Die Strafe / Jo Beckett Bd.2 (ePub)
Als Jo Beckett zum Flughafen von San Francisco gerufen wird, erwartet sie einen Routinefall. Doch plötzlich sieht sie sich einem randalierenden Fluggast gegenüber, der sie anfleht, ihm zu helfen. Ian Kanan droht die Erinnerung zu...
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Als Jo Beckett zum Flughafen von San Francisco gerufen wird, erwartet sie einen Routinefall. Doch plötzlich sieht sie sich einem randalierenden Fluggast gegenüber, der sie anfleht, ihm zu helfen. Ian Kanan droht die Erinnerung zu verlieren, und er weiß, dass etwas Schreckliches passiert ist. Aber ist er das Opfer? Oder der Täter? Jo Beckett beginnt zu ermitteln und bereut schnell, sich jemals auf diesen Fall eingelassen zu haben.
Wenn Jo Beckett zu einem Tatort gerufen wird, sind es die Toten, um die sie sich kümmert. Die forensische Psychiaterin ist Spezialistin für ungeklärte Todesfälle. Mittels psychologischer Autopsien findet sie heraus, warum jemand sterben musste. Ihr Einsatz beginnt dann, wenn die konventionelle Polizeiarbeit scheitert. Als sie eines Morgens zum Flughafenhospital beordert wird, ahnt sie nicht, dass sie vor dem vielleicht spektakulärsten Fall ihrer Karriere steht. Denn das Opfer ist nicht tot, und es ist auch nicht klar, ob es wirklich ein Opfer ist. Es könnte auch der Täter sein. Ian Kanan droht sein Gedächtnis zu verlieren. Alles deutet auf eine schwere Hirnverletzung hin. Bruchstückhaft erinnert er sich an eine schreckliche Gewalttat. Und er ist sich sicher, dass seine Familie in Gefahr ist. Sein Zustand verschlechtert sich zusehends. Bald wird er nicht mehr wissen, was erst zehn Minuten zuvor geschehen ist. Jo Beckett muss herausfinden, was passiert ist. Bevor Ian Kanan stirbt. Oder erneut tötet.
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
Kapitel 1
Später erinnerte sich Seth an kalte Luft und flammende Streifen am westlichen Himmel, an Musik in seinen Ohren und sein heftiges Atmen. Später verstand er, und dieses Verständnis steckte wie ein Stachel in seinem Gedächtnis. Er hatte sie nicht einmal kommen hören.
Der Weg durch den Golden Gate Park war von tiefen Furchen durchzogen, und er hatte beim Fahren die Kopfhörer aufgesetzt und die Lautstärke hochgedreht. Die Gitarre war im Rucksack über die Schultern geschnallt. Durch die Eukalyptusbäume flackerte tiefrot der Sonnenuntergang. Am Kennedy Drive hüpfte er mit dem Fahrrad über den Randstein, raste über die Straße und nahm die Abkürzung durch den Wald. Nur noch einen halben Kilometer bis nach Hause.
Er war spät dran. Aber wenn er Gas gab, schaffte er es vielleicht trotzdem vor seiner Mom nach Hause. Sein Atem dampfte durch die Luft. In seinen Ohren dröhnte die Musik. Fast hätte er Whiskeys Bellen überhört.
Er warf einen Blick über die Schulter. Fünfzig Meter hinter ihm stand der Hund stocksteif auf dem Weg. Schlitternd stoppte Seth. Er schob die Brille hoch, aber der Pfad lag im Schatten, und er konnte nicht erkennen, warum Whiskey bellte.
Er piff und winkte. »Hey, jetzt komm schon.«
Whiskey war ein großer Hund, zum Teil Irish Setter, zum Teil Golden Retriever. Und zum Teil Sofakissen. Dazu so lieb, dass es schon fast wehtat. Aber jetzt war sein Nackenfell gesträubt.
Wenn ihm Whiskey davonlief, brauchte er bestimmt ewig, um ihn wieder einzufangen. Dann kam er richtig zu spät. Doch Seth war fünfzehn - erst in einem Monat, na schön - und für Whiskey verantwortlich.
Wieder pfiff er. Whiskeys Blick huschte nur kurz zu ihm herüber. Der Hund war eindeutig beunruhigt.
Seth zupfte die Ohrstöpsel heraus. »Whiskey, jetzt komm endlich.«
Der Hund rührte sich nicht. Hinter dem Park auf der Fulton Street rauschte der Verkehr. In den Bäumen sangen Vögel, oben donnerte ein Flugzeug. Und er hörte Whiskey knurren.
Seth fuhr zu ihm zurück. Vielleicht ein Waschbär; Waschbären konnten selbst in San Francisco Tollwut haben.
Neben dem Hund stoppte er. »Hey, Junge, ganz ruhig.« Hinten auf dem Kennedy Drive wurde eine Autotür zugeschlagen. Das Knirschen von Stiefeln auf Blättern und Kiefernnadeln. Whiskey legte die Ohren an. Seth packte ihn am Halsband. Der Hund zitterte vor Anspannung.
Der Vogelgesang war verstummt.
»Bei Fuß.« Seth drehte sich um.
Zehn Schritt von ihm entfernt im Halbdunkel stand ein Mann. Die Überraschung prickelte hoch bis in Seths Haarspitzen.
Der kahlgeschorene Schädel des Mannes ging ohne Unterbrechung direkt in die Schultern über. Die Arme hingen an den Seiten herunter. Er sah aus wie eine Frankfurter, die den ganzen Tag gekocht worden war.
Er deutete mit dem Kinn auf Whiskey. »Ein echter Prachtkerl. Wie heißt er?«
Die Sonne war fast untergegangen. Warum trug der Typ eine Sonnenbrille?
Der Kerl schnippte mit den Fingern. »Komm zu mir, Hund.«
Seth hielt Whiskey am Halsband fest. Das Prickeln war jetzt überall, und hinter den Augen spürte er ein helles Klopfen. Was wollte der Typ?
Der Kerl neigte den Kopf. »Ich hab dich gefragt, wie er heißt, Seth.«
Hinter Seths Augen hämmerte es jetzt laut. Seth war schlaksig und hatte kupferfarbenes Haar, das abstand wie Stroh, und blassblaue Augen, die ideal waren für den strafenden Ausdruck, den seine Mutter als Tausendmeterblick bezeichnete. »Du siehst mich schon genauso an wie dein Vater«, sagte sie manchmal. »Warum immer ich?«
Seth umklammerte Whiskeys Halsband. Warum immer er? Warum, warum - o Scheiße, das hier hatte was mit seinem Dad zu tun.
Was wollte der Typ? Und wieso von ihm?
Los! Er hackte in die Pedale und zischte ab wie ein Windhund, im Neunziggradwinkel weg von dem Typen, direkt in den Wald.
»Whiskey, Fuß«, brüllte er.
Es gab keinen Pfad, nur holperigen Boden, der mit braunem Gras und Laub bedeckt war. Seine Hände krallten sich um den Lenker, und er strampelte mit einer Heftigkeit, die er seinen Beinen nicht zugetraut hätte. Seine Brille hüpfte auf der Nase. Die Ohrstöpsel fl ogen nach unten und prallten gegen den Rahmen. Blecherne Klänge waberten heraus.
Hinter ihm bellte Whiskey. Seth wagte es nicht, sich umzuschauen.
Der Kerl war nicht der Einzige. Whiskey hatte in Richtung Kennedy Drive geknurrt, und Seth hatte eine Autotür und Schritte auf dem Weg gehört. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Apfel in die Kehle gerammt. Zwei Typen, die hinter ihm her waren.
Er musste Mom warnen.
Das Handy steckte in der Jeanstasche, aber solange er dahinraste wie ein Bekloppter, konnte er es nicht rausholen. Ein Wimmern stieg in ihm hoch. Er würgte es ab. Bloß nicht heulen. Die Bäume hatten sich verdunkelt, sie waren nicht mehr grün, sondern schwarz. Hundert Meter weiter vorn erspähte er durch die Zweige vorüberziehende Scheinwerfer auf der Fulton Street.
Er musste es nach Hause schaffen. Seine Mom - o Gott, wollten diese Typen vielleicht auch was von ihr?
Noch neunzig Meter bis zur Fulton. Weiße Lichter harkten durch die Bäume. Seine Hände krampften sich um die Griffe, die Beine brannten. Im Rucksack schaukelte die Gitarre auf und ab. Das Fahrrad ratterte über eine Wurzel. Seth hielt das Gleichgewicht, korrigierte und jagte weiter.
Auf der Fulton waren bestimmt Leute. Die Scheinwerfer
kamen näher.
Hinter ihm jaulte Whiskey.
Er blickte über die Schulter. Sein Hund hetzte ihm durchs Unterholz nach, der Kerl direkt hinter ihm.
»Whiskey, schnell!«, schrie Seth.
Obwohl seine Beine schon zitterten, keuchte er weiter auf die Straße zu, vorbei an einer alten Eiche.
Hinter der Eiche lauerte der zweite Mann.
Als Seth auf gleicher Höhe mit ihm war, fuhr er den Arm aus und packte die Gitarre am Hals. Seth wurde vom Fahrrad gerissen und flog mit ausgebreiteten Armen nach hinten. Krachend landete er auf dem Boden, die Gitarre unter sich. Die Saiten machten sproing, und der Korpus zerbrach. Seth japste nach Luft.
Der Kerl packte ihn. Er hatte eine graue Igelfrisur und war rechteckig wie ein Betonziegel. Alt, aber voller Pickel. Der Typ zerrte Seth auf die Füße.
Seth wand sich. Ein Kreischen brach aus ihm heraus: »Lass mich los!« Er fuchtelte mit der Faust und trat nach den Knien des Kerls.
»Beruhig dich.« Der Mann drehte Seth den Arm auf den Rücken.
Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Ellbogen. Der Typ stieß ihn in die Büsche.
Plötzlich war Whiskey da, ein knurrendes Paket aus Muskeln und Fell. Der Hund sprang den Typen an und bohrte ihm die Zähne ins Handgelenk. Der Kerl torkelte und ließ Seth los.
Die Brille schief auf der Nase, stolperte Seth durch die Bäume Richtung Fulton Street. Hinter sich hörte er wildes Bellen. Ein Schrei. Dann ein furchtbares Jaulen von Whiskey.
Noch vierzig Meter bis zur Straße. Whiskeys Heulen ging in leises Winseln über. Seth rannte weiter. Noch zwanzig Meter. Im Kopf hörte er seinen Dad: Ein Tier ist kein Grund zum Ausweichen. Wenn es auf der Straße um dich oder einen Hund geht, bist du derjenige, der überleben muss.
Das hier passierte wegen Dad, und er musste hier rauskommen, sonst wartete eine Welt voller Schmerzen und Angst auf ihn und seine Mutter.
Fünfzehn Meter. Er konnte die Straße sehen, Autos, den Gehsteig, die Querstraße von der Fulton weg. Seine Straße - sein Haus war einen Block weiter oben. Angestrengt versuchte er zu erkennen, ob der Wagen seiner Mom dort parkte.
Tatsächlich - in der Auffahrt stand jemand. Eine Frau - blasse Beine unter einem Rock. Langes, hellbraunes Haar.
Neue Energie schoss ihm in die Glieder. »Mom!«
Whiskey jaulte.
Seth zögerte. Whiskey hatte ihn gerettet. Er konnte den Hund nicht im Stich lassen. Er bückte sich nach einem Stein und wirbelte herum.
Der Glatzkopf rollte heran wie ein Expresszug. Bevor Seth zum Wurf ausholen konnte, duckte sich der Mann im Laufen und sprang ihn an.
Seth knallte so heftig auf den Boden, dass die Brille wegflog, aber den Stein ließ er nicht los. Er drosch ihn dem Typen auf den Kopf. »Scheiße, lass mich los!«
Der Glatzkopf packte Seths Hand und drückte sie zu Boden. Dann kam auch schon der andere Kerl angerannt; er schleifte Whiskey am Halsband hinter sich her. »Wie der Vater, echt.« Er drehte den Arm und inspizierte eine blutige Bisswunde. »Mistköter.«
Seth riss den Kopf zurück und brüllte. »Mom!«
Der Glatzkopf griff ihm ins Gesicht und versuchte, ihm mit Gewalt den Mund aufzudrücken und ihm ein Taschentuch als Knebel hineinzustopfen. Er blutete an der Stirn, wo ihn der Stein getroffen hatte. Seth presste eisern die Zähne aufeinander. Whiskey rappelte sich auf und bemühte sich, zu ihm zu gelangen. Der Typ kniff Seth brutal in die Nase. Seth trat nach ihm, um ihn an den Knien zu erwischen, doch im Vergleich zu diesem Kerl war er nur eine Heuschrecke. Als er den Mund öffnete, um nach Luft zu schnappen, wurde ihm das Taschentuch hinter die Zähne gerammt.
Der Mann packte Seth an den Haaren und lehnte sich nach unten, um ihm die Lippen ans Ohr zu drücken. »Ich tu dir weh, wenn du nicht aufhörst.« Er machte schmatzende Geräusche an Seths Haut. »Aber zuerst tu ich deinem Hund weh. Mit einem Schraubenzieher.«
Wie Wasser sickerte die Kraft aus Seth heraus. Auf seiner Brust lastete ein dunkles Gewicht, Tränen stiegen ihm in die Augen.
Der Mund unter der Sonnenbrille lächelte. Das Zahnfl eisch glänzte feucht und rosa. Der Glatzkopf wandte sich an den pickeligen Typen. »Ruf an.«
Ohne Brille wirkte das Zwielicht trüb und verwaschen.
Der Pickelige hing an seinem Handy. »Kannst kommen.«
Der Glatzkopf wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Du weißt, worum's hier geht?«
Vorn auf der Straße bremste ein schwarzer Lieferwagen mit quietschenden Reifen. Ein Mann sprang heraus und stakste auf den Wald zu. Ein magerer Weißer, der aussah wie ein Gangsterrapper. Oder wie die Darstellung eines Gangsterrappers auf MTV. Blaues Bandana um die Stirn, rollende Schultern, und aus der Tasche seiner Hängejeans baumelte eine Kette. Die Mickymausausgabe eines Zuhälters.
Der Glatzkopf beäugte ihn, als hätte er sich für einen Umzug maskiert. Hatte ihn offenbar als Schwachkopf einsortiert. Als gefährlichen Schwachkopf.
Dann wandte er sich wieder Seth zu. »Du weißt, wo dein Vater ist? Was er macht?«
Seth schwieg.
»Du kannst es dir aussuchen. Willst du, dass dir was passiert oder dass du verschwindest?« Er musterte Seths Gesicht und verzog den Mund erneut zu einem feuchten Lächeln. »Na also.« Er schaute die anderen an. »Ab mit ihm.«
Kapitel 2
Der Wind pfiff über das Wasser. Chuck Lesniak rieb sich mit einem Taschentuch über den Nacken. Am Flussufer stand schulterhoch das grüne Gras. Es schwankte in der Brise und flüsterte ihm zu. Letzte Chance.
Der erste Offizier marschierte über den Kai und trug eine Kühlbox voller Bier zum Jetboot. Es war ein feuchter Märzabend, und dem ersten Offizier klebte das verblichene Manchester- United-Trikot am Rücken. Der Skipper des Jetboots trug Epauletten und eine Seekapitänsmütze mit goldener Borte, obwohl sie sich über tausend Kilometer weit im Landesinneren befanden. Er war ein gedrungener Sambier mit einem Lächeln so groß wie ein Straußenei.
Er winkte Lesniak zu. »Bitte kommen Sie an Bord.«
Er hatte einen starken Tonga-Akzent. Seine Herzlichkeit wirkte echt. Auf seinem Namensschild stand WALLY. Anscheinend konnte er Lesniaks Nervosität spüren. Chuck war der einzige Passagier bei dieser Fahrt auf dem Sambesi. Er hatte für einen Privatausflug zur Cocktailstunde bezahlt.
»Nur zu. Das Boot ist wirklich solide gebaut. Ich zeige es Ihnen. Der Motor hat dreihundertfünfzig PS und stammt von Chevrolet.«
Captain Wally deutete Lesniaks Nervosität falsch, aber das war ihm ganz recht. Er nickte. »Made in USA. Klingt beruhigend.«
Er ging an Bord. Das Deck schaukelte unter ihm, und das Fernglas schwang an dem Riemen um seinen Hals hin und her. Das auffrisierte Rennboot wurde Jetboot genannt, um die Touristen davon zu überzeugen, dass sie neben den gekühlten Getränken auch noch ein Extremsporterlebnis bekamen. Er tastete nach seiner Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass das Fläschchen sicher verstaut war. Mehr an Flaschen brauchte er heute Abend nicht. Wieder fegte der Wind durchs Gras. Bald ist es so weit.
Der erste Offizier machte die Leinen los. Captain Wally warf den Motor an, der donnernd erwachte und Abgase ausspuckte. Er drückte den Gashebel und legte mühelos ab. Hinter dem Boot schäumte weißes Wasser.
Der Kapitän hob seine Stimme über das Gurgeln des Motors. »Bitte setzen Sie sich doch in den Bug, dort ist es kühler. Und nehmen Sie sich was zu trinken.«
Lesniak schob sich zur Spitze des Bootes und griff sich ein Bier aus der Kühlbox. Ein Bier konnte nicht schaden. War vielleicht sogar gut für die Nerven. Letzte Chance auf einen Volltreffer.
Er musste Ruhe bewahren. Wenn er das hier hinkriegte, hatte er ausgesorgt. Dann konnte er nach Kalifornien abhauen. Von Südafrika hatte er die Schnauze voll. Er war nur wegen der Firma nach Johannesburg gezogen, und jetzt war sein Job beim Teufel. Er schnaubte. Von wegen Job. Das war keine Arbeit, sondern ein Abenteuer mit Malaria-Garantie.
Auf Chira-Sayf und die ganzen leuchtenden Versprechungen konnte er pfeifen. Er hatte sich nie an Südafrika gewöhnen können, auch wenn Jo'burg aussah wie Dallas, alle Leute irgendwie Englisch redeten und er einen Porsche fuhr und ein Haus mit Dienstmädchen, Koch, Wachhunden und Überwachungskameras auf den stacheldrahtgeschützten Mauern um seinen üppigen Garten hatte. Natürlich, er hatte gut verdient, einen Haufen Kohle im Vergleich zu dem, was ein Werkstofftechniker in den USA bekam. Bis der Chef den Stecker zog.
Das Boot beschleunigte in der dunstigen Luft. Über dem Wasser hing fett und rot die Sonne. Lesniak öffnete sein Castle Lager, legte den Kopf zurück und trank.
Das Bier war eiskalt. Ja, das hatte er sich verdient. Diese Erfrischung, diesen Deal. Die Flasche in seiner Tasche fühlte sich warm an.
Warum hatte der Chef das Projekt eingestellt? Darauf gab es nur eine sinnvolle Antwort: Er wollte sich damit eine goldene Nase verdienen. Scheiß auf die Angestellten, die dafür geschuftet hatten. Die konnte man rausschmeißen. Und die fetten Bonzen schoben die Kohle ein.
Genau, Alec Shepard hatte sich das Produkt und die Technologie unter den Nagel gerissen, um sie an irgendjemanden zu verhökern. So lief das eben bei den Reichen.
Der Fluss war riesig - gewunden, angeschwollen, fast einen Kilometer breit. Jetzt, während die Sonne immer tiefer sank, wirkte das Wasser fast violett. Er blickte auf die Uhr. Zehn Minuten bis zum Treffen.
Er war erst seit einem knappen Tag hier, nachdem er von Jo'burg nach Lusaka geflogen und von dort mit dem Bus ins Touristenzentrum Livingstone gefahren war. Die Nacht hatte er in einer Fünfsternelodge am Fluss verbracht, ohne die angebotenen Freizeitaktivitäten zu beachten: Safaris, afrikanische Tanzdarbietungen, Wildwasserrafting unter den Victoriafällen. Er hatte nur in seinem klimatisierten Zimmer gesessen und sich auf dem Sportsender ESPN das Basketballspiel zwischen Kentucky und UCLA angeguckt. Bei geschlossenen Jalousien. Selbst fünfzehntausend Kilometer von Kalifornien entfernt, mitten im südlichen Afrika, konnte er die Paranoia nicht ablegen.
Wenn man bei einem Deal den Vermittler ausbooten will, hat man am besten Augen im Hinterkopf.
Seine Kontaktleute hatten diesen Ort aus zwei Gründen ausgewählt. Erstens waren der Livingstone- und der Mosi-oa-Tunya-Nationalpark voller europäischer Touristen, da fielen zwei weitere weiße Gesichter nicht auf. Zweitens war der Ort hervorragend geeignet, um etwas über die Grenze zu schmuggeln.
Er hatte es doch schon fast geschafft. Hatte die Flasche aus dem Labor und dann aus Südafrika herausgebracht. Fehlte nur noch die Übergabe. Und die durfte er auf keinen Fall vermasseln.
Plötzlich brach ihm der Schweiß aus. Er war massig gebaut, und die Hitze setzte ihm ziemlich zu. Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und trank das Castle in einem Zug leer. Entspann dich. Wenn es so weit war, durfte er nicht aussehen wie halb durchgeknallt. Damit würde er sich nicht nur als Amateur präsentieren, sondern auch als leichtes Opfer.
Der Fluss kräuselte sich silbern im Wind. Er setzte das Fernglas an und suchte das südliche Ufer ab. Dort, vor dem Schilf, schaukelte ein Kanu im Wasser. Einheimische beim Angeln. Flussaufwärts ein Pontonboot auf einer abendlichen Sauftour mit sonnenverbrannten Holländern und Japanern. Reiche Leute, die wahrscheinlich im Victoria Falls Hotel drüben in Simbabwe wohnten. Das schöne, das gruslige Simbabwe, zerstört durch Gier und egoistische Grausamkeit. Kaputtgemacht durch - wie hieß es so schön? Intrigen.
Auch seine Zukunft wäre um ein Haar von Intrigen ruiniert worden. Er war schlau, das sagten alle. Jeden Morgen vor dem Spiegel hatte er sich eingehämmert: Du bist schlau, du bist wichtig. Das Projekt war wichtig. Es abzuwürgen war kriminell.
Aber nicht mit ihm. Die Arbeit der Firma durfte nicht einfach in einem schwarzen Loch verschwinden. Er würde dafür sorgen, dass sie in die Hände von Leuten gelangte, die etwas damit anfangen konnten. Seine Bezahlung war ein angemessenes Dankeschön für gute Dienste.
Und die Übergabe in einem zerstörten Land war die Gewähr dafür, dass niemand in der industrialisierten Welt etwas davon mitbekam.
Die Sonne glitzerte auf dem Wasser. Der Fluss schimmerte wie eine Quecksilberbahn, die sich durch die weite grüne Ebene ergoss. Was stand in dem Hotelprospekt? Wenn der Fluss Hochwasser führte so wie jetzt, rauschten jede Minute sechshundert Millionen Liter über die Victoriafälle. Unglaublich.
Lesniak zog noch ein Bier aus der Kühlbox. Er musste ruhig bleiben und zeigen, dass er den Mumm hatte, das hier durchzuziehen. Als er das Bier aufmachen wollte, klackerte der Flaschenöffner gegen das Glas. Vielleicht war es der große Chevy-Motor, der so vibrierte. Nein, eher nicht.
In weitem Bogen lenkte Captain Wally das Boot zur Flussmitte. Von einer Insel weiter vorn flogen Reiher auf, die sich blendend weiß von dem violetten Wasser und dem grünen Ufer abhoben. Der Himmel über ihm war keramikblau.
Hier wurden die meisten Touristen vollgeschwafelt: Schauen Sie, ein Nilpferd. Sehen Sie den Baumstamm da drüben? Das ist kein Baumstamm, sondern ein Krokodil. Aber Lesniak hatte darauf bestanden, nicht angesprochen zu werden. Dafür hatte er bezahlt.
Und noch etwas draufgelegt für den kleinen Zwischen- stopp. Wieder schielte er auf die Uhr. In zwei Minuten sollten sie die Grenze nach Simbabwe überqueren. Er trank die Flasche halb leer und machte sich bereit.
Ja, er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Diese Sache war wichtig. Letzte Chance.
Während sie über das Wasser schnellten, glitt sein Blick über dichtes Gras, Akazienbäume und einen dünnen Sand- streifen am Ufer. Flussabwärts raste ein anderes Jetboot in ihre Richtung.
Eigentlich sogar direkt auf sie zu. Captain Wally ging vom Gas.
Mit einem Stirnrunzeln schaute Lesniak über die Schulter. »Was ist los?«
Captain Wally lächelte. »Mein Cousin. Er hat sich letzte Woche sechzig Liter Sprit geborgt. Die will er mir jetzt zurückgeben. «
Das andere Boot beschrieb eine lange Kurve und zog eine weiße Rinne über den Fluss. Dann drosselte es seine Fahrt und legte sich tief ins Wasser. Der Skipper winkte träge. Im Bug hockte ein Passagier mit Baseballmütze, die Arme verschränkt, eine Angel an der Seite. Er spähte zum südlichen Ufer, ohne sich von dieser Unterbrechung stören zu lassen. Ganz nach dem Motto: Wir sind hier in Afrika, da muss man sich anpassen. Das Boot schob sich längsseits, und der Skipper rief etwas auf Tonga. Captain Wally lachte. Lesniak nahm das Fernglas hoch und suchte wieder das Ufer ab. Wo blieb sein Kontaktmann?
Das Boot schaukelte, und aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Captain Wallys erster Offizier aufs andere Boot sprang, um die Benzinkanister zu holen. Er drehte an der Einstellung des Fernglases. Da - ein Stück weiter vorn schob sich ein Nissan Pathfinder hinunter zum Wasser. Sein Herz begann zu hämmern wie ein Schlagbohrer.
Der Pathfinder war schlammverschmiert und hatte simbabwische Nummernschilder. Enttäuschung beschlich ihn. Aber was hatte er denn erwartet? Diplomatenkennzeichen? Einen Plüschwürfel mit Geheimdienstlogo, der am Rückspiegel baumelte?
Irgendwas. Er hatte sich einen Hinweis darauf erhofft, für wen sein Kontaktmann arbeitete. Amerikaner, Europäer, Israelis oder Leute aus dem Osten.
Wieder schwankte das Boot und erzitterte, als Füße auf dem Deck landeten. Die Tonga-Unterhaltung wurde fortgesetzt. Vergiss den Familientratsch, Skipper. Wir müssen weiter.
Schließlich heulte der Motor auf, und der Bug hob sich, als sich das Boot rasch von Captain Wallys Cousin entfernte. Es fuhr direkt in der Mitte des gewaltigen Flusses.
Lesniak wandte sich um. »Steuern Sie zum Ufer, da wo der ...«
Knatternd zerrte der Wind an Lesniaks Hemd. Der Motor knurrte tief und schmutzig. Das Boot hüpfte übers Wasser.
Captain Wally war nicht mehr am Steuer. Er war überhaupt nicht mehr an Bord. Er und sein Offi zier befanden sich auf dem Jetboot des Cousins, das schon fast in der Ferne verschwunden war.
Am Steuer stand der Passagier des Cousins.
Lesniak umklammerte sein Bier. Die Flasche war klebrig. Seine ganze Hand klebte.
»Sie?«
Der Mann trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine noch schwärzere Sonnenbrille. Im blendenden Licht des Sonnenuntergangs war nicht zu erkennen, wohin er schaute. Oder ob er überhaupt Augen hatte. Er war hager und fi t, der Mund lief als grimmiger Strich quer über das sonnenverbrannte Gesicht. Er hatte die Baseballmütze abgenommen, und sein Haar glitzerte kupferfarben.
Wie ein Pfeil schoss das Boot über den angeschwollenen Fluss. Wind und Gischt ließen den Schweiß auf Lesniaks Rücken erkalten. Das südliche Ufer wich immer weiter zurück. Der Nissan Pathfinder sauste vorbei. Letzte Chance.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Lesniak.
Der Mann hielt den Gashebel gleichmäßig gedrückt. Langsam wandte er den Kopf, bis die Sonnenbrille auf eine Stelle zwischen Lesniaks Augen zu zielen schien.
Die Bierflasche entglitt Lesniaks Fingern und rollte klirrend über das Deck. »Ich kann alles erklären.«
Der Mann warf das Steuer herum und hielt auf eine Gruppe kleiner Inseln zu. Sie ließen den offenen Strom hinter sich und glitten in einen schmalen Kanal zwischen Inseln mit dichten Bäumen. Wie riesige Blüten hingen die Reiher in den Ästen. Der Mann schaltete den Motor herunter, und das Boot legte sich tiefer ins Wasser.
Er starrte Lesniak an. »Geben Sie es mir.«
Lesniak schnaufte schwer. Von allen Seiten rückten weiße Flügel in sein Blickfeld. Der Gestank nach Vogelkot traf ihn mit solcher Wucht, dass er würgen musste. »Keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Geben Sie's mir.«
Lesniak wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Er spürte, wie ihn Mut und Selbstvertrauen verließen.
Er hatte sich nie die Mühe gemacht, nach dem Namen dieses Mannes zu fragen. Er kannte ihn einfach nur als Rusty - wegen der roten Haare. So nannten ihn alle: Rusty, der Schäferhund. Der Aufpasser. Der Babysitter. Ein besserer Laufbursche, der immer aufkreuzte, wenn die hohen Tiere kamen. Der nichtsnutzige Verwandte von irgendjemandem, der als Betreuer von Managern und Technikfuzzis bei Firmenrundreisen eine ruhige Kugel schob. Jedenfalls hatte Lesniak das gehört.
Irrtum. Dieser Typ war kein Kindermädchen. Warum war Lesniak nie aufgefallen, dass das ein total abgebrühter Scheißkerl war? »Ich hab es nicht.«
Copyright © 2009 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
- Autor: Meg Gardiner
- 2009, 496 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Friedrich Mader
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641027713
- ISBN-13: 9783641027711
- Erscheinungsdatum: 27.07.2009
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