Die Stunde der Zeitreisenden / Hourglass Bd.1 (ePub)
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Hourglass von Myra McEntireDie Stunde der Zeitreisenden
Was hinter dir liegt und was vor dir liegt, sind Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in dir liegt.
Ralph Waldo Emerson
1. KAPITEL
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Meine kleine Heimatstadt im Süden ist eine etwas verblichene Schönheit und erinnert an eine in die Jahre gekommene Ballkönigin. Das Knochengerüst ist exquisit, aber die Haut könnte ein Lifting gebrauchen. Als Architekt ist mein Bruder eine Art Schönheitschirurg für Ivy Springs.
Gedankenverloren schlurfte ich durch den spätsommerlichen Regenguss zu einem seiner Restaurationsprojekte - unserem Zuhause. Das Wetter war mir vollkommen gleichgültig. Ich hatte es nicht eilig. Über Feng Shui, gotische Strebebögen und andere architektonische Finessen wusste mein Bruder vielleicht Bescheid - aber über mich? Er hatte keine Ahnung.
Bevor ich geflohen war, um meinen Frust auf einem Laufband abzuarbeiten, hatten Thomas und ich wegen des bevorstehenden Abschlussjahrs der Highschool gestritten. Ich hielt es für überflüssig. Konservativ wie er war, sah mein Bruder das natürlich anders.
Als ich zu unserem Haus kam, versperrte mir eine altmodisch gekleidete Südstaatenschönheit den Weg. Ein Seidenschirmchen und ein ausladender Reifrock machten ihren Look komplett. Auf einem Kostümfest hatte ich mal was Ähnliches an, aber sie trug das Original. Der Frust war wieder da und versperrte mir jetzt sogar den Weg.
In Gestalt der verdammten Scarlett O'Hara aus Vom Winde verweht. Seufzend schob ich die Hand durch ihren Bauch und spürte keinerlei Widerstand. Ich verdrehte die Augen, als ich sah, wie sie mit den Wimpern klimpernd nach Luft schnappte und sich in Luft auflöste.
»Hör zu Scarlett, deinem Rhett war's schon egal, was du machst, und mir erst recht.«
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, fing es draußen an zu donnern. Ich ging die Treppe des ehemaligen Lagerhauses hinauf, das mein Bruder zu einem Wohnkomplex umgebaut hatte. Aber statt einen eleganten, filmreifen Auftritt hinzulegen, kam ich mit angeklatschten Haaren und tropfnasser pinkfarbener Regenjacke in die Küche gestapft. Mein Bruder saß am Tisch, auf dem er diverse Baupläne ausgebreitet hatte.
»Emerson!« Thomas blickte von den Plänen auf und faltete sie in der Mitte zusammen, nur um sie erneut vor sich auszubreiten. Sein Lächeln glich meinem eigenen aufs Haar - das Ergebnis einer dreijährigen, erstklassig durchgeführten Kieferregulierung -, nur dass ich heute nicht lächelte. »Ich bin froh, dass du zuhause bist.«
Wenigstens war einer von uns froh.
Ohne mein Zusammentreffen mit Miss O'Hara zu erwähnen, schüttelte ich das Regenwasser von meiner Jacke, woraufhin er genervt auf die Pfütze zu meinen Füßen starrte. Garantiert hatte er immer einen farblich auf seine Kleidung abgestimmten Regenschirm dabei. Thomas, der Pfadfinder. Allzeit bereit und für sämtliche Zwischenfälle gerüstet. Ein familiärer Charakterzug, der mir vollkommen fehlte.
Wir hatten das gleiche blonde Haar und die gleichen moosgrünen Augen, doch Thomas hatte den kantigen Kiefer unseres Vaters geerbt, während mein Gesicht herzförmig war wie das unserer Mutter. Er war auch mit Daddys Größe gesegnet. Auch da bin ich zu kurz gekommen, und zwar gehörig.
Thomas strich seine Baupläne ein wenig sorgfältiger glatt als notwendig. »Tut mir leid, dass wir uns gestritten haben.«
»Schon gut. Mir bleibt sowieso keine andere Wahl.« Statt ihn anzusehen, starrte ich auf den Fußboden. »Entweder ich gehe weiter zur Schule, oder du lässt mich von der Polizei in den Jugendknast schleifen.«
»Wir könnten neue Medikamente ausprobieren. Vielleicht würde es dir dann leichter fallen zurückzugehen.«
»Keine neuen Tabletten.« In Wahrheit nahm ich gar keine Medikamente mehr ein. Aber davon ahnte er nichts. Dass ich ein solches Geheimnis vor ihm verbarg, löste gewaltige Schuldgefühle aus, die mich fast dazu gebracht hätten, ihm alles zu gestehen. Das Geständnis lag mir förmlich auf der Zunge, weshalb ich mir eine Flasche Wasser nahm und mein Gesicht hinter der Kühlschranktür verbarg. »Ich werd's schon schaffen.«
»Wenigstens hast du Lily.«
Lily war meine einzige Freundin aus der Kindheit, die noch mit mir redete, und wahrscheinlich das einzig Gute an meiner Rückkehr aus dem Internat, wo ich die letzten beiden Klassen absolviert hatte. Offiziell hieß es, dass mein Stipendium für das letzte Schuljahr aufgrund »sinkender Spendenbereitschaft ehemaliger Absolventen« gestrichen wurde, aber vielleicht hatte das Mitgefühl für verwaiste Mädchen, die von Zeit zu Zeit halluzinierten und ihre Klassenkameraden ängstigten, seine Grenzen erreicht. Ich hatte zwar ein bisschen Geld aus dem kleinen Treuhandfonds, den meine Eltern hinterlassen hatten, aber nicht genug, um die Kosten meines letzten Schuljahrs zu decken. Thomas hatte angeboten, mir die Abschlussklasse in Sedona zu finanzieren, doch das hatte ich abgelehnt. Oft und lautstark. Ich war damit einverstanden, bei ihm zu wohnen, da er mein gesetzlicher Vormund war, nur sein Geld wollte ich partout nicht annehmen.
Also ging es zurück nach Tennessee. Irgendwie würde ich das eine Jahr schon herumkriegen, selbst in der öffentlichen Highschool.
»Ich wollte noch etwas anderes mit dir besprechen.« Thomas strich erneut die Baupläne glatt. Wenn er so weitermachte, würde er noch die Tinte vom Papier reiben. »Wir ... wir haben jemanden Neues gefunden, einen Berater, der sagt, dass er dir helfen kann.«
Alle paar Monate hörte Thomas von jemandem, der mir vielleicht helfen konnte. Bislang waren es allesamt und ausnahmslos Spinner oder Nieten gewesen. Ich knallte die Wasserflasche auf die Anrichte, sodass sie fast umfiel, verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Noch einer?«
»Diesmal ist es anders.«
»Das war's beim letzten Mal auch schon.«
»Dieser Typ ...«
»Hat ein drittes Auge mitten auf der Stirn?«
»Emerson!«
»Ich hab nicht viel Vertrauen zu deinen Kontakten«, konterte ich und verschränkte die Arme ein wenig fester, wie um eine neuerliche Attacke unerwünschter »Hilfe« abzuwehren. »Hast du mal wieder die Werbeanzeigen auf den paranormalen Internetseiten studiert?«
»Das hab ich höchstens ein-, zweimal gemacht.« Er versuchte, nicht zu grinsen. Ohne Erfolg.
»Wo hast du den Neuen entdeckt?« Es war schwer, wütend zu bleiben, wenn er sich solche Mühe gab, mir zu helfen. »Sicher kommt er direkt aus dem Entzug.«
»Er arbeitet für eine Organisation namens Hourglass. Der Gründer hat am parapsychologischen Seminar der Bennett Universität in Memphis gearbeitet.«
»Das Seminar, das geschlossen wurde, weil es keiner finanzieren wollte? Na toll.«
»Woher weißt du das denn schon wieder?«
Ich warf ihm einen Blick zu, der in etwa ausdrückte: He, ich bin ein Teenager. Ich weiß, wie man sich im Internet informiert.
»Hourglass ist eine sehr angesehene Organisation, glaub mir. Mein Ansprechpartner ...«
»Okay, okay ... Wenn ich zu einem Treffen bereit bin, können wir das Thema wechseln?« Mit gespielter Unterwürfigkeit hielt ich die Hände hoch. Thomas hatte gewusst, dass er gewinnen würde. Er gewann immer.
»Danke, Em. Ich habe es nur vorgeschlagen, weil ich dich liebe.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich hab dich wirklich sehr lieb.«
»Ich weiß.« Er liebte mich wirklich. Und allen Uneinigkeiten zum Trotz erwiderte ich seine Liebe. Mit dem Ziel, weitere Gefühlsbekundungen zu vermeiden, erkundigte ich mich nach dem Verbleib meiner Schwägerin. »Wo ist deine Frau?«
Thomas und Dru waren ein Renovierungstraumpaar. Sie hatten sich gesucht und gefunden, denn ihre Fähigkeiten ergänzten sich perfekt. Einmal konnte ich zusehen, wie Dru mit einem Vorschlaghammer auf eine Wand eindrosch, um die Umbauarbeiten in einem Gebäude zu beschleunigen. Als sie fertig war, sahen ihre Fingernägel immer noch perfekt aus.
»Im Restaurant beim neuen Chefkoch. Er wollte mit ihr besprechen, welche Weine heute Abend serviert werden sollen. «
»Da kann sie ihm bestimmt weiterhelfen.« Ihr Geschmack war unfehlbar.
Der Klingelton von Thomas' Handy gab mir die Chance zu entkommen. Ich warf die leere Wasserflasche in den Recyclingeimer. »Schon ganz schön spät. Muss noch unter die Dusche.«
Als die Küchentür hinter mir ins Schloss fiel, roch ich frische Farbe. Dru hatte die Wände im vorderen Wohnzimmer vor Kurzem mit tiefrotem venezianischen Putz versehen. Die gemütlichen Ledersofas mit den sepiafarbenen Seidenkissen passten hervorragend zu dem Holzfußboden. Eine Wand war vollständig verglast; eine andere war mit Bücherregalen bedeckt, in denen gediegene Lederbände sowie zerlesene Taschenbücher standen. Ich strich über die Buchrücken und hätte es mir am liebsten mit einem der Schmöker gemütlich gemacht. Doch das ging heute Abend nicht. Thomas und Dru hatten das Gebäude der alten Telefongesellschaft zu einem schicken Restaurant umgebaut. Statt es, wie geplant, an einen Investor zu verkaufen, wollten sie es nun selbst behalten und führen. In ein paar Stunden sollte die große Eröffnung stattfinden. Meine Anwesenheit war mehr als erbeten - als eine Art Wiedereinführung in die Kleinstadtgesellschaft.
Mein Bruder hatte die Gabe, kaputten Dingen zu neuem Glanz zu verhelfen. Wahrscheinlich hegte er die Hoffnung, dass sein Zauber sich heute Abend auf mich übertragen würde.
Der Verlust unserer Eltern vor vier Jahren hielt uns zusammen, auch wenn Thomas und ich uns in meiner Kindheit nicht besonders nahegestanden hatten. Ich war das Nesthäkchen, fast zwanzig Jahre jünger als er. Er war nicht auf die Erziehung seiner jüngeren Schwester vorbereitet gewesen, und ich hatte mir alle Mühe gegeben, meine besondere Art von Verrücktheit von ihm fernzuhalten. Das Stipendium war ein solcher Glücksfall, als hätte jemand all meine Gebete erhört. Ich wollte fort aus meiner Heimatstadt, fort von all ihren Erinnerungen und von Thomas' Restaurationsprojekten. Deshalb gefiel mir meine derzeitige Situation ganz und gar nicht, jetzt, da mein Stipendium futsch war. Hauptsächlich wegen »meines Problems«.
»Hallo.«
Die unbekannte Stimme ließ mich zusammenzucken. Erschrocken drehte ich mich um und sah an der Glasfront einen Mann stehen, der seltsamerweise vertraut und gleichzeitig vollkommen fehl am Platze wirkte. Er war außergewöhnlich gut aussehend, groß und schlank und trug einen schwarzen Anzug. Eine weizenblonde Haarsträhne fiel über seine linke Braue, verdeckte jedoch nicht seine eleganten Gesichtszüge. An seiner Weste war eine silberne Taschenuhr befestigt, die er in die Hosentasche gleiten ließ, bevor er die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, um einen furchtlosen Tonfall bemüht, der mir jedoch misslang. Schließlich war er vor einer Sekunde noch nicht da gewesen.
»Mein Name ist Jack.« Er machte keine Anstalten, näher zu treten, sondern blieb auf der Stelle stehen und musterte mich mit seinen strahlend blauen Augen. Ich bekam eine Gänsehaut und hoffte inständig, dass er nicht der neue Ansprechpartner war, den Thomas erwähnt hatte.
»Wollen Sie zu meinem Bruder?«
»Nein, ich kenne Ihren Bruder nicht.« Sein rechter Mundwinkel hob sich zu einem angedeuteten Lächeln, woraufhin mein Herz einen Schlag aussetzte. »In der Tat bin ich hergekommen, um dich zu besuchen, Emerson.«
Die Taschenuhr und der Anzug konnten zu einer anderen Generation gehören. Seine Frisur stand für keine besondere Zeit. Vielleicht war der Typ eine meiner Wahnvorstellungen, aber wenn es so war ...
Wieso kannte er meinen Namen?
2. KAPITEL
»Thomas!«, schrie ich, bevor mir vor Angst die Luft wegblieb. Ich hörte einen Küchenstuhl krachend zu Boden schlagen und wandte mich in Richtung Tür. Als ich wieder zur Glasfront schaute, war Jack verschwunden. Thomas stürzte keuchend ins Zimmer.
Warum, warum, warum?«, fragte ich und sackte neben dem Bücherregal in die Hocke, wobei ich bei jedem Warum mit dem Hinterkopf an die Seitenwand schlug. »Warum musst du ständig alte Häuser renovieren? Warum kannst du nicht einfach mal ein neues bauen?«
»Es ist wieder passiert? Hier?«, fragte er schockiert. Er sprach von meinem Problem mit jenen, die ... nicht mehr am Leben waren.
Nicht direkt tot. Noch war ich nicht dahintergekommen, was die Dinger waren, die ich sah; ich wusste nur, dass ich noch nie eine Geistergeschichte gehört hatte, in der Geister wie Luftballons zerplatzten und verschwanden, wenn man sie berührte. Mit dreizehn hatte ich angefangen, sie zu sehen, kurz bevor meine Eltern starben. Thomas baute damals gerade eine alte Glasfabrik zu einem Bürogebäude um.
Bei meinem ersten Besuch auf der Baustelle, führte ich ein nettes Gespräch mit einem älteren Herrn, der einen Schutzhelm trug. Er roch nach Tabak und Schweiß. Blaue Adern zierten seine knollenartige Nase und verrieten, dass er gern einen trank. Er war recht freundlich und bot mir sogar etwas von seinem Mittagessen an. Ich lehnte ab, doch er bestand darauf, dass ich ein Stück von dem Kuchen probierte, den seine Frau ihm in seine verbeulte Brotdose gelegt hatte.
In diesem Moment wurde die Sache kompliziert. Als er mir den Kuchen in die Hand geben wollte, merkte ich, dass er nicht fest war. Er kam zu demselben Schluss, ließ Kuchen und Brotdose fallen und kreischte wie eine Frau, die vergessen hat, ihre Unterwäsche von der Leine zu nehmen, bevor der Pastor zu Besuch kommt. Und dann verschwand er. Puff. Einfach so.
Willkommen im Land des Wahnsinns. Dem freundlichen Bauarbeiter folgten Unmengen von Leuten - toten Leuten -, die an den seltsamsten Orten auftauchten und erst verschwanden, wenn ich sie berührte. Doch weder in der Toilette von Burger King noch in der Umkleidekabine von Macy's konnte ich mich an sie gewöhnen.
»Ich fass es nicht, dass ich mich von dir habe überreden lassen, hier zu wohnen. Ich hätte wissen müssen, dass ich in so einem alten Kasten niemals sicher sein kann. Und dieser Typ wusste sogar meinen Namen.«
Das war noch nie passiert.
»Er wusste deinen Namen?«, fragte Thomas sichtlich beunruhigt.
Ich nickte und schloss die Augen. Jack hatte auch gesagt, dass er hierhergekommen sei, um mich zu besuchen. Davon brauchte Thomas nichts zu wissen.
»Ich dachte, es hätte aufgehört, Em.«
Mein Internat war in Sedona, Arizona. Pioniere waren dort erst ab 1876 aufgetaucht, deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, den Unterschied zwischen einem alten Apachenkrieger und, sagen wir, meinem Sportlehrer zu erkennen.
Ich hatte gedacht, es sei besser geworden, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Sofern ihre Kleidung nicht offensichtlich aus einer anderen Ära stammte, konnte ich nicht immer mit Bestimmtheit sagen, ob Leute zum Hier und Jetzt gehörten oder zu jenem rätselhaften Fenster der Vergangenheit. Mittlerweile war ich zur Expertin für historische Kleidung geworden, nicht weil ich mich für Mode interessierte, sondern weil es hilfreich war, Kleidungsstücke aus zurückliegenden Dekaden zu erkennen. Frauen waren leichter zuzuordnen, doch abgesehen von den riesigen Kragen und himmelblauen Smokings der Siebzigerjahre, umfasste die klassische Herrenmode mehrere Generationen und stellte ein größeres Problem dar.
Ich mied Themenparks oder Museen, in denen die Angestellten im Stil der jeweiligen Epoche gekleidet waren. Der reinste Albtraum. Auch verkniff ich es mir, ständig Leute zu berühren. Es sei denn, sie trugen zufällig einen Reifrock und versperrten mir den Weg.
»Es hat aufgehört. Jedenfalls hab ich das geglaubt.«
Zumindest bis ich meine Medikamente ins Klo geworfen hatte.
Mein Bruder hatte es ganz schön schwer mit mir. Meine Gefühle im Inneren zu verschließen - sowohl die Trauer um den Tod meiner Eltern als auch die Angst davor, Menschen zu sehen, die gar nicht existierten - hatte meinem Seelenleben nicht gutgetan. Ein Klinikaufenthalt, gefolgt von einem starken Medikamentencocktail, um die »Halluzinationen« zu stoppen, hatte eine Weile geholfen. Aber im letzten Winter, als ich das Dahinvegetieren in einem zombieartigen Nebel satthatte, wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und setzte die Psychopharmaka auf eigene Faust ab, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen.
Nicht einmal Thomas.
Nach und nach kehrten die Visionen zurück. Em, das Zombiemädchen war verschwunden, aber Em, das potenziell psychotische Mädchen funktionierte ebenfalls nicht besonders gut. Jetzt befand ich mich wieder in dem Stadium, in dem ich mich fragte, ob die Menschen, mit denen ich mich auf der Straße unterhielt, real waren.
»Es tut mir leid, Em.«
Ich blickte zu Thomas auf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. «
»Schließlich hab ich das Gebäude gekauft.« Seine Augenbrauen waren so dicht zusammengezogen, dass es aussah, als würde ihm eine haarige Raupe über die Stirn kriechen.
»Ja, so weit kommt es noch, dass du dir einen anderen Beruf suchst, um deine kleine Schwester zu verhätscheln.« Ich stieß mich vom Regal ab. »Als hätte ich dein Leben nicht schon genug durcheinandergebracht.«
»Hör auf, das zu sagen. Zur Restauranteröffnung kommst du aber, oder?«, fragte Thomas mit besorgter Miene. »Bring Lily mit.«
Da mich meine Schuldgefühle ihm gegenüber eh schon plagten, war es für Thomas ein Leichtes, mich zu überreden.
»Wir kommen.«
Um weitere Verrücktheiten zu verhindern, ging ich zu Lily, um mich umzuziehen.
Die meisten Jugendlichen, mit denen ich aufwuchs, mieden mich wie die Pest. Das rührte alles von jenem öffentlichen Zwischenfall, der mich für alle zum Freak abstempelte. Kurz gesagt, ich hatte einen lauten Streit in der Schulcafeteria, bei dem ich einen Jungen anbrüllte, wie unhöflich ich es fand, dass er sich auf meinen Platz gesetzt hatte, als ich kurz aufgestanden war, um mir eine Gabel zu holen. Daraufhin drohte ich, ihm die Gabel in den Arm zu rammen.
Doch außer mir hatte ihn keiner gesehen.
Für den Fall, dass der lautstarke Streit mit der Luft nicht ausreichte, um die anderen Cafeteriabesucher zu überzeugen, dass ich den Verstand verloren hatte, setzte ich eins drauf und brach in hysterisches Gelächter aus, um selbst die tolerantesten Mitschüler zu überzeugen. Als Lily mir den Arm um die Taille legte und mich zur Toilette zerrte, schlug das Lachen in lautes Schluchzen um.
Seit dem Tag, als wir uns in der dritten Klasse kennen gelernt hatten, war Lily meine beste Freundin. Sie akzeptiert mich so, wie ich bin, was auch immer damit einhergeht. Ich verhalte mich ihr gegenüber genauso. Es war keine Übertreibung, als ich Thomas sagte, dass es nur ihretwegen für mich okay sei, wieder in Ivy Springs zur Schule zu gehen.
Lily und ihre Großmutter lebten in der Wohnung über ihrem Restaurant. Ich ging durch die Hintertür ins Haus und fand Lily im Wohnzimmer vor, wo sie eine Pilatesübung durchführte, bei der sie ihre langen Beine durchstrecken musste, was ziemlich schmerzhaft aussah. Ich ging lieber joggen - mit MP3-Player in den Ohren, den Blick auf den Boden gerichtet, immer darauf bedacht, durch niemanden hindurchzulaufen. Außerdem wollte ich mich unbedingt auf die Suche nach einem Karatestudio machen. Nachdem ich es in Arizona schon bis zum braunen Gürtel gebracht hatte, wollte ich jetzt unbedingt für den schwarzen trainieren. Und ganz nebenbei fand ich das Austeilen von Arschtritten immer herrlich entspannend.
»Hey, weißt du schon, was du heute Abend anziehst?«, fragte ich.
»Sei nicht sauer.«
»Soll das etwa heißen, du kommst nicht mit?«
»Nicht sauer sein - bitte!« Sie fiel vor mir auf die Knie und legte die Hände zusammen wie ein Waisenkind, das um eine Schale Reis bettelt. »Ich soll ein paar Nachtaufnahmen machen. In einer Höhle. Sie brauchen noch Fotos für die Website. «
Lily geht mit einer Kamera so selbstverständlich um wie andere Leute mit einem Toaster. So kam sie auch an ihren Ferienjob als Assistentin eines bekannten Naturfotografen. »Du weißt, dass ich dich nie im Stich lasse, aber wenn ich den Auftrag ablehne, bin ich meinen Job los.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß, du würdest nicht kneifen, wenn du keine Angst hättest, deinen Job zu verlieren.«
»Danke, danke!« Lily rutschte auf Knien auf mich zu und schlang die Arme um mich. »Oh, guck mal, jetzt sind wir fast gleich groß.«
Lachend schubste ich sie auf ihre Trainingsmatte, marschierte in ihr Zimmer und legte das Kleid, das meine Schwägerin mir aufgenötigt hatte, sowie Handtasche, Schmuck und Schuhe auf Lilys Bett. Dru hatte mir genaue Anweisungen erteilt, wie ich alles zusammenstellen sollte. Manchmal gab sie mir das Gefühl, als könnte ich mich nicht allein anziehen. Das kann ich durchaus; aber ich hatte schon immer einen sehr minimalistischen Stil. Und Accessoires sind überhaupt nicht mein Ding.
Während Lily ihre Verrenkungen absolvierte, ging ich unter die Dusche und setzte mich danach an ihren Computer, um im Internet noch schnell etwas über Hourglass herauszufinden. Ich war gern vorbereitet, wenn es um meinen Bruder und seine Parade von Ärzten, Therapeuten und Medizinmännern ging, doch abgesehen von Shoppingergebnissen und einem peinlichen Link zu einer Stripteasebar fand ich nichts heraus. Für eine genauere Suche blieb mir keine Zeit, da Thomas mich umbringen würde, wenn ich mich verspätete.
Dru hatte wirklich einen exquisiten Geschmack. Das schwarze Samtkleid hatte eine geraffte Taille, dreiviertellange Ärmel und einen kurzen Glockenrock, der beim Gehen um meine Beine schwang. Vorausgesetzt, ich würde noch gehen können - mit den Schuhen. Sie waren mörderisch. Damit meine ich nicht, dass sie gut aussahen, obwohl sie wirklich gut aussahen. Ich meine, sie waren superhochhackig und spitz, und obwohl ich wirklich kein Tollpatsch bin, stellten sie eine echte Bedrohung für meine Sicherheit und die meiner Mitmenschen dar.
Als ich gerade meinen dunkelroten Lippenstift auftrug, kam Lily frisch von ihrem Training ins Zimmer - so frisch nun auch wieder nicht, besonders wenn man in ihrem Windschatten stand.
»Du wirkst dramatisch und geheimnisvoll.« Sie zog die Wangen nach innen und klimperte mit den Wimpern, als wollte sie der lieben Scarlett von heute Nachmittag Konkurrenz machen. »Freut mich, dass du deine Möglichkeiten ausschöpfst. «
»Wow, was für ein Lob aus deinem Munde!«
Sie kniff die Augen zusammen und begann, an meinen Haaren herumzuzupfen.
Lily ist eine echte Schönheit mit karamellfarbenem Teint, also eins von den Mädchen, derentwegen Männer gegen Verkehrsschilder und Laternen laufen, weil sie vor lauter Bewunderung kein Bein mehr vors andere kriegen. Hätte sie nicht diesen boshaften Sinn für Humor und wäre sie nicht treuer als ein Bernhardiner, dann hätte ich sie wahrscheinlich schon aus Prinzip gehasst. Ich tastete nach der Halskette, die Dru zu dem Kleid vorgesehen hatte, und war sicher, dass ich sie bereits angelegt hatte.
»Deine Kette liegt noch auf der Kommode«, sagte Lily, ohne den Blick von mir zu wenden. »Die Ohrringe sind in der Tüte auf dem Bett.«
Ich stieß genervt ihre Hände weg. »Woher weißt du bloß immer, wo alle Sachen sind? Und kannst du denn wirklich nicht mitkommen? Vielleicht begegnest du dem Jungen deiner Träume.«
»Auf der ganzen Welt gibt es keinen Jungen wie den aus meinen Träumen«, murmelte sie und starrte auf die Kommode, bevor sie sich wieder meinen widerspenstigen Haarsträhnen zuwandte. »Alle anderen sind der Mühe nicht wert.«
»Selbst wenn es deinen Traumjungen geben würde, er hätte im Moment keine Chance, dir näher zu kommen. Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst.« Ich verpasste ihr einen liebevollen Klaps auf den Hintern. »Sonst zieht dein Gestank noch in meine Sachen!«
Lachend und mit übertriebenem Hüftschwung wackelte sie aus dem Zimmer. Bevor sie im Bad verschwand, steckte sie noch einmal den Kopf durch die Tür und schenkte mir ihr breitestes Haifischgrinsen. »Du siehst wirklich super aus. Brich dir in den Schuhen nicht die Beine.«
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, und nach ein paar Spritzern von meinem Lieblingsparfüm - ein leichter Fliederduft mit einem Hauch von Vanille - schnappte ich noch Handtasche und Schultertuch. Ich war schon fast zur Tür hinaus, als mir einfiel, besser den Regenschirm mitzunehmen. Er passte farblich nicht zu meinem Outfit. Mit ein bisschen Glück würde man mich gar nicht einlassen.
3. KAPITEL
Leider hatte ich nicht so viel Glück. Als ich ins Restaurant kam, hielt Dru beide Daumen hoch, während mein Bruder einen anerkennenden Pfiff ausstieß. Nachdem ich erklärt hatte, warum ich allein gekommen war, ging ich brav zu den »wichtigen Leuten«, denen Thomas mich unbedingt vorstellen wollte. Ihre Gesichter verschwammen im Glanz unzähliger Pailletten, Perlen und Diamanten, mit denen sie auf jeder Oscar-Verleihung Furore gemacht hätten. Sobald ich mich davonstehlen konnte, versteckte ich mich hinter dem Jazztrio zwischen Wendeltreppe und Bar, nippte an einem Saftcocktail und versuchte, mich unsichtbar zu machen.
Ohne groß nachzudenken, hatte ich meine Mörderschuhe abgestreift und betrachtete nun den ganzen Rummel.
Ich war immer eher schüchtern gewesen, hatte mich aber nie komisch verhalten, bevor ich anfing, Visionen von Leuten aus der Vergangenheit zu sehen. Es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl, wenn man nicht weiß, ob die Person, mit der man gerade spricht, körperlich anwesend ist oder nicht. Nicht zu wissen, ob man bei der nächsten Halluzination einen psychotischen Zusammenbruch erleidet. Als die Visionen sich häuften, achtete ich darauf, ob eine der anwesenden Personen von den anderen ignoriert wurde, was ein Hinweis darauf war, dass diese Person nicht real war. Natürlich hatte ich am Ende oft Mitleid mit diesen Leuten und sprach trotz dem mit ihnen. Wobei ich mich natürlich vergewisserte, dass uns niemand beobachtete. Nur für den Fall.
Vor langer Zeit hatte ich damit aufgehört, Leute, die ich sah, wie Ballons zerplatzen zu lassen. Wenn ich meine Hand in etwas hineinschob, das wie ein Mensch aussah, und nichts als Luft spürte, musste es sie genauso in den Wahnsinn treiben wie mich. Also ließ ich die Visionen nach Möglichkeit in Ruhe, es sei denn, ich musste durch sie hindurchgehen.
Zumindest war am heutigen Abend bis jetzt alles normal. Ich hatte mich gerade ein wenig entspannt, als ich am anderen Ende des Raums bei den Türen zur hinteren Terrasse einen jungen Typen stehen sah. Seine breiten Schultern steckten in einem Smoking, der ihm hervorragend stand, was Pech für mich war. Während ich ihn abcheckte, ging ich meine übliche Liste durch, die mir dabei half herauszufinden, ob jemand lebendig war oder nicht. Punkt eins war der Stil der Kleidung. Abendgarderobe war viel schwieriger für mich als Straßenkleidung. Sie wurde aus gutem Grund als klassisch bezeichnet, und seine Kleidung war so klassisch, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Sein schwarzes Haar war recht lang - auch das half mir nicht weiter. Auf lässige Weise sexy, aber keine bestimmte Stilrichtung. Ich konzentrierte mich auf sein Gesicht. Glatt rasiert, doch ich ahnte, dass sich spätestens um fünf Uhr nachmittags auf seinem Kinn ein deutlicher Bartschatten zeigen würde. Beneidenswert geschwungene Brauen setzten seine Augen in Szene. Der olivfarbene Teint ließ auf mediterrane Vorfahren schließen, und die hohen, kräftigen Wangenknochen verliehen seinen Gesichtszügen Charakter. Nur sein auffallend großer Mund fiel aus dem Rahmen. Seine vollen Lippen brachten mich aus der Fassung.
Ich hoffte wirklich sehr, dass er lebendig war.
Energisch rief ich mich zur Vernunft. Was machte ich da nur? Lippen standen nicht auf meiner Checkliste. Außerdem war es ganz und gar nicht meine Art, Jungs anzustarren, selbst wenn sie noch so gut aussahen. Doch nach seinem leichten Grinsen zu urteilen hatte ich anscheinend soeben gegen meine Prinzipien verstoßen. Hastig quälte ich mich wieder in meine hochhackigen Folterinstrumente und schaute mich suchend nach Thomas und Dru um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Ich blickte wieder zu dem Typen im Smoking, der direkt auf mich zukam.
Nichts wie weg. Als ich mein Glas auf dem Klavier abstellen wollte, sah ich erschrocken, wie es hindurchfiel und auf dem gefliesten Boden in tausend glitzernde Scherben zersprang.
Augenblicklich tauchte mein Bruder neben mir auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Nein. Es sei denn, du siehst ebenfalls ein Jazztrio?«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich sehe keins.«
»Dann kann ich definitiv sagen, dass mit mir gar nichts in Ordnung ist.« Die Phantommusiker spielten unbeirrt weiter. Ich hatte nicht versucht, mit ihnen in körperlichen Kontakt zu treten. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie nicht verschwunden waren.
Nicht nur einer, sondern drei auf einmal? Und ein Flügel? Ich hatte noch nie zuvor eine ganze Szenerie gesehen. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. »Ich brauche frische Luft!«
»Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden.« Thomas lächelte die realen Leute an, die in unserer Nähe standen, bevor er als perfekter Gastgeber seiner leicht hysterischen Schwester Beistand leistete. Er führte mich durch den Saal, und währenddessen gab ich mir alle Mühe, so zu tun, als würde ich die neugierigen Blicke der Umstehenden nicht bemerken. Wir traten auf die Terrasse, auf der sich glücklicherweise niemand aufhielt, da es sich nach dem Regenguss merklich abgekühlt hatte.
Ich holte tief Luft, um mich ein wenig zu beruhigen. »Wie viele alte Häuser planst du noch zu öffentlichen Gebäuden umzubauen? Nur damit ich mich gefühlsmäßig darauf vorbereiten kann.«
Gott sei Dank lebten wir nicht in Europa. Dort mussten ganze Heerscharen von Toten aus einer Unzahl vergangener Jahrhunderte herumspazieren. In den USA hatte ich es nur mit ein paar Generationen von Leuten zu tun, die man mit heute lebenden Menschen verwechseln konnte. Als Thomas und Dru einen Ausflug zum alljährlichen Cherokee-Indianerfest in North Carolina vorschlugen, habe ich mich schlichtweg geweigert mitzukommen. Bloß keine Nachstellungen historischer Ereignisse. Niemals.
»Ich kann nicht fassen, dass es so schlimm ist«, sagte Thomas und tätschelte meinen Arm, um mich zu trösten. Ich schüttelte nur den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, ihm die Wahrheit über meine Medikamente zu gestehen, denn in diesem Augenblick kam der Typ im Smoking durch die zweiflügelige Glastür nach draußen geschlendert.
»Siehst du ihn?« Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und spähte vorsichtig durch meine zitternden Finger, starr vor Schreck bei der Vorstellung einer weiteren Vision, die so schnell auf das Jazztrio folgte.
»Wen soll ich sehen?«
»Ihn.« Ich gab Thomas ein Zeichen, sich umzuschauen. Wenn der Smokingtyp kein Mensch aus Fleisch und Blut war, würde ich um eine erneute Einweisung in die Psychoklinik bitten.
»Ja, ich sehe ihn.« In Thomas' Stimme schwang Erleichterung mit. »Das ist Michael.«
»Wer ist Michael?«
»Er ist der neue Berater, von dem ich dir erzählt habe.«
4. KAPITEL
Aus der Nähe sah der Smokingtyp sogar noch besser aus: groß, breitschultrig, glatte Haut - und diese Lippen! Ich konnte nicht glauben, dass er für ein Unternehmen namens Hourglass arbeitete. Fünfzigjährige Brillenträger mit Bierbäuchen sollten dort arbeiten. Kein Prinz, der zu schön war, um sich unter das gemeine Volk zu mischen. Er konnte nicht viel älter sein als ich. Vielleicht war er ein Praktikant. Vielleicht war sein Honorar nicht so hoch, weil er noch in der unteren Liga statt mit den großen Jungs spielte.
»Hattest du vor, mir zu sagen, dass er hier ist?«, zischte ich, während meine Gefühle zwischen Wut und Angst schwankten.
»Er sollte dich zuerst beobachten.« »Wie ein Exemplar einer besonderen Spezies? Wo ist mein Käfig?«
Ich wollte schon eine Schimpftirade anstimmen, hielt jedoch inne, als mir klar wurde, dass der Smokingtyp sich in unmittelbarer Nähe befand und mich beäugte, als könnte ich jeden Moment in Flammen aufgehen.
»Michael Weaver, darf ich Ihnen meine Schwester, Emerson Cole, vorstellen?« Thomas schob mich ein Stück nach vorn, damit ich Michael die Hand gab.
Michael ließ seinen Blick von Thomas zu mir wandern und streckte mir zögernd die Hand entgegen. Erschaudernd verbarg ich mein Gesicht hinter der Schulter meines Bruders.
Obwohl Thomas seine Anwesenheit und somit seine tatsächliche Existenz bestätigt hatte, mochte ich Michael nicht berühren. Als ich abermals einen vorsichtigen Blick in seine Richtung wagte, hatte er die Hand in die Tasche geschoben.
Die Terrassentür öffnete sich erneut, und diesmal war es Dru. Wahrscheinlich hatte Thomas sie noch nicht über den neuesten Stand meiner Halluzinationen informiert, da sie mit den Vorbereitungen für diesen Abend alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgte.
»Entschuldige, dass ich so tollpatschig bin.« Sie stürmte auf mich zu, und ich hatte alle Mühe, sie auf Distanz zu halten. Durch mein abwinkendes Gefuchtel konnte ich das Zittern meiner Hände kaschieren. »Alles ist gut, geh wieder rein.«
Die meisten Leute würden Drus Augenfarbe als eisblau bezeichnen, was ich nicht ganz nachvollziehen kann, da Eis nicht blau, sondern durchsichtig ist. In diesem Augenblick spiegelte sich große Besorgnis in ihrem Blick.
»Du bist nicht tollpatschig; und deshalb mache ich mir Sorgen. « Sie ignorierte meinen Protest und legte mir die Hand auf die Stirn. »Bist du krank?«, fragte sie und streichelte meine Wange. »Ist dir schwindelig? Hast du Hunger? Willst du dich hinsetzen?«
»Alles bestens. Ehrlich«, log ich durch meine perfekten Zähne. Ich wollte nur zwei Dinge: der Jazzband, die ich immer noch spielen hörte, und dem atemberaubenden Smokingtyp an meiner Seite entfliehen. Hätte er nicht wenigstens wie ein Steuerprüfer aussehen können statt wie ein Männermodel? Ich war auch so schon verwirrt genug.
»Bist du sicher? Dann würde ich deinen Bruder gern entführen, wenn du nichts dagegen hast. Brad von der Bank wollte mit dir sprechen, Thomas. Es geht um das Objekt an der Main Street.« Sie zog die perfekt gezupften Brauen hoch, und ich ahnte, dass es sich um einen äußerst lukrativen Deal handeln musste. »Ich kann ja hierbleiben.«
Thomas machte ein gequältes Gesicht, hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten. Ich half ihm aus der Patsche. »Geh nur. Du auch, Dru. Ihr müsst Geld verdienen.«
»Nein, ich bleibe bei dir, Süße. Ich will sicher sein, dass es dir gut geht.« Dru legte den Arm um meine Taille und drückte mich kurz.
»Nein. Das brauchst du nicht. Geh nur. Es ist alles in Ordnung «, beharrte ich.
»Bleiben Sie bitte bei ihr?«, fragte Thomas Michael, und seine Worte klangen so ernst, als würde er meine Mitgift aushandeln. Oder ein Immobiliengeschäft. »Ich möchte sie nicht allein lassen.«
Ich warf Thomas einen grimmigen Blick zu. Das würde ihn teuer zu stehen kommen.
»Selbstverständlich«, erwiderte Michael verbindlich.
Seine Stimme ließ mich zusammenzucken. Ihr Klang versetzte jede Zelle in meinem Körper in Alarmbereitschaft. Sie war sanft und samtig. Bestimmt war er ein guter Sänger. Nachdem ich Thomas ein weiteres Mal versichert hatte, dass ich mich besser fühlte, sah ich meine beiden einzigen Vertrauten im Restaurant verschwinden und wünschte mir verzweifelt, an irgendeinem anderen Platz auf der Welt zu sein ... außer in Colonial Williamsburg vielleicht.
Ich atmete seufzend aus und schenkte Michael ein leichtes Lächeln. Als er es erwiderte, stockte mir der Atem.
Eine echte Sahneschnitte.
»Ich hatte Sie mir anders vorgestellt«, sagte ich und hasste meine brüchige Stimme.
»Das habe ich schon öfter gehört«, erwiderte er und überging netterweise meine Unsicherheit.
Aus dem amerikanischen Englisch von Inge Wehrmann
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Meine kleine Heimatstadt im Süden ist eine etwas verblichene Schönheit und erinnert an eine in die Jahre gekommene Ballkönigin. Das Knochengerüst ist exquisit, aber die Haut könnte ein Lifting gebrauchen. Als Architekt ist mein Bruder eine Art Schönheitschirurg für Ivy Springs.
Gedankenverloren schlurfte ich durch den spätsommerlichen Regenguss zu einem seiner Restaurationsprojekte - unserem Zuhause. Das Wetter war mir vollkommen gleichgültig. Ich hatte es nicht eilig. Über Feng Shui, gotische Strebebögen und andere architektonische Finessen wusste mein Bruder vielleicht Bescheid - aber über mich? Er hatte keine Ahnung.
Bevor ich geflohen war, um meinen Frust auf einem Laufband abzuarbeiten, hatten Thomas und ich wegen des bevorstehenden Abschlussjahrs der Highschool gestritten. Ich hielt es für überflüssig. Konservativ wie er war, sah mein Bruder das natürlich anders.
Als ich zu unserem Haus kam, versperrte mir eine altmodisch gekleidete Südstaatenschönheit den Weg. Ein Seidenschirmchen und ein ausladender Reifrock machten ihren Look komplett. Auf einem Kostümfest hatte ich mal was Ähnliches an, aber sie trug das Original. Der Frust war wieder da und versperrte mir jetzt sogar den Weg.
In Gestalt der verdammten Scarlett O'Hara aus Vom Winde verweht. Seufzend schob ich die Hand durch ihren Bauch und spürte keinerlei Widerstand. Ich verdrehte die Augen, als ich sah, wie sie mit den Wimpern klimpernd nach Luft schnappte und sich in Luft auflöste.
»Hör zu Scarlett, deinem Rhett war's schon egal, was du machst, und mir erst recht.«
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, fing es draußen an zu donnern. Ich ging die Treppe des ehemaligen Lagerhauses hinauf, das mein Bruder zu einem Wohnkomplex umgebaut hatte. Aber statt einen eleganten, filmreifen Auftritt hinzulegen, kam ich mit angeklatschten Haaren und tropfnasser pinkfarbener Regenjacke in die Küche gestapft. Mein Bruder saß am Tisch, auf dem er diverse Baupläne ausgebreitet hatte.
»Emerson!« Thomas blickte von den Plänen auf und faltete sie in der Mitte zusammen, nur um sie erneut vor sich auszubreiten. Sein Lächeln glich meinem eigenen aufs Haar - das Ergebnis einer dreijährigen, erstklassig durchgeführten Kieferregulierung -, nur dass ich heute nicht lächelte. »Ich bin froh, dass du zuhause bist.«
Wenigstens war einer von uns froh.
Ohne mein Zusammentreffen mit Miss O'Hara zu erwähnen, schüttelte ich das Regenwasser von meiner Jacke, woraufhin er genervt auf die Pfütze zu meinen Füßen starrte. Garantiert hatte er immer einen farblich auf seine Kleidung abgestimmten Regenschirm dabei. Thomas, der Pfadfinder. Allzeit bereit und für sämtliche Zwischenfälle gerüstet. Ein familiärer Charakterzug, der mir vollkommen fehlte.
Wir hatten das gleiche blonde Haar und die gleichen moosgrünen Augen, doch Thomas hatte den kantigen Kiefer unseres Vaters geerbt, während mein Gesicht herzförmig war wie das unserer Mutter. Er war auch mit Daddys Größe gesegnet. Auch da bin ich zu kurz gekommen, und zwar gehörig.
Thomas strich seine Baupläne ein wenig sorgfältiger glatt als notwendig. »Tut mir leid, dass wir uns gestritten haben.«
»Schon gut. Mir bleibt sowieso keine andere Wahl.« Statt ihn anzusehen, starrte ich auf den Fußboden. »Entweder ich gehe weiter zur Schule, oder du lässt mich von der Polizei in den Jugendknast schleifen.«
»Wir könnten neue Medikamente ausprobieren. Vielleicht würde es dir dann leichter fallen zurückzugehen.«
»Keine neuen Tabletten.« In Wahrheit nahm ich gar keine Medikamente mehr ein. Aber davon ahnte er nichts. Dass ich ein solches Geheimnis vor ihm verbarg, löste gewaltige Schuldgefühle aus, die mich fast dazu gebracht hätten, ihm alles zu gestehen. Das Geständnis lag mir förmlich auf der Zunge, weshalb ich mir eine Flasche Wasser nahm und mein Gesicht hinter der Kühlschranktür verbarg. »Ich werd's schon schaffen.«
»Wenigstens hast du Lily.«
Lily war meine einzige Freundin aus der Kindheit, die noch mit mir redete, und wahrscheinlich das einzig Gute an meiner Rückkehr aus dem Internat, wo ich die letzten beiden Klassen absolviert hatte. Offiziell hieß es, dass mein Stipendium für das letzte Schuljahr aufgrund »sinkender Spendenbereitschaft ehemaliger Absolventen« gestrichen wurde, aber vielleicht hatte das Mitgefühl für verwaiste Mädchen, die von Zeit zu Zeit halluzinierten und ihre Klassenkameraden ängstigten, seine Grenzen erreicht. Ich hatte zwar ein bisschen Geld aus dem kleinen Treuhandfonds, den meine Eltern hinterlassen hatten, aber nicht genug, um die Kosten meines letzten Schuljahrs zu decken. Thomas hatte angeboten, mir die Abschlussklasse in Sedona zu finanzieren, doch das hatte ich abgelehnt. Oft und lautstark. Ich war damit einverstanden, bei ihm zu wohnen, da er mein gesetzlicher Vormund war, nur sein Geld wollte ich partout nicht annehmen.
Also ging es zurück nach Tennessee. Irgendwie würde ich das eine Jahr schon herumkriegen, selbst in der öffentlichen Highschool.
»Ich wollte noch etwas anderes mit dir besprechen.« Thomas strich erneut die Baupläne glatt. Wenn er so weitermachte, würde er noch die Tinte vom Papier reiben. »Wir ... wir haben jemanden Neues gefunden, einen Berater, der sagt, dass er dir helfen kann.«
Alle paar Monate hörte Thomas von jemandem, der mir vielleicht helfen konnte. Bislang waren es allesamt und ausnahmslos Spinner oder Nieten gewesen. Ich knallte die Wasserflasche auf die Anrichte, sodass sie fast umfiel, verschränkte die Arme vor der Brust und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Noch einer?«
»Diesmal ist es anders.«
»Das war's beim letzten Mal auch schon.«
»Dieser Typ ...«
»Hat ein drittes Auge mitten auf der Stirn?«
»Emerson!«
»Ich hab nicht viel Vertrauen zu deinen Kontakten«, konterte ich und verschränkte die Arme ein wenig fester, wie um eine neuerliche Attacke unerwünschter »Hilfe« abzuwehren. »Hast du mal wieder die Werbeanzeigen auf den paranormalen Internetseiten studiert?«
»Das hab ich höchstens ein-, zweimal gemacht.« Er versuchte, nicht zu grinsen. Ohne Erfolg.
»Wo hast du den Neuen entdeckt?« Es war schwer, wütend zu bleiben, wenn er sich solche Mühe gab, mir zu helfen. »Sicher kommt er direkt aus dem Entzug.«
»Er arbeitet für eine Organisation namens Hourglass. Der Gründer hat am parapsychologischen Seminar der Bennett Universität in Memphis gearbeitet.«
»Das Seminar, das geschlossen wurde, weil es keiner finanzieren wollte? Na toll.«
»Woher weißt du das denn schon wieder?«
Ich warf ihm einen Blick zu, der in etwa ausdrückte: He, ich bin ein Teenager. Ich weiß, wie man sich im Internet informiert.
»Hourglass ist eine sehr angesehene Organisation, glaub mir. Mein Ansprechpartner ...«
»Okay, okay ... Wenn ich zu einem Treffen bereit bin, können wir das Thema wechseln?« Mit gespielter Unterwürfigkeit hielt ich die Hände hoch. Thomas hatte gewusst, dass er gewinnen würde. Er gewann immer.
»Danke, Em. Ich habe es nur vorgeschlagen, weil ich dich liebe.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Ich hab dich wirklich sehr lieb.«
»Ich weiß.« Er liebte mich wirklich. Und allen Uneinigkeiten zum Trotz erwiderte ich seine Liebe. Mit dem Ziel, weitere Gefühlsbekundungen zu vermeiden, erkundigte ich mich nach dem Verbleib meiner Schwägerin. »Wo ist deine Frau?«
Thomas und Dru waren ein Renovierungstraumpaar. Sie hatten sich gesucht und gefunden, denn ihre Fähigkeiten ergänzten sich perfekt. Einmal konnte ich zusehen, wie Dru mit einem Vorschlaghammer auf eine Wand eindrosch, um die Umbauarbeiten in einem Gebäude zu beschleunigen. Als sie fertig war, sahen ihre Fingernägel immer noch perfekt aus.
»Im Restaurant beim neuen Chefkoch. Er wollte mit ihr besprechen, welche Weine heute Abend serviert werden sollen. «
»Da kann sie ihm bestimmt weiterhelfen.« Ihr Geschmack war unfehlbar.
Der Klingelton von Thomas' Handy gab mir die Chance zu entkommen. Ich warf die leere Wasserflasche in den Recyclingeimer. »Schon ganz schön spät. Muss noch unter die Dusche.«
Als die Küchentür hinter mir ins Schloss fiel, roch ich frische Farbe. Dru hatte die Wände im vorderen Wohnzimmer vor Kurzem mit tiefrotem venezianischen Putz versehen. Die gemütlichen Ledersofas mit den sepiafarbenen Seidenkissen passten hervorragend zu dem Holzfußboden. Eine Wand war vollständig verglast; eine andere war mit Bücherregalen bedeckt, in denen gediegene Lederbände sowie zerlesene Taschenbücher standen. Ich strich über die Buchrücken und hätte es mir am liebsten mit einem der Schmöker gemütlich gemacht. Doch das ging heute Abend nicht. Thomas und Dru hatten das Gebäude der alten Telefongesellschaft zu einem schicken Restaurant umgebaut. Statt es, wie geplant, an einen Investor zu verkaufen, wollten sie es nun selbst behalten und führen. In ein paar Stunden sollte die große Eröffnung stattfinden. Meine Anwesenheit war mehr als erbeten - als eine Art Wiedereinführung in die Kleinstadtgesellschaft.
Mein Bruder hatte die Gabe, kaputten Dingen zu neuem Glanz zu verhelfen. Wahrscheinlich hegte er die Hoffnung, dass sein Zauber sich heute Abend auf mich übertragen würde.
Der Verlust unserer Eltern vor vier Jahren hielt uns zusammen, auch wenn Thomas und ich uns in meiner Kindheit nicht besonders nahegestanden hatten. Ich war das Nesthäkchen, fast zwanzig Jahre jünger als er. Er war nicht auf die Erziehung seiner jüngeren Schwester vorbereitet gewesen, und ich hatte mir alle Mühe gegeben, meine besondere Art von Verrücktheit von ihm fernzuhalten. Das Stipendium war ein solcher Glücksfall, als hätte jemand all meine Gebete erhört. Ich wollte fort aus meiner Heimatstadt, fort von all ihren Erinnerungen und von Thomas' Restaurationsprojekten. Deshalb gefiel mir meine derzeitige Situation ganz und gar nicht, jetzt, da mein Stipendium futsch war. Hauptsächlich wegen »meines Problems«.
»Hallo.«
Die unbekannte Stimme ließ mich zusammenzucken. Erschrocken drehte ich mich um und sah an der Glasfront einen Mann stehen, der seltsamerweise vertraut und gleichzeitig vollkommen fehl am Platze wirkte. Er war außergewöhnlich gut aussehend, groß und schlank und trug einen schwarzen Anzug. Eine weizenblonde Haarsträhne fiel über seine linke Braue, verdeckte jedoch nicht seine eleganten Gesichtszüge. An seiner Weste war eine silberne Taschenuhr befestigt, die er in die Hosentasche gleiten ließ, bevor er die Hände hinter dem Rücken verschränkte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, um einen furchtlosen Tonfall bemüht, der mir jedoch misslang. Schließlich war er vor einer Sekunde noch nicht da gewesen.
»Mein Name ist Jack.« Er machte keine Anstalten, näher zu treten, sondern blieb auf der Stelle stehen und musterte mich mit seinen strahlend blauen Augen. Ich bekam eine Gänsehaut und hoffte inständig, dass er nicht der neue Ansprechpartner war, den Thomas erwähnt hatte.
»Wollen Sie zu meinem Bruder?«
»Nein, ich kenne Ihren Bruder nicht.« Sein rechter Mundwinkel hob sich zu einem angedeuteten Lächeln, woraufhin mein Herz einen Schlag aussetzte. »In der Tat bin ich hergekommen, um dich zu besuchen, Emerson.«
Die Taschenuhr und der Anzug konnten zu einer anderen Generation gehören. Seine Frisur stand für keine besondere Zeit. Vielleicht war der Typ eine meiner Wahnvorstellungen, aber wenn es so war ...
Wieso kannte er meinen Namen?
2. KAPITEL
»Thomas!«, schrie ich, bevor mir vor Angst die Luft wegblieb. Ich hörte einen Küchenstuhl krachend zu Boden schlagen und wandte mich in Richtung Tür. Als ich wieder zur Glasfront schaute, war Jack verschwunden. Thomas stürzte keuchend ins Zimmer.
Warum, warum, warum?«, fragte ich und sackte neben dem Bücherregal in die Hocke, wobei ich bei jedem Warum mit dem Hinterkopf an die Seitenwand schlug. »Warum musst du ständig alte Häuser renovieren? Warum kannst du nicht einfach mal ein neues bauen?«
»Es ist wieder passiert? Hier?«, fragte er schockiert. Er sprach von meinem Problem mit jenen, die ... nicht mehr am Leben waren.
Nicht direkt tot. Noch war ich nicht dahintergekommen, was die Dinger waren, die ich sah; ich wusste nur, dass ich noch nie eine Geistergeschichte gehört hatte, in der Geister wie Luftballons zerplatzten und verschwanden, wenn man sie berührte. Mit dreizehn hatte ich angefangen, sie zu sehen, kurz bevor meine Eltern starben. Thomas baute damals gerade eine alte Glasfabrik zu einem Bürogebäude um.
Bei meinem ersten Besuch auf der Baustelle, führte ich ein nettes Gespräch mit einem älteren Herrn, der einen Schutzhelm trug. Er roch nach Tabak und Schweiß. Blaue Adern zierten seine knollenartige Nase und verrieten, dass er gern einen trank. Er war recht freundlich und bot mir sogar etwas von seinem Mittagessen an. Ich lehnte ab, doch er bestand darauf, dass ich ein Stück von dem Kuchen probierte, den seine Frau ihm in seine verbeulte Brotdose gelegt hatte.
In diesem Moment wurde die Sache kompliziert. Als er mir den Kuchen in die Hand geben wollte, merkte ich, dass er nicht fest war. Er kam zu demselben Schluss, ließ Kuchen und Brotdose fallen und kreischte wie eine Frau, die vergessen hat, ihre Unterwäsche von der Leine zu nehmen, bevor der Pastor zu Besuch kommt. Und dann verschwand er. Puff. Einfach so.
Willkommen im Land des Wahnsinns. Dem freundlichen Bauarbeiter folgten Unmengen von Leuten - toten Leuten -, die an den seltsamsten Orten auftauchten und erst verschwanden, wenn ich sie berührte. Doch weder in der Toilette von Burger King noch in der Umkleidekabine von Macy's konnte ich mich an sie gewöhnen.
»Ich fass es nicht, dass ich mich von dir habe überreden lassen, hier zu wohnen. Ich hätte wissen müssen, dass ich in so einem alten Kasten niemals sicher sein kann. Und dieser Typ wusste sogar meinen Namen.«
Das war noch nie passiert.
»Er wusste deinen Namen?«, fragte Thomas sichtlich beunruhigt.
Ich nickte und schloss die Augen. Jack hatte auch gesagt, dass er hierhergekommen sei, um mich zu besuchen. Davon brauchte Thomas nichts zu wissen.
»Ich dachte, es hätte aufgehört, Em.«
Mein Internat war in Sedona, Arizona. Pioniere waren dort erst ab 1876 aufgetaucht, deshalb fiel es mir nicht besonders schwer, den Unterschied zwischen einem alten Apachenkrieger und, sagen wir, meinem Sportlehrer zu erkennen.
Ich hatte gedacht, es sei besser geworden, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Sofern ihre Kleidung nicht offensichtlich aus einer anderen Ära stammte, konnte ich nicht immer mit Bestimmtheit sagen, ob Leute zum Hier und Jetzt gehörten oder zu jenem rätselhaften Fenster der Vergangenheit. Mittlerweile war ich zur Expertin für historische Kleidung geworden, nicht weil ich mich für Mode interessierte, sondern weil es hilfreich war, Kleidungsstücke aus zurückliegenden Dekaden zu erkennen. Frauen waren leichter zuzuordnen, doch abgesehen von den riesigen Kragen und himmelblauen Smokings der Siebzigerjahre, umfasste die klassische Herrenmode mehrere Generationen und stellte ein größeres Problem dar.
Ich mied Themenparks oder Museen, in denen die Angestellten im Stil der jeweiligen Epoche gekleidet waren. Der reinste Albtraum. Auch verkniff ich es mir, ständig Leute zu berühren. Es sei denn, sie trugen zufällig einen Reifrock und versperrten mir den Weg.
»Es hat aufgehört. Jedenfalls hab ich das geglaubt.«
Zumindest bis ich meine Medikamente ins Klo geworfen hatte.
Mein Bruder hatte es ganz schön schwer mit mir. Meine Gefühle im Inneren zu verschließen - sowohl die Trauer um den Tod meiner Eltern als auch die Angst davor, Menschen zu sehen, die gar nicht existierten - hatte meinem Seelenleben nicht gutgetan. Ein Klinikaufenthalt, gefolgt von einem starken Medikamentencocktail, um die »Halluzinationen« zu stoppen, hatte eine Weile geholfen. Aber im letzten Winter, als ich das Dahinvegetieren in einem zombieartigen Nebel satthatte, wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und setzte die Psychopharmaka auf eigene Faust ab, ohne jemanden davon in Kenntnis zu setzen.
Nicht einmal Thomas.
Nach und nach kehrten die Visionen zurück. Em, das Zombiemädchen war verschwunden, aber Em, das potenziell psychotische Mädchen funktionierte ebenfalls nicht besonders gut. Jetzt befand ich mich wieder in dem Stadium, in dem ich mich fragte, ob die Menschen, mit denen ich mich auf der Straße unterhielt, real waren.
»Es tut mir leid, Em.«
Ich blickte zu Thomas auf. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. «
»Schließlich hab ich das Gebäude gekauft.« Seine Augenbrauen waren so dicht zusammengezogen, dass es aussah, als würde ihm eine haarige Raupe über die Stirn kriechen.
»Ja, so weit kommt es noch, dass du dir einen anderen Beruf suchst, um deine kleine Schwester zu verhätscheln.« Ich stieß mich vom Regal ab. »Als hätte ich dein Leben nicht schon genug durcheinandergebracht.«
»Hör auf, das zu sagen. Zur Restauranteröffnung kommst du aber, oder?«, fragte Thomas mit besorgter Miene. »Bring Lily mit.«
Da mich meine Schuldgefühle ihm gegenüber eh schon plagten, war es für Thomas ein Leichtes, mich zu überreden.
»Wir kommen.«
Um weitere Verrücktheiten zu verhindern, ging ich zu Lily, um mich umzuziehen.
Die meisten Jugendlichen, mit denen ich aufwuchs, mieden mich wie die Pest. Das rührte alles von jenem öffentlichen Zwischenfall, der mich für alle zum Freak abstempelte. Kurz gesagt, ich hatte einen lauten Streit in der Schulcafeteria, bei dem ich einen Jungen anbrüllte, wie unhöflich ich es fand, dass er sich auf meinen Platz gesetzt hatte, als ich kurz aufgestanden war, um mir eine Gabel zu holen. Daraufhin drohte ich, ihm die Gabel in den Arm zu rammen.
Doch außer mir hatte ihn keiner gesehen.
Für den Fall, dass der lautstarke Streit mit der Luft nicht ausreichte, um die anderen Cafeteriabesucher zu überzeugen, dass ich den Verstand verloren hatte, setzte ich eins drauf und brach in hysterisches Gelächter aus, um selbst die tolerantesten Mitschüler zu überzeugen. Als Lily mir den Arm um die Taille legte und mich zur Toilette zerrte, schlug das Lachen in lautes Schluchzen um.
Seit dem Tag, als wir uns in der dritten Klasse kennen gelernt hatten, war Lily meine beste Freundin. Sie akzeptiert mich so, wie ich bin, was auch immer damit einhergeht. Ich verhalte mich ihr gegenüber genauso. Es war keine Übertreibung, als ich Thomas sagte, dass es nur ihretwegen für mich okay sei, wieder in Ivy Springs zur Schule zu gehen.
Lily und ihre Großmutter lebten in der Wohnung über ihrem Restaurant. Ich ging durch die Hintertür ins Haus und fand Lily im Wohnzimmer vor, wo sie eine Pilatesübung durchführte, bei der sie ihre langen Beine durchstrecken musste, was ziemlich schmerzhaft aussah. Ich ging lieber joggen - mit MP3-Player in den Ohren, den Blick auf den Boden gerichtet, immer darauf bedacht, durch niemanden hindurchzulaufen. Außerdem wollte ich mich unbedingt auf die Suche nach einem Karatestudio machen. Nachdem ich es in Arizona schon bis zum braunen Gürtel gebracht hatte, wollte ich jetzt unbedingt für den schwarzen trainieren. Und ganz nebenbei fand ich das Austeilen von Arschtritten immer herrlich entspannend.
»Hey, weißt du schon, was du heute Abend anziehst?«, fragte ich.
»Sei nicht sauer.«
»Soll das etwa heißen, du kommst nicht mit?«
»Nicht sauer sein - bitte!« Sie fiel vor mir auf die Knie und legte die Hände zusammen wie ein Waisenkind, das um eine Schale Reis bettelt. »Ich soll ein paar Nachtaufnahmen machen. In einer Höhle. Sie brauchen noch Fotos für die Website. «
Lily geht mit einer Kamera so selbstverständlich um wie andere Leute mit einem Toaster. So kam sie auch an ihren Ferienjob als Assistentin eines bekannten Naturfotografen. »Du weißt, dass ich dich nie im Stich lasse, aber wenn ich den Auftrag ablehne, bin ich meinen Job los.«
Ich verdrehte die Augen. »Ich weiß, du würdest nicht kneifen, wenn du keine Angst hättest, deinen Job zu verlieren.«
»Danke, danke!« Lily rutschte auf Knien auf mich zu und schlang die Arme um mich. »Oh, guck mal, jetzt sind wir fast gleich groß.«
Lachend schubste ich sie auf ihre Trainingsmatte, marschierte in ihr Zimmer und legte das Kleid, das meine Schwägerin mir aufgenötigt hatte, sowie Handtasche, Schmuck und Schuhe auf Lilys Bett. Dru hatte mir genaue Anweisungen erteilt, wie ich alles zusammenstellen sollte. Manchmal gab sie mir das Gefühl, als könnte ich mich nicht allein anziehen. Das kann ich durchaus; aber ich hatte schon immer einen sehr minimalistischen Stil. Und Accessoires sind überhaupt nicht mein Ding.
Während Lily ihre Verrenkungen absolvierte, ging ich unter die Dusche und setzte mich danach an ihren Computer, um im Internet noch schnell etwas über Hourglass herauszufinden. Ich war gern vorbereitet, wenn es um meinen Bruder und seine Parade von Ärzten, Therapeuten und Medizinmännern ging, doch abgesehen von Shoppingergebnissen und einem peinlichen Link zu einer Stripteasebar fand ich nichts heraus. Für eine genauere Suche blieb mir keine Zeit, da Thomas mich umbringen würde, wenn ich mich verspätete.
Dru hatte wirklich einen exquisiten Geschmack. Das schwarze Samtkleid hatte eine geraffte Taille, dreiviertellange Ärmel und einen kurzen Glockenrock, der beim Gehen um meine Beine schwang. Vorausgesetzt, ich würde noch gehen können - mit den Schuhen. Sie waren mörderisch. Damit meine ich nicht, dass sie gut aussahen, obwohl sie wirklich gut aussahen. Ich meine, sie waren superhochhackig und spitz, und obwohl ich wirklich kein Tollpatsch bin, stellten sie eine echte Bedrohung für meine Sicherheit und die meiner Mitmenschen dar.
Als ich gerade meinen dunkelroten Lippenstift auftrug, kam Lily frisch von ihrem Training ins Zimmer - so frisch nun auch wieder nicht, besonders wenn man in ihrem Windschatten stand.
»Du wirkst dramatisch und geheimnisvoll.« Sie zog die Wangen nach innen und klimperte mit den Wimpern, als wollte sie der lieben Scarlett von heute Nachmittag Konkurrenz machen. »Freut mich, dass du deine Möglichkeiten ausschöpfst. «
»Wow, was für ein Lob aus deinem Munde!«
Sie kniff die Augen zusammen und begann, an meinen Haaren herumzuzupfen.
Lily ist eine echte Schönheit mit karamellfarbenem Teint, also eins von den Mädchen, derentwegen Männer gegen Verkehrsschilder und Laternen laufen, weil sie vor lauter Bewunderung kein Bein mehr vors andere kriegen. Hätte sie nicht diesen boshaften Sinn für Humor und wäre sie nicht treuer als ein Bernhardiner, dann hätte ich sie wahrscheinlich schon aus Prinzip gehasst. Ich tastete nach der Halskette, die Dru zu dem Kleid vorgesehen hatte, und war sicher, dass ich sie bereits angelegt hatte.
»Deine Kette liegt noch auf der Kommode«, sagte Lily, ohne den Blick von mir zu wenden. »Die Ohrringe sind in der Tüte auf dem Bett.«
Ich stieß genervt ihre Hände weg. »Woher weißt du bloß immer, wo alle Sachen sind? Und kannst du denn wirklich nicht mitkommen? Vielleicht begegnest du dem Jungen deiner Träume.«
»Auf der ganzen Welt gibt es keinen Jungen wie den aus meinen Träumen«, murmelte sie und starrte auf die Kommode, bevor sie sich wieder meinen widerspenstigen Haarsträhnen zuwandte. »Alle anderen sind der Mühe nicht wert.«
»Selbst wenn es deinen Traumjungen geben würde, er hätte im Moment keine Chance, dir näher zu kommen. Sieh zu, dass du unter die Dusche kommst.« Ich verpasste ihr einen liebevollen Klaps auf den Hintern. »Sonst zieht dein Gestank noch in meine Sachen!«
Lachend und mit übertriebenem Hüftschwung wackelte sie aus dem Zimmer. Bevor sie im Bad verschwand, steckte sie noch einmal den Kopf durch die Tür und schenkte mir ihr breitestes Haifischgrinsen. »Du siehst wirklich super aus. Brich dir in den Schuhen nicht die Beine.«
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, und nach ein paar Spritzern von meinem Lieblingsparfüm - ein leichter Fliederduft mit einem Hauch von Vanille - schnappte ich noch Handtasche und Schultertuch. Ich war schon fast zur Tür hinaus, als mir einfiel, besser den Regenschirm mitzunehmen. Er passte farblich nicht zu meinem Outfit. Mit ein bisschen Glück würde man mich gar nicht einlassen.
3. KAPITEL
Leider hatte ich nicht so viel Glück. Als ich ins Restaurant kam, hielt Dru beide Daumen hoch, während mein Bruder einen anerkennenden Pfiff ausstieß. Nachdem ich erklärt hatte, warum ich allein gekommen war, ging ich brav zu den »wichtigen Leuten«, denen Thomas mich unbedingt vorstellen wollte. Ihre Gesichter verschwammen im Glanz unzähliger Pailletten, Perlen und Diamanten, mit denen sie auf jeder Oscar-Verleihung Furore gemacht hätten. Sobald ich mich davonstehlen konnte, versteckte ich mich hinter dem Jazztrio zwischen Wendeltreppe und Bar, nippte an einem Saftcocktail und versuchte, mich unsichtbar zu machen.
Ohne groß nachzudenken, hatte ich meine Mörderschuhe abgestreift und betrachtete nun den ganzen Rummel.
Ich war immer eher schüchtern gewesen, hatte mich aber nie komisch verhalten, bevor ich anfing, Visionen von Leuten aus der Vergangenheit zu sehen. Es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl, wenn man nicht weiß, ob die Person, mit der man gerade spricht, körperlich anwesend ist oder nicht. Nicht zu wissen, ob man bei der nächsten Halluzination einen psychotischen Zusammenbruch erleidet. Als die Visionen sich häuften, achtete ich darauf, ob eine der anwesenden Personen von den anderen ignoriert wurde, was ein Hinweis darauf war, dass diese Person nicht real war. Natürlich hatte ich am Ende oft Mitleid mit diesen Leuten und sprach trotz dem mit ihnen. Wobei ich mich natürlich vergewisserte, dass uns niemand beobachtete. Nur für den Fall.
Vor langer Zeit hatte ich damit aufgehört, Leute, die ich sah, wie Ballons zerplatzen zu lassen. Wenn ich meine Hand in etwas hineinschob, das wie ein Mensch aussah, und nichts als Luft spürte, musste es sie genauso in den Wahnsinn treiben wie mich. Also ließ ich die Visionen nach Möglichkeit in Ruhe, es sei denn, ich musste durch sie hindurchgehen.
Zumindest war am heutigen Abend bis jetzt alles normal. Ich hatte mich gerade ein wenig entspannt, als ich am anderen Ende des Raums bei den Türen zur hinteren Terrasse einen jungen Typen stehen sah. Seine breiten Schultern steckten in einem Smoking, der ihm hervorragend stand, was Pech für mich war. Während ich ihn abcheckte, ging ich meine übliche Liste durch, die mir dabei half herauszufinden, ob jemand lebendig war oder nicht. Punkt eins war der Stil der Kleidung. Abendgarderobe war viel schwieriger für mich als Straßenkleidung. Sie wurde aus gutem Grund als klassisch bezeichnet, und seine Kleidung war so klassisch, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Sein schwarzes Haar war recht lang - auch das half mir nicht weiter. Auf lässige Weise sexy, aber keine bestimmte Stilrichtung. Ich konzentrierte mich auf sein Gesicht. Glatt rasiert, doch ich ahnte, dass sich spätestens um fünf Uhr nachmittags auf seinem Kinn ein deutlicher Bartschatten zeigen würde. Beneidenswert geschwungene Brauen setzten seine Augen in Szene. Der olivfarbene Teint ließ auf mediterrane Vorfahren schließen, und die hohen, kräftigen Wangenknochen verliehen seinen Gesichtszügen Charakter. Nur sein auffallend großer Mund fiel aus dem Rahmen. Seine vollen Lippen brachten mich aus der Fassung.
Ich hoffte wirklich sehr, dass er lebendig war.
Energisch rief ich mich zur Vernunft. Was machte ich da nur? Lippen standen nicht auf meiner Checkliste. Außerdem war es ganz und gar nicht meine Art, Jungs anzustarren, selbst wenn sie noch so gut aussahen. Doch nach seinem leichten Grinsen zu urteilen hatte ich anscheinend soeben gegen meine Prinzipien verstoßen. Hastig quälte ich mich wieder in meine hochhackigen Folterinstrumente und schaute mich suchend nach Thomas und Dru um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Ich blickte wieder zu dem Typen im Smoking, der direkt auf mich zukam.
Nichts wie weg. Als ich mein Glas auf dem Klavier abstellen wollte, sah ich erschrocken, wie es hindurchfiel und auf dem gefliesten Boden in tausend glitzernde Scherben zersprang.
Augenblicklich tauchte mein Bruder neben mir auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Nein. Es sei denn, du siehst ebenfalls ein Jazztrio?«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich sehe keins.«
»Dann kann ich definitiv sagen, dass mit mir gar nichts in Ordnung ist.« Die Phantommusiker spielten unbeirrt weiter. Ich hatte nicht versucht, mit ihnen in körperlichen Kontakt zu treten. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie nicht verschwunden waren.
Nicht nur einer, sondern drei auf einmal? Und ein Flügel? Ich hatte noch nie zuvor eine ganze Szenerie gesehen. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. »Ich brauche frische Luft!«
»Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden.« Thomas lächelte die realen Leute an, die in unserer Nähe standen, bevor er als perfekter Gastgeber seiner leicht hysterischen Schwester Beistand leistete. Er führte mich durch den Saal, und währenddessen gab ich mir alle Mühe, so zu tun, als würde ich die neugierigen Blicke der Umstehenden nicht bemerken. Wir traten auf die Terrasse, auf der sich glücklicherweise niemand aufhielt, da es sich nach dem Regenguss merklich abgekühlt hatte.
Ich holte tief Luft, um mich ein wenig zu beruhigen. »Wie viele alte Häuser planst du noch zu öffentlichen Gebäuden umzubauen? Nur damit ich mich gefühlsmäßig darauf vorbereiten kann.«
Gott sei Dank lebten wir nicht in Europa. Dort mussten ganze Heerscharen von Toten aus einer Unzahl vergangener Jahrhunderte herumspazieren. In den USA hatte ich es nur mit ein paar Generationen von Leuten zu tun, die man mit heute lebenden Menschen verwechseln konnte. Als Thomas und Dru einen Ausflug zum alljährlichen Cherokee-Indianerfest in North Carolina vorschlugen, habe ich mich schlichtweg geweigert mitzukommen. Bloß keine Nachstellungen historischer Ereignisse. Niemals.
»Ich kann nicht fassen, dass es so schlimm ist«, sagte Thomas und tätschelte meinen Arm, um mich zu trösten. Ich schüttelte nur den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, ihm die Wahrheit über meine Medikamente zu gestehen, denn in diesem Augenblick kam der Typ im Smoking durch die zweiflügelige Glastür nach draußen geschlendert.
»Siehst du ihn?« Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und spähte vorsichtig durch meine zitternden Finger, starr vor Schreck bei der Vorstellung einer weiteren Vision, die so schnell auf das Jazztrio folgte.
»Wen soll ich sehen?«
»Ihn.« Ich gab Thomas ein Zeichen, sich umzuschauen. Wenn der Smokingtyp kein Mensch aus Fleisch und Blut war, würde ich um eine erneute Einweisung in die Psychoklinik bitten.
»Ja, ich sehe ihn.« In Thomas' Stimme schwang Erleichterung mit. »Das ist Michael.«
»Wer ist Michael?«
»Er ist der neue Berater, von dem ich dir erzählt habe.«
4. KAPITEL
Aus der Nähe sah der Smokingtyp sogar noch besser aus: groß, breitschultrig, glatte Haut - und diese Lippen! Ich konnte nicht glauben, dass er für ein Unternehmen namens Hourglass arbeitete. Fünfzigjährige Brillenträger mit Bierbäuchen sollten dort arbeiten. Kein Prinz, der zu schön war, um sich unter das gemeine Volk zu mischen. Er konnte nicht viel älter sein als ich. Vielleicht war er ein Praktikant. Vielleicht war sein Honorar nicht so hoch, weil er noch in der unteren Liga statt mit den großen Jungs spielte.
»Hattest du vor, mir zu sagen, dass er hier ist?«, zischte ich, während meine Gefühle zwischen Wut und Angst schwankten.
»Er sollte dich zuerst beobachten.« »Wie ein Exemplar einer besonderen Spezies? Wo ist mein Käfig?«
Ich wollte schon eine Schimpftirade anstimmen, hielt jedoch inne, als mir klar wurde, dass der Smokingtyp sich in unmittelbarer Nähe befand und mich beäugte, als könnte ich jeden Moment in Flammen aufgehen.
»Michael Weaver, darf ich Ihnen meine Schwester, Emerson Cole, vorstellen?« Thomas schob mich ein Stück nach vorn, damit ich Michael die Hand gab.
Michael ließ seinen Blick von Thomas zu mir wandern und streckte mir zögernd die Hand entgegen. Erschaudernd verbarg ich mein Gesicht hinter der Schulter meines Bruders.
Obwohl Thomas seine Anwesenheit und somit seine tatsächliche Existenz bestätigt hatte, mochte ich Michael nicht berühren. Als ich abermals einen vorsichtigen Blick in seine Richtung wagte, hatte er die Hand in die Tasche geschoben.
Die Terrassentür öffnete sich erneut, und diesmal war es Dru. Wahrscheinlich hatte Thomas sie noch nicht über den neuesten Stand meiner Halluzinationen informiert, da sie mit den Vorbereitungen für diesen Abend alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgte.
»Entschuldige, dass ich so tollpatschig bin.« Sie stürmte auf mich zu, und ich hatte alle Mühe, sie auf Distanz zu halten. Durch mein abwinkendes Gefuchtel konnte ich das Zittern meiner Hände kaschieren. »Alles ist gut, geh wieder rein.«
Die meisten Leute würden Drus Augenfarbe als eisblau bezeichnen, was ich nicht ganz nachvollziehen kann, da Eis nicht blau, sondern durchsichtig ist. In diesem Augenblick spiegelte sich große Besorgnis in ihrem Blick.
»Du bist nicht tollpatschig; und deshalb mache ich mir Sorgen. « Sie ignorierte meinen Protest und legte mir die Hand auf die Stirn. »Bist du krank?«, fragte sie und streichelte meine Wange. »Ist dir schwindelig? Hast du Hunger? Willst du dich hinsetzen?«
»Alles bestens. Ehrlich«, log ich durch meine perfekten Zähne. Ich wollte nur zwei Dinge: der Jazzband, die ich immer noch spielen hörte, und dem atemberaubenden Smokingtyp an meiner Seite entfliehen. Hätte er nicht wenigstens wie ein Steuerprüfer aussehen können statt wie ein Männermodel? Ich war auch so schon verwirrt genug.
»Bist du sicher? Dann würde ich deinen Bruder gern entführen, wenn du nichts dagegen hast. Brad von der Bank wollte mit dir sprechen, Thomas. Es geht um das Objekt an der Main Street.« Sie zog die perfekt gezupften Brauen hoch, und ich ahnte, dass es sich um einen äußerst lukrativen Deal handeln musste. »Ich kann ja hierbleiben.«
Thomas machte ein gequältes Gesicht, hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten. Ich half ihm aus der Patsche. »Geh nur. Du auch, Dru. Ihr müsst Geld verdienen.«
»Nein, ich bleibe bei dir, Süße. Ich will sicher sein, dass es dir gut geht.« Dru legte den Arm um meine Taille und drückte mich kurz.
»Nein. Das brauchst du nicht. Geh nur. Es ist alles in Ordnung «, beharrte ich.
»Bleiben Sie bitte bei ihr?«, fragte Thomas Michael, und seine Worte klangen so ernst, als würde er meine Mitgift aushandeln. Oder ein Immobiliengeschäft. »Ich möchte sie nicht allein lassen.«
Ich warf Thomas einen grimmigen Blick zu. Das würde ihn teuer zu stehen kommen.
»Selbstverständlich«, erwiderte Michael verbindlich.
Seine Stimme ließ mich zusammenzucken. Ihr Klang versetzte jede Zelle in meinem Körper in Alarmbereitschaft. Sie war sanft und samtig. Bestimmt war er ein guter Sänger. Nachdem ich Thomas ein weiteres Mal versichert hatte, dass ich mich besser fühlte, sah ich meine beiden einzigen Vertrauten im Restaurant verschwinden und wünschte mir verzweifelt, an irgendeinem anderen Platz auf der Welt zu sein ... außer in Colonial Williamsburg vielleicht.
Ich atmete seufzend aus und schenkte Michael ein leichtes Lächeln. Als er es erwiderte, stockte mir der Atem.
Eine echte Sahneschnitte.
»Ich hatte Sie mir anders vorgestellt«, sagte ich und hasste meine brüchige Stimme.
»Das habe ich schon öfter gehört«, erwiderte er und überging netterweise meine Unsicherheit.
Aus dem amerikanischen Englisch von Inge Wehrmann
© der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Bibliographische Angaben
- Autor: Myra McEntire
- 2013, 384 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Inge Wehrmann
- Verlag: Random House ebook
- ISBN-10: 3641106389
- ISBN-13: 9783641106386
- Erscheinungsdatum: 31.01.2013
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.76 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"Hourglass‘ ist durch und durch ein Pageturner, der begeistert und es sehr schwer macht, auf die Fortsetzung zu warten."
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