war froh, dass seine Eltern das alles nicht mehr erlebt hatten. Nichts entsprach dem, was den Kindern in Aussicht gestellt worden war, da Mama es ihnen beschrieben hatte, wie es im Sommer war, nicht im Winter mit den kahlen Bäumen und dem zugefrorenen See. Und das Haus war dreckig - gewiss nicht der kleine Palast, den sie erwartet hatten, mit warmen Feuern in jedem Zimmer. Und wo waren die Dienstboten? Von den zwanzig oder dreißig Bediensteten, die sie vor dem Krieg beschäftigt hatten, waren nur Antonja Stepanowa Ratsina übrig geblieben, Kindermädchen und Gouvernante der Kinder, die sie mitgebracht hatten, sowie Iwan Iwanowitsch, ein Riese von Mann mit dickem schwarzen Haarschopf und Bart, und seine füllige Frau Sima. Die beiden hatten sie willkommen geheißen und zu ihren Ehren ein Huhn geschlachtet, wenngleich sich rasch herausstellte, dass man hier nicht leichter an Lebensmittel herankam als in Petrograd, wo sich jeden Tag lange Schlangen für das wenige Brot gebildet hatten, das zu bekommen war.
Zwei Tage später hatte Michail sie verlassen, um zu seinem Regiment zurückzukehren. Mit Iwans Hilfe hatte Anna nahe beim Haus Gemüse angebaut, um sie zu ernähren, wobei sie wussten, dass sie gemäß der neuen Gesetze, die aus der Hauptstadt zu ihnen durchsickerten, nicht mehr das Recht dazu hatten. Alles, was sie nicht selbst verzehrten, gehörte dem Staat und musste abgegeben werden, aber da sich das Gebiet in den Händen von Konterrevolutionären befand, setzte niemand diese Gesetze durch, und sie tauschten ihren Überschuss gegen andere Dinge ein, die sie brauchten, wie jeder es tat. Iwan war es gelungen, ein abgemagertes Pferd aufzutreiben, damit er Andrej in der Droschki zur Schule fahren konnte. Lydia war noch nicht alt genug für die Schule. Das hatte nichts mit dem angenehmen Leben zu tun, das Anna gewohnt war, aber sie hatte sich als findiger und belastbarer erwiesen, als ihr Gatte erwartet hatte, und sie hatten eine Art Rhythmus im Einklang mit den Jahreszeiten gefunden. Als Oberst der Weißen Armee war Michail nach Hause gekommen, wann immer er konnte, doch in den letzten achtzehn Monaten war das nur zwei Mal und jeweils nur für ein paar Tage der Fall gewesen. Das machte die nachfolgenden Abschiede um so schwieriger. Er hatte erwogen, bei seiner Familie zu bleiben, konnte sich aber nicht überwinden, zu desertieren, wie so viele andere. Ihn verlangte es ebenso nach seiner Frau, wie es sie nach ihm verlangte, und jene wenigen gemeinsamen Tage waren von herzzerreißender Schmerzlichkeit, doch er war, loyal bis zuletzt, zu seinen militärischen Pflichten zurückgekehrt. Nun fand selbst das ein Ende. Die unter der Provisorischen Regierung gebildete Verfassunggebende Versammlung war gestürzt worden, und es kam zum Bürgerkrieg, die Rote Armee gegen die Weiße, ein Krieg ohne Grenzen, in dem sich Freund gegen Freund stellte, der Bruder die Waffe gegen den Bruder erhob, der Dienstbote gegen seinen Herrn kämpfte und der Feind unsichtbar und doch überall war. Die Roten waren entschlossen, Privilegien und Macht der Aristokratie abzuschaffen, und die Weißen waren ebenso entschlossen, daran festzuhalten. Und zwischen allen standen die Grünen, die zu keiner Seite gehörten und nur bestrebt waren, die jeweils vorherrschende Situation zum eigenen Vorteil zu nutzen. Es war chaotisch und, mehr noch, gefährlich anarchisch. Michail hatte das Gefühl, sie wären vom Regen in eine bodenlose Traufe gekommen. »Die Kämpfe kommen ständig näher«, sagte er zu Anna. Michail war ein groß gewachsener Mann mit kräftigen, dunklen Gesichtszügen und einem gepflegten Bart. Zu aufgewühlt, um still zu stehen, lief er im Raum auf und ab, vom Fenster zur Tür und zurück, gefährlich nahe an dem Tisch vorbei, an dem Anna im Licht einer schwachen Petroleumlampe nähte. Petroleum war knapp, daher wagte er nicht, ihr mehr Licht zu erlauben. Sie hatten sich in einen Raum im hinteren Teil des Hauses zurückgezogen, dessen Fester auf den Wald hinausgingen, nicht auf die Straße zum Ort, und sie hatten die schweren Vorhänge fest zugezogen, damit kein Lichtschimmer sie verriet. »Und wenn die Roten uns finden ...« Er hielt inne, nicht bereit, es in Worte zu fassen, aber sie wusste, was er meinte. Michail war ein entfernter Verwandter der Romanows, und er befürchtete, sie könnten dasselbe Schicksal erleiden wie Zar Nikolaus. Offiziell wurde der Zar zu seiner eigenen Sicherheit festgehalten, aber Gerüchten zufolge war er von den Bolschewiki hingerichtet worden, sogar ohne Gerichtsverfahren, obwohl sich Anna nicht vorstellen konnte, wie es sich rechtfertigen ließ, einen Herrscher von Gottes Gnaden vor Gericht zu stellen. »Ich will nicht riskieren, dass dir und den Kindern so etwas zustößt«, sagte er und schaute auf den Boden, wo zwei Paar Beine unter der Tischdecke hervorlugten, eines in Knickerbockern, das andere in mit Spitzenrüschen besetzten Pantoletten. Andrej und Lydia flüsterten miteinander, waren in ein geheimes Spiel vertieft, dessen Regeln nur sie verstanden. »Aber warum sollten sie uns etwas antun?«, fragte seine Frau. »Wir haben nichts Unrechtes getan, kein Gesetz gebrochen, außer den Garten zu stehlen, der ja immer uns gehört hat und den sonst keiner will. Und du hast Russland während des gesamten Krieges und seither immer treu als Soldat gedient. « »Ich habe Russland gedient, aber ich habe auch dem Zaren gedient, Annuschka«, erwiderte er geduldig und mit ruhiger Stimme, damit sie es verstand und er sie nicht noch mehr verängstigte. »Nach Meinung der Bolschewiki ist beides nicht vereinbar. « Ihr hätte das alles nichts ausgemacht, wenn er nur mitkommen würde; mit ihm an ihrer Seite konnte sie allem ins Auge sehen, aber nein, er musste ja für die Weiße Armee zur Waffe greifen - als hätte die auch nur die geringste Chance, zu gewinnen! Selbst Pjotr Wrangel, der die Weiße Armee befehligte, riet doch den Menschen, das Land zu verlassen, solange sie es noch konnten. »Mischa«, beschwor sie ihn, während sie vergeblich mit dem Faden auf das Nadelöhr zielte, »wenn wir schon gehen müssen, dann komm mit uns. Auf einen einzelnen Mann kann es doch wohl nicht ankommen, oder? Bei dem allgemeinen Durcheinander wird man dich nicht mal vermissen. « »Das wäre Fahnenflucht, Annuschka. Ich kann den Namen Kirilow nicht mit einer so schmachvollen Tat entehren. Ich habe um Urlaub gebeten, um euch bei der Flucht zu helfen, aber mehr war nicht möglich, nur ein paar Tage Urlaub.« Anna machte einen weiteren Versuch, den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen, dann wurde sie erneut von Tränen überwältigt. Er nahm ihr Nadel ab, beugte sich über die Lampe, um für sie einzufädeln, und gab sie ihr zurück. Dann setzte er sich, griff nach einem Schmuckstück aus der mit Samt ausgeschlagenen Schatulle auf dem Tisch und begann systematisch, mit einer Drahtzange Edelsteine aus silbernen und goldenen Fassungen zu brechen. »Muss das wirklich sein?«, fragte sie und unterdrückte ein weiteres Schluchzen. Michail war unerbittlich, und Tränen rührten ihn nicht. »Das muss doch ihren Wert vermindern.« »Liebling, Stücke wie diese haben unter den jetzigen Voraussetzungen keinen Wert, höchstens als Tauschobjekt, und momentan sind sie als Zahlungsmittel mehr wert als das neue Papiergeld. Sogar als der Rubel. Du wirst dich nach und nach von ihnen trennen müssen, für Reisepapiere und Lebensmittel. Und den Rest wirst du verkaufen müssen, um euch in England über Wasser zu halten, bis ich wieder bei euch bin.« Sie seufzte, griff nach einem Rubin und nähte ihn sorgfältig in das Mieder ein, das sie auf dem Schoß hielt. Danach folgte ein weiterer, dann ein Smaragd und ein Diamant. »Ihr Gewicht wird mich niederdrücken.« Sie versuchte ein Lachen, das ihm schier das Herz zerriss. »Näh auch welche in die Kleidung der Kinder ein. Lydia, Schätzchen, lauf und hol deinen besten Unterrock, den seidenen mit den Spitzen am Saum. Und bring auch Andrejs beste Bluse mit.« Lydia krabbelte unter dem Tisch hervor, gefolgt von ihrem Bruder. Aus ihrem Haar hatten sich die Schleifen gelöst, und Andrejs Strümpfe waren bis auf die Knöchel gerutscht. Beide betrachteten ihre Eltern einen Moment lang, dann fragte Lydia: »Warum machst du die Kette kaputt, Papa? Magst du sie nicht mehr leiden?« »Nein, ich glaube nicht«, erwiderte er und machte sich mit der Zange über eine unschätzbare Antiquität her, die seit Generationen im Besitz der Kirilow-Familie war. »Wir müssen die Stücke nur vor Dieben verstecken, darum näht Mama sie in eure Kleidung ein.« »Warum? Machen wir eine Reise?«, fragte Andrej, als Lydia verschwunden war, mit einem Kerzenstummel in der Hand, den ihr Vater für sie angezündet hatte. »Ja, eine sehr lange Reise«, antwortete sein Vater. »Über das Meer nach England.« »England!«, rief der Junge aus. »Ich hab es in meinen Atlas gesehen. Das ist auf der anderen Seite der Welt. Warum fahren wir dort hin?« Er sah seinem Vater so ähnlich, vor allem seine dunklen, intelligenten Augen; bei seinem Anblick tat Anna das Herz weh, und sie wollte wieder weinen. »Um in Sicherheit zu sein«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Bis diese schrecklichen Kämpfe beendet sind und wir wieder nach Hause kommen können.« »Ich will kämpfen wie Papa. Ich kann schießen, das weißt du. Hab ich nicht neulich den Hasen erlegt?« »Hast du, mein Sohn«, bestätigte sein Vater. »Und er hat uns allen wirklich gut geschmeckt, aber Hasen zu schießen ist nicht dasselbe, wie auf Menschen zu schießen, und ich bete zu Gott, dass du es nie tun musst.« »Aber du tust es.« »Ich bin ein Mann und ein Soldat, das ist etwas anderes. Ich mache es nicht gern.« Er wandte sich um, als Tonja, mit dem Unterrock und der Bluse in der Hand, zusammen mit Lydia ins Zimmer kam. Tonja war eine kugelrunde Frau gewesen, fast so breit wie hoch, doch seit dem Krieg war das Fett von ihr abgeschmolzen und hatte überflüssige Hautfalten hinterlassen. »Ah, Tonja, gut, dass du kommst«, sagte er. »Ich will dir von unseren Plänen erzählen, und wenn du irgendwelche Vorschläge zu machen hast, werde ich sie mir anhören.« Die Gräfin, nun ein bisschen ruhiger, nähte weitere Edelsteine in die Kleidung ein, während er seine Pläne erläuterte. »Ich werde die Gräfin und die Kinder nach Jalta bringen, wo sie ein Schiff nach Konstantinopel besteigen und von dort aus nach England fahren werden.« Er lächelte, als sie erschrocken nach Luft schnappte. »Du kannst mit ihnen fahren oder nicht, ganz wie du willst. Ich werde nicht darauf bestehen.« »Aber Euer Exzellenz.« Sie verwendete die alte Anrede und vergaß ganz, dass sie die nicht mehr benutzen durfte und ihn als Michail Michailowitsch hätte ansprechen sollen. »Wo wollte ich denn schon sein, außer bei meinen Kleinen? Und die Gräfin braucht mich.« »Oh, ich danke dir, Tonja«, warf Anna ein. »Ich glaube nicht, dass ich es ohne dich ertragen könnte.« »Aber wie kommen wir von hier fort?«, fragte die Dienerin. »Bestimmt wird uns jemand sehen und es der Miliz erzählen.« »Wir müssen getrennt fahren und in unterschiedliche Richtungen. Die Gräfin und ich werden die Kutsche nehmen und meinen Vetter Grigorij Stefanowitsch besuchen. Er ist Vorsitzender des Arbeiterkomitees des Petrowsker Sowjet, und ein Besuch bei ihm dürfte nicht als etwas Ungewöhnliches angesehen werden. Du nimmst die Kinder in der Droschki mit, als würdest du Andrej zur Schule bringen, wirst ihn aber nicht dort abliefern, sondern weiter nach Simferopol fahren. Dort treffen wir uns mit euch und fahren zusammen nach Jalta.« Er hatte erwogen, sie mit dem Zug zu schicken, aber die hauptsächlich aus Viehwaggons bestehenden Züge waren überfüllt mit Flüchtlingen aus nördlicheren Regionen, und sie hätten niemals einen Platz bekommen, ganz zu schweigen von den erforderlichen Papieren, die ihnen das Reisen erlaubten. »Meine Eltern leben in der Nähe von Simferopol«, warf Tonja ein. »Sie erinnern sich, Stepan und Marja Ratsin? Sie kamen zu Besuch nach Kirilhor. Das ist Jahre her, noch vor dem Krieg. Wir können die Kinder zu ihnen bringen und dort auf Sie warten.« »Vielen Dank, Tonja, wenn du meinst, dass sie damit einverstanden sind. Es ist ja nur für ein paar Stunden, bis die Gräfin und ich eintreffen.« »Natürlich werden sie einverstanden sein. Die Roten sind doch noch nicht so weit vorgedrungen, oder?« »Nein, die Krim ist noch in der Hand der Weißen.« Er zuckte mit den breiten Schultern. »Aber wie lange noch, kann ich nicht sagen.« »Dann wäre es besser, so bald wie möglich aufzubrechen.« »Morgen«, sagte er. »Woher bekommen wir die zusätzlichen Pferde?«, wollte Andrej plötzlich wissen. »Wir haben nur die alte Tascha, und die ist nichts als ein Haufen Knochen.« Michail lächelte seinen Sohn an, doch es wirkte eher gezwungen. »Ich habe dafür gesorgt, dass uns der Bahnhofsvorsteher eines leiht.« »Du meinst doch bestimmt nicht eines der großen Zugpferde, die sie zum Rangieren der Waggons benutzen?« »Doch, was anderes war nicht zu bekommen, und ich musste Josef Liberow selbst dafür mit dem weißen Pelzmantel deiner Mutter bestechen. Iwan wird das Tier zurückbringen, sobald ihr in Sicherheit seid.« Dann, an Anna gewandt, die eifrig weiter genäht und ihre Finger in Bewegung gehalten hatte, um nicht über das Gesagte nachdenken zu müssen: »Bist du so weit fertig, Annuschka?« »Nur noch der große Diamant ist übrig. Du hast ihn noch nicht aus der Fassung gebrochen.« Sie hielt das Schmuckstück hoch, das in Form eines Sterns in Silberfiligran gefasst war. Der Diamant in der Mitte war sehr groß und glitzerte im Lampenlicht. Hochwertige, blutrote Rubine reihten sich in der Mitte jeder Zacke aneinander, und an den Spitzen saß jeweils ein kleinerer Diamant. »Er lässt sich nicht herausbrechen. Wir müssen ihn lassen, wie er ist. Kannst du ihn in Lydias Unterrock einnähen?« »Ich werde es versuchen.« Sie griff nach der Nadel und dem Kleidungsstück, das Tonja gebracht hatte, und machte sich daran, den Stern zwischen den Rüschen zu verbergen. »Am besten zieht sie den Unterrock an, sonst findet man ihn am Ende in unserem Gepäck, falls das durchsucht wird.« »Wir können kein Gepäck mitnehmen, meine Liebste; vergiss nicht, wir machen ja angeblich nur einen Tagesausflug. Wir können zwei Reisetaschen unter die Sitze jeder Kutsche schieben, aber mehr nicht. Zieh alles an, was du kannst. Du wirst es ohnehin brauchen, denn es ist bitterkalt.« »Warum machst du das, Mama?«, fragte Lydia, als sie sah, dass ihre Mutter das Schmuckstück in eine verborgene Tasche steckte, die sie in die Naht zwischen dem Stoff des Unterrocks und den Rüschen eingefügt hatte. »Wir müssen ihn verstecken, Schätzchen. Der Stern ist sehr wertvoll, und böse Männer könnten versuchen, ihn uns wegzunehmen, wenn sie wüssten, dass wir ihn haben. Er wird der Kirilow-Stern genannt. Wusstest du das?« »Nein. Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.« »Hast du wohl auch nicht. Ich habe ihn seit Langem nicht mehr getragen. Gelegenheiten, etwas so Prächtiges zur Schau zu stellen, gibt es längst nicht mehr. Ich weiß nicht, ob solche Zeiten je wiederkehren werden. Aber du musst gut darauf aufpassen und ihn niemandem zeigen.« »Mach ich bestimmt nicht.« Michail setzte sich und zog seine Tochter auf die Knie. »Du bist mein Diamant, meine Kleine, der Stern der Kirilows, und das darfst du nie vergessen. Versprich deinem Papa, brav zu sein und Andrej zu helfen, sich um deine Mutter zu kümmern.« Lydia rieb ihre Wange an seiner Bluse. Er hatte seine wunderschöne scharlachrote und blaue Uniform mit den Goldlitzen gegen eine schlichte Bluse und einen breiten Ledergürtel getauscht, wie sie besser gestellte Bauern trugen. Der Stoff war rau, aber seltsam tröstlich. »Kommst du nicht mit uns, Papa?« »Nicht sofort. Ich stoße später zu euch.« Er küsste sie auf den Scheitel und hob sie von seinen Knien. »Jetzt lauf mit Tonja und macht dich bettfertig. Du auch, Andrej. Wir müssen morgen sehr früh aufstehen.« Anna küsste ihre Tochter, umarmte ihren Sohn und brach erst, als die Kinder mit ihrer Gouvernante gegangen waren, wieder in Tränen aus. »Was wird aus uns werden, Mischa? Werden wir für immer getrennt sein?« »Nein, natürlich nicht.« Er kniete sich neben ihren Stuhl und nahm ihre Hände in die seinen. »So darfst du nicht denken, meine Liebste. Sobald ich kann, werde ich zu euch kommen. Es wird nur ein paar Wochen dauern, wenn überhaupt.
Niemand unter den Weißen glaubt, dass dieser Krieg zu gewinnen ist oder dass es wieder so werden kann wie früher. Dazu ist zu viel passiert. Wenn General Wrangel geht, dann gehe ich auch, das verspreche ich dir.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die tränenfeuchte Wange. »Jetzt trockne dir die Augen und komm zu Bett. Morgen wird alles viel rosiger aussehen, und du wirst dich auf dein neues Leben freuen können. Du musst es den Kindern zuliebe tun, musst ihnen zeigen, was für ein großes Abenteuer das sein wird.« Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Ich werde es versuchen. « Der nächste Tag jedoch ließ sich kaum als rosig beschreiben, denn es schneite. Dicke weiße Flocken stoben herab, wirbelten ein wenig im Wind, bevor sie sich auf Bäumen und Dächern und schließlich auf der am Haus vorbeiführenden Straße niederließen. Kurz wurde erwogen, die Reise zu verschieben, aber Iwan meinte, es würde noch schlimmer werden, bevor sich das Wetter wieder besserte, und wenn sie überhaupt fort wollten, dann lieber jetzt, sonst wäre der Schnee zu tief für die Droschki. Außerdem hatte er in der Nacht Geschützfeuer gehört. Zwar noch in einiger Entfernung, doch das verhieß nichts Gutes. Er hatte seine Familie angewiesen, Lebensmittel und warme Kleidung mit in den Keller zu nehmen und dort Schutz zu suchen, falls die Kämpfe Petrowsk erreichten. Er stand neben der Kutsche, vor die das alte Pferd gespannt war, während die weißen Flocken auf ihren Schultern landeten und ihre Pelzmützen schmückten. Das Fahrzeug war uralt und hatte ein weiches, faltbares Verdeck, das Iwan nach vorne gezogen hatte und das bereits mit Schneeflocken gesprenkelt war.
Übersetzung: Susanne Aeckerle
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Mary Nichols Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
1 November 1920
Gräfin Anna Jurjewna Kirilowa weinte. Michail, seit dreizehn Jahren ihr geliebter Gatte, schickte sie fort, und das konnte sie nicht ertragen. Sie weinte so heftig, dass es ihr nicht gelang, die Nadel einzufädeln. Sie weinte um das komfortable Leben, das ihr genommen worden war, um ihren Ehemann und ihre Kinder, um ihr einst so elegantes Zuhause, aus Angst vor einer ungewissen Zukunft, um Russland. Die zierliche Frau Mitte dreißig war von einer zerbrechlichen Schönheit, die der Härte des neuen Regimes nicht standhalten würde, wie ihr Mann befürchtete; naiv und weltfremd, war sie von der Obhut ihres Vaters in die Obhut ihres Gatten übergegangen und hatte bis zur Revolution weder Mangel noch Furcht gekannt, hatte niemals einen Finger krümmen müssen, nicht einmal, um sich anzukleiden. Jetzt existierte nur noch Furcht. »Lass uns hierbleiben, Mischa«, flehte sie zum hundertsten Mal. »Hier wird uns nichts zustoßen. Uns wird doch gewiss niemand belästigen? Wir haben bereits unser Palais in St. Petersburg aufgegeben, ist das denn nicht genug?« Sie hatte vergessen, oder weigerte sich anzuerkennen, dass die Stadt inzwischen Petrograd genannt wurde. Im Frühjahr 1918 waren sie bei Nacht und Nebel geflohen, als offensichtlich wurde, dass das alte Regime dem Untergang geweiht war, dass sich die Soldaten und Matrosen, die den Aufstand niederwerfen sollten, den Revolutionären angeschlossen hatten. Der Zar, der sich auf dem Rückweg vom militärischen Hauptquartier befunden hatte, angeblich um die Situation unter Kontrolle zu bringen, war an der Weiterfahrt gehindert und verhaftet worden. Chaos war ausgebrochen: Menschen wurden erschossen, nur weil sie gewagt hatten, gegen die Gewalt zu protestieren, andere wollten die Stadt mit Karren voll persönlicher Habe verlassen, wurden angehalten und zurückgeschickt. Ein Großteil verlegte sich aufs Plündern, hauptsächlich von Möbeln, die zu Feuerholz zerhackt werden konnten. Da Michail noch Schlimmeres befürchtete, hatte er seine kleine Familie in ihre Datscha nahe der kleinen Stadt Petrowsk in den Vorbergen der Ukraine gebracht. Er erinnerte sich noch an die Ausflüge, die er als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern von dort aus ans Schwarze Meer gemacht hatte, um zu picknicken, zu baden und die Wärme zu genießen, an Ponyritte und Spaziergänge im Wald, an das Schwimmen im See, ans Jagen und Angeln, an Traubenernten auf den sonnigen Hängen, an die Feigen, die direkt vom Baum gegessen wurden. Falls sich damals jemand Gedanken um die Zukunft gemacht hatte, war das nicht bis zu ihm, dem kleinen Jungen, durchgedrungen. Nachdem er 1907 geheiratet hatte, war er jedes Jahr mit seiner Frau hierhergekommen, um den Sommer mit seiner verwitweten Mutter in der Datscha zu verbringen, und nach Andrejs Geburt wurde auch sein kleiner Sohn Teil des jährlichen Exodus, zusammen mit seinen Kindermädchen, Michails Leibdiener und Annas Zofe. Der Weltkrieg, der fast die gesamte zivilisierte Welt in Mitleidenschaft zog, hatte dem ein Ende bereitet; Michail war in die Armee eingetreten, und es gab keine Reisen in die Ukraine mehr. Andrej besaß vage Erinnerungen an die sorglosen Ferien, aber Lydia, geboren 1916, war noch nie dort gewesen. Als die Zeit gekommen war, Petrograd zu verlassen, hatte Anna den Kindern von der Villa und dem Anwesen erzählt, hatte alles in rosigen Farben geschildert, daher waren zumindest die Kinder froh gewesen, das matschige Petrograd hinter sich zu lassen, ohne den wahren Grund für ihre Flucht zu ahnen. In früheren Zeiten waren sie luxuriös gereist, mit eigenen Abteilen und Schlafgelegenheiten im Zug, sowie riesigen Gepäckbergen, ohne die sie, wie Michails Mutter schwor, keineswegs auskommen konnten, aber als sie 1918 aus Petrograd flohen, hatten sie sich mit einem überfüllten Güterzug begnügen müssen und nur so viel Gepäck mitnehmen dürfen, wie sie tragen konnten. Ihre Reisegefährten hatten eine seltsame Mischung dargestellt: wohlhabende Kulaken in Pelzmänteln, Börsenmakler in Anzügen und Wildlederschuhen, Ladenbesitzer, die nichts mehr zu verkaufen hatten, ehemalige Dienstboten, Armeedeserteure, abgesetzte Popen, Bauern in bestickten Blusen und Fellstiefeln, zusammengepfercht in einem engen Viehwaggon. Der Zug hatte ständig angehalten, Menschen waren hinuntergesprungen, an den Waggons entlanggelaufen, hatten ängstlich gefragt: »Warum haben wir angehalten?«, hatten versucht, Lebensmittel und Wasser zu kaufen, bevor sie zurückgescheucht wurden und der Zug sich ruckelnd wieder in Bewegung gesetzt hatte. Bei einem sehr langen Aufenthalt in Kiew hatten alle wie auf glühenden Kohlen gesessen, während Papiere überprüft und einige Passagiere von Wachen abgeführt wurden, ohne dass man erfuhr, welcher Vergehen man sie beschuldigte. Noch mehr Menschen hatten sich in die Waggons gedrängt, und nach einer weiteren vierundzwanzigstündigen Verzögerung, in der niemand seinen Platz zu verlassen wagte, es sei denn, um hin und wieder dem Ruf der Natur zu folgen, hatte sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt. Als sie sechsunddreißig Stunden später endlich die Datscha erreichten, waren sie alle erschöpft, zerschlagen und sehr hungrig, da sie ihren geringen Proviant schon zu Anfang der Reise verzehrt hatten in der Annahme, unterwegs mehr kaufen zu können; doch Michail war es nur gelungen, einen halben Laib altbackenes Brot und ein kleines Stück Ziegenkäse zu erwerben. Kirilhor war eine große weiße Villa, Mittelpunkt eines ausgedehnten Anwesens und einst sehr prächtig. Dienstboten hatten sich um die Villa gekümmert, hatten die Böden geschrubbt, die schweren Perserteppiche ausgeklopft, die Möbel poliert und köstliche Mahlzeiten zubereitet, doch jetzt war das Haus heruntergekommen und verblichen, die Farbe abgeblättert, die Fenster und viele schöne Möbelstücke zerbrochen. Die Himmelbetten, die eleganten Kleiderschränke und Kommoden, die roten Plüschsofas und Sessel, der Flügel, die Gemälde und Wandbehänge waren fast alle verbrannt oder geplündert worden. Der Garten am Haus war verwildert und überwuchert, der Park ringsum von Bauern beschlagnahmt und unter ihnen aufgeteilt worden. Die Bäume waren gefällt und zu Feuerholz zersägt worden, und dort, wo einst stattliche Pappeln, Linden und Eichen gestanden hatten, wurde jetzt Gemüse angebaut. In der Remise standen noch eine Kutsche und eine Droschki, für welche die Bauern anscheinend keine Verwendung gefunden hatten. Aber ohne Pferde waren beide nutzlos. Michail war froh, dass seine Eltern das alles nicht mehr erlebt hatten. Nichts entsprach dem, was den Kindern in Aussicht gestellt worden war, da Mama es ihnen beschrieben hatte, wie es im Sommer war, nicht im Winter mit den kahlen Bäumen und dem zugefrorenen See. Und das Haus war dreckig - gewiss nicht der kleine Palast, den sie erwartet hatten, mit warmen Feuern in jedem Zimmer. Und wo waren die Dienstboten? Von den zwanzig oder dreißig Bediensteten, die sie vor dem Krieg beschäftigt hatten, waren nur Antonja Stepanowa Ratsina übrig geblieben, Kindermädchen und Gouvernante der Kinder, die sie mitgebracht hatten, sowie Iwan Iwanowitsch, ein Riese von Mann mit dickem schwarzen Haarschopf und Bart, und seine füllige Frau Sima. Die beiden hatten sie willkommen geheißen und zu ihren Ehren ein Huhn geschlachtet, wenngleich sich rasch herausstellte, dass man hier nicht leichter an Lebensmittel herankam als in Petrograd, wo sich jeden Tag lange Schlangen für das wenige Brot gebildet hatten, das zu bekommen war.
Zwei Tage später hatte Michail sie verlassen, um zu seinem Regiment zurückzukehren. Mit Iwans Hilfe hatte Anna nahe beim Haus Gemüse angebaut, um sie zu ernähren, wobei sie wussten, dass sie gemäß der neuen Gesetze, die aus der Hauptstadt zu ihnen durchsickerten, nicht mehr das Recht dazu hatten. Alles, was sie nicht selbst verzehrten, gehörte dem Staat und musste abgegeben werden, aber da sich das Gebiet in den Händen von Konterrevolutionären befand, setzte niemand diese Gesetze durch, und sie tauschten ihren Überschuss gegen andere Dinge ein, die sie brauchten, wie jeder es tat. Iwan war es gelungen, ein abgemagertes Pferd aufzutreiben, damit er Andrej in der Droschki zur Schule fahren konnte. Lydia war noch nicht alt genug für die Schule. Das hatte nichts mit dem angenehmen Leben zu tun, das Anna gewohnt war, aber sie hatte sich als findiger und belastbarer erwiesen, als ihr Gatte erwartet hatte, und sie hatten eine Art Rhythmus im Einklang mit den Jahreszeiten gefunden. Als Oberst der Weißen Armee war Michail nach Hause gekommen, wann immer er konnte, doch in den letzten achtzehn Monaten war das nur zwei Mal und jeweils nur für ein paar Tage der Fall gewesen. Das machte die nachfolgenden Abschiede um so schwieriger. Er hatte erwogen, bei seiner Familie zu bleiben, konnte sich aber nicht überwinden, zu desertieren, wie so viele andere. Ihn verlangte es ebenso nach seiner Frau, wie es sie nach ihm verlangte, und jene wenigen gemeinsamen Tage waren von herzzerreißender Schmerzlichkeit, doch er war, loyal bis zuletzt, zu seinen militärischen Pflichten zurückgekehrt. Nun fand selbst das ein Ende. Die unter der Provisorischen Regierung gebildete Verfassunggebende Versammlung war gestürzt worden, und es kam zum Bürgerkrieg, die Rote Armee gegen die Weiße, ein Krieg ohne Grenzen, in dem sich Freund gegen Freund stellte, der Bruder die Waffe gegen den Bruder erhob, der Dienstbote gegen seinen Herrn kämpfte und der Feind unsichtbar und doch überall war. Die Roten waren entschlossen, Privilegien und Macht der Aristokratie abzuschaffen, und die Weißen waren ebenso entschlossen, daran festzuhalten. Und zwischen allen standen die Grünen, die zu keiner Seite gehörten und nur bestrebt waren, die jeweils vorherrschende Situation zum eigenen Vorteil zu nutzen. Es war chaotisch und, mehr noch, gefährlich anarchisch. Michail hatte das Gefühl, sie wären vom Regen in eine bodenlose Traufe gekommen. »Die Kämpfe kommen ständig näher«, sagte er zu Anna. Michail war ein groß gewachsener Mann mit kräftigen, dunklen Gesichtszügen und einem gepflegten Bart. Zu aufgewühlt, um still zu stehen, lief er im Raum auf und ab, vom Fenster zur Tür und zurück, gefährlich nahe an dem Tisch vorbei, an dem Anna im Licht einer schwachen Petroleumlampe nähte. Petroleum war knapp, daher wagte er nicht, ihr mehr Licht zu erlauben. Sie hatten sich in einen Raum im hinteren Teil des Hauses zurückgezogen, dessen Fester auf den Wald hinausgingen, nicht auf die Straße zum Ort, und sie hatten die schweren Vorhänge fest zugezogen, damit kein Lichtschimmer sie verriet. »Und wenn die Roten uns finden ...« Er hielt inne, nicht bereit, es in Worte zu fassen, aber sie wusste, was er meinte. Michail war ein entfernter Verwandter der Romanows, und er befürchtete, sie könnten dasselbe Schicksal erleiden wie Zar Nikolaus. Offiziell wurde der Zar zu seiner eigenen Sicherheit festgehalten, aber Gerüchten zufolge war er von den Bolschewiki hingerichtet worden, sogar ohne Gerichtsverfahren, obwohl sich Anna nicht vorstellen konnte, wie es sich rechtfertigen ließ, einen Herrscher von Gottes Gnaden vor Gericht zu stellen. »Ich will nicht riskieren, dass dir und den Kindern so etwas zustößt«, sagte er und schaute auf den Boden, wo zwei Paar Beine unter der Tischdecke hervorlugten, eines in Knickerbockern, das andere in mit Spitzenrüschen besetzten Pantoletten. Andrej und Lydia flüsterten miteinander, waren in ein geheimes Spiel vertieft, dessen Regeln nur sie verstanden. »Aber warum sollten sie uns etwas antun?«, fragte seine Frau. »Wir haben nichts Unrechtes getan, kein Gesetz gebrochen, außer den Garten zu stehlen, der ja immer uns gehört hat und den sonst keiner will. Und du hast Russland während des gesamten Krieges und seither immer treu als Soldat gedient. « »Ich habe Russland gedient, aber ich habe auch dem Zaren gedient, Annuschka«, erwiderte er geduldig und mit ruhiger Stimme, damit sie es verstand und er sie nicht noch mehr verängstigte. »Nach Meinung der Bolschewiki ist beides nicht vereinbar. « Ihr hätte das alles nichts ausgemacht, wenn er nur mitkommen würde; mit ihm an ihrer Seite konnte sie allem ins Auge sehen, aber nein, er musste ja für die Weiße Armee zur Waffe greifen - als hätte die auch nur die geringste Chance, zu gewinnen! Selbst Pjotr Wrangel, der die Weiße Armee befehligte, riet doch den Menschen, das Land zu verlassen, solange sie es noch konnten. »Mischa«, beschwor sie ihn, während sie vergeblich mit dem Faden auf das Nadelöhr zielte, »wenn wir schon gehen müssen, dann komm mit uns. Auf einen einzelnen Mann kann es doch wohl nicht ankommen, oder? Bei dem allgemeinen Durcheinander wird man dich nicht mal vermissen. « »Das wäre Fahnenflucht, Annuschka. Ich kann den Namen Kirilow nicht mit einer so schmachvollen Tat entehren. Ich habe um Urlaub gebeten, um euch bei der Flucht zu helfen, aber mehr war nicht möglich, nur ein paar Tage Urlaub.« Anna machte einen weiteren Versuch, den Faden durch das Nadelöhr zu ziehen, dann wurde sie erneut von Tränen überwältigt. Er nahm ihr Nadel ab, beugte sich über die Lampe, um für sie einzufädeln, und gab sie ihr zurück. Dann setzte er sich, griff nach einem Schmuckstück aus der mit Samt ausgeschlagenen Schatulle auf dem Tisch und begann systematisch, mit einer Drahtzange Edelsteine aus silbernen und goldenen Fassungen zu brechen. »Muss das wirklich sein?«, fragte sie und unterdrückte ein weiteres Schluchzen. Michail war unerbittlich, und Tränen rührten ihn nicht. »Das muss doch ihren Wert vermindern.« »Liebling, Stücke wie diese haben unter den jetzigen Voraussetzungen keinen Wert, höchstens als Tauschobjekt, und momentan sind sie als Zahlungsmittel mehr wert als das neue Papiergeld. Sogar als der Rubel. Du wirst dich nach und nach von ihnen trennen müssen, für Reisepapiere und Lebensmittel. Und den Rest wirst du verkaufen müssen, um euch in England über Wasser zu halten, bis ich wieder bei euch bin.« Sie seufzte, griff nach einem Rubin und nähte ihn sorgfältig in das Mieder ein, das sie auf dem Schoß hielt. Danach folgte ein weiterer, dann ein Smaragd und ein Diamant. »Ihr Gewicht wird mich niederdrücken.« Sie versuchte ein Lachen, das ihm schier das Herz zerriss. »Näh auch welche in die Kleidung der Kinder ein. Lydia, Schätzchen, lauf und hol deinen besten Unterrock, den seidenen mit den Spitzen am Saum. Und bring auch Andrejs beste Bluse mit.« Lydia krabbelte unter dem Tisch hervor, gefolgt von ihrem Bruder. Aus ihrem Haar hatten sich die Schleifen gelöst, und Andrejs Strümpfe waren bis auf die Knöchel gerutscht. Beide betrachteten ihre Eltern einen Moment lang, dann fragte Lydia: »Warum machst du die Kette kaputt, Papa? Magst du sie nicht mehr leiden?« »Nein, ich glaube nicht«, erwiderte er und machte sich mit der Zange über eine unschätzbare Antiquität her, die seit Generationen im Besitz der Kirilow-Familie war. »Wir müssen die Stücke nur vor Dieben verstecken, darum näht Mama sie in eure Kleidung ein.« »Warum? Machen wir eine Reise?«, fragte Andrej, als Lydia verschwunden war, mit einem Kerzenstummel in der Hand, den ihr Vater für sie angezündet hatte. »Ja, eine sehr lange Reise«, antwortete sein Vater. »Über das Meer nach England.« »England!«, rief der Junge aus. »Ich hab es in meinen Atlas gesehen. Das ist auf der anderen Seite der Welt. Warum fahren wir dort hin?« Er sah seinem Vater so ähnlich, vor allem seine dunklen, intelligenten Augen; bei seinem Anblick tat Anna das Herz weh, und sie wollte wieder weinen. »Um in Sicherheit zu sein«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Bis diese schrecklichen Kämpfe beendet sind und wir wieder nach Hause kommen können.« »Ich will kämpfen wie Papa. Ich kann schießen, das weißt du. Hab ich nicht neulich den Hasen erlegt?« »Hast du, mein Sohn«, bestätigte sein Vater. »Und er hat uns allen wirklich gut geschmeckt, aber Hasen zu schießen ist nicht dasselbe, wie auf Menschen zu schießen, und ich bete zu Gott, dass du es nie tun musst.« »Aber du tust es.« »Ich bin ein Mann und ein Soldat, das ist etwas anderes. Ich mache es nicht gern.« Er wandte sich um, als Tonja, mit dem Unterrock und der Bluse in der Hand, zusammen mit Lydia ins Zimmer kam. Tonja war eine kugelrunde Frau gewesen, fast so breit wie hoch, doch seit dem Krieg war das Fett von ihr abgeschmolzen und hatte überflüssige Hautfalten hinterlassen. »Ah, Tonja, gut, dass du kommst«, sagte er. »Ich will dir von unseren Plänen erzählen, und wenn du irgendwelche Vorschläge zu machen hast, werde ich sie mir anhören.« Die Gräfin, nun ein bisschen ruhiger, nähte weitere Edelsteine in die Kleidung ein, während er seine Pläne erläuterte. »Ich werde die Gräfin und die Kinder nach Jalta bringen, wo sie ein Schiff nach Konstantinopel besteigen und von dort aus nach England fahren werden.« Er lächelte, als sie erschrocken nach Luft schnappte. »Du kannst mit ihnen fahren oder nicht, ganz wie du willst. Ich werde nicht darauf bestehen.« »Aber Euer Exzellenz.« Sie verwendete die alte Anrede und vergaß ganz, dass sie die nicht mehr benutzen durfte und ihn als Michail Michailowitsch hätte ansprechen sollen. »Wo wollte ich denn schon sein, außer bei meinen Kleinen? Und die Gräfin braucht mich.« »Oh, ich danke dir, Tonja«, warf Anna ein. »Ich glaube nicht, dass ich es ohne dich ertragen könnte.« »Aber wie kommen wir von hier fort?«, fragte die Dienerin. »Bestimmt wird uns jemand sehen und es der Miliz erzählen.« »Wir müssen getrennt fahren und in unterschiedliche Richtungen. Die Gräfin und ich werden die Kutsche nehmen und meinen Vetter Grigorij Stefanowitsch besuchen. Er ist Vorsitzender des Arbeiterkomitees des Petrowsker Sowjet, und ein Besuch bei ihm dürfte nicht als etwas Ungewöhnliches angesehen werden. Du nimmst die Kinder in der Droschki mit, als würdest du Andrej zur Schule bringen, wirst ihn aber nicht dort abliefern, sondern weiter nach Simferopol fahren. Dort treffen wir uns mit euch und fahren zusammen nach Jalta.« Er hatte erwogen, sie mit dem Zug zu schicken, aber die hauptsächlich aus Viehwaggons bestehenden Züge waren überfüllt mit Flüchtlingen aus nördlicheren Regionen, und sie hätten niemals einen Platz bekommen, ganz zu schweigen von den erforderlichen Papieren, die ihnen das Reisen erlaubten. »Meine Eltern leben in der Nähe von Simferopol«, warf Tonja ein. »Sie erinnern sich, Stepan und Marja Ratsin? Sie kamen zu Besuch nach Kirilhor. Das ist Jahre her, noch vor dem Krieg. Wir können die Kinder zu ihnen bringen und dort auf Sie warten.« »Vielen Dank, Tonja, wenn du meinst, dass sie damit einverstanden sind. Es ist ja nur für ein paar Stunden, bis die Gräfin und ich eintreffen.« »Natürlich werden sie einverstanden sein. Die Roten sind doch noch nicht so weit vorgedrungen, oder?« »Nein, die Krim ist noch in der Hand der Weißen.« Er zuckte mit den breiten Schultern. »Aber wie lange noch, kann ich nicht sagen.« »Dann wäre es besser, so bald wie möglich aufzubrechen.« »Morgen«, sagte er. »Woher bekommen wir die zusätzlichen Pferde?«, wollte Andrej plötzlich wissen. »Wir haben nur die alte Tascha, und die ist nichts als ein Haufen Knochen.« Michail lächelte seinen Sohn an, doch es wirkte eher gezwungen. »Ich habe dafür gesorgt, dass uns der Bahnhofsvorsteher eines leiht.« »Du meinst doch bestimmt nicht eines der großen Zugpferde, die sie zum Rangieren der Waggons benutzen?« »Doch, was anderes war nicht zu bekommen, und ich musste Josef Liberow selbst dafür mit dem weißen Pelzmantel deiner Mutter bestechen. Iwan wird das Tier zurückbringen, sobald ihr in Sicherheit seid.« Dann, an Anna gewandt, die eifrig weiter genäht und ihre Finger in Bewegung gehalten hatte, um nicht über das Gesagte nachdenken zu müssen: »Bist du so weit fertig, Annuschka?« »Nur noch der große Diamant ist übrig. Du hast ihn noch nicht aus der Fassung gebrochen.« Sie hielt das Schmuckstück hoch, das in Form eines Sterns in Silberfiligran gefasst war. Der Diamant in der Mitte war sehr groß und glitzerte im Lampenlicht. Hochwertige, blutrote Rubine reihten sich in der Mitte jeder Zacke aneinander, und an den Spitzen saß jeweils ein kleinerer Diamant. »Er lässt sich nicht herausbrechen. Wir müssen ihn lassen, wie er ist. Kannst du ihn in Lydias Unterrock einnähen?« »Ich werde es versuchen.« Sie griff nach der Nadel und dem Kleidungsstück, das Tonja gebracht hatte, und machte sich daran, den Stern zwischen den Rüschen zu verbergen. »Am besten zieht sie den Unterrock an, sonst findet man ihn am Ende in unserem Gepäck, falls das durchsucht wird.« »Wir können kein Gepäck mitnehmen, meine Liebste; vergiss nicht, wir machen ja angeblich nur einen Tagesausflug. Wir können zwei Reisetaschen unter die Sitze jeder Kutsche schieben, aber mehr nicht. Zieh alles an, was du kannst. Du wirst es ohnehin brauchen, denn es ist bitterkalt.« »Warum machst du das, Mama?«, fragte Lydia, als sie sah, dass ihre Mutter das Schmuckstück in eine verborgene Tasche steckte, die sie in die Naht zwischen dem Stoff des Unterrocks und den Rüschen eingefügt hatte. »Wir müssen ihn verstecken, Schätzchen. Der Stern ist sehr wertvoll, und böse Männer könnten versuchen, ihn uns wegzunehmen, wenn sie wüssten, dass wir ihn haben. Er wird der Kirilow-Stern genannt. Wusstest du das?« »Nein. Ich kann mich nicht erinnern, ihn schon mal gesehen zu haben.« »Hast du wohl auch nicht. Ich habe ihn seit Langem nicht mehr getragen. Gelegenheiten, etwas so Prächtiges zur Schau zu stellen, gibt es längst nicht mehr. Ich weiß nicht, ob solche Zeiten je wiederkehren werden. Aber du musst gut darauf aufpassen und ihn niemandem zeigen.« »Mach ich bestimmt nicht.« Michail setzte sich und zog seine Tochter auf die Knie. »Du bist mein Diamant, meine Kleine, der Stern der Kirilows, und das darfst du nie vergessen. Versprich deinem Papa, brav zu sein und Andrej zu helfen, sich um deine Mutter zu kümmern.« Lydia rieb ihre Wange an seiner Bluse. Er hatte seine wunderschöne scharlachrote und blaue Uniform mit den Goldlitzen gegen eine schlichte Bluse und einen breiten Ledergürtel getauscht, wie sie besser gestellte Bauern trugen. Der Stoff war rau, aber seltsam tröstlich. »Kommst du nicht mit uns, Papa?« »Nicht sofort. Ich stoße später zu euch.« Er küsste sie auf den Scheitel und hob sie von seinen Knien. »Jetzt lauf mit Tonja und macht dich bettfertig. Du auch, Andrej. Wir müssen morgen sehr früh aufstehen.« Anna küsste ihre Tochter, umarmte ihren Sohn und brach erst, als die Kinder mit ihrer Gouvernante gegangen waren, wieder in Tränen aus. »Was wird aus uns werden, Mischa? Werden wir für immer getrennt sein?« »Nein, natürlich nicht.« Er kniete sich neben ihren Stuhl und nahm ihre Hände in die seinen. »So darfst du nicht denken, meine Liebste. Sobald ich kann, werde ich zu euch kommen. Es wird nur ein paar Wochen dauern, wenn überhaupt.
Niemand unter den Weißen glaubt, dass dieser Krieg zu gewinnen ist oder dass es wieder so werden kann wie früher. Dazu ist zu viel passiert. Wenn General Wrangel geht, dann gehe ich auch, das verspreche ich dir.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die tränenfeuchte Wange. »Jetzt trockne dir die Augen und komm zu Bett. Morgen wird alles viel rosiger aussehen, und du wirst dich auf dein neues Leben freuen können. Du musst es den Kindern zuliebe tun, musst ihnen zeigen, was für ein großes Abenteuer das sein wird.« Sie schenkte ihm ein mattes Lächeln. »Ich werde es versuchen. « Der nächste Tag jedoch ließ sich kaum als rosig beschreiben, denn es schneite. Dicke weiße Flocken stoben herab, wirbelten ein wenig im Wind, bevor sie sich auf Bäumen und Dächern und schließlich auf der am Haus vorbeiführenden Straße niederließen. Kurz wurde erwogen, die Reise zu verschieben, aber Iwan meinte, es würde noch schlimmer werden, bevor sich das Wetter wieder besserte, und wenn sie überhaupt fort wollten, dann lieber jetzt, sonst wäre der Schnee zu tief für die Droschki. Außerdem hatte er in der Nacht Geschützfeuer gehört. Zwar noch in einiger Entfernung, doch das verhieß nichts Gutes. Er hatte seine Familie angewiesen, Lebensmittel und warme Kleidung mit in den Keller zu nehmen und dort Schutz zu suchen, falls die Kämpfe Petrowsk erreichten. Er stand neben der Kutsche, vor die das alte Pferd gespannt war, während die weißen Flocken auf ihren Schultern landeten und ihre Pelzmützen schmückten. Das Fahrzeug war uralt und hatte ein weiches, faltbares Verdeck, das Iwan nach vorne gezogen hatte und das bereits mit Schneeflocken gesprenkelt war.
Übersetzung: Susanne Aeckerle
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Mary Nichols Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2012 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Mary Nichols
Mary Nichols wurde in Singapur geboren, lebt aber seit ihrem dritten Lebensjahr in England. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und vier erwachsene Enkel. Mary Nichols schreibt seit 28 Jahren historische Romane und Familiensagas. Von ihren bisher 36 Romanen landeten viele auf den Bestsellerlisten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Nichols
- 2012, 285 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863657268
- ISBN-13: 9783863657260
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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