Grischa Trilogie Band 1: Goldene Flammen (ePub)
Alina ist einfache Kartografin in der Ersten Armee des Zaren. Dass sie heimlich in Maljen verliebt ist, ihren besten Freund seit Kindertagen, darf niemand wissen. Schon gar nicht Maljen selbst, der erfolgreiche Fährtenleser und Frauenschwarm. Bei einem...
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Produktinformationen zu „Grischa Trilogie Band 1: Goldene Flammen (ePub)“
Alina ist einfache Kartografin in der Ersten Armee des Zaren. Dass sie heimlich in Maljen verliebt ist, ihren besten Freund seit Kindertagen, darf niemand wissen. Schon gar nicht Maljen selbst, der erfolgreiche Fährtenleser und Frauenschwarm. Bei einem Überfall rettet Alina Maljen auf unbegreifliche Weise das Leben. Doch was sie da genau getan hat, kann sie selbst nicht sagen. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wird zum mächtigsten Grischa in die Lehre geschickt. Geheimnisvoll und undurchschaubar, wird er von allen "Der Dunkle" genannt. Aber wieso fühlt sie sich von ihm so unwiderstehlich angezogen?
Lese-Probe zu „Grischa Trilogie Band 1: Goldene Flammen (ePub)“
Grischa - Goldene Flammen von Leigh BardugoGRISCHA
Die Diener nannten sie »Majenchkij«, Geisterchen, denn sie waren die Kleinsten und die Jüngsten, und sie suchten das Haus des Herzogs heim wie kichernde Phantome, flitzten durch die Zimmer, versteckten sich in Schränken, um zu horchen, stahlen die letzten Pfirsiche des Sommers aus der Küche.
Junge und Mädchen trafen im Abstand weniger Wochen ein, Kinder noch, deren Eltern während der Grenzkriege den Tod gefunden hatten, verdreckte Flüchtlinge, die man in den Ruinen ferner Orte entdeckt und zum Anwesen des Herzogs gebracht hatte, damit sie Lesen, Schreiben und ein Handwerk lernten. Der Junge war klein, stämmig und scheu, hatte aber immer ein Lächeln auf den Lippen. Das Mädchen war anders, und sie war sich dessen bewusst.
In einem Schrank versteckt, um Klatsch und Tratsch der Erwachsenen zu belauschen, hörte sie, wie Ana Kuja, die Haushälterin des Herzogs, sagte: »Was für ein hässliches Mädchen. Wie kann ein Kind nur so aussehen? Sie erinnert mich an ein Glas saure Milch - bleich und verdrossen.«
»Und so mager!«, fiel die Köchin ein. »Sie isst nie auf.«
Der mit im Schrank hockende Junge drehte sich zu dem Mädchen um und flüsterte: »Warum isst du so wenig?«
»Weil alles wie Schlamm schmeckt, was sie kocht.«
»Ich esse es gern.«
»Du isst ja auch alles, was man dir vorsetzt.«
Sie legten die Ohren wieder auf den Spalt in der Schranktür.
Kurz darauf flüsterte der Junge: »Ich finde nicht, dass du hässlich bist.«
»Pssst!«, zischte das Mädchen. Die tiefen Schatten im Schrank verbargen ihr Lächeln.
... mehr
Während des Sommers mussten sie viele Pflichten im Haushalt erledigen, gefolgt von endlos langem Unterricht in stickigen Klassenzimmern. An den besonders heißen Tagen flohen sie in den Wald, wo sie Vogelnester aufstöberten oder im trüben Bach badeten, und manchmal lagen sie stundenlang in einer Wiese, sahen zu, wie die Sonne über den Himmel wanderte, und malten sich aus, wo sie ihren Bauernhof errichten und ob sie zwei oder drei weiße Kühe besitzen würden. Der Herzog verbrachte den Winter in seiner Stadtresidenz in Os Alta. Je kürzer und kälter die Tage wurden, desto nachlässiger waren die Lehrer, die lieber am Feuer saßen, Karten spielten und Kwass tranken, als zu unterrichten. Die älteren Kinder, im Haus eingesperrt und gelangweilt, vertrieben sich die Zeit, indem sie die jüngeren verprügelten. Also versteckten sich Junge und Mädchen in den ungenutzten Räumen des Herrenhauses, dachten sich Spiele für die Mäuse aus und versuchten, warm zu bleiben.
Am Tag, als die Prüfer der Grischa kamen, saßen die beiden im Obergeschoss auf der Fensterbank eines staubigen Schlafzimmers und hielten Ausschau nach der Postkutsche. Statt dieser sahen sie, wie ein von drei Rappen gezogener Schlitten durch das weiße Steintor auf das Anwesen fuhr. Sie schauten zu, wie er lautlos durch den Schnee glitt und vor der Tür des herzoglichen Hauses hielt.
Drei Gestalten stiegen aus, alle mit eleganter Pelzmütze und einer schweren Kefta aus Wolle - eine war karmesinrot, eine nachtblau, eine strahlend purpurrot.
»Grischa!«, flüsterte das Mädchen.
»Schnell!«, sagte der Junge.
Sie schüttelten die Schuhe von den Füßen und liefen lautlos durch den Flur, eilten durch das leere Musikzimmer und versteckten sich hinter einer Säule auf der Empore, die einen Blick auf den großen Salon bot. Dort empfing Ana Kuja ihre Gäste am liebsten.
Ana Kuja, vogelgleich in ihrem schwarzen Kleid, war schon dort und schenkte Tee aus dem Samowar ein. An ihrer Hüfte klimperte der große Schlüsselbund.
»In diesem Jahr sind es also nur die zwei?«, fragte eine Frau mit leiser Stimme.
Der Junge und das Mädchen spähten von der Empore in den unter ihnen liegenden Raum. Zwei Grischa saßen am Feuer: ein gut aussehender, in Blau gekleideter Mann und eine elegante, hochnäsig wirkende Frau in purpurroter Kefta. Der dritte, ein junger blonder Mann, vertrat sich im Zimmer die Beine.
»Ja«, antwortete Ana Kuja. »Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind bei weitem die Jüngsten hier. Wir schätzen sie auf etwa acht Jahre.«
»Sie schätzen?«, fragte der Mann in Blau.
»Wenn die Eltern verstorben sind ...«
»Verstehe«, sagte die Frau. »Wir sind natürlich große Bewunderer Ihrer Einrichtung, aber es wäre wünschenswert, wenn sich der Adel in noch stärkerem Maße für das gemeine Volk einsetzen würde.«
»Unser Herzog ist ein sehr großzügiger Mann«, sagte Ana Kuja.
Oben auf der Empore nickten sich Junge und Mädchen wissend zu. Ihr Wohltäter, Herzog Keramsow, war ein gefeierter Kriegsheld und Freund des Volkes. Nach seiner Rückkehr von der Front hatte er sein Anwesen in ein Heim für Waisenkinder und Kriegswitwen umgewandelt. Jeder war angehalten, den Herzog in seine abendlichen Gebete einzuschließen.
»Wie sind diese Kinder?«, fragte die Frau.
»Das Mädchen hat ein Talent zum Zeichnen. Der Junge fühlt sich am wohlsten im Wald und in den Wiesen.«
»Ja. Aber wie sind sie?«, wiederholte die Frau.
Ana Kuja spitzte die faltigen Lippen. »Wie sie sind? Sie sind undiszipliniert und dickköpfig und kleben aneinander wie die Kletten. Sie ...«
»Sie hören jedes Wort«, sagte der junge Mann mit der karmesinroten Kefta.
Junge und Mädchen schraken auf. Sein Blick war direkt auf ihr Versteck gerichtet. Sie kauerten sich hinter die Säule, aber es war zu spät.
Ana Kujas Stimme war so schneidend wie ein Peitschenhieb. »Alina Starkowa! Maljen Oretsew! Runter mit euch! Aber sofort!«
Alina und Maljen stiegen zögernd die schmale Wendeltreppe am Ende der Empore hinab. Sobald sie unten standen, erhob sich die Frau in purpurner Kefta von ihrem Stuhl und winkte sie zu sich.
»Wisst ihr, wer wir sind?«, fragte die Frau. Ihr Haar war stahlgrau, ihr Gesicht faltig, aber wunderschön.
»Ihr seid Hexer!«, brach es aus Maljen heraus.
»Hexer?«, fauchte sie und fuhr zu Ana Kuja herum. »Lehren Sie so etwas an dieser Schule? Aberglauben und Lügen?«
Ana Kuja war dies so peinlich, dass sie errötete. Die Frau in Purpur drehte sich wieder zu Maljen und Alina um, ihre dunklen Augen blitzten. »Wir sind keine Hexer. Wir üben die Kleinen Künste aus. Wir sorgen für die Sicherheit dieses Landes.«
»Genau wie die Erste Armee«, sagte Ana Kuja leise, aber mit unmissverständlicher Schärfe.
Die Frau erstarrte, gab dann aber zu: »Genau wie die Armee des Zaren.«
Der junge Mann ging vor den Kindern lächelnd in die Hocke. Er fragte leise: »Ist es Hexerei, wenn sich das Laub verfärbt? Oder wenn ein Schnitt auf eurer Hand heilt? Ist es Hexerei, wenn Wasser auf dem Herd zu kochen beginnt?«
Maljen machte große Augen und schüttelte den Kopf.
Doch Alina runzelte die Stirn und sagte: »Jeder kann Wasser zum Kochen bringen.«
Ana Kuja seufzte verzweifelt, aber die Frau in Purpur lachte.
»Sehr richtig. Jeder kann Wasser zum Kochen bringen. Aber nicht jeder kann lernen, die Kleinen Künste zu beherrschen. Deshalb sind wir hier: Wir sind gekommen, um euch auf die Probe zu stellen.« Sie wandte sich an Ana Kuja und befahl: »Lassen Sie uns jetzt allein.«
»Halt!«, rief Maljen. »Was, wenn wir Grischa wären? Was würde dann mit uns geschehen?«
Die Frau sah auf die beiden Kinder hinab. »Falls einer von euch wider Erwarten tatsächlich ein Grischa sein sollte, werdet ihr das Glück haben, eine besondere Schule zu besuchen, wo die Grischa lernen, ihre Gaben zu nutzen.«
»Ihr würdet die schönsten Kleider tragen und das beste Essen bekommen. Alles, was euer Herz begehrt«, fügte der Mann in Karmesinrot hinzu. »Würde euch das gefallen?«
»Besser könntet ihr eurem Zaren nicht dienen«, sagte die in der Tür stehende Ana Kuja.
»Das ist wahr«, erwiderte die Frau erfreut und etwas versöhnt.
Da die Erwachsenen abgelenkt waren, bemerkten sie weder, dass Junge und Mädchen einen Blick tauschten, noch, dass das Mädchen nach der Hand des Jungen griff. Dem Herzog wäre dies nicht entgangen. Er hatte viele Jahre an der hart umkämpften Nordgrenze verbracht, wo die Dörfer ständig belagert wurden und die Bauern ihre Schlachten ohne große Unterstützung des Zaren oder anderer ausfochten. Er hatte eine Frau gesehen, die barfuß und vollkommen furchtlos in ihrer Tür vor einer ganzen Reihe von Bajonetten gestanden hatte. Er hatte erlebt, wie ein Mann sein Heim mit nichts als einem Stein in der Hand verteidigt hatte.
EINS
Ich stand am Rand einer überfüllten Straße und betrachtete die hügeligen Felder und verlassenen Bauernhöfe des Tula-Tals. Da erblickte ich sie zum ersten Mal: die Schattenflur. Mein Regiment war vor zwei Wochen aus dem Militärlager in Poliznaja abmarschiert und die Herbstsonne war warm, aber als ich den Dunst betrachtete, der wie eine schmutzige Schliere am Horizont wogte, zitterte ich trotz meines Mantels.
Irgendjemand rammte mir eine schwere Schulter in den Rücken. Ich stolperte und wäre fast der Länge nach auf die matschige Straße gestürzt.
»He!«, schrie der Soldat. »Pass doch auf!«
»Pass du lieber auf deine fetten Füße auf«, fauchte ich und merkte mit Befriedigung, dass ein verdutzter Ausdruck auf seinem breiten Gesicht erschien. Kaum jemand, vor allem kein schwerer Mann mit schwerer Waffe, rechnete damit, dass eine so kleine und schmächtige junge Frau wie ich zurückblaffte.
Nachdem der Soldat seine Überraschung verdaut hatte, warf er mir einen bösen Blick zu, richtete seinen Tornister und verschwand dann in der Karawane von Pferden, Männern, Karren und Wagen, die über den Hügel ins Tal strömte.
Ich beschleunigte meine Schritte und versuchte, über die vielen Köpfe hinweg etwas zu erkennen. Ich hatte die gelbe Fahne des Feldmesswagens schon vor Stunden aus den Augen verloren und wusste, dass ich weit hinterherhinkte.
Unterwegs sog ich die grünen und goldenen Düfte des Herbstwaldes in mich auf, spürte die sanfte Brise im Rücken. Wir befanden uns auf dem Vy, jener breiten Straße, die früher von Os Alta bis zu den wohlhabenden Hafenstädten an der Westküste Rawkas geführt hatte. Jedenfalls in der Zeit vor der Schattenflur.
In der Menge stimmte jemand ein Lied an. Ein Lied? Welcher Idiot singt auf dem Weg zur Schattenflur? Ich sah noch einmal zu der Schliere am Horizont und musste einen Schauder unterdrücken. Ich hatte die Schattenflur auf vielen Karten gesehen -- ein schwarzer Streifen, der die einzige Küste Rawkas vom Rest des Landes abschnitt und den Zugang zum Meer versperrte. Auf manchen Karten glich sie einem Fleck, auf anderen einer trüben, formlosen Wolke. Manchmal war sie als langer, schmaler See eingezeichnet und mit ihrem zweiten Namen versehen, »Ödsee«. Dieser Name sollte Soldaten und Kaufleute beruhigen und zur Durchquerung ermutigen.
Ich schnaubte. Dieser Name konnte vielleicht blöde Kaufleute täuschen, mich jedoch nicht.
Ich riss den Blick von dem düsteren, in der Ferne wabernden Dunst los und betrachtete die zerstörten Bauernhöfe. Im Tula-Tal hatten die reichsten Bauern Rawkas gelebt. Früher hatten sie hier die Felder bestellt und Vieh auf den grünen Weiden grasen lassen. Dann war plötzlich ein finsterer Streifen mitten in der Landschaft erschienen, eine fast undurchdringliche Finsternis, die mit jedem Jahr größer wurde und unsägliche Schrecken barg. Niemand wusste, wo die Bauern mitsamt ihren Höfen und Familien, ihren Viehherden, Feldfrüchten und allem anderen Besitz geblieben waren.
Schluss damit, schärfte ich mir ein. Du machst es nur noch schlimmer. Seit Jahren durchqueren Leute die Schattenflur ... Meist unter großen Verlusten, aber trotzdem. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen.
»Nicht mitten auf der Straße in Ohnmacht fallen«, sagte jemand dicht neben mir, und dann legte sich ein schwerer Arm auf meine Schultern und drückte mich. Als ich den Kopf hob, sah ich Maljens vertrautes Gesicht. Er lächelte und seine blauen Augen strahlten, als er sich neben mir einreihte. »Na, komm«, sagte er. »Immer einen Fuß vor den anderen. Du weißt doch, wie es geht.«
»Du vereitelst meinen Plan.«
»Ach, ja?«
»Ja. Ich falle in Ohnmacht, man trampelt über mich hinweg und ich habe überall schwere Verletzungen.«
»Ein meisterhafter Plan!«
»Klar. Denn mit schweren Verletzungen kann ich die Schattenflur unmöglich durchqueren.«
Maljen nickte langsam. »Verstehe. Ich kann dich gern unter einen Karren stoßen, falls dir das hilft.«
»Ich denke darüber nach«, brummte ich, aber meine Laune hellte sich auf. Diese Wirkung hatte Maljen immer auf mich gehabt, obwohl ich mich innerlich dagegen sträubte. Und so ging es nicht nur mir. Eine hübsche Blondine schlenderte an uns vorbei. Sie winkte und warf Maljen über die Schulter einen verführerischen Blick zu.
»He, Tanja«, rief er. »Sehen wir uns später?«
Tanja kicherte und tauchte eilig in der Menge unter.
Maljen grinste breit. Dann merkte er, dass ich die Augen verdrehte.
»Was denn? Ich dachte, du magst Tanja.«
»Wir haben einander nicht viel zu sagen«, erwiderte ich mürrisch. Ich hatte Tanja tatsächlich gemocht - anfangs. Als Maljen und ich das Waisenhaus in Keramzin verlassen hatten, um in Poliznaja unsere militärische Ausbildung anzutreten, hatte ich mich vor Begegnungen mit anderen Menschen gefürchtet. Trotzdem hatten mich viele Mädchen unbedingt kennenlernen wollen, allen voran Tanja. Aber diese Bekanntschaften hielten immer nur so lange, bis ich begriff, dass sie sich nur wegen meiner engen Beziehung zu Maljen für mich interessierten.
Ich sah zu, wie er die Arme reckte und zum Herbsthimmel aufschaute. Er wirkte rundum zufrieden und seine Schritte waren, wie ich verdrossen bemerkte, sogar ein klein wenig beschwingt.
»Was ist denn los mit dir?«, flüsterte ich wütend. »Nichts«, antwortete er überrascht. »Ich fühle mich sauwohl.«
»Warum bist du so ... so ausgelassen?«
»Ausgelassen? Ich war noch nie ausgelassen. Das entspricht gar nicht meinem Wesen.«
»Und was soll das dann?«, fragte ich und schwenkte eine Hand in seine Richtung. »Du siehst aus, als wärst du zu einem Fest unterwegs, obwohl du demnächst vielleicht getötet und verstümmelt werden wirst.«
Maljen lachte. »Du machst dir zu viele Sorgen. Der Zar hat nicht nur eine ganze Truppe von Inferni geschickt, um die Skiffs zu beschützen, sondern auch einige dieser grässlichen Entherzer. Wir haben unsere Gewehre«, sagte er und klopfte auf die Waffe, die er auf dem Rücken trug. »Uns kann nichts passieren.«
»Bei einem richtig üblen Angriff ist ein Gewehr keine große Hilfe.«
Maljen warf mir einen amüsierten Blick zu. »Was ist nur los mit dir? Du bist in letzter Zeit noch stinkiger als üblich. Und du siehst schrecklich aus.«
»Vielen Dank«, grollte ich. »Ich habe schlecht geschlafen.«
»Oh! Das ist ja etwas ganz Neues.«
Er hatte nicht Unrecht, denn ich schlief immer schlecht. Aber während der vergangenen Tage hatte ich überhaupt kein Auge mehr zugetan. Die Heiligen wussten, dass ich mich aus vielen guten Gründen vor der Schattenflur fürchtete, und diese Gründe kannte jeder Angehörige unseres für die Durchquerung ausersehenen Regiments. Aber da war noch etwas, ein nagendes Unbehagen, das ich nicht in Worte fassen konnte.
Ich sah zu Maljen. Früher hätte ich ihm alles erzählt. »Ich habe ... so ein komisches Gefühl.«
»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Vielleicht geht
Michail mit an Bord. Dann werden uns die Volkra nach einem Blick auf seinen fetten, saftigen Bauch in Ruhe lassen.«
Eine Erinnerung tauchte auf: Maljen und ich, gemeinsam auf einem Stuhl in der Bibliothek des Herzogs sitzend und in einem großen, ledergebundenen Buch blätternd. Damals entdeckten wir das Bild eines Volkra: lange, faulige Klauen; lederige Flügel; rasiermesserscharfe Zähne, wie geschaffen
dafür, sich an Menschenfleisch zu mästen. Die Volkra waren blind, weil sie seit Generationen auf der Schattenflur lebten und jagten, aber sie konnten Menschenblut angeblich schon aus weiter Ferne wittern. Ich hatte auf die Seite gezeigt und gefragt: »Was hält er da?«
Maljens geflüsterte Antwort hatte ich noch immer im Ohr. »Ich glaube ... einen Fuß, glaube ich.« Wir hatten das Buch zugeklappt und waren kreischend in den sicheren Sonnenschein hinausgerannt.
Ich hatte unwillkürlich angehalten, stand da wie angewurzelt, konnte die Erinnerung nicht abschütteln. Als Maljen bemerkte, dass ich zurückgeblieben war, seufzte er und kehrte zu mir um. Er legte mir die Hände auf die Schultern und schüttelte mich.
»Das war nur ein Scherz. Niemand wird Michail fressen.« »Ja, ich weiß«, sagte ich, den Blick auf meine Stiefel gesenkt. »Du bist wirklich ein Witzbold.«
»Komm schon, Alina. Uns passiert nichts.«
»Woher willst du das wissen?«
»Sieh mich an.«
Ich zwang mich, ihn anzuschauen.
»Glaubst du, ich hätte keine Angst?«, fragte er. »Aber wir werden die Schattenflur unversehrt durchqueren. Du weißt doch, dass wir einen Schutzengel haben.« Er lächelte und mein Herz begann wie wild zu pochen.
Ich strich mit dem Daumen über die Narbe auf meiner rechten Handfläche und holte rasselnd Luft. »Ja, ich weiß«, antwortete ich mürrisch und musste wider Willen lächeln.
»Die Dame hat endlich bessere Laune!«, rief Maljen. »Dann kann die Sonne ja wieder scheinen!«
»Ach, halt den Mund!«
Ich wollte ihm gerade einen Knuff geben, da packte er mich am Arm. Hufgetrappel und Rufe erfüllten die Luft. Maljen zog mich gerade noch rechtzeitig von der Straße, bevor eine große schwarze Kutsche an uns vorbeidonnerte. Die Leute stoben auseinander, um den hämmernden Hufen der vier Rappen zu entgehen. Neben dem Kutscher, der eine Peitsche schwang, saßen zwei Soldaten in pechschwarzen Mänteln.
Der Dunkle. Seine schwarze Kutsche und die Uniformen seiner Leibgarde waren unverkennbar.
Eine zweite, rot lackierte Kutsche rumpelte gemächlicher an uns vorüber.
Ich sah zu Maljen auf. Das war haarscharf gewesen. Mein Herz raste. »Danke«, flüsterte ich. Maljen schien plötzlich zu merken, dass er mich in den Armen hielt. Er ließ los und trat hastig zurück. Ich bürstete Staub von meinem Mantel und hoffte, dass er meine geröteten Wangen übersah.
...
© Carlsen
Während des Sommers mussten sie viele Pflichten im Haushalt erledigen, gefolgt von endlos langem Unterricht in stickigen Klassenzimmern. An den besonders heißen Tagen flohen sie in den Wald, wo sie Vogelnester aufstöberten oder im trüben Bach badeten, und manchmal lagen sie stundenlang in einer Wiese, sahen zu, wie die Sonne über den Himmel wanderte, und malten sich aus, wo sie ihren Bauernhof errichten und ob sie zwei oder drei weiße Kühe besitzen würden. Der Herzog verbrachte den Winter in seiner Stadtresidenz in Os Alta. Je kürzer und kälter die Tage wurden, desto nachlässiger waren die Lehrer, die lieber am Feuer saßen, Karten spielten und Kwass tranken, als zu unterrichten. Die älteren Kinder, im Haus eingesperrt und gelangweilt, vertrieben sich die Zeit, indem sie die jüngeren verprügelten. Also versteckten sich Junge und Mädchen in den ungenutzten Räumen des Herrenhauses, dachten sich Spiele für die Mäuse aus und versuchten, warm zu bleiben.
Am Tag, als die Prüfer der Grischa kamen, saßen die beiden im Obergeschoss auf der Fensterbank eines staubigen Schlafzimmers und hielten Ausschau nach der Postkutsche. Statt dieser sahen sie, wie ein von drei Rappen gezogener Schlitten durch das weiße Steintor auf das Anwesen fuhr. Sie schauten zu, wie er lautlos durch den Schnee glitt und vor der Tür des herzoglichen Hauses hielt.
Drei Gestalten stiegen aus, alle mit eleganter Pelzmütze und einer schweren Kefta aus Wolle - eine war karmesinrot, eine nachtblau, eine strahlend purpurrot.
»Grischa!«, flüsterte das Mädchen.
»Schnell!«, sagte der Junge.
Sie schüttelten die Schuhe von den Füßen und liefen lautlos durch den Flur, eilten durch das leere Musikzimmer und versteckten sich hinter einer Säule auf der Empore, die einen Blick auf den großen Salon bot. Dort empfing Ana Kuja ihre Gäste am liebsten.
Ana Kuja, vogelgleich in ihrem schwarzen Kleid, war schon dort und schenkte Tee aus dem Samowar ein. An ihrer Hüfte klimperte der große Schlüsselbund.
»In diesem Jahr sind es also nur die zwei?«, fragte eine Frau mit leiser Stimme.
Der Junge und das Mädchen spähten von der Empore in den unter ihnen liegenden Raum. Zwei Grischa saßen am Feuer: ein gut aussehender, in Blau gekleideter Mann und eine elegante, hochnäsig wirkende Frau in purpurroter Kefta. Der dritte, ein junger blonder Mann, vertrat sich im Zimmer die Beine.
»Ja«, antwortete Ana Kuja. »Ein Junge und ein Mädchen. Sie sind bei weitem die Jüngsten hier. Wir schätzen sie auf etwa acht Jahre.«
»Sie schätzen?«, fragte der Mann in Blau.
»Wenn die Eltern verstorben sind ...«
»Verstehe«, sagte die Frau. »Wir sind natürlich große Bewunderer Ihrer Einrichtung, aber es wäre wünschenswert, wenn sich der Adel in noch stärkerem Maße für das gemeine Volk einsetzen würde.«
»Unser Herzog ist ein sehr großzügiger Mann«, sagte Ana Kuja.
Oben auf der Empore nickten sich Junge und Mädchen wissend zu. Ihr Wohltäter, Herzog Keramsow, war ein gefeierter Kriegsheld und Freund des Volkes. Nach seiner Rückkehr von der Front hatte er sein Anwesen in ein Heim für Waisenkinder und Kriegswitwen umgewandelt. Jeder war angehalten, den Herzog in seine abendlichen Gebete einzuschließen.
»Wie sind diese Kinder?«, fragte die Frau.
»Das Mädchen hat ein Talent zum Zeichnen. Der Junge fühlt sich am wohlsten im Wald und in den Wiesen.«
»Ja. Aber wie sind sie?«, wiederholte die Frau.
Ana Kuja spitzte die faltigen Lippen. »Wie sie sind? Sie sind undiszipliniert und dickköpfig und kleben aneinander wie die Kletten. Sie ...«
»Sie hören jedes Wort«, sagte der junge Mann mit der karmesinroten Kefta.
Junge und Mädchen schraken auf. Sein Blick war direkt auf ihr Versteck gerichtet. Sie kauerten sich hinter die Säule, aber es war zu spät.
Ana Kujas Stimme war so schneidend wie ein Peitschenhieb. »Alina Starkowa! Maljen Oretsew! Runter mit euch! Aber sofort!«
Alina und Maljen stiegen zögernd die schmale Wendeltreppe am Ende der Empore hinab. Sobald sie unten standen, erhob sich die Frau in purpurner Kefta von ihrem Stuhl und winkte sie zu sich.
»Wisst ihr, wer wir sind?«, fragte die Frau. Ihr Haar war stahlgrau, ihr Gesicht faltig, aber wunderschön.
»Ihr seid Hexer!«, brach es aus Maljen heraus.
»Hexer?«, fauchte sie und fuhr zu Ana Kuja herum. »Lehren Sie so etwas an dieser Schule? Aberglauben und Lügen?«
Ana Kuja war dies so peinlich, dass sie errötete. Die Frau in Purpur drehte sich wieder zu Maljen und Alina um, ihre dunklen Augen blitzten. »Wir sind keine Hexer. Wir üben die Kleinen Künste aus. Wir sorgen für die Sicherheit dieses Landes.«
»Genau wie die Erste Armee«, sagte Ana Kuja leise, aber mit unmissverständlicher Schärfe.
Die Frau erstarrte, gab dann aber zu: »Genau wie die Armee des Zaren.«
Der junge Mann ging vor den Kindern lächelnd in die Hocke. Er fragte leise: »Ist es Hexerei, wenn sich das Laub verfärbt? Oder wenn ein Schnitt auf eurer Hand heilt? Ist es Hexerei, wenn Wasser auf dem Herd zu kochen beginnt?«
Maljen machte große Augen und schüttelte den Kopf.
Doch Alina runzelte die Stirn und sagte: »Jeder kann Wasser zum Kochen bringen.«
Ana Kuja seufzte verzweifelt, aber die Frau in Purpur lachte.
»Sehr richtig. Jeder kann Wasser zum Kochen bringen. Aber nicht jeder kann lernen, die Kleinen Künste zu beherrschen. Deshalb sind wir hier: Wir sind gekommen, um euch auf die Probe zu stellen.« Sie wandte sich an Ana Kuja und befahl: »Lassen Sie uns jetzt allein.«
»Halt!«, rief Maljen. »Was, wenn wir Grischa wären? Was würde dann mit uns geschehen?«
Die Frau sah auf die beiden Kinder hinab. »Falls einer von euch wider Erwarten tatsächlich ein Grischa sein sollte, werdet ihr das Glück haben, eine besondere Schule zu besuchen, wo die Grischa lernen, ihre Gaben zu nutzen.«
»Ihr würdet die schönsten Kleider tragen und das beste Essen bekommen. Alles, was euer Herz begehrt«, fügte der Mann in Karmesinrot hinzu. »Würde euch das gefallen?«
»Besser könntet ihr eurem Zaren nicht dienen«, sagte die in der Tür stehende Ana Kuja.
»Das ist wahr«, erwiderte die Frau erfreut und etwas versöhnt.
Da die Erwachsenen abgelenkt waren, bemerkten sie weder, dass Junge und Mädchen einen Blick tauschten, noch, dass das Mädchen nach der Hand des Jungen griff. Dem Herzog wäre dies nicht entgangen. Er hatte viele Jahre an der hart umkämpften Nordgrenze verbracht, wo die Dörfer ständig belagert wurden und die Bauern ihre Schlachten ohne große Unterstützung des Zaren oder anderer ausfochten. Er hatte eine Frau gesehen, die barfuß und vollkommen furchtlos in ihrer Tür vor einer ganzen Reihe von Bajonetten gestanden hatte. Er hatte erlebt, wie ein Mann sein Heim mit nichts als einem Stein in der Hand verteidigt hatte.
EINS
Ich stand am Rand einer überfüllten Straße und betrachtete die hügeligen Felder und verlassenen Bauernhöfe des Tula-Tals. Da erblickte ich sie zum ersten Mal: die Schattenflur. Mein Regiment war vor zwei Wochen aus dem Militärlager in Poliznaja abmarschiert und die Herbstsonne war warm, aber als ich den Dunst betrachtete, der wie eine schmutzige Schliere am Horizont wogte, zitterte ich trotz meines Mantels.
Irgendjemand rammte mir eine schwere Schulter in den Rücken. Ich stolperte und wäre fast der Länge nach auf die matschige Straße gestürzt.
»He!«, schrie der Soldat. »Pass doch auf!«
»Pass du lieber auf deine fetten Füße auf«, fauchte ich und merkte mit Befriedigung, dass ein verdutzter Ausdruck auf seinem breiten Gesicht erschien. Kaum jemand, vor allem kein schwerer Mann mit schwerer Waffe, rechnete damit, dass eine so kleine und schmächtige junge Frau wie ich zurückblaffte.
Nachdem der Soldat seine Überraschung verdaut hatte, warf er mir einen bösen Blick zu, richtete seinen Tornister und verschwand dann in der Karawane von Pferden, Männern, Karren und Wagen, die über den Hügel ins Tal strömte.
Ich beschleunigte meine Schritte und versuchte, über die vielen Köpfe hinweg etwas zu erkennen. Ich hatte die gelbe Fahne des Feldmesswagens schon vor Stunden aus den Augen verloren und wusste, dass ich weit hinterherhinkte.
Unterwegs sog ich die grünen und goldenen Düfte des Herbstwaldes in mich auf, spürte die sanfte Brise im Rücken. Wir befanden uns auf dem Vy, jener breiten Straße, die früher von Os Alta bis zu den wohlhabenden Hafenstädten an der Westküste Rawkas geführt hatte. Jedenfalls in der Zeit vor der Schattenflur.
In der Menge stimmte jemand ein Lied an. Ein Lied? Welcher Idiot singt auf dem Weg zur Schattenflur? Ich sah noch einmal zu der Schliere am Horizont und musste einen Schauder unterdrücken. Ich hatte die Schattenflur auf vielen Karten gesehen -- ein schwarzer Streifen, der die einzige Küste Rawkas vom Rest des Landes abschnitt und den Zugang zum Meer versperrte. Auf manchen Karten glich sie einem Fleck, auf anderen einer trüben, formlosen Wolke. Manchmal war sie als langer, schmaler See eingezeichnet und mit ihrem zweiten Namen versehen, »Ödsee«. Dieser Name sollte Soldaten und Kaufleute beruhigen und zur Durchquerung ermutigen.
Ich schnaubte. Dieser Name konnte vielleicht blöde Kaufleute täuschen, mich jedoch nicht.
Ich riss den Blick von dem düsteren, in der Ferne wabernden Dunst los und betrachtete die zerstörten Bauernhöfe. Im Tula-Tal hatten die reichsten Bauern Rawkas gelebt. Früher hatten sie hier die Felder bestellt und Vieh auf den grünen Weiden grasen lassen. Dann war plötzlich ein finsterer Streifen mitten in der Landschaft erschienen, eine fast undurchdringliche Finsternis, die mit jedem Jahr größer wurde und unsägliche Schrecken barg. Niemand wusste, wo die Bauern mitsamt ihren Höfen und Familien, ihren Viehherden, Feldfrüchten und allem anderen Besitz geblieben waren.
Schluss damit, schärfte ich mir ein. Du machst es nur noch schlimmer. Seit Jahren durchqueren Leute die Schattenflur ... Meist unter großen Verlusten, aber trotzdem. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen.
»Nicht mitten auf der Straße in Ohnmacht fallen«, sagte jemand dicht neben mir, und dann legte sich ein schwerer Arm auf meine Schultern und drückte mich. Als ich den Kopf hob, sah ich Maljens vertrautes Gesicht. Er lächelte und seine blauen Augen strahlten, als er sich neben mir einreihte. »Na, komm«, sagte er. »Immer einen Fuß vor den anderen. Du weißt doch, wie es geht.«
»Du vereitelst meinen Plan.«
»Ach, ja?«
»Ja. Ich falle in Ohnmacht, man trampelt über mich hinweg und ich habe überall schwere Verletzungen.«
»Ein meisterhafter Plan!«
»Klar. Denn mit schweren Verletzungen kann ich die Schattenflur unmöglich durchqueren.«
Maljen nickte langsam. »Verstehe. Ich kann dich gern unter einen Karren stoßen, falls dir das hilft.«
»Ich denke darüber nach«, brummte ich, aber meine Laune hellte sich auf. Diese Wirkung hatte Maljen immer auf mich gehabt, obwohl ich mich innerlich dagegen sträubte. Und so ging es nicht nur mir. Eine hübsche Blondine schlenderte an uns vorbei. Sie winkte und warf Maljen über die Schulter einen verführerischen Blick zu.
»He, Tanja«, rief er. »Sehen wir uns später?«
Tanja kicherte und tauchte eilig in der Menge unter.
Maljen grinste breit. Dann merkte er, dass ich die Augen verdrehte.
»Was denn? Ich dachte, du magst Tanja.«
»Wir haben einander nicht viel zu sagen«, erwiderte ich mürrisch. Ich hatte Tanja tatsächlich gemocht - anfangs. Als Maljen und ich das Waisenhaus in Keramzin verlassen hatten, um in Poliznaja unsere militärische Ausbildung anzutreten, hatte ich mich vor Begegnungen mit anderen Menschen gefürchtet. Trotzdem hatten mich viele Mädchen unbedingt kennenlernen wollen, allen voran Tanja. Aber diese Bekanntschaften hielten immer nur so lange, bis ich begriff, dass sie sich nur wegen meiner engen Beziehung zu Maljen für mich interessierten.
Ich sah zu, wie er die Arme reckte und zum Herbsthimmel aufschaute. Er wirkte rundum zufrieden und seine Schritte waren, wie ich verdrossen bemerkte, sogar ein klein wenig beschwingt.
»Was ist denn los mit dir?«, flüsterte ich wütend. »Nichts«, antwortete er überrascht. »Ich fühle mich sauwohl.«
»Warum bist du so ... so ausgelassen?«
»Ausgelassen? Ich war noch nie ausgelassen. Das entspricht gar nicht meinem Wesen.«
»Und was soll das dann?«, fragte ich und schwenkte eine Hand in seine Richtung. »Du siehst aus, als wärst du zu einem Fest unterwegs, obwohl du demnächst vielleicht getötet und verstümmelt werden wirst.«
Maljen lachte. »Du machst dir zu viele Sorgen. Der Zar hat nicht nur eine ganze Truppe von Inferni geschickt, um die Skiffs zu beschützen, sondern auch einige dieser grässlichen Entherzer. Wir haben unsere Gewehre«, sagte er und klopfte auf die Waffe, die er auf dem Rücken trug. »Uns kann nichts passieren.«
»Bei einem richtig üblen Angriff ist ein Gewehr keine große Hilfe.«
Maljen warf mir einen amüsierten Blick zu. »Was ist nur los mit dir? Du bist in letzter Zeit noch stinkiger als üblich. Und du siehst schrecklich aus.«
»Vielen Dank«, grollte ich. »Ich habe schlecht geschlafen.«
»Oh! Das ist ja etwas ganz Neues.«
Er hatte nicht Unrecht, denn ich schlief immer schlecht. Aber während der vergangenen Tage hatte ich überhaupt kein Auge mehr zugetan. Die Heiligen wussten, dass ich mich aus vielen guten Gründen vor der Schattenflur fürchtete, und diese Gründe kannte jeder Angehörige unseres für die Durchquerung ausersehenen Regiments. Aber da war noch etwas, ein nagendes Unbehagen, das ich nicht in Worte fassen konnte.
Ich sah zu Maljen. Früher hätte ich ihm alles erzählt. »Ich habe ... so ein komisches Gefühl.«
»Mach dir nicht zu viele Gedanken. Vielleicht geht
Michail mit an Bord. Dann werden uns die Volkra nach einem Blick auf seinen fetten, saftigen Bauch in Ruhe lassen.«
Eine Erinnerung tauchte auf: Maljen und ich, gemeinsam auf einem Stuhl in der Bibliothek des Herzogs sitzend und in einem großen, ledergebundenen Buch blätternd. Damals entdeckten wir das Bild eines Volkra: lange, faulige Klauen; lederige Flügel; rasiermesserscharfe Zähne, wie geschaffen
dafür, sich an Menschenfleisch zu mästen. Die Volkra waren blind, weil sie seit Generationen auf der Schattenflur lebten und jagten, aber sie konnten Menschenblut angeblich schon aus weiter Ferne wittern. Ich hatte auf die Seite gezeigt und gefragt: »Was hält er da?«
Maljens geflüsterte Antwort hatte ich noch immer im Ohr. »Ich glaube ... einen Fuß, glaube ich.« Wir hatten das Buch zugeklappt und waren kreischend in den sicheren Sonnenschein hinausgerannt.
Ich hatte unwillkürlich angehalten, stand da wie angewurzelt, konnte die Erinnerung nicht abschütteln. Als Maljen bemerkte, dass ich zurückgeblieben war, seufzte er und kehrte zu mir um. Er legte mir die Hände auf die Schultern und schüttelte mich.
»Das war nur ein Scherz. Niemand wird Michail fressen.« »Ja, ich weiß«, sagte ich, den Blick auf meine Stiefel gesenkt. »Du bist wirklich ein Witzbold.«
»Komm schon, Alina. Uns passiert nichts.«
»Woher willst du das wissen?«
»Sieh mich an.«
Ich zwang mich, ihn anzuschauen.
»Glaubst du, ich hätte keine Angst?«, fragte er. »Aber wir werden die Schattenflur unversehrt durchqueren. Du weißt doch, dass wir einen Schutzengel haben.« Er lächelte und mein Herz begann wie wild zu pochen.
Ich strich mit dem Daumen über die Narbe auf meiner rechten Handfläche und holte rasselnd Luft. »Ja, ich weiß«, antwortete ich mürrisch und musste wider Willen lächeln.
»Die Dame hat endlich bessere Laune!«, rief Maljen. »Dann kann die Sonne ja wieder scheinen!«
»Ach, halt den Mund!«
Ich wollte ihm gerade einen Knuff geben, da packte er mich am Arm. Hufgetrappel und Rufe erfüllten die Luft. Maljen zog mich gerade noch rechtzeitig von der Straße, bevor eine große schwarze Kutsche an uns vorbeidonnerte. Die Leute stoben auseinander, um den hämmernden Hufen der vier Rappen zu entgehen. Neben dem Kutscher, der eine Peitsche schwang, saßen zwei Soldaten in pechschwarzen Mänteln.
Der Dunkle. Seine schwarze Kutsche und die Uniformen seiner Leibgarde waren unverkennbar.
Eine zweite, rot lackierte Kutsche rumpelte gemächlicher an uns vorüber.
Ich sah zu Maljen auf. Das war haarscharf gewesen. Mein Herz raste. »Danke«, flüsterte ich. Maljen schien plötzlich zu merken, dass er mich in den Armen hielt. Er ließ los und trat hastig zurück. Ich bürstete Staub von meinem Mantel und hoffte, dass er meine geröteten Wangen übersah.
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© Carlsen
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Autoren-Porträt von Leigh Bardugo
Leigh Bardugo wurde 1975 in Jerusalem geboren und wuchs in Los Angeles auf. Nach ihrem Studium an der Yale University arbeitete sie als Journalistin und im Marketing, später ging sie als Make-up-Artist nach Hollywood. Dort lebt und schreibt sie heute noch. Ihre Grischa-Trilogie schaffte es sofort auf die Bestsellerlisten und wurde in über zwanzig Länder verkauft.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leigh Bardugo
- Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
- 2012, 352 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Henning Ahrens
- Verlag: CARLSEN VERLAG GMBH
- ISBN-10: 3646924322
- ISBN-13: 9783646924329
- Erscheinungsdatum: 24.08.2012
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.85 MB
- Ohne Kopierschutz
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