Der Zypressengarten (ePub)
Eine bewegende Geschichte von Liebe, Vergebung und den Geheimnissen der VergangenheitSolange sie denken kann, träumt die zehnjährige Floriana von der großen Villa am Rande ihres toskanischen Dorfes. Zu gern würde sie in diesem Haus leben! Da lädt sie eines...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Zypressengarten (ePub)“
Eine bewegende Geschichte von Liebe, Vergebung und den Geheimnissen der VergangenheitSolange sie denken kann, träumt die zehnjährige Floriana von der großen Villa am Rande ihres toskanischen Dorfes. Zu gern würde sie in diesem Haus leben! Da lädt sie eines Nachmittags der Sohn des Besitzers ein, und von diesem Augenblick weiß Floriana: Ihr Schicksal ist untrennbar und für alle Zeit mit ihm verbunden …Jahrzehnte später taucht an der englischen Südküste ein Künstler auf. Einen Sommer lang soll er die Gäste eines wunderbaren alten Landhotels in Malerei unterrichten. Marina, die Besitzerin des Hotels, ist fasziniert von diesem klugen, charismatischen Mann. Doch bald muss sie feststellen, dass er dunkle Geheimnisse mit in ihr Haus gebracht hat …“Eine wunderbare Saga.“ Glamour
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Der Zypressengarten von Santa Montefiore... mehr
Prolog
Toskana 1966
Das kleine Mädchen stand vor den imposanten Toren der Villa La Magdalena und blickte die Einfahrt hinauf. Eine lange Zypressenallee durchschnitt das Anwesen und gab am Ende einen verlockenden Blick auf den primelgelben Palazzo frei. La Magdalena strahlte die Würde und Eleganz einer großen Kaiserin aus. Ihre hohen Fenster mit den geschlossenen Läden waren in einem vornehmen Smaragdgrün gehalten, und ihre Krone bildete eine Schmuckbalustrade entlang der Fassade oben. Die Mauern waren glatt wie Seide. Ja, diese Villa entsprang einer Welt, die so bezaubernd und unzugänglich war wie ein Märchen.
Die helle Toskanasonne warf tintige Schatten auf die Einfahrt, und das kleine Mädchen konnte die süßen Gartendüfte riechen, die in der Hitze aufstiegen und die Luft aromatisierten. Das Mädchen trug Sandalen und ein schmutziges Sommerkleid. Das lange braune Haar war matt von Staub und Salzwasser, hing der Kleinen über den Rücken und ins Gesicht, das dunkel, ängstlich und voller Sehnsucht war. An ihrem Hals baumelte eine Kette mit einem Bild der Jungfrau Maria, die ihre Mutter ihr schenkte, bevor sie mit einem Mann davonlief, den sie am Tomatenstand auf der Piazza Laconda kennenlernte. Den jüngeren Bruder des Mädchens nahmen sie mit.
Das kleine Mädchen kam oft zur Villa La Magdalena. Es kletterte gerne auf jenes Stück Mauer, wo einige der oberen Steine weggebrochen waren, sodass es niedriger war als der Rest. Dort hockte es und sah in den schönen Garten mit den steinernen Springbrunnen, den hübschen Pinien und den Marmorstatuen von vornehmen Damen und halb nackten Männern in theatralischen Posen der Liebe und der Sehnsucht. Das Mädchen malte sich gerne aus, es würde in all dieser Pracht leben - eine junge Dame mit teuren Kleidern, glänzenden Schuhen, geliebt von einer Mutter, die ihm Bänder ins Haar flocht, und einem Vater, der es mit Geschenken überhäufte und es in die Luft warf, um es sogleich in seinen starken, schützenden Armen aufzufangen. Es kam her, um den betrunkenen Vater und die kleine Wohnung in der Via Roma zu vergessen, die sauber zu halten es sich vergebens abmühte.
Die kleinen Hände umfassten die Gitterstäbe, und das Mädchen steckte sein Gesicht hindurch, um den Jungen besser zu sehen, der in Begleitung eines Mischlingshundes auf das Tor zukam. Sicher würde er sagen, sie solle weggehen, und bevor sie den Weg hinunter zum Strand zurücklief, wollte sie ihn wenigstens richtig gesehen haben.
Der Junge sah gut aus, viel älter als sie. Sein helles Haar war aus der Stirn gekämmt, und sein Gesicht wirkte freundlich. Er musterte sie mit seinen hellen, lächelnden Augen, und bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass seine Augen grün waren. Sie blieb stehen, nahm sich vor, es bis zum allerletzten Moment auszukosten. Trotzig biss sie die Zähne zusammen, doch sein Grinsen entwaffnete sie. So guckte niemand, der jemanden verscheuchen wollte.
Er steckte die Hände in seine Taschen und betrachtete sie durch die Pforte.
»Hallo.«
Sie schwieg. Ihr Kopf befahl ihr zu fliehen, doch ihre Beine wollten nicht gehorchen. Sie starrte ihn an, unfähig, den Blick von ihm abzuwenden.
»Möchtest du reinkommen?« Seine Einladung überraschte sie und machte sie misstrauisch. »Du bist offensichtlich neugierig. «
»Ich bin bloß hier vorbeigekommen«, erwiderte sie.
»Ah, du kannst also doch sprechen.«
»Natürlich kann ich sprechen.«
»Tja, ich war mir nicht sicher. Du hast so ängstlich geguckt.«
»Ich habe keine Angst vor dir, falls du das meinst.«
»Schön.«
»Ich war nur auf dem Weg wohin.«
»Komisch, hier geht's eigentlich nirgends hin. Wir wohnen ziemlich abgelegen.«
»Weiß ich. Ich war am Strand.« Wenigstens das stimmte.
»Und da bist du zufällig hier heraufgewandert, um mal zu gucken?«
»Es ist ein hübsches Haus, und das wollte ich mir ansehen.« Ihr Gesicht erhellte sich gleich, und sie blickte sehnsüchtig zur Einfahrt.
»Dann komm rein. Ich zeige dir den Garten. Meine Familie ist nicht hier. Ich bin allein, und es ist netter, wenn man jemanden zum Reden hat.«
»Ich weiß nicht ...« Ihre Miene verfinsterte sich wieder, doch er öffnete bereits das Tor.
»Hab keine Angst. Ich tue dir nichts.«
»Ich hab keine Angst! Ich kann nämlich gut auf mich selbst aufpassen.«
»Ja, das glaube ich dir.«
Sie ging durch die Pforte. Während sie beobachtete, wie er das Tor hinter ihr abschloss, wurde ihr für einen Moment doch mulmig, aber dann fiel ihr Blick wieder auf die Villa, und sie vergaß ihre Furcht. »Wohnst du hier?«
»Nicht immer. Meistens wohne ich in Mailand, aber wir kommen jeden Sommer her.«
»Dann habe ich dich schon mal gesehen.«
»Ach ja?«
Ihre Aufregung machte sie kühner. »Ja, ich gucke heimlich über die Mauer.«
»Du kleiner Teufel.«
»Ich sehe mir nur gerne den Garten an. Die Leute interessieren mich nicht so.«
»Dann ist es ja umso besser, dir den Garten einmal richtig zu zeigen, damit du nicht mehr spionieren musst.«
Sie ging neben ihm her. Ihr quoll das Herz fast über vor Freude. »Gehört das wirklich alles dir?«
»Na ja, meinem Vater.«
»Wenn dies euer Sommerhaus ist, muss euer Haus in Mailand ja wie ein Palast für einen König sein.«
Lachend warf er den Kopf in den Nacken. »Es ist groß, aber nicht groß genug für einen König. Dies hier ist größer. Auf dem Land ist mehr Platz.«
»Es ist schon alt, nicht?«
»Fünfzehntes Jahrhundert. Es wurde von der Medici-Familie gebaut, 1452 entworfen von Leon Battista Alberti. Weißt du, wer er war?«
»Selbstverständlich weiß ich das.«
»Wie alt bist du?«
»Zehn und zehn Monate. Ich habe im August Geburtstag. Da werde ich eine große Feier machen.«
»Ja, gewiss wirst du das.«
Sie sah hinunter auf ihre Füße. Für sie gab es nie eine Feier. Seit ihre Mutter fort war, dachte überhaupt keiner mehr an ihren Geburtstag. »Wie heißt dein Hund?«
»Gute-Nacht.«
»Das ist ein komischer Name.«
»Er ist ein Streuner, und ich habe ihn mitten in der Nacht auf der Straße gefunden. Also habe ich ihn Gute-Nacht genannt, weil es eine gute Nacht war, denn ich fand ihn.«
Sie bückte sich, um den Hund zu streicheln. »Was ist er?«
»Weiß ich nicht. Eine Mischung aus lauter verschiedenen Rassen.«
»Er ist süß.« Sie kicherte, als der Hund ihr das Gesicht ableckte. »Hey, vorsichtig, Hundchen!«
»Er mag dich.«
»Ich weiß. Streuner mögen mich immer.«
Weil du selbst wie einer aussiehst, dachte er, während er zu schaute, wie sie ihre Arme um Gute-Nacht schlang und den Kopf in sein Fell neigte.
»Ich habe einen neuen Freund«, sagte sie mit einem triumphierenden Lächeln.
Er lachte. »Nein, du hast zwei. Komm mit.«
Nebeneinander gingen sie die Einfahrt entlang, und mit jedem Schritt gewann das Mädchen mehr Vertrauen. Der Junge erklärte ihr die Architektur, prahlte mit seinem Wissen, und sie lauschte fasziniert. Sie wollte sich jede noch so kleine Kleinigkeit merken, um sie später ihrer Freundin Costanza zu erzählen. Die Villa war sogar noch größer, als sie gedacht hatte. Vom Tor aus konnte man nur den mittleren Teil zwischen den Bäumen am Ende der Einfahrt sehen. Von diesem Teil gingen noch zwei Flügel links und rechts ab, nicht ganz so hoch, aber genauso breit. Mit den klassischen Proportionen und der schlichten Fassade strahlte die Villa eine unaufdringliche Eleganz aus, und die gelbe Farbe verlieh ihr ein fröhliches, gefälliges Ausehen, als wüsste sie, dass sie sich nicht anstrengen müsste, schön zu sein. Das Mädchen sehnte sich danach, durch die Zimmer zu schlendern und die Gemälde anzusehen, die dort an den Wänden hingen. Es war sicher, dass das Haus von innen noch wundervoller war als von außen. Aber der Junge brachte sie um das Haus herum nach hinten, wo eine geschwungene Steintreppe von der Terrasse in den Garten voller Statuen, Terrakottatöpfen mit in Form geschnittenen Sträuchern und hohen Pinien hinabführte. Dem Mädchen war, als wäre es gestorben und ins Paradies gekommen, denn der Himmel könnte unmöglich schöner sein als dies hier.
Vom großen Garten ging es durch eine kleine Pforte in der Mauer in einen hübschen Schmuckgarten, der von einem gemauerten Laubengang eingerahmt wurde. In der Mitte stand ein herrlicher Brunnen mit Meerjungfrauen, die Wasserfontänen in die Luft warfen. Um den Brunnen herum war der Weg hie und da mit Thymian gesäumt, und hübsche schmiedeeiserne Bänke standen auf allen vier Seiten an den niedrigen Hecken, die vier glatte Rasenflächen mit Blumenbeeten in der Mitte voneinander trennten. Das Mädchen brauchte einen Moment, all das in sich aufzunehmen. In seinen Sandalen stand es da und hielt sich eine Hand aufs Herz. Noch nie hatte es eine solche Pracht gesehen.
»Dies ist der Garten meiner Mutter«, erzählte der Junge. »Sie wollte ein Plätzchen, wo sie in Ruhe lesen kann, ohne heimlich beobachtet zu werden.« Er zwinkerte ihr zu und lachte wieder. »Du müsstest schon eine sehr begabte Spionin sein, um hier hereinzukommen.«
»Ich wette, deine Mutter ist hübsch«, sagte sie, wobei sie an ihre eigene Mutter dachte und überlegte, wie sie ausgesehen hatte.
»Ist sie, nehme ich an. Bei seiner eigenen Mutter achtet man wohl nicht so darauf.«
»Wo liest sie?«
»Ich denke, dass sie auf einer der Bänke am Springbrunnen sitzt. Aber ich weiß es nicht. Ich habe nie nachgesehen.« Er schlenderte hin. Das Staunen des kleinen Mädchens steckte ihn an. »Es ist wirklich hübsch, nicht?«
»Stell dir vor, du sitzt hier in der Sonne, hörst das Wasserplätschern und guckst den Vögeln zu, wie sie im Brunnen baden.«
»Es ist sehr friedlich.«
»Ich mag Vögel. Ihr habt hier bestimmt viele, andere sicher als die bei uns in der Stadt.«
Er lachte ungläubig. »Ich denke, du findest hier die gleichen wie in Herba.«
»Nein, ihr habt hier besondere.« Sie war so sicher, dass er sich unweigerlich umschaute und beinahe damit rechnete, Papageien in den Pinien zu entdecken. »Sitzt du manchmal hier?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ich?«
»Hier gibt es doch so viel anzugucken. Ich könnte stundenlang, nein, tagelang hier sitzen. Für immer könnte ich hier sitzen und würde nie weggehen wollen.« Sehr vorsichtig, als wäre die Bank ein scheues Wesen, das sie nicht verschrecken wollte, setzte sie sich hin. Dann sah sie zum Wasser und malte sich aus, sie hätte einen eigenen Garten, in dem sie dem wechselnden Licht vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung zusehen könnte. »Hier ist Gott«, sagte sie leise, und eine seltsame Ehrfurcht ergriff sie, strich einem Engelshauch gleich über ihre Haut.
Er setzte sich neben sie, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Glaubst du?«
»Oh, ich weiß es, denn ich kann ihn fühlen.«
Sie saßen lange Zeit dort, lauschten dem Wind in den Zypressen und den zufrieden gurrenden Tauben auf dem Dach der Villa. Gute-Nacht schnüffelte entlang der Rasenkanten und hob das Bein an den Hecken.
»Das ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal so glücklich war.«
Er betrachtete sie interessiert und lächelte freundlich. »Wie heißt du, Piccolina?«
Sie sah ihn voller Dankbarkeit und Vertrauen an. »Floriana. Und du?«
Irgendwie war ihnen beiden klar, dass der Austausch der Namen etwas bedeutete. Er zögerte, blickte ihr in die Augen, die weit offen und kein bisschen ängstlich mehr waren, und streckte ihr seine Hand hin. Ihre sah klein und dunkel in seiner großen blassen Hand aus.
»Dante Alberto Massimo«, sagte er leise. »Aber du darfst mich Dante nennen.«
1
Devon 2009
Künstler gesucht, der den Sommer über Malkurse für Gäste im Hotel Polzanze, Devon, erteilt Freie Kost & Logis Telefon: 07972 859 301
Der Morris Minor rumpelte über die schmale Landstraße auf das Dorf Shelton zu. Zu beiden Seiten der Straße standen hohe, üppige Hecken, durchwoben von hübschem weißem Wiesenkerbel und blauen Vergissmeinnicht. Eine kleine Spatzenschar flog gen Himmel auf, wo fedrige Wolken im salzigen Wind landeinwärts trieben. Der Wagen bewegte sich vorsichtig, wich in eine Seitenbucht aus, um einen entgegenkommenden Lastwagen vorbeizulassen, und fuhr durch das niedliche Dorf mit den weiß gekalkten Cottages, deren grau gedeckte Ziegeldächer in der Morgensonne golden schimmerten.
Im Herzen von Shelton stand eine Kirche aus grauem Sandstein inmitten einer Gruppe herrlicher Platanen, und unten schlich eine geschmeidige schwarze Katze träge an der Kirchenmauer entlang, allem Anschein nach auf dem Heimweg nach einer erfolgreichen nächtlichen Jagd. Am Dorfende, wo die Straße scharf nach links hinunter Richtung Meer führte, öffneten sich ein eindrucksvolles schmiedeeisernes Tor zu einer Einfahrt, die sich in einer eleganten Kurve durch bereits blühende Rhododendren schwang. Hier bog das Auto ein und fuhr an den rosa Blüten vorbei zu dem grauen Herrenhaus am Ende. In friedlicher Abgeschiedenheit lag es hier und bot freien Blick aufs Meer.
Das Polzanze war ein wohlproportioniertes Herrenhaus, 1814 von dem Duke of Somerland für seine kränkelnde Ehefrau Alice erbaut, deren Asthmaleiden nach Seeluft verlangte. Er hatte das alte Haus auf dem Anwesen abreißen lassen, bei dem es sich um einen unansehnlichen Ziegelsteinhaufen aus dem sechzehnten Jahrhundert gehandelt hatte, und das jetzige Haus zusammen mit seiner talentierten Frau entworfen. Sie hatte recht klare Vorstellungen davon gehabt, was sie wollte. Heraus kam ein Herrenhaus, das sich drinnen wie ein großes Cottage anfühlte: holzvertäfelte Wande, Blumentapeten, Kamine und große Sprossenfenster, durch die man auf den Rasen und den Ozean dahinter blickte.
Die Duchess liebte ihren Garten und verbrachte ihre Sommer mit der Rosenzucht, dem Pflanzen exotischer Bäume und der Anlage eines raffinierten Wegelabyrinths im dichten Wald. Vor ihrem Studierzimmer gestaltete sie einen kleinen Garten für die Kinder, in dem sie Gemüse und Blumen zogen, und umgab ihn mit einem Miniaturwassergraben, in dem die Kleinen ihre Boote schwimmen lassen konnten, während sie ihre Korrespondenz erledigte. Italienbegeistert wie sie war, hatte sie ihre Terrasse mit schweren Terrakottatöpfen voller Rosmarin und Lavendel geschmückt und Wein im Wintergarten gepflanzt, den sie darauf trimmte, an den Fenstersprossen nach oben zu ranken, sodass die Trauben in staubigen Büscheln von der Decke hingen.
Von ihren Nachfahren wurde wenig geändert und vieles erweitert. Deren eigenes Flair war in die Schönheit des Anwesens eingeflossen, bis die Familie durch unglückliche Umstände genötigt war, ihren Besitz in den frühen 1990ern zu verkaufen. Das Polzanze wurde in ein Hotel verwandelt, was Alice zweifellos das Herz gebrochen hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Dennoch blieb ihr Vermächtnis, genauso wie die Originaltapeten mit handgemalten Vögeln und Schmetterlingen.
Die Zeder an der Ostseite, die jenen Hausteil schützte, war angeblich fünfhundert Jahre alt. Und das Anwesen durfte sich ummauerter Gemüsegärten rühmen, die schon lange vor der Duchess mit ihrem gezüchteten Rhabarber und ihren Himbeeren da gewesen waren. Übrigens auch eines uralten Gärtners, der schon länger dort arbeitete, als es irgendwer erinnerte.
Marina hörte einen Wagen auf dem Kies draußen und eilte zum Fenster im ersten Stock. Sie erblickte einen schmutzigen alten Morris Minor, vollgestopft mit Leinwänden und farbbefleckten Tüchern, der wie ein erschöpfter Muli vor dem Hotel hielt. Ihr Herz pochte schneller vor Aufregung, und sie guckte rasch in den Spiegel auf dem Treppenabsatz. Mit Anfang fünfzig stand sie in der Blüte ihrer Schönheit, als wäre die Zeit extraleichtfüßig über ihr Gesicht hinweggetänzelt, um ja keine zu starken Spuren zu hinterlassen. Ihr dichtes honigbraunes Haar fiel ihr in großen Wellen über die Schultern, und ihre tief liegenden, einnehmenden Augen waren von der Farbe verrauchten Quarzes. Sie war zierlich mit zarten Knochen und einer schmalen Taille, besaß jedoch breite Hüften und einen großen Busen. Nachdem sie ihr Kleid glatt gestrichen und ihr Haar aufgeplustert hatte, lief sie in der Hoffnung nach unten, einen guten Eindruck zu machen.
»Marina, Schatz, ich glaube, dein erster potenzieller Hauskünstler ist eingetroffen«, rief ihr Mann. Grey Turner sah aus dem Fenster und kicherte, als er einen älteren Mann in einer langen Brokatjacke und schwarzen Kniebundhosen aus dem Morris steigen sah. Die großen Messingschnallen an den abgewetzten Schuhen blinkten in der schwachen Frühlingssonne.
»Gütiger Himmel, es ist Captain Hook!«, bemerkte Clementine, Greys dreiundzwanzigjährige Tochter, die sich zu ihm gesellte. Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Wieso Submarine jeden Sommer einen Maler einlädt, der sich bei uns durchschnorrt, ist mir schleierhaft. Einen Hauskünstler zu haben, ist total affig.«
Grey ignorierte den despektierlichen Spitznamen, den seine Kinder für ihre Stiefmutter verwandten. »Marina hat einen guten Riecher fürs Geschäftliche«, sagte er. »Paul Lockwood war letztes Jahr ein Riesenerfolg. Unsere Gäste haben ihn geliebt. Da ist es nur verständlich, dass sie das wiederholen will.«
»Vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn sie diesen abgetakelten Typen sieht.«
»Meinst du, er hat einen Papagei in diesem Haufen Gepäck?« Grey beobachtete, wie der alte Mann steifbeinig zum Kofferraum ging und eine schäbige Zeichenmappe herausnahm.
»Unbedingt, Dad. Und er hat ein Schiff unten am Hafen vor Anker liegen. Wenigstens hat er noch zwei Hände, nicht eine und einen Haken.«
»Marina wird entzückt sein. Sie liebt ausgefallene Typen.«
»Glaubst du, dass sie dich deshalb geheiratet hat?«
Grey machte sich gerade und steckte die Hände in die Taschen. Er war sehr groß, hatte lockiges graues Haar und ein längliches Gesicht, das stets verständnisvoll wirkte. Nun blickte er kopfschüttelnd auf seine Tochter herab. »Vergiss nicht, dass du meine Gene trägst, Clemmie. Falls ich exzentrisch bin, stehen die Chancen recht gut, dass du diesen Makel geerbt hast.«
»Ich würde es nicht als Makel bezeichnen, Dad. Nichts ist langweiliger, als normal zu sein. Trotzdem«, ergänzte sie, als der Künstler seine Kofferraumklappe zuschlug, »kann es auch zu viel des Guten sein.«
»Er ist da! Wie aufregend!« Marina kam zu ihrem Mann und ihrer Stieftochter ans Fenster gelaufen. Clementine sah, wie ihre Aufregung verpuffte, als sie ihren ersten Kandidaten erblickte, der mit der Zeichenmappe unter den mottenzerfressenen Ärmel geklemmt auf die Haustür zustakste, und grinste schadenfroh.
»Mein Gott!«, rief Marina und warf beide Hände in die Höhe. »Was mache ich bloß?«
»Das zu überlegen, hast du keine Zeit, Schatz. Bitte ihn lieber herein, ehe er sein Schwert zückt.« Marina warf ihrem Mann einen flehenden Blick zu, doch er schüttelte lachend den Kopf und sah sie liebevoll an. »Das ist dein Projekt. Ich weiß doch, wie du es hasst, wenn ich mich einmische.«
»Möchtest du nicht bei dem Gespräch dabei sein?«, schlug sie mit einem zuckersüßen Lächeln vor.
»Oh nein, Schatz, er gehört ganz dir.«
»Du bist ein verschlagener, gemeiner Mann, Grey Turner«, entgegnete sie, allerdings bogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen, als sie in der Mitte der Diele, am runden Tisch mit dem extravaganten Blumengesteck Position einnahm. Derweil half Shane Black, der Page, dem alten Mann mit der Zeichenmappe herein.
Marina ignorierte die amüsierten Gesichter am Fenster - inzwischen hatten nämlich auch Jennifer, eine der Empfangsdamen, und Heather, eine Kellnerin, einen Vorwand gefunden, in die Diele zu kommen - und streckte ihrem ersten Bewerber lächelnd die Hand entgegen. Seine war rau und rissig, und alte Farbe hatte sich tief in die Fingernägel gegraben. Er drückte ihre Hand fest. Dazu verschlang er sie mit dem Blick eines Mannes, der viele Monate auf See gewesen war. Ihm schienen die Worte zu fehlen. »Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie hergekommen sind, Mr Bascobalena. Gehen wir in mein Büro, wo wir einen Kaffee trinken und in Ruhe plaudern können. Oder hätten Sie lieber Tee?«
»Oder ein Fass Rum?«, flüsterte Clementine ihrem Vater zu. Mr Bascobalena räusperte sich und schluckte. »Schwarzer Kaffee, kein Zucker, und nennen Sie mich bitte Balthazar.«
Sein Bariton erschrak Marina, sodass sie unwillkürlich ihre Hand zurückzog. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Stieftochter in der Ecke kichern und reckte trotzig ihr Kinn.
»Shane, bitte Heather, Mr Bascobalena ein Kännchen schwarzen Kaffee zu bringen und einen Cappuccino für mich.«
»Wird gemacht, Mrs Turner«, sagte Shane, der sich ein Grinsen verkneifen musste.
Er nahm dem Gast die Zeichenmappe ab und folgte ihnen durch die Diele, den Salon, wo einige Gäste saßen und Zeitung lasen, und das hübsche grüne Zimmer zu Marinas Büro, von dem aus man auf den Kindergarten mit dem kleinen Wassergraben und dahinter das Meer blickte. Sie bedeutete dem Pagen, die Mappe auf den Couchtisch zu legen, und sah ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
Marina bat Balthazar, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und litt ein bisschen, als seine schmutzige Kleidung mit dem blassgrünen Chenille in Kontakt kam. Sie selbst setzte sich in einen Sessel, das Gesicht zum offenen Fenster. Es war offen, sodass mit der Seeluft der süßliche Geruch von gemähtem Gras und Ozon ins Zimmer wehte. Man konnte das ferne Meeresrauschen und die Klageschreie der Möwen hören, die hoch über den Wellen segelten. Marina sehnte sich danach, unten am Strand zu sein, die Füße im Wasser und das Haar im Wind fliegend. Widerwillig drängte sie diesen Gedanken fort. Sie wusste bereits, dass Balthazar Bascobolena den Sommer nicht im Polzanze verbringen würde, sollte ihm aber dennoch die Höflichkeit erweisen, ein wenig mit ihm zu plaudern.
»Sie haben einen wundervollen Namen - Bascobalena. Klingt spanisch.« Ihr war bewusst, dass er sie mit leicht offenem Mund anstarrte, als hätte er noch nie zuvor eine Frau gesehen. Trotz des geöffneten Fensters begann sein Körpergeruch den Raum zu füllen. Marina wünschte, Heather würde sich mit dem Kaffee beeilen, schätzte allerdings, dass Shane noch in der Diele war und mit dem restlichen Personal über den Besucher herzog. Hoffentlich hatten die anderen Gäste ihn nicht kommen gesehen.
»Mag sein, dass es irgendwo in früheren Zeiten mal einen Spanier in der Familie gab, aber wir sind seit Generationen allesamt aus Devon und stolz darauf.«
Marina zog verwundert die Brauen hoch. Er hatte den dunklen Teint und die Augen eines Spaniers. Und die Zähne, die er beim Lächeln zeigte, waren braun und faulig wie die eines Seemannes mit Skorbut. »Und Balthazar, so heißen eigentlich Romanhelden.«
»Meine Mutter hatte eine blühende Fantasie.«
»War sie auch Künstlerin?«
»Nein, aber eine Träumerin. Gott hab sie selig.«
»Also, Balthazar, erzählen Sie mir, was Sie malen?«
»Boote«, antwortete er und beugte sich vor, um seine Mappe zu öffnen.
»Boote«, wiederholte Marina und bemühte sich, ein kleines bisschen begeistert zu klingen. »Wie interessant ... wenn auch nicht überraschend«, ergänzte sie schmunzelnd.
Mr Bascobalena ging nicht auf ihre Anspielung auf seine Piratenkleidung ein.
»Oh, mich faszinieren Boote schon, seit ich ein kleiner Junge war.«
»Dann sind Sie an der Küste aufgewachsen?«
»Ja, genau wie mein Vater und mein Großvater vor ihm.« Er war durch ein paar Bilder an der Wand abgelenkt. »Das sind schöne Landschaften. Sind Sie Sammlerin, Mrs Turner?«
»Leider nein. Und ich male auch nicht. Ich bewundere allerdings Leute wie Sie, die es können. Also, sehen wir uns einige Ihrer Arbeiten an.«
Er zog eine Zeichnung von einem Fischerboot in aufgewühlter See aus der Mappe. Für einen Moment vergaß Marina seinen Geruch und den ungewöhnlichen Aufzug und starrte ungläubig auf das Bild.
»Das ist wunderschön«, hauchte sie und rutschte nach vorn auf die Sesselkante. »Sie sind begabt.«
»Dann sehen Sie sich diese hier an.« Er zog ein anderes hervor. Der wehmütige Charme seiner Arbeiten verblüffte Marina. Er hatte alle erdenklichen Arten von Schiffen und Booten gezeichnet: von elisabethanischen Flotten bis hin zu modernen Jachten und Barkassen; manche im Morgengrauen auf ruhiger See, andere im Mondschein auf endlosem Meer, und allesamt von dieser seltsamen Melancholie erfüllt. »Ich male auch in Öl, aber die Bilder sind zu groß, als dass ich sie mitbringen konnte. Sie dürfen aber jederzeit zu mir kommen und sie sich ansehen, wenn Sie mögen. Ich wohne in der Nähe von Salcombe.«
»Danke. Ich bin sicher, dass sie genauso reizend sind wie Ihre Zeichnungen.« Sie sah ihn ernst an. »Sie haben ein außerordentliches Talent.«
»Könnte ich Menschen malen, würde ich Sie porträtieren.« Marina beachtete seinen anzüglichen Blick nicht.
»Sie malen keine Menschen?« Sie tat enttäuscht.
»Niemals.« Er fuhr sich durch sein ausdünnendes graues Haar, das ihm bis zu den goldenen Epauletten auf den Schultern hing. »Habe ich auch noch nie. Ich bekomme sie nicht richtig hin. Egal, wen ich male, hinterher sehen alle wie Affen aus.«
»Wie schade. Es ist leider so, Balthazar, dass ich einen Künstler brauche, der meinen Gästen beibringt, alles zu malen, nicht bloß Schiffe und Affen. Tut mir leid.«
Als Balthazar die Schultern hängen ließ, erschien Heather mit einem Tablett, auf dem ein silbernes Kaffeekännchen und ein Cappuccino standen. Marina sah sie tadelnd an, weil es so lange gedauert hatte, und Heather errötete. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch. Marina hoffte, er würde gleich gehen, doch er blickte gierig zu den Ingwerplätzchen und wirkte sogleich munterer. Folglich blieb Marina nichts anderes übrig, als ihm Kaffee einzuschenken und die Plätzchen zu reichen, während er sich entspannt auf dem Sofa zurücklehnte.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Prolog
Toskana 1966
Das kleine Mädchen stand vor den imposanten Toren der Villa La Magdalena und blickte die Einfahrt hinauf. Eine lange Zypressenallee durchschnitt das Anwesen und gab am Ende einen verlockenden Blick auf den primelgelben Palazzo frei. La Magdalena strahlte die Würde und Eleganz einer großen Kaiserin aus. Ihre hohen Fenster mit den geschlossenen Läden waren in einem vornehmen Smaragdgrün gehalten, und ihre Krone bildete eine Schmuckbalustrade entlang der Fassade oben. Die Mauern waren glatt wie Seide. Ja, diese Villa entsprang einer Welt, die so bezaubernd und unzugänglich war wie ein Märchen.
Die helle Toskanasonne warf tintige Schatten auf die Einfahrt, und das kleine Mädchen konnte die süßen Gartendüfte riechen, die in der Hitze aufstiegen und die Luft aromatisierten. Das Mädchen trug Sandalen und ein schmutziges Sommerkleid. Das lange braune Haar war matt von Staub und Salzwasser, hing der Kleinen über den Rücken und ins Gesicht, das dunkel, ängstlich und voller Sehnsucht war. An ihrem Hals baumelte eine Kette mit einem Bild der Jungfrau Maria, die ihre Mutter ihr schenkte, bevor sie mit einem Mann davonlief, den sie am Tomatenstand auf der Piazza Laconda kennenlernte. Den jüngeren Bruder des Mädchens nahmen sie mit.
Das kleine Mädchen kam oft zur Villa La Magdalena. Es kletterte gerne auf jenes Stück Mauer, wo einige der oberen Steine weggebrochen waren, sodass es niedriger war als der Rest. Dort hockte es und sah in den schönen Garten mit den steinernen Springbrunnen, den hübschen Pinien und den Marmorstatuen von vornehmen Damen und halb nackten Männern in theatralischen Posen der Liebe und der Sehnsucht. Das Mädchen malte sich gerne aus, es würde in all dieser Pracht leben - eine junge Dame mit teuren Kleidern, glänzenden Schuhen, geliebt von einer Mutter, die ihm Bänder ins Haar flocht, und einem Vater, der es mit Geschenken überhäufte und es in die Luft warf, um es sogleich in seinen starken, schützenden Armen aufzufangen. Es kam her, um den betrunkenen Vater und die kleine Wohnung in der Via Roma zu vergessen, die sauber zu halten es sich vergebens abmühte.
Die kleinen Hände umfassten die Gitterstäbe, und das Mädchen steckte sein Gesicht hindurch, um den Jungen besser zu sehen, der in Begleitung eines Mischlingshundes auf das Tor zukam. Sicher würde er sagen, sie solle weggehen, und bevor sie den Weg hinunter zum Strand zurücklief, wollte sie ihn wenigstens richtig gesehen haben.
Der Junge sah gut aus, viel älter als sie. Sein helles Haar war aus der Stirn gekämmt, und sein Gesicht wirkte freundlich. Er musterte sie mit seinen hellen, lächelnden Augen, und bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass seine Augen grün waren. Sie blieb stehen, nahm sich vor, es bis zum allerletzten Moment auszukosten. Trotzig biss sie die Zähne zusammen, doch sein Grinsen entwaffnete sie. So guckte niemand, der jemanden verscheuchen wollte.
Er steckte die Hände in seine Taschen und betrachtete sie durch die Pforte.
»Hallo.«
Sie schwieg. Ihr Kopf befahl ihr zu fliehen, doch ihre Beine wollten nicht gehorchen. Sie starrte ihn an, unfähig, den Blick von ihm abzuwenden.
»Möchtest du reinkommen?« Seine Einladung überraschte sie und machte sie misstrauisch. »Du bist offensichtlich neugierig. «
»Ich bin bloß hier vorbeigekommen«, erwiderte sie.
»Ah, du kannst also doch sprechen.«
»Natürlich kann ich sprechen.«
»Tja, ich war mir nicht sicher. Du hast so ängstlich geguckt.«
»Ich habe keine Angst vor dir, falls du das meinst.«
»Schön.«
»Ich war nur auf dem Weg wohin.«
»Komisch, hier geht's eigentlich nirgends hin. Wir wohnen ziemlich abgelegen.«
»Weiß ich. Ich war am Strand.« Wenigstens das stimmte.
»Und da bist du zufällig hier heraufgewandert, um mal zu gucken?«
»Es ist ein hübsches Haus, und das wollte ich mir ansehen.« Ihr Gesicht erhellte sich gleich, und sie blickte sehnsüchtig zur Einfahrt.
»Dann komm rein. Ich zeige dir den Garten. Meine Familie ist nicht hier. Ich bin allein, und es ist netter, wenn man jemanden zum Reden hat.«
»Ich weiß nicht ...« Ihre Miene verfinsterte sich wieder, doch er öffnete bereits das Tor.
»Hab keine Angst. Ich tue dir nichts.«
»Ich hab keine Angst! Ich kann nämlich gut auf mich selbst aufpassen.«
»Ja, das glaube ich dir.«
Sie ging durch die Pforte. Während sie beobachtete, wie er das Tor hinter ihr abschloss, wurde ihr für einen Moment doch mulmig, aber dann fiel ihr Blick wieder auf die Villa, und sie vergaß ihre Furcht. »Wohnst du hier?«
»Nicht immer. Meistens wohne ich in Mailand, aber wir kommen jeden Sommer her.«
»Dann habe ich dich schon mal gesehen.«
»Ach ja?«
Ihre Aufregung machte sie kühner. »Ja, ich gucke heimlich über die Mauer.«
»Du kleiner Teufel.«
»Ich sehe mir nur gerne den Garten an. Die Leute interessieren mich nicht so.«
»Dann ist es ja umso besser, dir den Garten einmal richtig zu zeigen, damit du nicht mehr spionieren musst.«
Sie ging neben ihm her. Ihr quoll das Herz fast über vor Freude. »Gehört das wirklich alles dir?«
»Na ja, meinem Vater.«
»Wenn dies euer Sommerhaus ist, muss euer Haus in Mailand ja wie ein Palast für einen König sein.«
Lachend warf er den Kopf in den Nacken. »Es ist groß, aber nicht groß genug für einen König. Dies hier ist größer. Auf dem Land ist mehr Platz.«
»Es ist schon alt, nicht?«
»Fünfzehntes Jahrhundert. Es wurde von der Medici-Familie gebaut, 1452 entworfen von Leon Battista Alberti. Weißt du, wer er war?«
»Selbstverständlich weiß ich das.«
»Wie alt bist du?«
»Zehn und zehn Monate. Ich habe im August Geburtstag. Da werde ich eine große Feier machen.«
»Ja, gewiss wirst du das.«
Sie sah hinunter auf ihre Füße. Für sie gab es nie eine Feier. Seit ihre Mutter fort war, dachte überhaupt keiner mehr an ihren Geburtstag. »Wie heißt dein Hund?«
»Gute-Nacht.«
»Das ist ein komischer Name.«
»Er ist ein Streuner, und ich habe ihn mitten in der Nacht auf der Straße gefunden. Also habe ich ihn Gute-Nacht genannt, weil es eine gute Nacht war, denn ich fand ihn.«
Sie bückte sich, um den Hund zu streicheln. »Was ist er?«
»Weiß ich nicht. Eine Mischung aus lauter verschiedenen Rassen.«
»Er ist süß.« Sie kicherte, als der Hund ihr das Gesicht ableckte. »Hey, vorsichtig, Hundchen!«
»Er mag dich.«
»Ich weiß. Streuner mögen mich immer.«
Weil du selbst wie einer aussiehst, dachte er, während er zu schaute, wie sie ihre Arme um Gute-Nacht schlang und den Kopf in sein Fell neigte.
»Ich habe einen neuen Freund«, sagte sie mit einem triumphierenden Lächeln.
Er lachte. »Nein, du hast zwei. Komm mit.«
Nebeneinander gingen sie die Einfahrt entlang, und mit jedem Schritt gewann das Mädchen mehr Vertrauen. Der Junge erklärte ihr die Architektur, prahlte mit seinem Wissen, und sie lauschte fasziniert. Sie wollte sich jede noch so kleine Kleinigkeit merken, um sie später ihrer Freundin Costanza zu erzählen. Die Villa war sogar noch größer, als sie gedacht hatte. Vom Tor aus konnte man nur den mittleren Teil zwischen den Bäumen am Ende der Einfahrt sehen. Von diesem Teil gingen noch zwei Flügel links und rechts ab, nicht ganz so hoch, aber genauso breit. Mit den klassischen Proportionen und der schlichten Fassade strahlte die Villa eine unaufdringliche Eleganz aus, und die gelbe Farbe verlieh ihr ein fröhliches, gefälliges Ausehen, als wüsste sie, dass sie sich nicht anstrengen müsste, schön zu sein. Das Mädchen sehnte sich danach, durch die Zimmer zu schlendern und die Gemälde anzusehen, die dort an den Wänden hingen. Es war sicher, dass das Haus von innen noch wundervoller war als von außen. Aber der Junge brachte sie um das Haus herum nach hinten, wo eine geschwungene Steintreppe von der Terrasse in den Garten voller Statuen, Terrakottatöpfen mit in Form geschnittenen Sträuchern und hohen Pinien hinabführte. Dem Mädchen war, als wäre es gestorben und ins Paradies gekommen, denn der Himmel könnte unmöglich schöner sein als dies hier.
Vom großen Garten ging es durch eine kleine Pforte in der Mauer in einen hübschen Schmuckgarten, der von einem gemauerten Laubengang eingerahmt wurde. In der Mitte stand ein herrlicher Brunnen mit Meerjungfrauen, die Wasserfontänen in die Luft warfen. Um den Brunnen herum war der Weg hie und da mit Thymian gesäumt, und hübsche schmiedeeiserne Bänke standen auf allen vier Seiten an den niedrigen Hecken, die vier glatte Rasenflächen mit Blumenbeeten in der Mitte voneinander trennten. Das Mädchen brauchte einen Moment, all das in sich aufzunehmen. In seinen Sandalen stand es da und hielt sich eine Hand aufs Herz. Noch nie hatte es eine solche Pracht gesehen.
»Dies ist der Garten meiner Mutter«, erzählte der Junge. »Sie wollte ein Plätzchen, wo sie in Ruhe lesen kann, ohne heimlich beobachtet zu werden.« Er zwinkerte ihr zu und lachte wieder. »Du müsstest schon eine sehr begabte Spionin sein, um hier hereinzukommen.«
»Ich wette, deine Mutter ist hübsch«, sagte sie, wobei sie an ihre eigene Mutter dachte und überlegte, wie sie ausgesehen hatte.
»Ist sie, nehme ich an. Bei seiner eigenen Mutter achtet man wohl nicht so darauf.«
»Wo liest sie?«
»Ich denke, dass sie auf einer der Bänke am Springbrunnen sitzt. Aber ich weiß es nicht. Ich habe nie nachgesehen.« Er schlenderte hin. Das Staunen des kleinen Mädchens steckte ihn an. »Es ist wirklich hübsch, nicht?«
»Stell dir vor, du sitzt hier in der Sonne, hörst das Wasserplätschern und guckst den Vögeln zu, wie sie im Brunnen baden.«
»Es ist sehr friedlich.«
»Ich mag Vögel. Ihr habt hier bestimmt viele, andere sicher als die bei uns in der Stadt.«
Er lachte ungläubig. »Ich denke, du findest hier die gleichen wie in Herba.«
»Nein, ihr habt hier besondere.« Sie war so sicher, dass er sich unweigerlich umschaute und beinahe damit rechnete, Papageien in den Pinien zu entdecken. »Sitzt du manchmal hier?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum sollte ich?«
»Hier gibt es doch so viel anzugucken. Ich könnte stundenlang, nein, tagelang hier sitzen. Für immer könnte ich hier sitzen und würde nie weggehen wollen.« Sehr vorsichtig, als wäre die Bank ein scheues Wesen, das sie nicht verschrecken wollte, setzte sie sich hin. Dann sah sie zum Wasser und malte sich aus, sie hätte einen eigenen Garten, in dem sie dem wechselnden Licht vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung zusehen könnte. »Hier ist Gott«, sagte sie leise, und eine seltsame Ehrfurcht ergriff sie, strich einem Engelshauch gleich über ihre Haut.
Er setzte sich neben sie, streckte die Beine aus und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Glaubst du?«
»Oh, ich weiß es, denn ich kann ihn fühlen.«
Sie saßen lange Zeit dort, lauschten dem Wind in den Zypressen und den zufrieden gurrenden Tauben auf dem Dach der Villa. Gute-Nacht schnüffelte entlang der Rasenkanten und hob das Bein an den Hecken.
»Das ist der schönste Tag meines Lebens«, sagte sie nach einer Weile. »Ich glaube nicht, dass ich schon einmal so glücklich war.«
Er betrachtete sie interessiert und lächelte freundlich. »Wie heißt du, Piccolina?«
Sie sah ihn voller Dankbarkeit und Vertrauen an. »Floriana. Und du?«
Irgendwie war ihnen beiden klar, dass der Austausch der Namen etwas bedeutete. Er zögerte, blickte ihr in die Augen, die weit offen und kein bisschen ängstlich mehr waren, und streckte ihr seine Hand hin. Ihre sah klein und dunkel in seiner großen blassen Hand aus.
»Dante Alberto Massimo«, sagte er leise. »Aber du darfst mich Dante nennen.«
1
Devon 2009
Künstler gesucht, der den Sommer über Malkurse für Gäste im Hotel Polzanze, Devon, erteilt Freie Kost & Logis Telefon: 07972 859 301
Der Morris Minor rumpelte über die schmale Landstraße auf das Dorf Shelton zu. Zu beiden Seiten der Straße standen hohe, üppige Hecken, durchwoben von hübschem weißem Wiesenkerbel und blauen Vergissmeinnicht. Eine kleine Spatzenschar flog gen Himmel auf, wo fedrige Wolken im salzigen Wind landeinwärts trieben. Der Wagen bewegte sich vorsichtig, wich in eine Seitenbucht aus, um einen entgegenkommenden Lastwagen vorbeizulassen, und fuhr durch das niedliche Dorf mit den weiß gekalkten Cottages, deren grau gedeckte Ziegeldächer in der Morgensonne golden schimmerten.
Im Herzen von Shelton stand eine Kirche aus grauem Sandstein inmitten einer Gruppe herrlicher Platanen, und unten schlich eine geschmeidige schwarze Katze träge an der Kirchenmauer entlang, allem Anschein nach auf dem Heimweg nach einer erfolgreichen nächtlichen Jagd. Am Dorfende, wo die Straße scharf nach links hinunter Richtung Meer führte, öffneten sich ein eindrucksvolles schmiedeeisernes Tor zu einer Einfahrt, die sich in einer eleganten Kurve durch bereits blühende Rhododendren schwang. Hier bog das Auto ein und fuhr an den rosa Blüten vorbei zu dem grauen Herrenhaus am Ende. In friedlicher Abgeschiedenheit lag es hier und bot freien Blick aufs Meer.
Das Polzanze war ein wohlproportioniertes Herrenhaus, 1814 von dem Duke of Somerland für seine kränkelnde Ehefrau Alice erbaut, deren Asthmaleiden nach Seeluft verlangte. Er hatte das alte Haus auf dem Anwesen abreißen lassen, bei dem es sich um einen unansehnlichen Ziegelsteinhaufen aus dem sechzehnten Jahrhundert gehandelt hatte, und das jetzige Haus zusammen mit seiner talentierten Frau entworfen. Sie hatte recht klare Vorstellungen davon gehabt, was sie wollte. Heraus kam ein Herrenhaus, das sich drinnen wie ein großes Cottage anfühlte: holzvertäfelte Wande, Blumentapeten, Kamine und große Sprossenfenster, durch die man auf den Rasen und den Ozean dahinter blickte.
Die Duchess liebte ihren Garten und verbrachte ihre Sommer mit der Rosenzucht, dem Pflanzen exotischer Bäume und der Anlage eines raffinierten Wegelabyrinths im dichten Wald. Vor ihrem Studierzimmer gestaltete sie einen kleinen Garten für die Kinder, in dem sie Gemüse und Blumen zogen, und umgab ihn mit einem Miniaturwassergraben, in dem die Kleinen ihre Boote schwimmen lassen konnten, während sie ihre Korrespondenz erledigte. Italienbegeistert wie sie war, hatte sie ihre Terrasse mit schweren Terrakottatöpfen voller Rosmarin und Lavendel geschmückt und Wein im Wintergarten gepflanzt, den sie darauf trimmte, an den Fenstersprossen nach oben zu ranken, sodass die Trauben in staubigen Büscheln von der Decke hingen.
Von ihren Nachfahren wurde wenig geändert und vieles erweitert. Deren eigenes Flair war in die Schönheit des Anwesens eingeflossen, bis die Familie durch unglückliche Umstände genötigt war, ihren Besitz in den frühen 1990ern zu verkaufen. Das Polzanze wurde in ein Hotel verwandelt, was Alice zweifellos das Herz gebrochen hätte, wäre sie noch am Leben gewesen. Dennoch blieb ihr Vermächtnis, genauso wie die Originaltapeten mit handgemalten Vögeln und Schmetterlingen.
Die Zeder an der Ostseite, die jenen Hausteil schützte, war angeblich fünfhundert Jahre alt. Und das Anwesen durfte sich ummauerter Gemüsegärten rühmen, die schon lange vor der Duchess mit ihrem gezüchteten Rhabarber und ihren Himbeeren da gewesen waren. Übrigens auch eines uralten Gärtners, der schon länger dort arbeitete, als es irgendwer erinnerte.
Marina hörte einen Wagen auf dem Kies draußen und eilte zum Fenster im ersten Stock. Sie erblickte einen schmutzigen alten Morris Minor, vollgestopft mit Leinwänden und farbbefleckten Tüchern, der wie ein erschöpfter Muli vor dem Hotel hielt. Ihr Herz pochte schneller vor Aufregung, und sie guckte rasch in den Spiegel auf dem Treppenabsatz. Mit Anfang fünfzig stand sie in der Blüte ihrer Schönheit, als wäre die Zeit extraleichtfüßig über ihr Gesicht hinweggetänzelt, um ja keine zu starken Spuren zu hinterlassen. Ihr dichtes honigbraunes Haar fiel ihr in großen Wellen über die Schultern, und ihre tief liegenden, einnehmenden Augen waren von der Farbe verrauchten Quarzes. Sie war zierlich mit zarten Knochen und einer schmalen Taille, besaß jedoch breite Hüften und einen großen Busen. Nachdem sie ihr Kleid glatt gestrichen und ihr Haar aufgeplustert hatte, lief sie in der Hoffnung nach unten, einen guten Eindruck zu machen.
»Marina, Schatz, ich glaube, dein erster potenzieller Hauskünstler ist eingetroffen«, rief ihr Mann. Grey Turner sah aus dem Fenster und kicherte, als er einen älteren Mann in einer langen Brokatjacke und schwarzen Kniebundhosen aus dem Morris steigen sah. Die großen Messingschnallen an den abgewetzten Schuhen blinkten in der schwachen Frühlingssonne.
»Gütiger Himmel, es ist Captain Hook!«, bemerkte Clementine, Greys dreiundzwanzigjährige Tochter, die sich zu ihm gesellte. Sie rümpfte verächtlich die Nase. »Wieso Submarine jeden Sommer einen Maler einlädt, der sich bei uns durchschnorrt, ist mir schleierhaft. Einen Hauskünstler zu haben, ist total affig.«
Grey ignorierte den despektierlichen Spitznamen, den seine Kinder für ihre Stiefmutter verwandten. »Marina hat einen guten Riecher fürs Geschäftliche«, sagte er. »Paul Lockwood war letztes Jahr ein Riesenerfolg. Unsere Gäste haben ihn geliebt. Da ist es nur verständlich, dass sie das wiederholen will.«
»Vielleicht ändert sie ihre Meinung, wenn sie diesen abgetakelten Typen sieht.«
»Meinst du, er hat einen Papagei in diesem Haufen Gepäck?« Grey beobachtete, wie der alte Mann steifbeinig zum Kofferraum ging und eine schäbige Zeichenmappe herausnahm.
»Unbedingt, Dad. Und er hat ein Schiff unten am Hafen vor Anker liegen. Wenigstens hat er noch zwei Hände, nicht eine und einen Haken.«
»Marina wird entzückt sein. Sie liebt ausgefallene Typen.«
»Glaubst du, dass sie dich deshalb geheiratet hat?«
Grey machte sich gerade und steckte die Hände in die Taschen. Er war sehr groß, hatte lockiges graues Haar und ein längliches Gesicht, das stets verständnisvoll wirkte. Nun blickte er kopfschüttelnd auf seine Tochter herab. »Vergiss nicht, dass du meine Gene trägst, Clemmie. Falls ich exzentrisch bin, stehen die Chancen recht gut, dass du diesen Makel geerbt hast.«
»Ich würde es nicht als Makel bezeichnen, Dad. Nichts ist langweiliger, als normal zu sein. Trotzdem«, ergänzte sie, als der Künstler seine Kofferraumklappe zuschlug, »kann es auch zu viel des Guten sein.«
»Er ist da! Wie aufregend!« Marina kam zu ihrem Mann und ihrer Stieftochter ans Fenster gelaufen. Clementine sah, wie ihre Aufregung verpuffte, als sie ihren ersten Kandidaten erblickte, der mit der Zeichenmappe unter den mottenzerfressenen Ärmel geklemmt auf die Haustür zustakste, und grinste schadenfroh.
»Mein Gott!«, rief Marina und warf beide Hände in die Höhe. »Was mache ich bloß?«
»Das zu überlegen, hast du keine Zeit, Schatz. Bitte ihn lieber herein, ehe er sein Schwert zückt.« Marina warf ihrem Mann einen flehenden Blick zu, doch er schüttelte lachend den Kopf und sah sie liebevoll an. »Das ist dein Projekt. Ich weiß doch, wie du es hasst, wenn ich mich einmische.«
»Möchtest du nicht bei dem Gespräch dabei sein?«, schlug sie mit einem zuckersüßen Lächeln vor.
»Oh nein, Schatz, er gehört ganz dir.«
»Du bist ein verschlagener, gemeiner Mann, Grey Turner«, entgegnete sie, allerdings bogen sich ihre Lippen zu einem Grinsen, als sie in der Mitte der Diele, am runden Tisch mit dem extravaganten Blumengesteck Position einnahm. Derweil half Shane Black, der Page, dem alten Mann mit der Zeichenmappe herein.
Marina ignorierte die amüsierten Gesichter am Fenster - inzwischen hatten nämlich auch Jennifer, eine der Empfangsdamen, und Heather, eine Kellnerin, einen Vorwand gefunden, in die Diele zu kommen - und streckte ihrem ersten Bewerber lächelnd die Hand entgegen. Seine war rau und rissig, und alte Farbe hatte sich tief in die Fingernägel gegraben. Er drückte ihre Hand fest. Dazu verschlang er sie mit dem Blick eines Mannes, der viele Monate auf See gewesen war. Ihm schienen die Worte zu fehlen. »Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie hergekommen sind, Mr Bascobalena. Gehen wir in mein Büro, wo wir einen Kaffee trinken und in Ruhe plaudern können. Oder hätten Sie lieber Tee?«
»Oder ein Fass Rum?«, flüsterte Clementine ihrem Vater zu. Mr Bascobalena räusperte sich und schluckte. »Schwarzer Kaffee, kein Zucker, und nennen Sie mich bitte Balthazar.«
Sein Bariton erschrak Marina, sodass sie unwillkürlich ihre Hand zurückzog. Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Stieftochter in der Ecke kichern und reckte trotzig ihr Kinn.
»Shane, bitte Heather, Mr Bascobalena ein Kännchen schwarzen Kaffee zu bringen und einen Cappuccino für mich.«
»Wird gemacht, Mrs Turner«, sagte Shane, der sich ein Grinsen verkneifen musste.
Er nahm dem Gast die Zeichenmappe ab und folgte ihnen durch die Diele, den Salon, wo einige Gäste saßen und Zeitung lasen, und das hübsche grüne Zimmer zu Marinas Büro, von dem aus man auf den Kindergarten mit dem kleinen Wassergraben und dahinter das Meer blickte. Sie bedeutete dem Pagen, die Mappe auf den Couchtisch zu legen, und sah ihm nach, als er hinausging und die Tür hinter sich schloss.
Marina bat Balthazar, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und litt ein bisschen, als seine schmutzige Kleidung mit dem blassgrünen Chenille in Kontakt kam. Sie selbst setzte sich in einen Sessel, das Gesicht zum offenen Fenster. Es war offen, sodass mit der Seeluft der süßliche Geruch von gemähtem Gras und Ozon ins Zimmer wehte. Man konnte das ferne Meeresrauschen und die Klageschreie der Möwen hören, die hoch über den Wellen segelten. Marina sehnte sich danach, unten am Strand zu sein, die Füße im Wasser und das Haar im Wind fliegend. Widerwillig drängte sie diesen Gedanken fort. Sie wusste bereits, dass Balthazar Bascobolena den Sommer nicht im Polzanze verbringen würde, sollte ihm aber dennoch die Höflichkeit erweisen, ein wenig mit ihm zu plaudern.
»Sie haben einen wundervollen Namen - Bascobalena. Klingt spanisch.« Ihr war bewusst, dass er sie mit leicht offenem Mund anstarrte, als hätte er noch nie zuvor eine Frau gesehen. Trotz des geöffneten Fensters begann sein Körpergeruch den Raum zu füllen. Marina wünschte, Heather würde sich mit dem Kaffee beeilen, schätzte allerdings, dass Shane noch in der Diele war und mit dem restlichen Personal über den Besucher herzog. Hoffentlich hatten die anderen Gäste ihn nicht kommen gesehen.
»Mag sein, dass es irgendwo in früheren Zeiten mal einen Spanier in der Familie gab, aber wir sind seit Generationen allesamt aus Devon und stolz darauf.«
Marina zog verwundert die Brauen hoch. Er hatte den dunklen Teint und die Augen eines Spaniers. Und die Zähne, die er beim Lächeln zeigte, waren braun und faulig wie die eines Seemannes mit Skorbut. »Und Balthazar, so heißen eigentlich Romanhelden.«
»Meine Mutter hatte eine blühende Fantasie.«
»War sie auch Künstlerin?«
»Nein, aber eine Träumerin. Gott hab sie selig.«
»Also, Balthazar, erzählen Sie mir, was Sie malen?«
»Boote«, antwortete er und beugte sich vor, um seine Mappe zu öffnen.
»Boote«, wiederholte Marina und bemühte sich, ein kleines bisschen begeistert zu klingen. »Wie interessant ... wenn auch nicht überraschend«, ergänzte sie schmunzelnd.
Mr Bascobalena ging nicht auf ihre Anspielung auf seine Piratenkleidung ein.
»Oh, mich faszinieren Boote schon, seit ich ein kleiner Junge war.«
»Dann sind Sie an der Küste aufgewachsen?«
»Ja, genau wie mein Vater und mein Großvater vor ihm.« Er war durch ein paar Bilder an der Wand abgelenkt. »Das sind schöne Landschaften. Sind Sie Sammlerin, Mrs Turner?«
»Leider nein. Und ich male auch nicht. Ich bewundere allerdings Leute wie Sie, die es können. Also, sehen wir uns einige Ihrer Arbeiten an.«
Er zog eine Zeichnung von einem Fischerboot in aufgewühlter See aus der Mappe. Für einen Moment vergaß Marina seinen Geruch und den ungewöhnlichen Aufzug und starrte ungläubig auf das Bild.
»Das ist wunderschön«, hauchte sie und rutschte nach vorn auf die Sesselkante. »Sie sind begabt.«
»Dann sehen Sie sich diese hier an.« Er zog ein anderes hervor. Der wehmütige Charme seiner Arbeiten verblüffte Marina. Er hatte alle erdenklichen Arten von Schiffen und Booten gezeichnet: von elisabethanischen Flotten bis hin zu modernen Jachten und Barkassen; manche im Morgengrauen auf ruhiger See, andere im Mondschein auf endlosem Meer, und allesamt von dieser seltsamen Melancholie erfüllt. »Ich male auch in Öl, aber die Bilder sind zu groß, als dass ich sie mitbringen konnte. Sie dürfen aber jederzeit zu mir kommen und sie sich ansehen, wenn Sie mögen. Ich wohne in der Nähe von Salcombe.«
»Danke. Ich bin sicher, dass sie genauso reizend sind wie Ihre Zeichnungen.« Sie sah ihn ernst an. »Sie haben ein außerordentliches Talent.«
»Könnte ich Menschen malen, würde ich Sie porträtieren.« Marina beachtete seinen anzüglichen Blick nicht.
»Sie malen keine Menschen?« Sie tat enttäuscht.
»Niemals.« Er fuhr sich durch sein ausdünnendes graues Haar, das ihm bis zu den goldenen Epauletten auf den Schultern hing. »Habe ich auch noch nie. Ich bekomme sie nicht richtig hin. Egal, wen ich male, hinterher sehen alle wie Affen aus.«
»Wie schade. Es ist leider so, Balthazar, dass ich einen Künstler brauche, der meinen Gästen beibringt, alles zu malen, nicht bloß Schiffe und Affen. Tut mir leid.«
Als Balthazar die Schultern hängen ließ, erschien Heather mit einem Tablett, auf dem ein silbernes Kaffeekännchen und ein Cappuccino standen. Marina sah sie tadelnd an, weil es so lange gedauert hatte, und Heather errötete. Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch. Marina hoffte, er würde gleich gehen, doch er blickte gierig zu den Ingwerplätzchen und wirkte sogleich munterer. Folglich blieb Marina nichts anderes übrig, als ihm Kaffee einzuschenken und die Plätzchen zu reichen, während er sich entspannt auf dem Sofa zurücklehnte.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Santa Montefiore
Santa Montefiore, 1970 im englischen Winchester geboren, studierte nach einem langen Argentinien-Aufenthalt an der Universität von Exeter Spanisch und Italienisch. Sie ist mit dem Schriftsteller Simon Sebag-Montefiore verheiratet und Mutter zweier Kinder. Inzwischen sind in Deutschland sechs Romane von ihr erschienen und ihre Bücher wurden in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.santamontefiore.co.uk
Bibliographische Angaben
- Autor: Santa Montefiore
- 2013, 416 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 386365921X
- ISBN-13: 9783863659219
- Erscheinungsdatum: 28.05.2013
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