Die Pferdelords und der Sturm der Orks (ePub)
Band 1 der Pferdelords-Reihe
Die Macht der Türme ist gebrochen, der eine Ring vernichtet. Und doch ...Der Bote des Königs ist tot! Ermordet auf dem Pass, der zur Hochmark führt und sein entstellter Körper trägt die Schreckenszeichen der Orks, von denen man glaubte, daß sie nie mehr...
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Produktinformationen zu „Die Pferdelords und der Sturm der Orks (ePub)“
Die Macht der Türme ist gebrochen, der eine Ring vernichtet. Und doch ...Der Bote des Königs ist tot! Ermordet auf dem Pass, der zur Hochmark führt und sein entstellter Körper trägt die Schreckenszeichen der Orks, von denen man glaubte, daß sie nie mehr zurückkehren würden, seit die Pferdelords sie vor einem Menschenalter vernichtend geschlagen hatten. Garodem, der Pferdefürst der Hochmark, versammelt seine Mannen unter seinem Wappen, um dem König im Kampf gegen die grausamen Horden zu Hilfe zu eilen. Aber schon bald braucht die Hochmark selber Schutz, denn die Orks sammeln sich und schließlich steht ein unüberwindlicher Feind vor der Stadt und den Toren der Burg Eternas. Die Pferdelords rüsten sich zum Kampf, doch sie wissen nicht, daß sich der Feind bereits schon mitten unter ihnen befindet - noch dazu an einer Stelle, an der ihn gewiss niemand vermuten wird ...
Lese-Probe zu „Die Pferdelords und der Sturm der Orks (ePub)“
1Das Haus war kaum zu entdecken, obwohl seine Erbauer sich keine Mühe gegeben hatten, es zu verbergen. Es schien ein natürlicher Bestandteil des riesigen Baumes zu sein, und seine Strukturen schmiegten sich förmlich zwischen die Äste und Blätter, so als seien sie gleichsam mit diesen verwachsen. Treppen und Gemächer folgten dem Wachstum des Stammes, und doch boten sie alle Bequemlichkeiten, nach denen es ein menschenähnliches Wesen verlangen mochte. Der Baum war mächtig und sehr alt, und Gleiches galt auch für das Haus. Es war das Haus Elodarions, und er zählte zu den Weisesten und Kraftvollsten des gesamten Elfenvolkes.
Auf den ersten Blick konnte man Elodarion für einen Mann in den besten Jahren halten. Er war groß, von schlankem Wuchs, und seine Gesichtszüge waren noch eben. In seinen Augen hingegen lag die Weisheit vieler erlebter Menschenalter, und seine spitz geformten Ohren bezeugten seine Abstammung vom elfischen Volk. Jenem Volk, welches die aufstrebende Menschheit von Anbeginn an begleitet und den Aufstieg und Fall schon so vieler Stämme der Menschenwesen erlebt hatte. Elodarions weißblonde Haare fielen ihm lang und glatt über den Rücken und wurden im Nacken von einer Spange gehalten, welche die Form einer erblühten Lilie hatte. Diese Lilie war das Symbol seines Hauses und wiederholte sich in den feinen Mustern seines langen Gehkleides und des blauen Umhanges, der die Schultern des Elfenmannes verhüllte.
Elodarion war alt, selbst für die Begriffe der Unsterblichen, und er zählte zu den begünstigten Elfen seines Volkes, denn seine Gefährtin hatte ihm vor nunmehr fünfhundert Jahren das Glück geschenkt und ihm zwei Kinder geboren. Kinder waren selten im Volk der Elfen, und noch dazu deren zwei im selben Haus waren ein Segen, der nur sehr wenigen Gefährten zuteilwurde.
Elodarion trat auf
... mehr
einen der kleinen Balkone seines Hauses und legte eine Hand auf das fein geschnitzte Geländer. Die Holzkonstruktion wirkte so zierlich, dass sie kaum in der Lage zu sein schien, einen Sturz aufzufangen, doch sie war aus bestem Steinholz, und ihr glatter Handlauf verriet, dass er schon oft von Händen berührt worden war. Der Elfenmann zog den blauen Umhang enger um seine Schultern, als fröstele es ihn, obwohl ein sanfter und warmer Wind über die kleine Waldlichtung strich, auf der sich Baum und Haus erhoben. Elodarion blickte nach Osten, als könne er durch den Wald und die Lande dort jenen Ort erkennen, dessen Macht er wachsen spürte. Eine düstere Bedrohung, der das elfische Volk vor so vielen Menschenaltern und dem Bruchteil eines elfischen Lebens schon einmal begegnet war.
Elodarion strich mit der Hand über den Handlauf des Balkons, so als wolle er sich vergewissern, dass dieser Bestand haben und mit ihm das Haus Elodarions unbeschadet der dunklen Macht widerstehen würde. Er spürte, wie seine Gefährtin hinter ihn trat. »Schon einmal haben wir es gespürt«, sagte er leise. »Das Wachsen der Dunklen Macht. Und lange haben wir ihm zugesehen.«
»Und schon einmal wurde sie besiegt.« Seine Gefährtin trat neben ihn, und ihre Gestalt wirkte vollendet und anmutig. Nach all den gemeinsam verbrachten Jahren waren sie einander zutiefst verbunden, gleichsam als seien sie ein einziges Wesen, und sie verspürten die gleiche Sorge.
»Damals waren die Stämme der Menschenwesen kraftvoll und zahlreich. Heute gibt es deren nur noch wenige. So viele fielen zurück in die Barbarei und entzweiten sich. Der alte Bund ist zerfallen und existiert nicht mehr. Das Streben nach Macht und Glück erfüllt die Menschen, und in ihrer Gier danach kennen sie kein Maß mehr.«
Sie legte ihre Hand auf die seine, und für einen Moment gaben sie sich stumm ihrer Verbundenheit hin. »Sie haben so wenig Zeit, ein Maß zu finden«, sagte Eolyn schließlich leise. Eolyn, Tau, der den Morgen streichelt. Für Elodarion konnte es keinen zutreffenderen Namen für seine Gefährtin geben.
»Das Bündnis konnte einst die Dunkle Macht bezwingen. Nun ist diese erneut erstarkt und stärker als je zuvor. Die Macht breitet sich aus, und eines Mondes wird sie auch die Häuser des Elfenvolkes erreichen.«
Eolyn lächelte sanft. »Unsere Häuser mögen dann schon weit jenseits der Meere stehen.«
»Nein.« Elodarion schüttelte langsam den Kopf. »Du weißt, dass dies ein Trugschluss ist. Eines Tages wird die Dunkle Macht selbst über die Meere hinweg reichen. Wir müssen ihr entgegentreten. Jetzt, solange wir noch die Kraft dazu finden und es noch Menschenwesen gibt, mit denen wir den Bund erneuern können.«
»Werden die Menschenwesen dies auch tun? Spüren sie denn die Drohung, die von der Dunklen Macht ausgeht, und werden sie sich ihr widersetzen oder aber sich ihr hingeben?« Eolyn sah ihren Gefährten zweifelnd an. »Nur gemeinsam mit den Menschenwesen werden wir der Dunklen Macht erneut widerstehen können. Doch die meisten Stämme der Menschenwesen sind zerfallen, und nur wenige haben sich einen Teil ihrer einstigen Macht bewahrt.«
»Der Rat hat beschlossen, den alten Bund mit den Menschenwesen zu erneuern.« Elodarion wies mit einer weit ausholenden Geste über den Wald. »Die Häuser des Waldes und der See haben ihre Männer versammelt, und die Bogenschützen des elfischen Volkes werden in den Kampf ziehen. Das Schicksal wird zeigen, ob wir dies erneut in der Gemeinschaft eines Bundes tun werden.« Er blickte Eolyn ernst an und umschloss ihre Hand. »Lotaras und Leoryn sind erwählt worden, Kontakt zu den Königen der Menschenstämme aufzunehmen und den Bund zu erneuern.«
»Lotaras und Leoryn?« Für einen Augenblick zeigte sich Sorge im Gesicht Eolyns. »Sie währen erst fünfhundert Jahre und haben bislang noch nie Kontakt zu den Menschenwesen gehabt.«
Elodarion lächelte. »Ich spüre deine Sorge wohl, Eolyn. Doch sie wissen, was auch wir wissen, sind im Gegensatz zu uns aber nicht voreingenommen, da sie die alten Könige der Menschen nicht kannten. Sie werden den neuen Herrschern unbelastet entgegentreten. Jene Menschenwesen, die unser Volk noch kennen, wissen um die besondere Bedeutung der Kinder für unsere Häuser. Wenn wir unsere Kinder folglich als Botschafter zu ihnen entsenden, werden sie diesen Umstand als besondere Ehre werten. Und habe keine Sorge. Auf dem Weg nach Süden und später nach Osten werden sie von den Bogenschützen unserer Häuser begleitet.«
Eolyn blickte nachdenklich nach Osten, als könne auch sie durch die Bäume des Waldes hindurch den Ort der Gefahr erblicken, und die Luft schien ihr plötzlich schwer und kühl.
2
Zunächst sah es danach aus, als habe sich einer der zahllosen Gesteinsbrocken von den steilen Hängen des Pfades gelöst. Aus der Ferne war jedenfalls nur das typische ungleichmäßige Grau eines großen Steines mit seinen grünen Stellen zu erkennen, die vom Moosbewuchs herrührten. Aber als die fünf Reiter langsam näher kamen, wurden zusätzlich auch bräunliche Flecken sichtbar, und die Pferde spürten noch vor den Männern, dass dies kein gewöhnlicher Felsen war. Kormunds grauer Hengst schnaubte leise, und der stämmige Mann beugte sich ein wenig vor, um den Hals seines Tieres beruhigend zu tätscheln. Reiter und Pferd nahmen jetzt beide den leichten Geruch von Kupfer wahr. Den Geruch von vergossenem Blut.
»Ganz ruhig, mein Alter«, sagte Kormund leise. »Ich weiß ja, was du meinst.«
Der kräftige Reiter hielt den Blick aufmerksam auf den zweifelhaften Felsen und die umgebenden Hänge gerichtet und hob dann seine rechte Hand leicht an. Er hörte das leise Pochen der Hufe, als die anderen vier Reiter rechts und links von ihm zur Kampfformation ausschwärmten. Wobei Parem, der noch unerfahren war, sein Pferd zu weit vortrieb, doch ein missbilligender Blick seines benachbarten Reiters ließ ihn errötend seine Position korrigieren. Nichts war zu hören, außer dem steten Wind, der hier über die Hänge der Hochmark strich, und dem gelegentlichen Knarren des ledernen Sattelzeugs. Der Wind der Hochmark ließ auch die langen grünen Umhänge der Reiter unruhig auswehen, als seien sie eigenständige Lebewesen. Sie alle trugen die grünen Umhänge der Pferdelords, und vor ihren rechten Schenkeln hingen die typischen Rundschilde ihres Volkes vom Sattelknauf. Grüne Schilde mit dem Wappen der Hochmark des Königs, einem doppelten Pferdekopf mit einem Schmiedehammer, und diese gekreuzten Symbole wiederholten sich auch auf den Brustharnischen der Männer. Blaue Rosshaarschweife waren an den Kämmen ihrer runden Helme befestigt. Die Reiter trugen Lanze und Schwert der Wache des Pferdefürsten Garodem. Schwertmänner nannte man sie, und sie waren stolz auf diesen Ehrentitel. Von Kormunds erhobener Lanzenspitze wehte der lange dreieckige Wimpel der Pferdelords aus und zeigte an, dass er der Führer eines Beritts war. Der Wimpel bildete ein weißes Pferd auf grünem Grund ab, wobei der Kopf des Tieres stets nach vorne, dem Feind entgegen, wies, und er war rundherum mit einer schmalen dunkelblauen Borte eingefasst. Dem dunklen Blau der Hochmark.
Kormund ließ sein Pferd im Schritt auf den vermeintlichen Felsbrocken, der vor der Patrouille auf dem Weg lag, zugehen, und als die Gruppe näher kam, wurde der faulige und süßliche Geruch der Verwesung, der von dem Klumpen ausging, zunehmend für alle riechbar. Insekten begannen sich von dem Gegenstand zu erheben, und nun wussten sie, dass hier wohl ein menschliches Lebewesen den Tod gefunden haben musste, denn der Klumpen vor ihnen war zu klein für ein Pferd und zu groß für ein Schaf, aber genau richtig für einen Menschen.
Die Gruppe hielt neben dem Toten an, und Kormund und sein Freund und Stellvertreter Lukan schwangen sich aus den Sätteln. Sie stießen die Lanzenenden in den Boden und gingen nebeneinander zu den menschlichen Überresten hinüber.
»Einer der Unseren«, brummte Lukan und rümpfte wegen des Gestanks die Nase, als er den Toten herumzog. Jetzt wurden die Konturen der Gestalt deutlicher, ebenso wie die Verletzungen, die der Mann erlitten hatte. Auch der vom Wind herangewehte feine Staub löste sich teilweise und entblößte nun die Kleidung und die Wunden des Toten. Lukan zupfte an dem grünen Umhang der Leiche. »Ein Pferdelord.«
Kormund nickte. »Einer der Unseren. Aber nicht aus der Hochmark. Habt Ihr den Saum gesehen?«
»Natürlich.« Der Umhang war mit einem goldenen Saum eingefasst, was ihnen zeigte, dass es sich bei dem Reiter, der vor ihnen lag, um einen Mann aus der Mark des Königs gehandelt haben musste. Sein Gesicht war unkenntlich. »Ich denke, er dürfte fünf oder sechs Tage hier liegen. Jedenfalls noch keinen Zehntag.« Er sah sich um. »Kein Helm. Er hat seinen Helm verloren. Seltsam.«
Der Helm hätte ihnen verraten können, ob der Mann direkt vom Hofe des Königs gekommen war, denn alle Schwertmänner der königlichen Wache trugen keine blauen, sondern helle Rosshaarschweife an ihren Helmkämmen. Die Augen und größere Gewebeteile des Toten waren bereits von Aasfressern und Insekten weggefressen worden. Lukan knurrte missmutig und starrte in den halb offenen Mund der Leiche. »Die Zähne sind noch in Ordnung. Es muss ein junger Mann gewesen sein. Was, beim Dunklen Turm, hat ein Pferdelord des Königs hier bei uns verloren?«
»Ja, das würde mich auch interessieren.« Kormund bückte sich neben seinem Freund und begann die Leiche zu untersuchen. »Aber zunächst interessiert mich, was ihn getötet hat. Seht Ihr diese parallelen Risse in seiner Kleidung? Sieht ganz nach den Krallen eines Pelzbeißers aus.«
Lukan wiegte den Kopf. »Ein Pelzbeißer? Hier bei uns? Ich weiß nicht, die Mark liegt ziemlich hoch im Gebirge. Ein Pelzbeißer findet hier nicht viel, was er fressen kann, und würde wohl ziemlich hungrig bleiben. Oder aber in seinem Hunger eine der Herden anfallen und danach ein rasches Ende finden, denn die Herdenwächter sind nicht zimperlich.«
»Vielleicht ein alter Einzelgänger, der aus den tiefen Marken zu uns hochkam und hungrig genug war, um einen Mann anzufallen.«
Lukan grinste. »Stellt den jungen Parem auf die Probe und nicht mich, mein alter Freund. Ihr seht selbst, dass hier nur kleine Aasfresser ihr Werk verrichtet haben. Ein hungriger Pelzbeißer hätte sich einen ordentlichen Happen genommen.«
Lukan sah seinen stämmigen Freund kopfschüttelnd an und zupfte dann an den Überresten der Kleidung des Toten. Der faulige Gestank verstärkte sich noch, als er dessen Bekleidung schließlich mit dem Dolch zerschnitt und auseinanderzog. Unter Harnisch und Wams war der Körper bereits aufgedunsen und sichtlich in Verwesung übergegangen. Aber die vielen tiefen Schlitze im Leib waren dennoch gut zu erkennen. Es gab jeweils vier tiefe Furchen, die bis zu den Organen vorgedrungen waren.
Lukan hielt eine Hand mit gespreizten Fingern über die Wunden und nickte dann. »Sieht wirklich nach einem Pelzbeißer aus. Ein sehr großes Exemplar. Jedenfalls sehe ich nichts, was auf Schwert, Pfeil oder Lanze hindeutet. Nein, ich denke, es muss wohl doch ein Raubtier gewesen sein.«
»Jedenfalls werden wir nun wohl schwerlich erfahren, was der arme Kerl bei uns wollte.« Kormund erhob sich und trat mit seinem Freund zur Seite, um dem Gestank etwas auszuweichen. »Ein Pferdelord des Königs. Seit über dreißig Jahren ist kein Mann des Königs mehr in der Hochmark gewesen.«
»Mit Sicherheit kam er nicht ohne Grund. Doch darüber mag sich der Pferdefürst den Kopf zerbrechen.« Lukan stieß seinen Dolch einige Male in den Boden, um ihn zu säubern, und steckte ihn danach wieder in die Scheide an seinem Gürtel zurück. »Was meint Ihr, Kormund, mein Freund, soll die Schar weiter an der Grenze entlangreiten, oder sollen wir vorzeitig nach Eternas zurückkehren?«
»Wir suchen nach Raubzeug und Eindringlingen, Lukan. In der letzten Zeit sind einfach zu viele Schafe gerissen worden. Die Menschen in den Gehöften und Weilern sind unruhig. Vielleicht ist es dieser Pelzbeißer, der all das verursacht hat, und wir sind ihm nun endlich auf der Spur.«
»Fünf oder sechs Tage. Eine recht kalte Spur, alter Freund.« Kormund zuckte die Achseln. Er sah die anderen Reiter an. »Wir sehen uns erst einmal hier um, ob wir in der Nähe noch andere Spuren finden. Achtet auf den Krallenabdruck eines Pelzbeißers.« Er blickte zu der Leiche hinüber. »Und begrabt den Mann in Ehren.«
Natürlich war es Parem, der noch unerfahrene Pferdelord, dem die undankbare Aufgabe zufiel, ein Grab vorzubereiten. Er saß mit den anderen Männern ab und zog seinen Dolch, um am Rand des Pfades eine flache Grube auszuheben, die man danach mit Steinen bedecken würde. Der Rest der Schar schwärmte aus und suchte nach Spuren. Aber der Boden war hart und steinig, sodass es nicht leicht war, etwas zu finden. Doch das waren die Männer der Hochmark gewohnt, und sie brauchten nicht viel, um Hinweise zu finden. Ein Stein, der umgedreht worden war und dessen mit Moos bewachsene Seite nach oben zeigte, ein paar helle Kratzer auf den Felsen, vielleicht sogar ein Abdruck an den wenigen weichen Stellen im Boden … Wenn es etwas gab, würden es die erfahrenen Männer auch finden. Es war ihre Aufgabe, denn die Schafe stellten den Reichtum der Hochmark dar. Die Schafe und das Erz, das man hier reichlich fand. Aber Erz konnte man nicht essen, und der Verlust von Schafen bedeutete eine große Gefahr. Nein, die Männer nahmen ihre Aufgabe ernst.
Der schlaksige junge Parem, dessen rotblonde Haare unter dem Rand seines Helmes herausschauten, hatte mittlerweile eine flache Grube fertig ausgehoben und blickte angewidert, als ihm nun auch noch die unangenehme Aufgabe zufiel, die Leiche dorthin zu schaffen. Kormund sah zu ihm hinüber und verzog das Gesicht. Doch er konnte dem jungen Mann keinen ernsthaften Vorwurf machen. Also ging er zu Parem hinüber, um ihm zu helfen. »Ich weiß, es ist keine angenehme Pflicht«, knurrte er und packte mit an. »Aber ein Pferdelord verdient auch im Tode eine ehrenvolle Behandlung. Keiner der Unseren bleibt für das Raubzeug liegen. Atme stärker durch den Mund ein, das macht es etwas leichter.«
Sie legten die Leiche in die flache Grube, und Kormund war erleichtert, als ihnen dies auf Anhieb gelang. Er hatte schon anderes erlebt. Damals, als es noch Kämpfe und große Schlachten gegen den Feind gegeben hatte, hatte man für manchen Toten mehrere Handreichungen machen müssen. Sie hüllten die Leiche notdürftig in den zerfetzten grünen Umhang mit dem goldenen Saum der königlichen Wache ein. Der Scharführer sah Parem zögern. »Was ist?«
»Seine Waffe«, murmelte der junge Pferdelord verwirrt. »Ich kann keine Waffe finden. Wir müssen ihm doch seine Waffe in die Hand geben, nicht wahr? So will es doch die Tradition.«
Kormund fluchte unterdrückt. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Ihm als altem Krieger und erfahrenem Pferdelord hätte dies sofort auffallen müssen. Wo waren die Waffen des Toten? Kein Pferdelord ging ohne Waffen durchs Leben, und kein Pferdelord ging ohne Waffen zu den Goldenen Wolken. Wo waren die Waffen?
Kormund richtete sich auf und erhob seine Stimme. »Seine Waffen fehlen! Lukan, wie weit kann einem Mann im Kampf ein Schwert aus der Hand geschleudert werden?«
»Vier, vielleicht auch fünf Längen«, kam Lukans Antwort.
»Dann sucht auf zehn Längen um die Fundstelle herum«, rief Kormund. »Seine Waffen müssen zu finden sein. Zumindest eine Waffe.«
Denn wenigstens eine Waffe mussten sie dem Toten in die Hand geben, damit er als Pferdelord ehrenvoll zwischen den Goldenen Wolken voranstürmen konnte. Also begannen die Männer nach dem Schwert, der Lanze oder dem Bogen des Mannes zu suchen. Doch sie fanden nicht einmal seinen Dolch. Nach einer Weile erfolglosen Suchens rief Kormund die Männer zu sich zurück.
»Kein Raubtier entwendet Waffen«, knurrte Lukan grimmig. »Also muss jemand vorbeigekommen sein und sie dem Toten abgenommen haben.«
»Und wer es auch war, dieser Jemand war kein Pferdelord, denn kein Pferdelord würde einem Toten jemals die Waffe nehmen«, bestätigte Kormund mit finsterem Gesicht. »Ein Dieb ist in der Hochmark. Vielleicht ein Geächteter oder Plünderer aus den fernen Ländern.«
»Oder Orks«, wandte Parem ein.
Lukan musterte den jungen Reiter auflachend. »Orks. Seit einem Menschenalter sind keine Orks mehr in die Marken des Königs eingedrungen. Wer von euch, außer Kormund und mir, hat denn überhaupt schon einmal einen Ork zu Gesicht bekommen?« Lukan spuckte aus. »Orks. Vor vielen Jahren haben wir sie niedergeritten, und wir taten es ruhmreich. Nie wieder werden Orks das Land der Pferdelords beschmutzen. Sie gehören ins Land der Sage.«
»Wie die Elfen«, knurrte ein anderer Reiter.
»Das ist etwas anderes«, erwiderte Lukan. »Elfen gibt es noch.« Er zuckte die Achseln. »Sagt man jedenfalls«, schränkte er ein. »Irgendwo in den westlichen Landen und im Norden. Der Pferdefürst selbst hat einst einige von ihnen am Hofe des Pferdekönigs gesehen. Nein, Elfen gibt es noch. Aber Orks? Unsere Klingen haben sie in die Flucht geschlagen, und die Hufe unserer Pferde haben sie in den Boden gestampft.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Kormund leise. »Dennoch mag es noch welche geben. Aber sie würden es nicht wagen, jemals wieder unser Land zu betreten. Doch es gibt mehr als genug Söldner, Plünderer und Barbaren, die auf dem Raubzug sein könnten. Hinter dem Tod des Mannes vom Hofe des Königs scheint mir mehr zu stecken, als ich zunächst gedacht habe.« Der Scharführer reckte sich nachdenklich. »Auch wenn es nur eine kleine Handvoll Eindringlinge sein mag, so bilden sie doch für die abgelegenen Gehöfte eine Gefahr. Der Pferdefürst muss davon erfahren.«
»Also kehren wir nach Eternas zurück«, stellte Lukan fest. Kormund nickte. »Das tun wir.« Er blickte auf das unvollendete Grab. »Zunächst erweisen wir jedoch dem Toten unsere Ehre.«
Sie traten an das offene Grab heran und blickten sich dann zögernd an. Sie wussten, was zu tun war, doch kein Pferdelord gab gerne seine Waffe aus der Hand. Schließlich stieß Kormund ein leises Knurren aus. Er konnte von seinen Männern nicht erwarten, was er selbst nicht zu vollbringen bereit war. Mit einem leisen Zischen fuhr die Klinge seines Schwertes aus der Scheide, und er bückte sich, um die Hand des Toten um den Griff der Waffe drücken zu können.
Lukan legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Wohl getan, mein alter Freund.«
Kormund seufzte leise. »Es gibt noch viele andere gute Klingen. Die Hochmark ist reich an Erzen, und dieser Mann muss Ehre haben.«
Sie sprachen die rituellen Worte, zu denen sie ihre Toten in die Goldenen Wolken entließen, und schichteten im Anschluss daran sofort mehrere Steine über die Leiche, damit kein Raubtier sie schänden konnte. Danach standen sie in Linie an dem einsamen Grab und schlugen ihre Waffen im Takt eines galoppierenden Pferdes an die Rundschilde. So begleitete der symbolische Hufschlag den Ritt des Toten zu den Goldenen Wolken.
Kormund zog seine Lanze mit dem flatternden dreieckigen Wimpel aus dem Boden, trat an die linke Seite seines Pferdes und saß auf. Routiniert schob er den rechten Schenkel hinter den grünen Rundschild und stellte die Lanze in den eisernen Köcher am Steigbügel. Er wandte sich den anderen Männern zu.
»Nach Eternas.«
Kormund ritt an, und die anderen folgten dem flatternden Wimpel. Hinter ihnen blieb das einsame Grab zurück, das den Scharführer zunehmend beschäftigte. Es ging etwas vor sich in der Hochmark, und dieses Etwas gefiel ihm nicht.
Elodarion strich mit der Hand über den Handlauf des Balkons, so als wolle er sich vergewissern, dass dieser Bestand haben und mit ihm das Haus Elodarions unbeschadet der dunklen Macht widerstehen würde. Er spürte, wie seine Gefährtin hinter ihn trat. »Schon einmal haben wir es gespürt«, sagte er leise. »Das Wachsen der Dunklen Macht. Und lange haben wir ihm zugesehen.«
»Und schon einmal wurde sie besiegt.« Seine Gefährtin trat neben ihn, und ihre Gestalt wirkte vollendet und anmutig. Nach all den gemeinsam verbrachten Jahren waren sie einander zutiefst verbunden, gleichsam als seien sie ein einziges Wesen, und sie verspürten die gleiche Sorge.
»Damals waren die Stämme der Menschenwesen kraftvoll und zahlreich. Heute gibt es deren nur noch wenige. So viele fielen zurück in die Barbarei und entzweiten sich. Der alte Bund ist zerfallen und existiert nicht mehr. Das Streben nach Macht und Glück erfüllt die Menschen, und in ihrer Gier danach kennen sie kein Maß mehr.«
Sie legte ihre Hand auf die seine, und für einen Moment gaben sie sich stumm ihrer Verbundenheit hin. »Sie haben so wenig Zeit, ein Maß zu finden«, sagte Eolyn schließlich leise. Eolyn, Tau, der den Morgen streichelt. Für Elodarion konnte es keinen zutreffenderen Namen für seine Gefährtin geben.
»Das Bündnis konnte einst die Dunkle Macht bezwingen. Nun ist diese erneut erstarkt und stärker als je zuvor. Die Macht breitet sich aus, und eines Mondes wird sie auch die Häuser des Elfenvolkes erreichen.«
Eolyn lächelte sanft. »Unsere Häuser mögen dann schon weit jenseits der Meere stehen.«
»Nein.« Elodarion schüttelte langsam den Kopf. »Du weißt, dass dies ein Trugschluss ist. Eines Tages wird die Dunkle Macht selbst über die Meere hinweg reichen. Wir müssen ihr entgegentreten. Jetzt, solange wir noch die Kraft dazu finden und es noch Menschenwesen gibt, mit denen wir den Bund erneuern können.«
»Werden die Menschenwesen dies auch tun? Spüren sie denn die Drohung, die von der Dunklen Macht ausgeht, und werden sie sich ihr widersetzen oder aber sich ihr hingeben?« Eolyn sah ihren Gefährten zweifelnd an. »Nur gemeinsam mit den Menschenwesen werden wir der Dunklen Macht erneut widerstehen können. Doch die meisten Stämme der Menschenwesen sind zerfallen, und nur wenige haben sich einen Teil ihrer einstigen Macht bewahrt.«
»Der Rat hat beschlossen, den alten Bund mit den Menschenwesen zu erneuern.« Elodarion wies mit einer weit ausholenden Geste über den Wald. »Die Häuser des Waldes und der See haben ihre Männer versammelt, und die Bogenschützen des elfischen Volkes werden in den Kampf ziehen. Das Schicksal wird zeigen, ob wir dies erneut in der Gemeinschaft eines Bundes tun werden.« Er blickte Eolyn ernst an und umschloss ihre Hand. »Lotaras und Leoryn sind erwählt worden, Kontakt zu den Königen der Menschenstämme aufzunehmen und den Bund zu erneuern.«
»Lotaras und Leoryn?« Für einen Augenblick zeigte sich Sorge im Gesicht Eolyns. »Sie währen erst fünfhundert Jahre und haben bislang noch nie Kontakt zu den Menschenwesen gehabt.«
Elodarion lächelte. »Ich spüre deine Sorge wohl, Eolyn. Doch sie wissen, was auch wir wissen, sind im Gegensatz zu uns aber nicht voreingenommen, da sie die alten Könige der Menschen nicht kannten. Sie werden den neuen Herrschern unbelastet entgegentreten. Jene Menschenwesen, die unser Volk noch kennen, wissen um die besondere Bedeutung der Kinder für unsere Häuser. Wenn wir unsere Kinder folglich als Botschafter zu ihnen entsenden, werden sie diesen Umstand als besondere Ehre werten. Und habe keine Sorge. Auf dem Weg nach Süden und später nach Osten werden sie von den Bogenschützen unserer Häuser begleitet.«
Eolyn blickte nachdenklich nach Osten, als könne auch sie durch die Bäume des Waldes hindurch den Ort der Gefahr erblicken, und die Luft schien ihr plötzlich schwer und kühl.
2
Zunächst sah es danach aus, als habe sich einer der zahllosen Gesteinsbrocken von den steilen Hängen des Pfades gelöst. Aus der Ferne war jedenfalls nur das typische ungleichmäßige Grau eines großen Steines mit seinen grünen Stellen zu erkennen, die vom Moosbewuchs herrührten. Aber als die fünf Reiter langsam näher kamen, wurden zusätzlich auch bräunliche Flecken sichtbar, und die Pferde spürten noch vor den Männern, dass dies kein gewöhnlicher Felsen war. Kormunds grauer Hengst schnaubte leise, und der stämmige Mann beugte sich ein wenig vor, um den Hals seines Tieres beruhigend zu tätscheln. Reiter und Pferd nahmen jetzt beide den leichten Geruch von Kupfer wahr. Den Geruch von vergossenem Blut.
»Ganz ruhig, mein Alter«, sagte Kormund leise. »Ich weiß ja, was du meinst.«
Der kräftige Reiter hielt den Blick aufmerksam auf den zweifelhaften Felsen und die umgebenden Hänge gerichtet und hob dann seine rechte Hand leicht an. Er hörte das leise Pochen der Hufe, als die anderen vier Reiter rechts und links von ihm zur Kampfformation ausschwärmten. Wobei Parem, der noch unerfahren war, sein Pferd zu weit vortrieb, doch ein missbilligender Blick seines benachbarten Reiters ließ ihn errötend seine Position korrigieren. Nichts war zu hören, außer dem steten Wind, der hier über die Hänge der Hochmark strich, und dem gelegentlichen Knarren des ledernen Sattelzeugs. Der Wind der Hochmark ließ auch die langen grünen Umhänge der Reiter unruhig auswehen, als seien sie eigenständige Lebewesen. Sie alle trugen die grünen Umhänge der Pferdelords, und vor ihren rechten Schenkeln hingen die typischen Rundschilde ihres Volkes vom Sattelknauf. Grüne Schilde mit dem Wappen der Hochmark des Königs, einem doppelten Pferdekopf mit einem Schmiedehammer, und diese gekreuzten Symbole wiederholten sich auch auf den Brustharnischen der Männer. Blaue Rosshaarschweife waren an den Kämmen ihrer runden Helme befestigt. Die Reiter trugen Lanze und Schwert der Wache des Pferdefürsten Garodem. Schwertmänner nannte man sie, und sie waren stolz auf diesen Ehrentitel. Von Kormunds erhobener Lanzenspitze wehte der lange dreieckige Wimpel der Pferdelords aus und zeigte an, dass er der Führer eines Beritts war. Der Wimpel bildete ein weißes Pferd auf grünem Grund ab, wobei der Kopf des Tieres stets nach vorne, dem Feind entgegen, wies, und er war rundherum mit einer schmalen dunkelblauen Borte eingefasst. Dem dunklen Blau der Hochmark.
Kormund ließ sein Pferd im Schritt auf den vermeintlichen Felsbrocken, der vor der Patrouille auf dem Weg lag, zugehen, und als die Gruppe näher kam, wurde der faulige und süßliche Geruch der Verwesung, der von dem Klumpen ausging, zunehmend für alle riechbar. Insekten begannen sich von dem Gegenstand zu erheben, und nun wussten sie, dass hier wohl ein menschliches Lebewesen den Tod gefunden haben musste, denn der Klumpen vor ihnen war zu klein für ein Pferd und zu groß für ein Schaf, aber genau richtig für einen Menschen.
Die Gruppe hielt neben dem Toten an, und Kormund und sein Freund und Stellvertreter Lukan schwangen sich aus den Sätteln. Sie stießen die Lanzenenden in den Boden und gingen nebeneinander zu den menschlichen Überresten hinüber.
»Einer der Unseren«, brummte Lukan und rümpfte wegen des Gestanks die Nase, als er den Toten herumzog. Jetzt wurden die Konturen der Gestalt deutlicher, ebenso wie die Verletzungen, die der Mann erlitten hatte. Auch der vom Wind herangewehte feine Staub löste sich teilweise und entblößte nun die Kleidung und die Wunden des Toten. Lukan zupfte an dem grünen Umhang der Leiche. »Ein Pferdelord.«
Kormund nickte. »Einer der Unseren. Aber nicht aus der Hochmark. Habt Ihr den Saum gesehen?«
»Natürlich.« Der Umhang war mit einem goldenen Saum eingefasst, was ihnen zeigte, dass es sich bei dem Reiter, der vor ihnen lag, um einen Mann aus der Mark des Königs gehandelt haben musste. Sein Gesicht war unkenntlich. »Ich denke, er dürfte fünf oder sechs Tage hier liegen. Jedenfalls noch keinen Zehntag.« Er sah sich um. »Kein Helm. Er hat seinen Helm verloren. Seltsam.«
Der Helm hätte ihnen verraten können, ob der Mann direkt vom Hofe des Königs gekommen war, denn alle Schwertmänner der königlichen Wache trugen keine blauen, sondern helle Rosshaarschweife an ihren Helmkämmen. Die Augen und größere Gewebeteile des Toten waren bereits von Aasfressern und Insekten weggefressen worden. Lukan knurrte missmutig und starrte in den halb offenen Mund der Leiche. »Die Zähne sind noch in Ordnung. Es muss ein junger Mann gewesen sein. Was, beim Dunklen Turm, hat ein Pferdelord des Königs hier bei uns verloren?«
»Ja, das würde mich auch interessieren.« Kormund bückte sich neben seinem Freund und begann die Leiche zu untersuchen. »Aber zunächst interessiert mich, was ihn getötet hat. Seht Ihr diese parallelen Risse in seiner Kleidung? Sieht ganz nach den Krallen eines Pelzbeißers aus.«
Lukan wiegte den Kopf. »Ein Pelzbeißer? Hier bei uns? Ich weiß nicht, die Mark liegt ziemlich hoch im Gebirge. Ein Pelzbeißer findet hier nicht viel, was er fressen kann, und würde wohl ziemlich hungrig bleiben. Oder aber in seinem Hunger eine der Herden anfallen und danach ein rasches Ende finden, denn die Herdenwächter sind nicht zimperlich.«
»Vielleicht ein alter Einzelgänger, der aus den tiefen Marken zu uns hochkam und hungrig genug war, um einen Mann anzufallen.«
Lukan grinste. »Stellt den jungen Parem auf die Probe und nicht mich, mein alter Freund. Ihr seht selbst, dass hier nur kleine Aasfresser ihr Werk verrichtet haben. Ein hungriger Pelzbeißer hätte sich einen ordentlichen Happen genommen.«
Lukan sah seinen stämmigen Freund kopfschüttelnd an und zupfte dann an den Überresten der Kleidung des Toten. Der faulige Gestank verstärkte sich noch, als er dessen Bekleidung schließlich mit dem Dolch zerschnitt und auseinanderzog. Unter Harnisch und Wams war der Körper bereits aufgedunsen und sichtlich in Verwesung übergegangen. Aber die vielen tiefen Schlitze im Leib waren dennoch gut zu erkennen. Es gab jeweils vier tiefe Furchen, die bis zu den Organen vorgedrungen waren.
Lukan hielt eine Hand mit gespreizten Fingern über die Wunden und nickte dann. »Sieht wirklich nach einem Pelzbeißer aus. Ein sehr großes Exemplar. Jedenfalls sehe ich nichts, was auf Schwert, Pfeil oder Lanze hindeutet. Nein, ich denke, es muss wohl doch ein Raubtier gewesen sein.«
»Jedenfalls werden wir nun wohl schwerlich erfahren, was der arme Kerl bei uns wollte.« Kormund erhob sich und trat mit seinem Freund zur Seite, um dem Gestank etwas auszuweichen. »Ein Pferdelord des Königs. Seit über dreißig Jahren ist kein Mann des Königs mehr in der Hochmark gewesen.«
»Mit Sicherheit kam er nicht ohne Grund. Doch darüber mag sich der Pferdefürst den Kopf zerbrechen.« Lukan stieß seinen Dolch einige Male in den Boden, um ihn zu säubern, und steckte ihn danach wieder in die Scheide an seinem Gürtel zurück. »Was meint Ihr, Kormund, mein Freund, soll die Schar weiter an der Grenze entlangreiten, oder sollen wir vorzeitig nach Eternas zurückkehren?«
»Wir suchen nach Raubzeug und Eindringlingen, Lukan. In der letzten Zeit sind einfach zu viele Schafe gerissen worden. Die Menschen in den Gehöften und Weilern sind unruhig. Vielleicht ist es dieser Pelzbeißer, der all das verursacht hat, und wir sind ihm nun endlich auf der Spur.«
»Fünf oder sechs Tage. Eine recht kalte Spur, alter Freund.« Kormund zuckte die Achseln. Er sah die anderen Reiter an. »Wir sehen uns erst einmal hier um, ob wir in der Nähe noch andere Spuren finden. Achtet auf den Krallenabdruck eines Pelzbeißers.« Er blickte zu der Leiche hinüber. »Und begrabt den Mann in Ehren.«
Natürlich war es Parem, der noch unerfahrene Pferdelord, dem die undankbare Aufgabe zufiel, ein Grab vorzubereiten. Er saß mit den anderen Männern ab und zog seinen Dolch, um am Rand des Pfades eine flache Grube auszuheben, die man danach mit Steinen bedecken würde. Der Rest der Schar schwärmte aus und suchte nach Spuren. Aber der Boden war hart und steinig, sodass es nicht leicht war, etwas zu finden. Doch das waren die Männer der Hochmark gewohnt, und sie brauchten nicht viel, um Hinweise zu finden. Ein Stein, der umgedreht worden war und dessen mit Moos bewachsene Seite nach oben zeigte, ein paar helle Kratzer auf den Felsen, vielleicht sogar ein Abdruck an den wenigen weichen Stellen im Boden … Wenn es etwas gab, würden es die erfahrenen Männer auch finden. Es war ihre Aufgabe, denn die Schafe stellten den Reichtum der Hochmark dar. Die Schafe und das Erz, das man hier reichlich fand. Aber Erz konnte man nicht essen, und der Verlust von Schafen bedeutete eine große Gefahr. Nein, die Männer nahmen ihre Aufgabe ernst.
Der schlaksige junge Parem, dessen rotblonde Haare unter dem Rand seines Helmes herausschauten, hatte mittlerweile eine flache Grube fertig ausgehoben und blickte angewidert, als ihm nun auch noch die unangenehme Aufgabe zufiel, die Leiche dorthin zu schaffen. Kormund sah zu ihm hinüber und verzog das Gesicht. Doch er konnte dem jungen Mann keinen ernsthaften Vorwurf machen. Also ging er zu Parem hinüber, um ihm zu helfen. »Ich weiß, es ist keine angenehme Pflicht«, knurrte er und packte mit an. »Aber ein Pferdelord verdient auch im Tode eine ehrenvolle Behandlung. Keiner der Unseren bleibt für das Raubzeug liegen. Atme stärker durch den Mund ein, das macht es etwas leichter.«
Sie legten die Leiche in die flache Grube, und Kormund war erleichtert, als ihnen dies auf Anhieb gelang. Er hatte schon anderes erlebt. Damals, als es noch Kämpfe und große Schlachten gegen den Feind gegeben hatte, hatte man für manchen Toten mehrere Handreichungen machen müssen. Sie hüllten die Leiche notdürftig in den zerfetzten grünen Umhang mit dem goldenen Saum der königlichen Wache ein. Der Scharführer sah Parem zögern. »Was ist?«
»Seine Waffe«, murmelte der junge Pferdelord verwirrt. »Ich kann keine Waffe finden. Wir müssen ihm doch seine Waffe in die Hand geben, nicht wahr? So will es doch die Tradition.«
Kormund fluchte unterdrückt. Warum war ihm das nicht aufgefallen? Ihm als altem Krieger und erfahrenem Pferdelord hätte dies sofort auffallen müssen. Wo waren die Waffen des Toten? Kein Pferdelord ging ohne Waffen durchs Leben, und kein Pferdelord ging ohne Waffen zu den Goldenen Wolken. Wo waren die Waffen?
Kormund richtete sich auf und erhob seine Stimme. »Seine Waffen fehlen! Lukan, wie weit kann einem Mann im Kampf ein Schwert aus der Hand geschleudert werden?«
»Vier, vielleicht auch fünf Längen«, kam Lukans Antwort.
»Dann sucht auf zehn Längen um die Fundstelle herum«, rief Kormund. »Seine Waffen müssen zu finden sein. Zumindest eine Waffe.«
Denn wenigstens eine Waffe mussten sie dem Toten in die Hand geben, damit er als Pferdelord ehrenvoll zwischen den Goldenen Wolken voranstürmen konnte. Also begannen die Männer nach dem Schwert, der Lanze oder dem Bogen des Mannes zu suchen. Doch sie fanden nicht einmal seinen Dolch. Nach einer Weile erfolglosen Suchens rief Kormund die Männer zu sich zurück.
»Kein Raubtier entwendet Waffen«, knurrte Lukan grimmig. »Also muss jemand vorbeigekommen sein und sie dem Toten abgenommen haben.«
»Und wer es auch war, dieser Jemand war kein Pferdelord, denn kein Pferdelord würde einem Toten jemals die Waffe nehmen«, bestätigte Kormund mit finsterem Gesicht. »Ein Dieb ist in der Hochmark. Vielleicht ein Geächteter oder Plünderer aus den fernen Ländern.«
»Oder Orks«, wandte Parem ein.
Lukan musterte den jungen Reiter auflachend. »Orks. Seit einem Menschenalter sind keine Orks mehr in die Marken des Königs eingedrungen. Wer von euch, außer Kormund und mir, hat denn überhaupt schon einmal einen Ork zu Gesicht bekommen?« Lukan spuckte aus. »Orks. Vor vielen Jahren haben wir sie niedergeritten, und wir taten es ruhmreich. Nie wieder werden Orks das Land der Pferdelords beschmutzen. Sie gehören ins Land der Sage.«
»Wie die Elfen«, knurrte ein anderer Reiter.
»Das ist etwas anderes«, erwiderte Lukan. »Elfen gibt es noch.« Er zuckte die Achseln. »Sagt man jedenfalls«, schränkte er ein. »Irgendwo in den westlichen Landen und im Norden. Der Pferdefürst selbst hat einst einige von ihnen am Hofe des Pferdekönigs gesehen. Nein, Elfen gibt es noch. Aber Orks? Unsere Klingen haben sie in die Flucht geschlagen, und die Hufe unserer Pferde haben sie in den Boden gestampft.«
»Das ist wohl wahr«, sagte Kormund leise. »Dennoch mag es noch welche geben. Aber sie würden es nicht wagen, jemals wieder unser Land zu betreten. Doch es gibt mehr als genug Söldner, Plünderer und Barbaren, die auf dem Raubzug sein könnten. Hinter dem Tod des Mannes vom Hofe des Königs scheint mir mehr zu stecken, als ich zunächst gedacht habe.« Der Scharführer reckte sich nachdenklich. »Auch wenn es nur eine kleine Handvoll Eindringlinge sein mag, so bilden sie doch für die abgelegenen Gehöfte eine Gefahr. Der Pferdefürst muss davon erfahren.«
»Also kehren wir nach Eternas zurück«, stellte Lukan fest. Kormund nickte. »Das tun wir.« Er blickte auf das unvollendete Grab. »Zunächst erweisen wir jedoch dem Toten unsere Ehre.«
Sie traten an das offene Grab heran und blickten sich dann zögernd an. Sie wussten, was zu tun war, doch kein Pferdelord gab gerne seine Waffe aus der Hand. Schließlich stieß Kormund ein leises Knurren aus. Er konnte von seinen Männern nicht erwarten, was er selbst nicht zu vollbringen bereit war. Mit einem leisen Zischen fuhr die Klinge seines Schwertes aus der Scheide, und er bückte sich, um die Hand des Toten um den Griff der Waffe drücken zu können.
Lukan legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Wohl getan, mein alter Freund.«
Kormund seufzte leise. »Es gibt noch viele andere gute Klingen. Die Hochmark ist reich an Erzen, und dieser Mann muss Ehre haben.«
Sie sprachen die rituellen Worte, zu denen sie ihre Toten in die Goldenen Wolken entließen, und schichteten im Anschluss daran sofort mehrere Steine über die Leiche, damit kein Raubtier sie schänden konnte. Danach standen sie in Linie an dem einsamen Grab und schlugen ihre Waffen im Takt eines galoppierenden Pferdes an die Rundschilde. So begleitete der symbolische Hufschlag den Ritt des Toten zu den Goldenen Wolken.
Kormund zog seine Lanze mit dem flatternden dreieckigen Wimpel aus dem Boden, trat an die linke Seite seines Pferdes und saß auf. Routiniert schob er den rechten Schenkel hinter den grünen Rundschild und stellte die Lanze in den eisernen Köcher am Steigbügel. Er wandte sich den anderen Männern zu.
»Nach Eternas.«
Kormund ritt an, und die anderen folgten dem flatternden Wimpel. Hinter ihnen blieb das einsame Grab zurück, das den Scharführer zunehmend beschäftigte. Es ging etwas vor sich in der Hochmark, und dieses Etwas gefiel ihm nicht.
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Autoren-Porträt von Michael H. Schenk
Michael H. Schenk wurde 1955 in Bonn geboren, wo er inzwischen auch wieder lebt und arbeitet. Der Autor ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Sein besonderes Interesse gilt den Menschen und ihrer Entwicklungsgeschichte, woraus sich auch seine Idee zur Reihe der Pferdelords entwickelt hat. Im Bereich der Fantasy geht es ihm vor allem darum, eine fantasievolle Umgebung zu schaffen, die jedoch noch immer so realistisch wirkt, dass sie vom Leser als natürlich empfunden wird. Dazu gehört auch die Entwicklung einer Historie, von Landschaften, Lebensformen und von Personen, mit denen sich der Leser bei aller Unterschiedlichkeit immer noch identifizieren kann und die ihn zusammen mit einer spannenden und aktionsgeladenen Handlung, gleichermaßen fesseln und unterhalten soll.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael H. Schenk
- 2013, 484 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3955690857
- ISBN-13: 9783955690854
- Erscheinungsdatum: 26.11.2013
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