Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1 (ePub)
Der erste Fall für Schöffin Ruth Holländer
Ruth Holländer kann sich nicht beklagen: Die Scheidung ist durch, der Sohn aus dem Haus, und die 16-jährige Tochter pubertiert fast nicht mehr. Auch Ruths französisches Bistro läuft erfreulich gut. Aber dann kommt ein Bescheid vom Amtsgericht: Zu ihrem...
sofort als Download lieferbar
eBook (ePub)
8.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenloser tolino webreader
Produktdetails
Produktinformationen zu „Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1 (ePub)“
Ruth Holländer kann sich nicht beklagen: Die Scheidung ist durch, der Sohn aus dem Haus, und die 16-jährige Tochter pubertiert fast nicht mehr. Auch Ruths französisches Bistro läuft erfreulich gut. Aber dann kommt ein Bescheid vom Amtsgericht: Zu ihrem Entsetzen wird Ruth zur Schöffin berufen. Sie muss in einem Mordfall beisitzen. Schon bald hegt sie Zweifel an der Schuld des Hauptangeklagten: Hat der junge Mann wirklich seine Schwester getötet? Ruth beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Und schon nach den ersten Fragen im Umfeld des vermeintlichen Mörders wird ihr klar, dass sie mitten im gefährlichsten Abenteuer ihres Lebens gelandet ist ...
Lese-Probe zu „Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1 (ePub)“
Unschuldslamm von Judith ArendtAkalin Köyü, Südostanatolien,
ein Samstag im Juli, zwanzig Uhr
Der Blick aus seinen schwarzen Augen folgte ihr überallhin. Derya hatte sich mit dem Rücken zu ihm gesetzt, aber selbst jetzt, wo sie ihn nicht mehr sehen musste, spürte sie quer durch den gesamten Raum das giftige Brennen seines Blickes.
... mehr
Derya nahm einen weiteren klebrigen Fruchtwürfel und zog ihr Handy aus der Tasche. Vali hatte sich immer noch nicht gemeldet, dafür schickte Michelle schon die zehnte SMS. Ihrer besten Freundin war langweilig, zu Hause, in Berlin. Fast viertausend Kilometer weit entfernt. Lichtjahre weit entfernt. Sie und Michelle hatten sich vor Wochen, zu Beginn der Schulferien, den Spaß gemacht und Akalin gegoogelt. Sie hatten sich schlappgelacht, als der Satellit von Google Maps immer näher rangezoomt hatte auf das Dorf in den Bergen, das die große Suchmaschine zu Deryas Erstaunen tatsächlich gefunden hatte. Sie hatten gelacht, als sie gesehen hatten, wie klein es tatsächlich war und dass es dort nichts gab außer Bergen, einer Straße und Staub. Aber als Derya gesehen hatte, dass es von dort nur ein Katzensprung war nach Syrien und in den Irak, hatte sie Angst bekommen. Richtige Angst. Sie hatte sich plötzlich vorgestellt, ihr Vater würde sie dortlassen, sie Onkel Bozan als Pfand geben. Michelle hatte Witze gemacht über Moslems und lange Bärte, verschleierte Frauen und Typen, die es mit Ziegen trieben, aber Derya konnte darüber nicht lachen. Viertausend Kilometer für ein Fest, das ein Fremder gab. Derya war der Sinn dahinter unklar gewesen, aber Aras hatte ihr klargemacht, dass sie keine Wahl hatte. Ihre Anwesenheit sei wichtig für ihren Vater. Es ging um einen Clan, mit dem ihr eigener Clan, den sie gar nicht kannte, der vielmehr der Stamm der Familie ihres Vaters und ihrer Mutter war, einen Streit gehabt hatte. Es ging um die Ehre und den Stolz, um Arbeitsplätze und den Staudamm.
Derya hatte nicht verstanden, was ihr Bruder ihr erklärte, sie hatte es nicht verstehen wollen, sie hatte nur kapiert, dass sie ihre gesamten Sommerferien in den verschissenen anatolischen Bergen verbringen sollte. Wo es nichts gab außer trockenen Steinen und fremden Menschen, die sie in den Arm nahmen und auf die Wangen küssten und die sie Onkel, Tante, Cousin und Cousine nennen sollte. Zum Glück wohnten sie nicht hier in den Bergen, sie wohnten eine Stunde entfernt in Yasikan Köyü, bei Verwandten von Mama. Deryas einzige Rettung war, dass es beinahe überall Netz gab, sogar in dem Ziegenkaff hier. Derya schickte Michelle verstohlen eine Nachricht zurück. »Sucks. Ldgd.« Dann schob sie das Handy wieder in ihre Hosentasche. Sie guckte kurz über die Schulter, aber er starrte noch immer, obwohl jetzt Onkel Bozan neben ihm saß, ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte und auf ihn einredete. Jetzt sah auch Bozan zu ihr herüber und lächelte. Derya wandte sich wieder um. Sie sollte Bozan »Onkel« nennen, dabei waren auch sie nicht verwandt. Nicht dass sie wusste jedenfalls. Sie hatte ihn vor diesem Fest noch nie gesehen. Ihre Verwandtschaft war offenbar weitläufig. Auch in Berlin brachte ihr Vater ständig irgendwelche Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten an und schwor seine Familie darauf ein, dass sie ja zuvorkommend sein sollten. Mama kochte dann tagelang und fuhr ohne Ende kurdische Spezialitäten auf, und der gläserne Couchtisch im Wohnzimmer war viel zu klein, um alle Teller, Schalen und Schüsseln zu tragen. Papa stellte zwei gelbe Metro-Kisten links und rechts daneben und legte Sperrholzplatten darauf, die er passend zugeschnitten hatte. Dann kamen die furchtbaren Spitzendeckchen darüber, die mal Teil von Deryas Ausstattung werden sollten. Sie hatten bereits zu Mamas Ausstattung gehört, und Derya hoffte, dass sie im Zuge der vielen Bewirtungen eines Tages so ruiniert sein würden, dass Mama und Papa sich schämen würden, sie ihrem Ehemann mitzugeben. Aber eigentlich wollte sie sowieso nicht heiraten.
Die Mehrzahl dieser angeblichen Verwandten sah Derya nie wieder. Nur wenige kamen weiterhin zu Besuch in die Wohnung in Moabit. Meistens traf Papa sich mit den Männern irgendwo, schloss Geschäfte ab und nahm Aras mit. Sie und Mama hatten damit nichts zu tun.
Derya leckte sich den Puderzucker von den Fingern. Ihr war schon ein bisschen schlecht von dem Zuckerzeug. Diese klebrigen Fruchtwürfel fand sie richtig eklig, in Berlin fasste sie das Zeug nicht an. Aber jetzt hatte sie furchtbaren Heißhunger auf Süßes; das Gebäck, das auf der großen Silberplatte direkt vor ihrer Nase lag, sah trocken aus. Also stopfte Derya sich mit den Fruchtwürfeln voll - der letzte schien Papaya gewesen zu sein, eine Frucht, die sie schon in frischem Zustand widerlich fand - und nippte an dem starken Tee, den sie sich geholt hatte. Sie dachte an Ben & Jerrys. Es ging nichts über das Ben-&-Jerrys-Eis mit den Stückchen, die schmeckten, als seien sie aus rohem Kuchenteig. Häägen Dasz war Dreck dagegen. Wenn sie bei Vali war, aßen sie immer Ben & Jerrys. Derya dachte daran, wie sie das letzte Mal bei Vali gewesen war, bevor die Ferien angefangen hatten, und bekam schreckliche Sehnsucht. Vali sollte mit seinen Eltern nach Südfrankreich fahren, sie hatten dort ein Haus, natürlich. Vali fand es zum Kotzen, dass er in die Provence musste, er beschwerte sich, dass es stinklangweilig war, seine Mutter arbeitete im Garten und trank zu viel. Sein Vater las, arbeitete und trank ebenfalls zu viel. Vali und sein kleiner Bruder mussten den ganzen Tag am Pool sitzen.
»Du Armer, den ganzen Tag am Pool!«, hatte Derya ihn gespielt bemitleidet und dann in die Seite gezwickt. Daraufhin hatte Vali sie gekitzelt, und als sie schreien wollte, hatte er ihr den Mund zugehalten, damit seine Eltern sie nicht hörten. Sie hatten ein bisschen auf dem Bett gerauft und dann geknutscht. Und dann, gerade als Derya den Reißverschluss von Valis Hose geöffnet hatte, klopfte seine Mutter an der Zimmertür. Vali hatte sich stöhnend von ihr heruntergerollt und sich ein Kissen vor die Hose gehalten. Derya hatte einen Lachkrampf bekommen. Valis Mutter hatte es echt raus, immer dann ins Zimmer zu kommen, wenn sie kurz davor waren. Sie tat stets so, als sei sie echt super offen und als täte es ihr furchtbar leid, dass sie gestört hatte, aber Derya wusste genau, dass Valis Mutter ein todsicheres Gespür dafür hatte, wann es brenzlig wurde. Sie konnte Derya nicht ausstehen, obwohl sie immer scheißfreundlich war. Aber Derya hatte die Blicke aufgefangen, die Valis Mutter ihr zuwarf, wenn ihr Super-Söhnchen nicht in der Nähe war. Wenigstens hatte sie ihnen das Ben&- Jerrys-Eis gebracht. Das hatten sie dann gegessen und »Dark Shadows« dazu gesehen, zum zehnten Mal. Sie hatten sich mit dem Eis gefüttert, bis der Becher leer gewesen war. Sie hatten geknutscht und das Eis auf der Zunge des anderen geschmeckt. Aber mehr hatten sie sich nicht getraut. Es war wunderschön gewesen. Und jetzt meldete sich Vali nicht mehr. Seit fast fünf Wochen. Jeden Tag schickte sie ihm SMS. Jede Stunde eine.
»Träumst du?« Sergul saß ihr gegenüber und rüttelte Derya leicht am Arm.
Derya hatte ihre Cousine tatsächlich nicht bemerkt, umso mehr freute sie sich, dass Sergul jetzt zu ihr an den Tisch gekommen war.
»Kommst du mit? Eine rauchen.« Sergul wartete Deryas Antwort nicht ab, sondern stand auf und zeigte mit dem Kopf zur Tür. Sergul war noch besser als das Handynetz überall. Sie war auch eine »Cousine«, die Tochter von Bozan, aber sie war total anders als der »Onkel« und seine Söhne, ihre Brüder. Sergul war schon zwanzig, und sie studierte in Ankara. Derya hatte nicht gewusst, dass es kurdische Mädchen wie Sergul gab. Sie war groß, schlank und hatte wunderschöne Haare, die sie zu einem kurzen Bob geschnitten hatte. Sie trug so coole Klamotten, dass sie genauso gut aus Mitte hätte kommen können. Sergul musste sich auch nicht verstecken beim Rauchen, sie diskutierte lebhaft mit den Männern auf dem Fest, und sie hatte Derya von ihrem Leben in Ankara erzählt. Es war ein normales Studentenleben, sie ging in Bars, hatte Typen, ging shoppen und auf Konzerte. Derya hätte geschworen, dass es Mädchen wie Sergul und ein Leben, wie Sergul es führte, nur außerhalb der Türkei gab. Aber ihre Cousine hatte schallend gelacht und Derya damit aufgezogen, dass sie »bescheuerte Vorurteile« gegen Ausländer habe. Derya schämte sich ein bisschen, dass sie nicht mehr wusste über das Leben als Kurdin. Über das Leben in der Türkei. Aber nur Sergul gegenüber, weil die offenbar mühelos hinbekam, was für alle anderen Mädchen, die Derya kannte, egal, ob türkisch oder kurdisch, ein Kampf war. Sie selbst war Berlinerin, in Berlin geboren, mit kurdischen Wurzeln. So sah sie es, und sie glaubte, dass auch Mama das so sah. Heimlich jedenfalls. Mama war stolz auf ihre kleine Meerjungfrau, so nannte sie Derya. Sie war stolz darauf, dass Derya das Abi machte und studieren wollte. Papa und Aras waren auch stolz, aber Derya wusste, dass die beiden fanden, dass sie einen hohen Preis dafür zahlten. Den Preis, dass ihre kleine Derya eine westliche Frau war. Eine Frau ohne Tradition, wie Papa sagte.
Derya beobachtete, wie Aras Sergul hinterhersah, als sie an ihm vorbeiging. Sergul wackelte absichtlich mit ihrem Po, und Aras sagte etwas, das Derya nicht verstand, weil sie direkt neben den Musikern saß, die jetzt Coverversionen türkischer Popsongs spielten, und das so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Sergul wendete sich zu Aras um, rief ihm etwas zu und zwinkerte. Derya fand, dass die zwei gut zusammenpassen würden. Sie hätte sich eine Freundin wie Sergul für Aras gewünscht. Nicht dass ihr Bruder eine Freundin brauchte. Er zog ständig mit irgendwelchen Mädchen um die Häuser. Dauernd hatte er eine andere, meistens Deutsche. Aber er brachte sie nie mit nach Hause. »Aus Respekt vor der Familie«, sagte er. Er war so spießig, wahrscheinlich wartete er, bis er die Richtige gefunden hatte, und dann würde er ein großes Fass aufmachen und sie natürlich nicht mit nach Hause bringen, sondern seinen Vater dazu kriegen, sich der Familie seiner Auserwählten vorzustellen, wie es die Tradition verlangte. Denn es würde ein kurdisches Mädchen sein, daran zweifelte Derya kein bisschen. Aras bumste die Deutschen, aber heiraten würde er traditionell. So war ihr Bruder.
»Gefällt er dir?«, fragte sie Sergul, als sie draußen auf der Terrasse standen und sie sich eine Gauloise aus der Packung zog, die ihre Cousine ihr hinhielt.
»Dein Bruder?« Sergul lachte und warf dabei den Kopf nach hinten. Dann zog sie tief an ihrer Kippe und schüttelte den Kopf. »Wenn du mich verkuppeln willst: danke nein.«
»Wieso nicht? Aras sieht doch gut aus«, wandte Derya ein.
»Eben. Er sieht zu gut aus. Und er weiß es auch noch.«
Derya musste lachen. Ja, Aras war eitel. Er brauchte morgens im Bad noch länger als sie.
»Und überhaupt, ich steh nicht auf diese bigotten Typen.« Sergul schnipste einen Tabakkrümel von ihrer Zunge.
Derya blies den Rauch durch die Nase und blickte in den Sternenhimmel. Hier in den Bergen war die Luft so dünn und klar, dass die Sterne doppelt so hell leuchteten wie in Berlin. Es schien auch, als hätte sich ihre Anzahl verdoppelt. »Woher weißt du das? Dass er bigott ist, meine ich.«
Sie sah wieder ihre kluge Cousine an. Die zuckte mit den Schultern und sparte sich die Antwort. Aber natürlich hatte sie recht.
Sergul fuhr sich durch die Haare, setzte sich dann auf den kleinen Mauervorsprung, der die Terrasse, die aussah, als befände sie sich noch im Rohbau, umschloss. Derya setzte sich neben sie, und sie rauchten eine Weile schweigend. Schließlich trat Sergul ihre Kippe mit dem Fuß aus. Sie trug Cowboyboots, wie Derya neidisch bemerkte. Obwohl ihre Eltern ihr weitgehend Freiheit bei der Wahl ihrer Klamotten ließen - mit solchen Stiefeln anzukommen, hätte sie niemals gewagt.
»Und selbst wenn«, setzte Sergul das Gespräch wieder fort, »er müsste so eine wie Nazamin heiraten.«
»Nazamin?« Derya war perplex. Nazamin war die Tochter von irgendwem aus dem weitläufigen Clan von Onkel Bozan. Sie war eine ziemlich unansehnliche Frau, bestimmt schon zwanzig, ungeschminkt und trug ein Kopftuch, unter dem sie träge hervorblinzelte. Und sie war das glatte Gegenteil von Sergul.
»Warum die denn?«
Derya glaubte, dass Sergul sie verarschen wollte.
»Na, darum geht's hier doch.« Sergul sah ihr direkt in die Augen. Und jetzt lachte sie nicht. »Du hast echt keine Ahnung, oder?«
Derya schüttelte stumm den Kopf.
»Clanversöhnung. Es gab Streit zwischen den Stämmen. Zwischen unserem und eurem.«
Derya zuckte mit den Schultern. Dieses Gerede von den Stämmen, davon fingen Papa und Aras auch immer an, aber sie hörte nie hin. Sie hatte eine Familie, Papa, Mama, Aras, Oma, Opa und eine Handvoll echter Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Von einem Stamm oder Clan wusste sie nichts.
»Und das ist die Versöhnungsfeier. Die Männer da drinnen arrangieren etwas.«
Copyright © Ullstein Verlag.
Derya nahm einen weiteren klebrigen Fruchtwürfel und zog ihr Handy aus der Tasche. Vali hatte sich immer noch nicht gemeldet, dafür schickte Michelle schon die zehnte SMS. Ihrer besten Freundin war langweilig, zu Hause, in Berlin. Fast viertausend Kilometer weit entfernt. Lichtjahre weit entfernt. Sie und Michelle hatten sich vor Wochen, zu Beginn der Schulferien, den Spaß gemacht und Akalin gegoogelt. Sie hatten sich schlappgelacht, als der Satellit von Google Maps immer näher rangezoomt hatte auf das Dorf in den Bergen, das die große Suchmaschine zu Deryas Erstaunen tatsächlich gefunden hatte. Sie hatten gelacht, als sie gesehen hatten, wie klein es tatsächlich war und dass es dort nichts gab außer Bergen, einer Straße und Staub. Aber als Derya gesehen hatte, dass es von dort nur ein Katzensprung war nach Syrien und in den Irak, hatte sie Angst bekommen. Richtige Angst. Sie hatte sich plötzlich vorgestellt, ihr Vater würde sie dortlassen, sie Onkel Bozan als Pfand geben. Michelle hatte Witze gemacht über Moslems und lange Bärte, verschleierte Frauen und Typen, die es mit Ziegen trieben, aber Derya konnte darüber nicht lachen. Viertausend Kilometer für ein Fest, das ein Fremder gab. Derya war der Sinn dahinter unklar gewesen, aber Aras hatte ihr klargemacht, dass sie keine Wahl hatte. Ihre Anwesenheit sei wichtig für ihren Vater. Es ging um einen Clan, mit dem ihr eigener Clan, den sie gar nicht kannte, der vielmehr der Stamm der Familie ihres Vaters und ihrer Mutter war, einen Streit gehabt hatte. Es ging um die Ehre und den Stolz, um Arbeitsplätze und den Staudamm.
Derya hatte nicht verstanden, was ihr Bruder ihr erklärte, sie hatte es nicht verstehen wollen, sie hatte nur kapiert, dass sie ihre gesamten Sommerferien in den verschissenen anatolischen Bergen verbringen sollte. Wo es nichts gab außer trockenen Steinen und fremden Menschen, die sie in den Arm nahmen und auf die Wangen küssten und die sie Onkel, Tante, Cousin und Cousine nennen sollte. Zum Glück wohnten sie nicht hier in den Bergen, sie wohnten eine Stunde entfernt in Yasikan Köyü, bei Verwandten von Mama. Deryas einzige Rettung war, dass es beinahe überall Netz gab, sogar in dem Ziegenkaff hier. Derya schickte Michelle verstohlen eine Nachricht zurück. »Sucks. Ldgd.« Dann schob sie das Handy wieder in ihre Hosentasche. Sie guckte kurz über die Schulter, aber er starrte noch immer, obwohl jetzt Onkel Bozan neben ihm saß, ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte und auf ihn einredete. Jetzt sah auch Bozan zu ihr herüber und lächelte. Derya wandte sich wieder um. Sie sollte Bozan »Onkel« nennen, dabei waren auch sie nicht verwandt. Nicht dass sie wusste jedenfalls. Sie hatte ihn vor diesem Fest noch nie gesehen. Ihre Verwandtschaft war offenbar weitläufig. Auch in Berlin brachte ihr Vater ständig irgendwelche Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten an und schwor seine Familie darauf ein, dass sie ja zuvorkommend sein sollten. Mama kochte dann tagelang und fuhr ohne Ende kurdische Spezialitäten auf, und der gläserne Couchtisch im Wohnzimmer war viel zu klein, um alle Teller, Schalen und Schüsseln zu tragen. Papa stellte zwei gelbe Metro-Kisten links und rechts daneben und legte Sperrholzplatten darauf, die er passend zugeschnitten hatte. Dann kamen die furchtbaren Spitzendeckchen darüber, die mal Teil von Deryas Ausstattung werden sollten. Sie hatten bereits zu Mamas Ausstattung gehört, und Derya hoffte, dass sie im Zuge der vielen Bewirtungen eines Tages so ruiniert sein würden, dass Mama und Papa sich schämen würden, sie ihrem Ehemann mitzugeben. Aber eigentlich wollte sie sowieso nicht heiraten.
Die Mehrzahl dieser angeblichen Verwandten sah Derya nie wieder. Nur wenige kamen weiterhin zu Besuch in die Wohnung in Moabit. Meistens traf Papa sich mit den Männern irgendwo, schloss Geschäfte ab und nahm Aras mit. Sie und Mama hatten damit nichts zu tun.
Derya leckte sich den Puderzucker von den Fingern. Ihr war schon ein bisschen schlecht von dem Zuckerzeug. Diese klebrigen Fruchtwürfel fand sie richtig eklig, in Berlin fasste sie das Zeug nicht an. Aber jetzt hatte sie furchtbaren Heißhunger auf Süßes; das Gebäck, das auf der großen Silberplatte direkt vor ihrer Nase lag, sah trocken aus. Also stopfte Derya sich mit den Fruchtwürfeln voll - der letzte schien Papaya gewesen zu sein, eine Frucht, die sie schon in frischem Zustand widerlich fand - und nippte an dem starken Tee, den sie sich geholt hatte. Sie dachte an Ben & Jerrys. Es ging nichts über das Ben-&-Jerrys-Eis mit den Stückchen, die schmeckten, als seien sie aus rohem Kuchenteig. Häägen Dasz war Dreck dagegen. Wenn sie bei Vali war, aßen sie immer Ben & Jerrys. Derya dachte daran, wie sie das letzte Mal bei Vali gewesen war, bevor die Ferien angefangen hatten, und bekam schreckliche Sehnsucht. Vali sollte mit seinen Eltern nach Südfrankreich fahren, sie hatten dort ein Haus, natürlich. Vali fand es zum Kotzen, dass er in die Provence musste, er beschwerte sich, dass es stinklangweilig war, seine Mutter arbeitete im Garten und trank zu viel. Sein Vater las, arbeitete und trank ebenfalls zu viel. Vali und sein kleiner Bruder mussten den ganzen Tag am Pool sitzen.
»Du Armer, den ganzen Tag am Pool!«, hatte Derya ihn gespielt bemitleidet und dann in die Seite gezwickt. Daraufhin hatte Vali sie gekitzelt, und als sie schreien wollte, hatte er ihr den Mund zugehalten, damit seine Eltern sie nicht hörten. Sie hatten ein bisschen auf dem Bett gerauft und dann geknutscht. Und dann, gerade als Derya den Reißverschluss von Valis Hose geöffnet hatte, klopfte seine Mutter an der Zimmertür. Vali hatte sich stöhnend von ihr heruntergerollt und sich ein Kissen vor die Hose gehalten. Derya hatte einen Lachkrampf bekommen. Valis Mutter hatte es echt raus, immer dann ins Zimmer zu kommen, wenn sie kurz davor waren. Sie tat stets so, als sei sie echt super offen und als täte es ihr furchtbar leid, dass sie gestört hatte, aber Derya wusste genau, dass Valis Mutter ein todsicheres Gespür dafür hatte, wann es brenzlig wurde. Sie konnte Derya nicht ausstehen, obwohl sie immer scheißfreundlich war. Aber Derya hatte die Blicke aufgefangen, die Valis Mutter ihr zuwarf, wenn ihr Super-Söhnchen nicht in der Nähe war. Wenigstens hatte sie ihnen das Ben&- Jerrys-Eis gebracht. Das hatten sie dann gegessen und »Dark Shadows« dazu gesehen, zum zehnten Mal. Sie hatten sich mit dem Eis gefüttert, bis der Becher leer gewesen war. Sie hatten geknutscht und das Eis auf der Zunge des anderen geschmeckt. Aber mehr hatten sie sich nicht getraut. Es war wunderschön gewesen. Und jetzt meldete sich Vali nicht mehr. Seit fast fünf Wochen. Jeden Tag schickte sie ihm SMS. Jede Stunde eine.
»Träumst du?« Sergul saß ihr gegenüber und rüttelte Derya leicht am Arm.
Derya hatte ihre Cousine tatsächlich nicht bemerkt, umso mehr freute sie sich, dass Sergul jetzt zu ihr an den Tisch gekommen war.
»Kommst du mit? Eine rauchen.« Sergul wartete Deryas Antwort nicht ab, sondern stand auf und zeigte mit dem Kopf zur Tür. Sergul war noch besser als das Handynetz überall. Sie war auch eine »Cousine«, die Tochter von Bozan, aber sie war total anders als der »Onkel« und seine Söhne, ihre Brüder. Sergul war schon zwanzig, und sie studierte in Ankara. Derya hatte nicht gewusst, dass es kurdische Mädchen wie Sergul gab. Sie war groß, schlank und hatte wunderschöne Haare, die sie zu einem kurzen Bob geschnitten hatte. Sie trug so coole Klamotten, dass sie genauso gut aus Mitte hätte kommen können. Sergul musste sich auch nicht verstecken beim Rauchen, sie diskutierte lebhaft mit den Männern auf dem Fest, und sie hatte Derya von ihrem Leben in Ankara erzählt. Es war ein normales Studentenleben, sie ging in Bars, hatte Typen, ging shoppen und auf Konzerte. Derya hätte geschworen, dass es Mädchen wie Sergul und ein Leben, wie Sergul es führte, nur außerhalb der Türkei gab. Aber ihre Cousine hatte schallend gelacht und Derya damit aufgezogen, dass sie »bescheuerte Vorurteile« gegen Ausländer habe. Derya schämte sich ein bisschen, dass sie nicht mehr wusste über das Leben als Kurdin. Über das Leben in der Türkei. Aber nur Sergul gegenüber, weil die offenbar mühelos hinbekam, was für alle anderen Mädchen, die Derya kannte, egal, ob türkisch oder kurdisch, ein Kampf war. Sie selbst war Berlinerin, in Berlin geboren, mit kurdischen Wurzeln. So sah sie es, und sie glaubte, dass auch Mama das so sah. Heimlich jedenfalls. Mama war stolz auf ihre kleine Meerjungfrau, so nannte sie Derya. Sie war stolz darauf, dass Derya das Abi machte und studieren wollte. Papa und Aras waren auch stolz, aber Derya wusste, dass die beiden fanden, dass sie einen hohen Preis dafür zahlten. Den Preis, dass ihre kleine Derya eine westliche Frau war. Eine Frau ohne Tradition, wie Papa sagte.
Derya beobachtete, wie Aras Sergul hinterhersah, als sie an ihm vorbeiging. Sergul wackelte absichtlich mit ihrem Po, und Aras sagte etwas, das Derya nicht verstand, weil sie direkt neben den Musikern saß, die jetzt Coverversionen türkischer Popsongs spielten, und das so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Sergul wendete sich zu Aras um, rief ihm etwas zu und zwinkerte. Derya fand, dass die zwei gut zusammenpassen würden. Sie hätte sich eine Freundin wie Sergul für Aras gewünscht. Nicht dass ihr Bruder eine Freundin brauchte. Er zog ständig mit irgendwelchen Mädchen um die Häuser. Dauernd hatte er eine andere, meistens Deutsche. Aber er brachte sie nie mit nach Hause. »Aus Respekt vor der Familie«, sagte er. Er war so spießig, wahrscheinlich wartete er, bis er die Richtige gefunden hatte, und dann würde er ein großes Fass aufmachen und sie natürlich nicht mit nach Hause bringen, sondern seinen Vater dazu kriegen, sich der Familie seiner Auserwählten vorzustellen, wie es die Tradition verlangte. Denn es würde ein kurdisches Mädchen sein, daran zweifelte Derya kein bisschen. Aras bumste die Deutschen, aber heiraten würde er traditionell. So war ihr Bruder.
»Gefällt er dir?«, fragte sie Sergul, als sie draußen auf der Terrasse standen und sie sich eine Gauloise aus der Packung zog, die ihre Cousine ihr hinhielt.
»Dein Bruder?« Sergul lachte und warf dabei den Kopf nach hinten. Dann zog sie tief an ihrer Kippe und schüttelte den Kopf. »Wenn du mich verkuppeln willst: danke nein.«
»Wieso nicht? Aras sieht doch gut aus«, wandte Derya ein.
»Eben. Er sieht zu gut aus. Und er weiß es auch noch.«
Derya musste lachen. Ja, Aras war eitel. Er brauchte morgens im Bad noch länger als sie.
»Und überhaupt, ich steh nicht auf diese bigotten Typen.« Sergul schnipste einen Tabakkrümel von ihrer Zunge.
Derya blies den Rauch durch die Nase und blickte in den Sternenhimmel. Hier in den Bergen war die Luft so dünn und klar, dass die Sterne doppelt so hell leuchteten wie in Berlin. Es schien auch, als hätte sich ihre Anzahl verdoppelt. »Woher weißt du das? Dass er bigott ist, meine ich.«
Sie sah wieder ihre kluge Cousine an. Die zuckte mit den Schultern und sparte sich die Antwort. Aber natürlich hatte sie recht.
Sergul fuhr sich durch die Haare, setzte sich dann auf den kleinen Mauervorsprung, der die Terrasse, die aussah, als befände sie sich noch im Rohbau, umschloss. Derya setzte sich neben sie, und sie rauchten eine Weile schweigend. Schließlich trat Sergul ihre Kippe mit dem Fuß aus. Sie trug Cowboyboots, wie Derya neidisch bemerkte. Obwohl ihre Eltern ihr weitgehend Freiheit bei der Wahl ihrer Klamotten ließen - mit solchen Stiefeln anzukommen, hätte sie niemals gewagt.
»Und selbst wenn«, setzte Sergul das Gespräch wieder fort, »er müsste so eine wie Nazamin heiraten.«
»Nazamin?« Derya war perplex. Nazamin war die Tochter von irgendwem aus dem weitläufigen Clan von Onkel Bozan. Sie war eine ziemlich unansehnliche Frau, bestimmt schon zwanzig, ungeschminkt und trug ein Kopftuch, unter dem sie träge hervorblinzelte. Und sie war das glatte Gegenteil von Sergul.
»Warum die denn?«
Derya glaubte, dass Sergul sie verarschen wollte.
»Na, darum geht's hier doch.« Sergul sah ihr direkt in die Augen. Und jetzt lachte sie nicht. »Du hast echt keine Ahnung, oder?«
Derya schüttelte stumm den Kopf.
»Clanversöhnung. Es gab Streit zwischen den Stämmen. Zwischen unserem und eurem.«
Derya zuckte mit den Schultern. Dieses Gerede von den Stämmen, davon fingen Papa und Aras auch immer an, aber sie hörte nie hin. Sie hatte eine Familie, Papa, Mama, Aras, Oma, Opa und eine Handvoll echter Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Von einem Stamm oder Clan wusste sie nichts.
»Und das ist die Versöhnungsfeier. Die Männer da drinnen arrangieren etwas.«
Copyright © Ullstein Verlag.
... weniger
Autoren-Porträt von Judith Arendt
Judith Arendt ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimi-Autorin. Sie schreibt gelegentlich Drehbücher für deutsche Fernsehserien und sieht umso lieber amerikanische. Ihre Leidenschaft gilt dem Kriminalroman, insbesondere dem skandinavischen und britischen. Judith Arendt lebt mit ihrer Familie seit einigen Jahren in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Arendt
- 2014, 1. Auflage, 304 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706468
- ISBN-13: 9783843706469
- Erscheinungsdatum: 04.01.2014
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.79 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
Kommentare zu "Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1"
0 Gebrauchte Artikel zu „Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 5Schreiben Sie einen Kommentar zu "Unschuldslamm / Schöffin Ruth Holländer Bd.1".
Kommentar verfassen