Winterstarre / Robert Walcher Bd.8 (ePub)
Ein Allgäu-Krimi
Eisige Zeiten im Allgäu, erst fallen die Temperatur und dann breitet sich eine neue Krankheit aus
Ein abgelegenes Hochtal in den Allgäuer Alpen - und ein grauenvoller Fund: In einer Hütte liegen mehrere Leichen. Wer sind die Toten? Der Rechtsmediziner...
Ein abgelegenes Hochtal in den Allgäuer Alpen - und ein grauenvoller Fund: In einer Hütte liegen mehrere Leichen. Wer sind die Toten? Der Rechtsmediziner...
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Produktinformationen zu „Winterstarre / Robert Walcher Bd.8 (ePub)“
Eisige Zeiten im Allgäu, erst fallen die Temperatur und dann breitet sich eine neue Krankheit aus
Ein abgelegenes Hochtal in den Allgäuer Alpen - und ein grauenvoller Fund: In einer Hütte liegen mehrere Leichen. Wer sind die Toten? Der Rechtsmediziner stellt fest, dass die Leute mit einem bislang unbekannten Virus infiziert wurden. Kommissar Brunner gründet eine SOKO, der sich auch Walcher anschließt. Die Jagd nach einem Gegner, der an Gier und Grausamkeit kaum zu überbieten ist, beginnt.
Ein abgelegenes Hochtal in den Allgäuer Alpen - und ein grauenvoller Fund: In einer Hütte liegen mehrere Leichen. Wer sind die Toten? Der Rechtsmediziner stellt fest, dass die Leute mit einem bislang unbekannten Virus infiziert wurden. Kommissar Brunner gründet eine SOKO, der sich auch Walcher anschließt. Die Jagd nach einem Gegner, der an Gier und Grausamkeit kaum zu überbieten ist, beginnt.
Lese-Probe zu „Winterstarre / Robert Walcher Bd.8 (ePub)“
Winterstarre von Joachim RangnickDer erste Aufstieg nach dem Winter glich in mehrerer Hinsicht einer Strafe. Untrainiert und obendrein zu schwer bepackt, kehrte sich die Vorfreude spätestens nach halber Wegstrecke ins Gegenteil um, aber vielleicht gehörte das ja dazu.
Diesen Winter waren sie zum ersten Mal gar nicht auf der Hütte gewesen. Nicht nur weil die beiden Frauen in der Familie sich weigerten, auf sibirische Schneeschuhtour zu gehen, wie sie erklärten, auch Willi hatte nicht so richtig mitgezogen. Aus purem Trotz war Markus dann allein losgefahren, hatte aber noch vor dem Ziel umkehren müssen. Die Mautstraße, die einzige Zufahrt ins Hochtal, war wegen eines Lawinenabgangs gesperrt. Zwar würden die von der Welt abgeschnittenen Höfe regelmäßig durch Flüge mit dem Hubschrauber versorgt, hatten ihm die Polizisten an der Straßensperre erklärt, aber der Transport von Urlaubern sei nicht vorgesehen. Markus hatte sich deshalb für drei Nächte in Oberstdorf eingemietet und zu Hause dann von den herrlichen Wintertagen sowie der wunderbar staubfreien Luft geschwärmt und behauptet, dass die Hütte bis zum Dach zugeschneit sei.
Dass er bei seiner ausführlichen und übertriebenen Schilderung der nicht stattgefundenen Schneewanderung in den Augen seines Sohnes so etwas wie Trauer zu entdecken glaubte, hatte ihn gefreut, auch wenn er sich dabei nicht ganz wohl gefühlt hatte.
Immerhin, vielleicht war die kleine Lügengeschichte einer der Gründe, dass Willi diesmal mit ins Allgäu gefahren ist, dachte er, als vor ihm die Hütte langsam Konturen annahm. Ein Glücksgefühl aus Freude und Stolz ließ Markus lächeln, wie immer, wenn er sich seiner Hütte näherte, seinem Besitz, seinem Fleckchen Erde. Letztlich hatte ein Zufall, eine jener seltenen Verbindungen von Ort und Zeit, ihn vor wenigen
... mehr
Jahren zum Eigentümer dieses Refugiums gemacht. Auf dem Rückweg einer einsamen Tour auf den etwas über tausendsechshundert Meter hohen Gatterkopf war er zu einer Brotzeit in den Hirschen eingekehrt, die einzige Wirtschaft im Hochtal. Kaum hatte er Platz genommen, setzte sich ein sichtlich erregter Mann in Trachtengrün zu ihm an den Tisch und bestellte einen doppelten Enzian.
Mit einem »Leckt's mi doch alle am Oarsch« hatte er den Enzian hinuntergestürzt und dabei Markus fixiert, als ob dieser etwas mit seinem Ärger zu tun hätte. »Möchtest a Hütt'n kaffa?«, wollte der dem Dialekt nach aus München stammende als Nächstes wissen. Markus hatte einfach genickt, ohne zu ahnen, dass er damit das wohl beste Geschäft seines Lebens abgeschlossen hatte. Einen Monat später war er für den Gegenwert von seinerzeit noch zwanzigtausend D-Mark der notariell eingetragene Besitzer einer Jagdhütte samt einem Hektar Wald. Die Auflagen der Gemeinde, an der Optik und den baulichen Maßen nichts zu verändern, hatte er gerne akzeptiert, hatten sie ihm doch dieses Juwel zugespielt. Nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen mit den zuständigen Behörden - die einen Ausbau der Hütte zu einem respektablen Skihotel samt Anfahrtsstraße mit allen Mitteln verhindern wollten - hatte sich der Besitzer geschlagen gegeben.
Markus und seine Frau Gudrun renovierten in den darauffolgenden Jahren die Hütte mit ihren Kindern Emma und Willi in mühevoller Arbeit und machten sie zu einem veritablen Schmuckstück - nur leider verschuldeten und zerstritten sie sich auch dabei. Nach jedem Winter oder längerer Abwesenheit waren die letzten Meter bis zur Hütte für Markus immer auch mit der bangen Frage verbunden, ob sie noch stand oder ob sie aufgebrochen und von Vandalen beschädigt worden war. Befreit atmete er deshalb auf, als die Hütte noch genauso dastand, wie er sie bei seinem letzten Aufenthalt im Spätherbst des vergangenen Jahres verlassen hatte. Willi ließ die Taschen und den Rucksack einfach fallen und hielt Markus auffordernd die offene Hand hin. Der nickte, setzte ebenfalls die höllisch schweren Taschen ab, kramte den Hüttenschlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn seinem Sohn. Dann befreite er sich von dem Rucksack und lockerte die malträtierten Schultern. Schade, dass der Nebel die Sicht auf das Hochtal und die Berge ringsherum versperrt, dachte er, während er die schmerzenden Hände massierte. Hoffentlich verzog sich der graue Vorhang bald, denn der Panoramablick von hier oben glich einem zwar kitschigen, dafür aber wunderschönen Postkartenbild. Grünes Weideland stieg in weichen, hügligen Wellen bis zum Waldgürtel an, hinter dem es dann steil hinaufging bis zum blanken Fels der mächtigen steinernen Barrieren, die das Hochtal schützend umrahmten. Tief atmete Markus ein und genoss die unglaublich frische, klare Luft, die eine leichte Note Tannenharz zu einem unverwechselbaren Erlebnis machte, wie sonst nirgendwo auf der Welt - jedenfalls seiner Wahrnehmung nach. Schade nur, dass Gudrun und Emma nicht dabei waren. Das hätte seine Freude verdoppelt und ihm nicht dieses schlechte Gewissen bereitet, das ihn immer dann überkam, wenn es ihm besonders gutging, er dies Hochgefühl aber nicht mit seiner Frau teilen konnte.
Mit einem wehmütigen Seufzer wandte er sich der Hütte zu und verscheuchte mit der Hand ein paar lästige Fliegen. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Vermutlich liegt's am milden Winter, überlegte Markus und versuchte sich daran zu erinnern, ob der vergangene Winter wirklich so warm gewesen war. Allerdings wurde er im nächsten Moment unterbrochen, denn Willi hüpfte aus der Hütte. Nein, er hüpfte nicht, er sprang, hetzte in wilder Flucht auf Markus zu, stolperte und landete vor dessen Füßen. Nur das laute, hektische Keuchen des Jungen war zu hören, während er die Beine seines Vaters umklammerte. Von einem Augenblick auf den anderen schien die Welt um die beiden herum verstummt zu sein, Markus hörte nur noch ein seltsames Knistern im Kopf. Ein Blick in das Gesicht seines Sohns genügte und der Funke des Entsetzens sprang auf ihn über. Was um alles in der Welt hatte der Junge in der Hütte gesehen?
Die Hüttentür stand sperrangelweit offen. Irritiert starrte Markus auf den Schatten, der wie eine Tüllgardine im Wind aus dem Türrahmen wehte. Ein dichter grauer Fliegenschwarm, der wie ein gespenstisches Lebewesen durch die Luft tanzte. Deutlich war ein Brummen zu hören, das drohend klang. Das pulsierend umherwirbelnde Wesen schien der Fährte Willis zu folgen und sich den beiden suchend zu nähern. Als die erste Welle Vater und Sohn erreichte, sprang Willi in Panik auf und fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft. Dann stieß er seinen Vater grob zur Seite und rannte schrill kreischend im Zickzack in den Wald, der gleich hinter der Hütte begann.
Sekunden verstrichen, bis Markus reagierte und seinem Sohn hinterherhetzte. Fasziniert und zugleich abgestoßen hatte er den Schwarm wie gebannt beobachtet. Bis er Willi eingeholt hatte und den Jungen zu fassen bekam, musste er sich ordentlich anstrengen. Willi schien völlig von Sinnen, wehrte sich gegen den Griff und schlug blindlings auf seinen Vater ein. Erst die klatschenden Backpfeifen links und rechts, zu denen sich Markus schließlich durchrang, beendeten die Phase der blinden Panik. Willi ließ die Arme sinken, ging in die Knie und begann hemmungslos zu schluchzen.
Markus kniete sich neben ihn ins Moos, drückte seinen Sohn an sich und wartete. Was mochte Willi Entsetzliches in der Hütte vorgefunden haben? Und was bedeutete der Fliegenschwarm? Ein totes Tier vielleicht, aber wie sollte es in die Hütte gekommen sein? Obwohl, Siebenschläfer und Mäuse verschafften sich ja auch immer mal wieder Zutritt. Ein Fuchs vielleicht oder ein Murmeltier? Gut möglich. Aber hätte ein Tier den Sohn derart in Panik versetzt? Markus schüttelte unbewusst den Kopf. Am liebsten hätte er sofort nachgesehen, aber ihm war klar, dass er seinen Sohn im Moment weder allein lassen noch ihn dazu bringen konnte, wieder zur Hütte zu gehen. So knieten die beiden auf dem feuchten Waldboden, bis Willi ruhiger wurde, das angebotene Papiertaschentuch annahm und sich schnäuzte.
Zögernd begann der Junge zu sprechen. »Da ... da sind ... ein Haufen ... Leichen ... in ... drinnen«, flüsterte er. Markus nickte, als wäre das die einzig schlüssige Erklärung für den Fliegenschwarm. Vielleicht hatte er seinen Sohn aber auch nicht richtig verstanden, daher fragte er noch mal nach. »Wie, welche Leichen? « Willi sah sich gehetzt um. »Ein ... ein Haufen Tote, wie im Film.« »Was machen die denn in unserer Hütte?« Markus war sich der Unsinnigkeit dieser Frage bewusst, daher richtete er sich auf und versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich sehe mir das mal an - du brauchst nicht mitzukommen«, beruhigte er Willi. Der Junge riss die Augen vor Entsetzen auf, drehte sich zur Seite und begann sein Frühstück herauszuwürgen. Im nächsten Moment sprang er hektisch auf, denn einige Fliegen kreisten über dem Erbrochenen, und Markus hatte Mühe, seinen Sohn festzuhalten. Er drückte ihn mit einem Arm an sich und steckte ihm ein frisches Taschentuch zu. »Wir gehen jetzt zu unseren Sachen zurück«, sagte er so ruhig wie möglich. »Du setzt dich ans Gatter und ich werfe einen Blick in die Hütte, okay?« Willi schüttelte nur stumm den Kopf. Den Vorschlag, hier im Wald auf den Vater zu warten, lehnte er ebenfalls mit heftigem Kopfschütteln ab. Erst die drei Felsbrocken, die Markus nun als Warteplatz nannte, waren ihm genügend weit von dem Fliegenschwarm entfernt. In einem großen Bogen umrundeten sie die Hütte und gingen langsam zu den drei Tanten, wie der Junge die Felsbrocken einst getauft hatte. Dort setzte er sich zwischen die Steine und zog die Kapuze seines Anoraks tief ins Gesicht. »Bin gleich zurück.« Markus drückte seine Schulter und eilte zur Hütte. Dabei drehte er sich einige Male um und winkte seinem Sohn zu, aber Willi reagierte nicht.
Bei jedem Schritt, den sich Markus dem Ort des Geschehens näherte, verhärtete sich der Druck in seiner Magengegend, während seine Knie immer weicher wurden. Im Laufen spielte er alle möglichen Szenarien durch. Immerhin hatte Willi von einem ganzen Haufen Leichen gesprochen, weshalb er davon ausgehen musste, auch wirklich welche vorzufinden. Schaufensterpuppen lockten nun mal keine Fliegen an. Es könnten Penner sein, überlegte er. Vielleicht hatten einige Landstreicher die Hütte als Winterquartier nutzen wollen und waren erfroren, verhungert oder hatten sich gegenseitig im Rausch umgebracht?
Die Fliegen waren immer noch da. Sie tanzten einen flirrenden Reigen vor der Hüttentür und bewegten sich dabei wie eine zentral gesteuerte Einheit. Zudem hatte es den Anschein, als würde der Schwarm ständig an Dichte zunehmen. Keine gute Vorstellung, da hindurchgehen zu müssen. Ein paar Schritte weiter und Markus stand in der Tür und damit mitten im Schwarm. Nun verstand er seinen Sohn. Er musste mit aller Kraft gegen den Impuls ankämpfen, auf dem Absatz umzudrehen und davonzurennen. Doch nicht die Fliegen waren der Auslöser, sondern der widerliche Gestank, der ihm aus der Hütte entgegenwehte.
Er kannte ihn, denn er wusste, wie verwesendes Fleisch roch. Einer ihrer Nachbarn hatte mal eine überfahrene Katze in ihre Mülltonne gesteckt. Sie waren damals nur drei Tage weg gewesen, aber es war Sommer und selbst durch die geschlossene Tonne stank der Kadaver derart gewaltig, dass sich bald die ganze Straße beschwerte. Auch nach der Leerung hing der unverwechselbare Geruch so penetrant in der Tonne fest, dass sie eine neue kaufen mussten.
Der ganze Vorraum, Holzlager und Werkstatt in einem, brummte und war schwarz von umherschwirrenden Fliegen. Markus zog seinen Anorak wie eine Kapuze über den Kopf und versuchte durch das Futter zu atmen. Die Vorstellung, eine dieser Aasfliegen aus Versehen einzuatmen, ließ ihn die Luft mehrmals heftig ausstoßen. Hatte er nicht erst kürzlich gelesen, dass Insekten den Geruch des Todes mieden? Was machten also diese Viecher hier? Waren sie zur Eiablage gekommen oder entstammten sie bereits der frisch geschlüpften Generation? Seltsam, welche Gedanken einem in einer solchen Situation durch den Kopf gingen. Als ob da ein selbständiges Programm ablief, das einen von der Realität ablenken wollte. Und die Realität war unbeschreiblich. Nur kurz starrte Markus auf den Haufen von Müllsäcken, durch deren aufgerissene Folien eindeutig menschliche Körperteile sichtbar waren. Genau nachzählen wollte er nicht, aber es waren sicher mehr als fünf Leichen, und hinzu kam, dass sie sich zu bewegen schienen. Entsetzt erkannte Markus einen Moment später, dass ganze Scharen von kleinen schwarzen Käfern, Waldameisen und Maden diesen Eindruck erweckten.
Ein unerklärlicher Zwang hielt ihn an Ort und Stelle und ließ ihn wie gebannt auf das abstoßende Bild zu seinen Füßen blicken. Erst als sich einige der Aasfresser seinen Schuhen näherten, konnte er sich aus der Starre lösen. Er stürmte aus dem Vorraum, wobei er beinahe auf der schmierigen Masse ausgerutscht wäre, die sich wie ausgelaufenes Fett auf dem Dielenboden gesammelt hatte, und knallte die Tür hinter sich zu.
Markus Egger torkelte wie ein Betrunkener über die Wiese vor der Hütte und kämpfte gegen den heftigen Brechreiz an. In seinem Kopf kreiste ein Karussell von Gedankenfetzen, die einander scheinbar selbständig jagten, ohne jedoch einen Sinn zu ergeben. Wie kamen die Toten in seine Hütte? Durch den defekten hinteren Fensterladen, den er hatte erneuern wollen? Warum gleich so viele, wie in einem Massengrab? Was sollte er Gudrun erzählen? Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Sie mussten die Polizei verständigen. Konnten sich Leichen entzünden? Kalk! Auf Massengräber wurde oft ungelöschter Kalk gestreut. Die Maden, das Fleisch, Verwesung, Fliegen, Massenmord ... Erst die Taschen und Rucksäcke, die noch immer im Gras standen, als wäre nichts geschehen, holten Markus in die Gegenwart zurück. Er hob die beiden Rucksäcke auf, ebenso die Tasche mit den verderblichen Lebensmitteln. Dass ich jetzt überhaupt an Lebensmittel denken kann, überlegte er verwundert. Die restlichen drei Taschen, gefüllt mit Werkzeug und Konserven, Büchern und Bettwäsche, konnten stehenbleiben. Er würde die Polizei bitten, sie mit hinunterzunehmen. Hinunter, hinauf - würde er jemals wieder in die Hütte wollen? Oder Gudrun und die Kinder? War soeben sein schönster Traum zerplatzt?
Ihm war kotzübel, und unter der Last der drei Gepäckstücke taumelte Markus Egger mit seinem noch immer unter Schock stehenden Sohn im Schlepptau von dem Ort weg, den er noch eine halbe Stunde zuvor als einen der wichtigsten in seinem Leben bezeichnet hätte.
TEIL EINS
Bergwinter
Vision
Lediglich in der traditionellen Landwirtschaft bietet der Winter noch jene Erholungsphase im Jahreszyklus, nach der sich Romantiker so sehnen. Die Ernte war eingebracht, das Futter für Mensch und Tier lag in den Scheunen, und in den Kellern halfen Hefebakterien, den Zucker in den Trauben- und Obstsäften in herrliche Weine oder Most zu verwandeln. In großen Steinguttöpfen veredelten sich die Kohlköpfe in feines Sauerkraut, natürlich selbst gehobelt und gestampft. Das gespaltene Holz lag greifbar gestapelt an der Hauswand und würde die Stube in ein mollig warmes Nest verzaubern, erst recht wenn draußen klirrende Kälte herrschte oder gar ein Schneesturm ums Haus tobte.
Walchers Tochter Irmi und ihre Freundin saßen oben in Irmis Zimmer vor dem Computer und tauschten, wie in ihrer Altersgruppe heutzutage üblich, voller Vertrauen auf die Integrität eines seelenlosen Systems namens Internet ahnungslos ihre persönlichsten Geheimnisse mit irgendwelchen Freunden in Chatrooms oder über Foren und soziale Netzwerke.
Walcher hatte den Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt, was Mathilde mit ihrem Strickzeug ebenso herbeigelockt hatte wie Kater Bärendreck und Labrador Rolli. Bärendreck genoss während des Winters Asyl und wurde nicht wie im Sommer aus dem Haus gejagt. Dies hatte weniger mit mangelnder Tierliebe zu tun als vielmehr mit der Eigenheit des Katers, sich im Sommer mit Vorliebe in frisch ausgebrachter Jauche zu wälzen. Nun lag er, mangels winterlicher Wiesendüngung, einigermaßen geruchsneutral auf der Ofenbank neben Mathilde und schnurrte gegen Pink Floyd an, deren CD »Wish you were here« Walcher aufgelegt hatte. Die Landschaft versteckte sich unter einer Schneedecke, so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Wie auf einer einsamen Insel kam sich Walcher auf seinem Hof vor, abgeschnitten vom Rest der Welt. Nicht wirklich so, denn der Nachbar räumte mit seinem Schneepflugtraktor regelmäßig den Weg bis zur Bundesstraße. Im Allgäu verzögert sich zwar bei solchen Verhältnissen das Leben, aber es bricht kein Chaos aus wie in den Städten. Die Leute hier treten einfach etwas kürzer und machen sich nur dann auf den Weg, wenn es denn unbedingt sein muss. Dank Walchers Hang zu überbordender Vorratshaltung hätten sie problemlos ein paar Wochen durchhalten können.
Freitagabend war es, gegen 21.00 Uhr, und einer jener seltenen Abende, die in wohltuend zielloser Schlaffheit versinken. Walcher hatte eine Flasche Wein entkorkt und vergewisserte sich in Der große Johnson, ob der Großmeister in seiner Enzyklopädie etwas über diesen Wein und das Weingut schrieb. Walchers Freund Hinteregger hatte ihm die Flasche vor einem halben Jahr aus den USA geschickt und bloß eine kryptische Mitteilung beigelegt, an die er sich allerdings nur noch bruchstückhaft erinnerte. Wer im eigenen Weinberg wandelt, braucht nicht im Chor zu singen, lautete sie sinngemäß.
Walcher hatte lange darüber nachgegrübelt, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, bis Hinteregger Ende Oktober in einer seiner E-Mails erwähnt hatte, dass er im südlichsten Zipfel Kaliforniens, im Bezirk San Tarikito, ein Weingut erworben habe und seither stolzer Besitzer eigener Weine sei. In Hugh Johnsons Weinlexikon fand er jedoch weder einen Hinweis auf diesen Redbird noch einen auf das Weingut gleichen Namens. Aber das konnte sich ändern, denn seinem Freund war durchaus zuzutrauen, dass er sein Weingut auf die Spitzenliste kalifornischer Winzerkunst brachte. Der gemütlichen Stimmung wegen dachte Walcher übergangslos an Theresa. Was sie wohl in diesem Moment machte? Sich mit ihrem Sohn unterhalten, ihm ein spätes Abendbrot richten, alte Fotos ansehen? Oder bügelte sie mal wieder die Hemden von ihrem Sohnemann?
(...)
Unbewusst stöhnte Walcher und trank einen großen Schluck des Weines, der allerdings eine zu intensive Behandlung mit Eiche verriet - seiner Meinung nach eine der größten Winzersünden der Neuzeit, noch vor dem Zusetzen von Rübenzucker. Ihre Hilflosigkeit hatte Theresa durchaus zugegeben. Sie war dem vermeintlich herzlichen und empathischen Lächeln ihres Sohnes ebenso wehrlos ausgeliefert wie ihrem eigenen Wunschdenken. Walcher dagegen fühlte sich hilflos aufgrund seiner Sorge, dass allzu deutliche Worte über Daniels Charakter einen Bruch ihrer Beziehung herbeiführen könnten.
Wieder griff er zum Glas, um sich abzulenken und Mathilde zuzuprosten. Sein Versuch blieb aber regelrecht in der Luft hängen. Mathilde war nicht ansprechbar, sondern entrückt. Durch ein Zeitloch in eine andere Dimension geschlüpft vielleicht. Mit beiden Händen presste sie krampfhaft die Stricknadeln mitsamt dem begonnenen Wollschal gegen den Bauch. Wie versteinert saß sie da, schien nicht zu atmen und starrte aus dem Fenster. Unwillkürlich folgte Walcher ihrem Blick, sah aber nur einen Ausschnitt des Wohnzimmers, der sich in der nachtschwarzen Scheibe spiegelte. Langsam setzte er das Weinglas ab und überlegte, ob er Mathilde ansprechen sollte, zögerte aber. Seit Mathilde auf dem Hof lebte, hatte er sie drei-, viermal in diesem Zustand erlebt, und jedes Mal waren kurz darauf unerklärliche Dinge geschehen, die sein rationales Weltbild erheblich ins Wanken gebracht hatten. Akzeptierte er Mathildes Wissen im Bereich der Kräutermedizin noch fraglos, so begannen seine Zweifel bei ihren Fähigkeiten, Schmerzen zu stillen oder gar Krankheiten zu erkennen, noch ehe sie ausgebrochen waren. Allerdings bewegte er sich hierbei immer noch auf einigermaßen sicherem Terrain, denn er sprach ihrem soliden medizinischen Wissen, gepaart mit ihrer großen Erfahrung und einer analytischen Beobachtungsgabe, durchaus eine hohe diagnostische Trefferquote zu. In die Problemzone kam Walcher erst bei der nächsten Stufe von Mathildes Leistungsverzeichnis. Ihre Visionen oder seherischen Fähigkeiten, oder wie das sonst bezeichnet werden sollte, stießen in Bereiche vor, die sich gänzlich jeder rationalen Erklärung entzogen. Mehr noch, sie erzeugten bei ihm Gefühle, die von Unbehagen bis hin zu Urängsten reichten und jene Reaktion verursachten, die einem Zustand kleinkindlicher Hilflosigkeit glichen. Walcher hatte sich nicht ohne Grund immer nur als einen Helden in zweiter Reihe bezeichnet und gab unumwunden zu, dass ihm Mathilde manchmal unheimlich war.
Selbst Rolli wirkte beunruhigt. Der Hund hatte sich halb aufgerichtet und blickte irritiert zwischen Walcher und Mathilde hin und her. Der Kopf der älteren Frau hatte zu zittern begonnen, so als stünde sie unter höchster Anspannung. Ihre Hände sahen derart verkrampft aus, dass Walcher schon befürchtete, sie werde sich an den Stricknadeln verletzen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als Mathilde, ohne den Mund zu öffnen, auch noch Laute ausstieß, wie sie nur Kater in der Paarungszeit von sich geben. Der Hund winselte und tappte zur Tür, als wäre ihm das Wohnzimmer plötzlich nicht mehr geheuer. Walcher ließ ihn hinaus und wäre am liebsten mitgegangen, aber das Gefühl von Verantwortung überwog sein Unbehagen. Leicht vorgebeugt blieb er neben Mathilde stehen. Vielleicht sollte er sie aus dem offensichtlich unangenehmen Traum befreien? Er streckte gerade die Hand nach ihrer Schulter aus, als sie den Mund aufriss und tief einatmete. Gleichzeitig entkrampfte sich ihr Körper, und ihre Augen bekamen wieder Bodenhaftung. Befreit atmete auch Walcher tief durch, ging an des Tischchen neben dem Sofa und griff nach der Weinflasche. Auffordernd hielt er sie Mathilde hin und deutete auf ihr Glas. Sie nickte mit einem dankbaren Lächeln. Nach einem Schluck Wein nickte sie ihm noch einmal zu und meinte: »Hast sicher mitbekommen, was mit mir los war.« Walcher zuckte mit den Schultern und setzte eine indifferente Miene auf. Nun schüttelte Mathilde den Kopf. »Ergibt irgendwie alles keinen Sinn«, meinte sie. »Hab eine Art Hilferuf empfangen, aber um mich waren nichts als Sand und Dünen, wie in einer Wüste. Eine Frau rannte von einer Düne herunter, schrie wie verrückt und fuchtelte mit den Armen. Dann hab ich noch Kamele gesehen, und plötzlich verwandelte sich die Wüste in eine Schneelandschaft mit Bergen ringsherum. Hohe Berge, und die Tannen bewegten sich wie unter einem starken Sturm. Im nächsten Moment wanderte eine Reihe dunkler Gestalten im Gänsemarsch durch die Nacht und verschwand in einem schwarzen Loch. Der Letzte drehte sich zu mir um - und streckte die Hand nach mir aus.«
Mathilde atmete tief ein und trank einen Schluck Wein. »Ich war noch nie in einer Wüste und kenne dort auch niemanden.« Sie stand auf, sah ungläubig auf ihre Stricknadeln, die beide zu einem U verbogen waren. Wieder schüttelte sie, noch immer völlig in Gedanken, den Kopf und ging zur Tür. »Ich muss ins Bett, mir ist ganz schwindlig. Gute Nacht - und danke für den Wein.«
Mit einem »Leckt's mi doch alle am Oarsch« hatte er den Enzian hinuntergestürzt und dabei Markus fixiert, als ob dieser etwas mit seinem Ärger zu tun hätte. »Möchtest a Hütt'n kaffa?«, wollte der dem Dialekt nach aus München stammende als Nächstes wissen. Markus hatte einfach genickt, ohne zu ahnen, dass er damit das wohl beste Geschäft seines Lebens abgeschlossen hatte. Einen Monat später war er für den Gegenwert von seinerzeit noch zwanzigtausend D-Mark der notariell eingetragene Besitzer einer Jagdhütte samt einem Hektar Wald. Die Auflagen der Gemeinde, an der Optik und den baulichen Maßen nichts zu verändern, hatte er gerne akzeptiert, hatten sie ihm doch dieses Juwel zugespielt. Nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen mit den zuständigen Behörden - die einen Ausbau der Hütte zu einem respektablen Skihotel samt Anfahrtsstraße mit allen Mitteln verhindern wollten - hatte sich der Besitzer geschlagen gegeben.
Markus und seine Frau Gudrun renovierten in den darauffolgenden Jahren die Hütte mit ihren Kindern Emma und Willi in mühevoller Arbeit und machten sie zu einem veritablen Schmuckstück - nur leider verschuldeten und zerstritten sie sich auch dabei. Nach jedem Winter oder längerer Abwesenheit waren die letzten Meter bis zur Hütte für Markus immer auch mit der bangen Frage verbunden, ob sie noch stand oder ob sie aufgebrochen und von Vandalen beschädigt worden war. Befreit atmete er deshalb auf, als die Hütte noch genauso dastand, wie er sie bei seinem letzten Aufenthalt im Spätherbst des vergangenen Jahres verlassen hatte. Willi ließ die Taschen und den Rucksack einfach fallen und hielt Markus auffordernd die offene Hand hin. Der nickte, setzte ebenfalls die höllisch schweren Taschen ab, kramte den Hüttenschlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn seinem Sohn. Dann befreite er sich von dem Rucksack und lockerte die malträtierten Schultern. Schade, dass der Nebel die Sicht auf das Hochtal und die Berge ringsherum versperrt, dachte er, während er die schmerzenden Hände massierte. Hoffentlich verzog sich der graue Vorhang bald, denn der Panoramablick von hier oben glich einem zwar kitschigen, dafür aber wunderschönen Postkartenbild. Grünes Weideland stieg in weichen, hügligen Wellen bis zum Waldgürtel an, hinter dem es dann steil hinaufging bis zum blanken Fels der mächtigen steinernen Barrieren, die das Hochtal schützend umrahmten. Tief atmete Markus ein und genoss die unglaublich frische, klare Luft, die eine leichte Note Tannenharz zu einem unverwechselbaren Erlebnis machte, wie sonst nirgendwo auf der Welt - jedenfalls seiner Wahrnehmung nach. Schade nur, dass Gudrun und Emma nicht dabei waren. Das hätte seine Freude verdoppelt und ihm nicht dieses schlechte Gewissen bereitet, das ihn immer dann überkam, wenn es ihm besonders gutging, er dies Hochgefühl aber nicht mit seiner Frau teilen konnte.
Mit einem wehmütigen Seufzer wandte er sich der Hütte zu und verscheuchte mit der Hand ein paar lästige Fliegen. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Vermutlich liegt's am milden Winter, überlegte Markus und versuchte sich daran zu erinnern, ob der vergangene Winter wirklich so warm gewesen war. Allerdings wurde er im nächsten Moment unterbrochen, denn Willi hüpfte aus der Hütte. Nein, er hüpfte nicht, er sprang, hetzte in wilder Flucht auf Markus zu, stolperte und landete vor dessen Füßen. Nur das laute, hektische Keuchen des Jungen war zu hören, während er die Beine seines Vaters umklammerte. Von einem Augenblick auf den anderen schien die Welt um die beiden herum verstummt zu sein, Markus hörte nur noch ein seltsames Knistern im Kopf. Ein Blick in das Gesicht seines Sohns genügte und der Funke des Entsetzens sprang auf ihn über. Was um alles in der Welt hatte der Junge in der Hütte gesehen?
Die Hüttentür stand sperrangelweit offen. Irritiert starrte Markus auf den Schatten, der wie eine Tüllgardine im Wind aus dem Türrahmen wehte. Ein dichter grauer Fliegenschwarm, der wie ein gespenstisches Lebewesen durch die Luft tanzte. Deutlich war ein Brummen zu hören, das drohend klang. Das pulsierend umherwirbelnde Wesen schien der Fährte Willis zu folgen und sich den beiden suchend zu nähern. Als die erste Welle Vater und Sohn erreichte, sprang Willi in Panik auf und fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft. Dann stieß er seinen Vater grob zur Seite und rannte schrill kreischend im Zickzack in den Wald, der gleich hinter der Hütte begann.
Sekunden verstrichen, bis Markus reagierte und seinem Sohn hinterherhetzte. Fasziniert und zugleich abgestoßen hatte er den Schwarm wie gebannt beobachtet. Bis er Willi eingeholt hatte und den Jungen zu fassen bekam, musste er sich ordentlich anstrengen. Willi schien völlig von Sinnen, wehrte sich gegen den Griff und schlug blindlings auf seinen Vater ein. Erst die klatschenden Backpfeifen links und rechts, zu denen sich Markus schließlich durchrang, beendeten die Phase der blinden Panik. Willi ließ die Arme sinken, ging in die Knie und begann hemmungslos zu schluchzen.
Markus kniete sich neben ihn ins Moos, drückte seinen Sohn an sich und wartete. Was mochte Willi Entsetzliches in der Hütte vorgefunden haben? Und was bedeutete der Fliegenschwarm? Ein totes Tier vielleicht, aber wie sollte es in die Hütte gekommen sein? Obwohl, Siebenschläfer und Mäuse verschafften sich ja auch immer mal wieder Zutritt. Ein Fuchs vielleicht oder ein Murmeltier? Gut möglich. Aber hätte ein Tier den Sohn derart in Panik versetzt? Markus schüttelte unbewusst den Kopf. Am liebsten hätte er sofort nachgesehen, aber ihm war klar, dass er seinen Sohn im Moment weder allein lassen noch ihn dazu bringen konnte, wieder zur Hütte zu gehen. So knieten die beiden auf dem feuchten Waldboden, bis Willi ruhiger wurde, das angebotene Papiertaschentuch annahm und sich schnäuzte.
Zögernd begann der Junge zu sprechen. »Da ... da sind ... ein Haufen ... Leichen ... in ... drinnen«, flüsterte er. Markus nickte, als wäre das die einzig schlüssige Erklärung für den Fliegenschwarm. Vielleicht hatte er seinen Sohn aber auch nicht richtig verstanden, daher fragte er noch mal nach. »Wie, welche Leichen? « Willi sah sich gehetzt um. »Ein ... ein Haufen Tote, wie im Film.« »Was machen die denn in unserer Hütte?« Markus war sich der Unsinnigkeit dieser Frage bewusst, daher richtete er sich auf und versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich sehe mir das mal an - du brauchst nicht mitzukommen«, beruhigte er Willi. Der Junge riss die Augen vor Entsetzen auf, drehte sich zur Seite und begann sein Frühstück herauszuwürgen. Im nächsten Moment sprang er hektisch auf, denn einige Fliegen kreisten über dem Erbrochenen, und Markus hatte Mühe, seinen Sohn festzuhalten. Er drückte ihn mit einem Arm an sich und steckte ihm ein frisches Taschentuch zu. »Wir gehen jetzt zu unseren Sachen zurück«, sagte er so ruhig wie möglich. »Du setzt dich ans Gatter und ich werfe einen Blick in die Hütte, okay?« Willi schüttelte nur stumm den Kopf. Den Vorschlag, hier im Wald auf den Vater zu warten, lehnte er ebenfalls mit heftigem Kopfschütteln ab. Erst die drei Felsbrocken, die Markus nun als Warteplatz nannte, waren ihm genügend weit von dem Fliegenschwarm entfernt. In einem großen Bogen umrundeten sie die Hütte und gingen langsam zu den drei Tanten, wie der Junge die Felsbrocken einst getauft hatte. Dort setzte er sich zwischen die Steine und zog die Kapuze seines Anoraks tief ins Gesicht. »Bin gleich zurück.« Markus drückte seine Schulter und eilte zur Hütte. Dabei drehte er sich einige Male um und winkte seinem Sohn zu, aber Willi reagierte nicht.
Bei jedem Schritt, den sich Markus dem Ort des Geschehens näherte, verhärtete sich der Druck in seiner Magengegend, während seine Knie immer weicher wurden. Im Laufen spielte er alle möglichen Szenarien durch. Immerhin hatte Willi von einem ganzen Haufen Leichen gesprochen, weshalb er davon ausgehen musste, auch wirklich welche vorzufinden. Schaufensterpuppen lockten nun mal keine Fliegen an. Es könnten Penner sein, überlegte er. Vielleicht hatten einige Landstreicher die Hütte als Winterquartier nutzen wollen und waren erfroren, verhungert oder hatten sich gegenseitig im Rausch umgebracht?
Die Fliegen waren immer noch da. Sie tanzten einen flirrenden Reigen vor der Hüttentür und bewegten sich dabei wie eine zentral gesteuerte Einheit. Zudem hatte es den Anschein, als würde der Schwarm ständig an Dichte zunehmen. Keine gute Vorstellung, da hindurchgehen zu müssen. Ein paar Schritte weiter und Markus stand in der Tür und damit mitten im Schwarm. Nun verstand er seinen Sohn. Er musste mit aller Kraft gegen den Impuls ankämpfen, auf dem Absatz umzudrehen und davonzurennen. Doch nicht die Fliegen waren der Auslöser, sondern der widerliche Gestank, der ihm aus der Hütte entgegenwehte.
Er kannte ihn, denn er wusste, wie verwesendes Fleisch roch. Einer ihrer Nachbarn hatte mal eine überfahrene Katze in ihre Mülltonne gesteckt. Sie waren damals nur drei Tage weg gewesen, aber es war Sommer und selbst durch die geschlossene Tonne stank der Kadaver derart gewaltig, dass sich bald die ganze Straße beschwerte. Auch nach der Leerung hing der unverwechselbare Geruch so penetrant in der Tonne fest, dass sie eine neue kaufen mussten.
Der ganze Vorraum, Holzlager und Werkstatt in einem, brummte und war schwarz von umherschwirrenden Fliegen. Markus zog seinen Anorak wie eine Kapuze über den Kopf und versuchte durch das Futter zu atmen. Die Vorstellung, eine dieser Aasfliegen aus Versehen einzuatmen, ließ ihn die Luft mehrmals heftig ausstoßen. Hatte er nicht erst kürzlich gelesen, dass Insekten den Geruch des Todes mieden? Was machten also diese Viecher hier? Waren sie zur Eiablage gekommen oder entstammten sie bereits der frisch geschlüpften Generation? Seltsam, welche Gedanken einem in einer solchen Situation durch den Kopf gingen. Als ob da ein selbständiges Programm ablief, das einen von der Realität ablenken wollte. Und die Realität war unbeschreiblich. Nur kurz starrte Markus auf den Haufen von Müllsäcken, durch deren aufgerissene Folien eindeutig menschliche Körperteile sichtbar waren. Genau nachzählen wollte er nicht, aber es waren sicher mehr als fünf Leichen, und hinzu kam, dass sie sich zu bewegen schienen. Entsetzt erkannte Markus einen Moment später, dass ganze Scharen von kleinen schwarzen Käfern, Waldameisen und Maden diesen Eindruck erweckten.
Ein unerklärlicher Zwang hielt ihn an Ort und Stelle und ließ ihn wie gebannt auf das abstoßende Bild zu seinen Füßen blicken. Erst als sich einige der Aasfresser seinen Schuhen näherten, konnte er sich aus der Starre lösen. Er stürmte aus dem Vorraum, wobei er beinahe auf der schmierigen Masse ausgerutscht wäre, die sich wie ausgelaufenes Fett auf dem Dielenboden gesammelt hatte, und knallte die Tür hinter sich zu.
Markus Egger torkelte wie ein Betrunkener über die Wiese vor der Hütte und kämpfte gegen den heftigen Brechreiz an. In seinem Kopf kreiste ein Karussell von Gedankenfetzen, die einander scheinbar selbständig jagten, ohne jedoch einen Sinn zu ergeben. Wie kamen die Toten in seine Hütte? Durch den defekten hinteren Fensterladen, den er hatte erneuern wollen? Warum gleich so viele, wie in einem Massengrab? Was sollte er Gudrun erzählen? Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Sie mussten die Polizei verständigen. Konnten sich Leichen entzünden? Kalk! Auf Massengräber wurde oft ungelöschter Kalk gestreut. Die Maden, das Fleisch, Verwesung, Fliegen, Massenmord ... Erst die Taschen und Rucksäcke, die noch immer im Gras standen, als wäre nichts geschehen, holten Markus in die Gegenwart zurück. Er hob die beiden Rucksäcke auf, ebenso die Tasche mit den verderblichen Lebensmitteln. Dass ich jetzt überhaupt an Lebensmittel denken kann, überlegte er verwundert. Die restlichen drei Taschen, gefüllt mit Werkzeug und Konserven, Büchern und Bettwäsche, konnten stehenbleiben. Er würde die Polizei bitten, sie mit hinunterzunehmen. Hinunter, hinauf - würde er jemals wieder in die Hütte wollen? Oder Gudrun und die Kinder? War soeben sein schönster Traum zerplatzt?
Ihm war kotzübel, und unter der Last der drei Gepäckstücke taumelte Markus Egger mit seinem noch immer unter Schock stehenden Sohn im Schlepptau von dem Ort weg, den er noch eine halbe Stunde zuvor als einen der wichtigsten in seinem Leben bezeichnet hätte.
TEIL EINS
Bergwinter
Vision
Lediglich in der traditionellen Landwirtschaft bietet der Winter noch jene Erholungsphase im Jahreszyklus, nach der sich Romantiker so sehnen. Die Ernte war eingebracht, das Futter für Mensch und Tier lag in den Scheunen, und in den Kellern halfen Hefebakterien, den Zucker in den Trauben- und Obstsäften in herrliche Weine oder Most zu verwandeln. In großen Steinguttöpfen veredelten sich die Kohlköpfe in feines Sauerkraut, natürlich selbst gehobelt und gestampft. Das gespaltene Holz lag greifbar gestapelt an der Hauswand und würde die Stube in ein mollig warmes Nest verzaubern, erst recht wenn draußen klirrende Kälte herrschte oder gar ein Schneesturm ums Haus tobte.
Walchers Tochter Irmi und ihre Freundin saßen oben in Irmis Zimmer vor dem Computer und tauschten, wie in ihrer Altersgruppe heutzutage üblich, voller Vertrauen auf die Integrität eines seelenlosen Systems namens Internet ahnungslos ihre persönlichsten Geheimnisse mit irgendwelchen Freunden in Chatrooms oder über Foren und soziale Netzwerke.
Walcher hatte den Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt, was Mathilde mit ihrem Strickzeug ebenso herbeigelockt hatte wie Kater Bärendreck und Labrador Rolli. Bärendreck genoss während des Winters Asyl und wurde nicht wie im Sommer aus dem Haus gejagt. Dies hatte weniger mit mangelnder Tierliebe zu tun als vielmehr mit der Eigenheit des Katers, sich im Sommer mit Vorliebe in frisch ausgebrachter Jauche zu wälzen. Nun lag er, mangels winterlicher Wiesendüngung, einigermaßen geruchsneutral auf der Ofenbank neben Mathilde und schnurrte gegen Pink Floyd an, deren CD »Wish you were here« Walcher aufgelegt hatte. Die Landschaft versteckte sich unter einer Schneedecke, so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Wie auf einer einsamen Insel kam sich Walcher auf seinem Hof vor, abgeschnitten vom Rest der Welt. Nicht wirklich so, denn der Nachbar räumte mit seinem Schneepflugtraktor regelmäßig den Weg bis zur Bundesstraße. Im Allgäu verzögert sich zwar bei solchen Verhältnissen das Leben, aber es bricht kein Chaos aus wie in den Städten. Die Leute hier treten einfach etwas kürzer und machen sich nur dann auf den Weg, wenn es denn unbedingt sein muss. Dank Walchers Hang zu überbordender Vorratshaltung hätten sie problemlos ein paar Wochen durchhalten können.
Freitagabend war es, gegen 21.00 Uhr, und einer jener seltenen Abende, die in wohltuend zielloser Schlaffheit versinken. Walcher hatte eine Flasche Wein entkorkt und vergewisserte sich in Der große Johnson, ob der Großmeister in seiner Enzyklopädie etwas über diesen Wein und das Weingut schrieb. Walchers Freund Hinteregger hatte ihm die Flasche vor einem halben Jahr aus den USA geschickt und bloß eine kryptische Mitteilung beigelegt, an die er sich allerdings nur noch bruchstückhaft erinnerte. Wer im eigenen Weinberg wandelt, braucht nicht im Chor zu singen, lautete sie sinngemäß.
Walcher hatte lange darüber nachgegrübelt, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, bis Hinteregger Ende Oktober in einer seiner E-Mails erwähnt hatte, dass er im südlichsten Zipfel Kaliforniens, im Bezirk San Tarikito, ein Weingut erworben habe und seither stolzer Besitzer eigener Weine sei. In Hugh Johnsons Weinlexikon fand er jedoch weder einen Hinweis auf diesen Redbird noch einen auf das Weingut gleichen Namens. Aber das konnte sich ändern, denn seinem Freund war durchaus zuzutrauen, dass er sein Weingut auf die Spitzenliste kalifornischer Winzerkunst brachte. Der gemütlichen Stimmung wegen dachte Walcher übergangslos an Theresa. Was sie wohl in diesem Moment machte? Sich mit ihrem Sohn unterhalten, ihm ein spätes Abendbrot richten, alte Fotos ansehen? Oder bügelte sie mal wieder die Hemden von ihrem Sohnemann?
(...)
Unbewusst stöhnte Walcher und trank einen großen Schluck des Weines, der allerdings eine zu intensive Behandlung mit Eiche verriet - seiner Meinung nach eine der größten Winzersünden der Neuzeit, noch vor dem Zusetzen von Rübenzucker. Ihre Hilflosigkeit hatte Theresa durchaus zugegeben. Sie war dem vermeintlich herzlichen und empathischen Lächeln ihres Sohnes ebenso wehrlos ausgeliefert wie ihrem eigenen Wunschdenken. Walcher dagegen fühlte sich hilflos aufgrund seiner Sorge, dass allzu deutliche Worte über Daniels Charakter einen Bruch ihrer Beziehung herbeiführen könnten.
Wieder griff er zum Glas, um sich abzulenken und Mathilde zuzuprosten. Sein Versuch blieb aber regelrecht in der Luft hängen. Mathilde war nicht ansprechbar, sondern entrückt. Durch ein Zeitloch in eine andere Dimension geschlüpft vielleicht. Mit beiden Händen presste sie krampfhaft die Stricknadeln mitsamt dem begonnenen Wollschal gegen den Bauch. Wie versteinert saß sie da, schien nicht zu atmen und starrte aus dem Fenster. Unwillkürlich folgte Walcher ihrem Blick, sah aber nur einen Ausschnitt des Wohnzimmers, der sich in der nachtschwarzen Scheibe spiegelte. Langsam setzte er das Weinglas ab und überlegte, ob er Mathilde ansprechen sollte, zögerte aber. Seit Mathilde auf dem Hof lebte, hatte er sie drei-, viermal in diesem Zustand erlebt, und jedes Mal waren kurz darauf unerklärliche Dinge geschehen, die sein rationales Weltbild erheblich ins Wanken gebracht hatten. Akzeptierte er Mathildes Wissen im Bereich der Kräutermedizin noch fraglos, so begannen seine Zweifel bei ihren Fähigkeiten, Schmerzen zu stillen oder gar Krankheiten zu erkennen, noch ehe sie ausgebrochen waren. Allerdings bewegte er sich hierbei immer noch auf einigermaßen sicherem Terrain, denn er sprach ihrem soliden medizinischen Wissen, gepaart mit ihrer großen Erfahrung und einer analytischen Beobachtungsgabe, durchaus eine hohe diagnostische Trefferquote zu. In die Problemzone kam Walcher erst bei der nächsten Stufe von Mathildes Leistungsverzeichnis. Ihre Visionen oder seherischen Fähigkeiten, oder wie das sonst bezeichnet werden sollte, stießen in Bereiche vor, die sich gänzlich jeder rationalen Erklärung entzogen. Mehr noch, sie erzeugten bei ihm Gefühle, die von Unbehagen bis hin zu Urängsten reichten und jene Reaktion verursachten, die einem Zustand kleinkindlicher Hilflosigkeit glichen. Walcher hatte sich nicht ohne Grund immer nur als einen Helden in zweiter Reihe bezeichnet und gab unumwunden zu, dass ihm Mathilde manchmal unheimlich war.
Selbst Rolli wirkte beunruhigt. Der Hund hatte sich halb aufgerichtet und blickte irritiert zwischen Walcher und Mathilde hin und her. Der Kopf der älteren Frau hatte zu zittern begonnen, so als stünde sie unter höchster Anspannung. Ihre Hände sahen derart verkrampft aus, dass Walcher schon befürchtete, sie werde sich an den Stricknadeln verletzen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, als Mathilde, ohne den Mund zu öffnen, auch noch Laute ausstieß, wie sie nur Kater in der Paarungszeit von sich geben. Der Hund winselte und tappte zur Tür, als wäre ihm das Wohnzimmer plötzlich nicht mehr geheuer. Walcher ließ ihn hinaus und wäre am liebsten mitgegangen, aber das Gefühl von Verantwortung überwog sein Unbehagen. Leicht vorgebeugt blieb er neben Mathilde stehen. Vielleicht sollte er sie aus dem offensichtlich unangenehmen Traum befreien? Er streckte gerade die Hand nach ihrer Schulter aus, als sie den Mund aufriss und tief einatmete. Gleichzeitig entkrampfte sich ihr Körper, und ihre Augen bekamen wieder Bodenhaftung. Befreit atmete auch Walcher tief durch, ging an des Tischchen neben dem Sofa und griff nach der Weinflasche. Auffordernd hielt er sie Mathilde hin und deutete auf ihr Glas. Sie nickte mit einem dankbaren Lächeln. Nach einem Schluck Wein nickte sie ihm noch einmal zu und meinte: »Hast sicher mitbekommen, was mit mir los war.« Walcher zuckte mit den Schultern und setzte eine indifferente Miene auf. Nun schüttelte Mathilde den Kopf. »Ergibt irgendwie alles keinen Sinn«, meinte sie. »Hab eine Art Hilferuf empfangen, aber um mich waren nichts als Sand und Dünen, wie in einer Wüste. Eine Frau rannte von einer Düne herunter, schrie wie verrückt und fuchtelte mit den Armen. Dann hab ich noch Kamele gesehen, und plötzlich verwandelte sich die Wüste in eine Schneelandschaft mit Bergen ringsherum. Hohe Berge, und die Tannen bewegten sich wie unter einem starken Sturm. Im nächsten Moment wanderte eine Reihe dunkler Gestalten im Gänsemarsch durch die Nacht und verschwand in einem schwarzen Loch. Der Letzte drehte sich zu mir um - und streckte die Hand nach mir aus.«
Mathilde atmete tief ein und trank einen Schluck Wein. »Ich war noch nie in einer Wüste und kenne dort auch niemanden.« Sie stand auf, sah ungläubig auf ihre Stricknadeln, die beide zu einem U verbogen waren. Wieder schüttelte sie, noch immer völlig in Gedanken, den Kopf und ging zur Tür. »Ich muss ins Bett, mir ist ganz schwindlig. Gute Nacht - und danke für den Wein.«
... weniger
Autoren-Porträt von Joachim Rangnick
Joachim Rangnick, geboren 1947, ist studierter Grafiker und lebt in Weingarten. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. In seinen Kriminalromanen bringt sich Journalist Robert Walcher im beschaulichen Allgäu immer wieder in höchste Gefahr.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joachim Rangnick
- 2011, 1. Auflage, 400 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843701032
- ISBN-13: 9783843701037
- Erscheinungsdatum: 09.12.2011
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
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