Sehnsucht nach Mill River (ePub)
Roman
Seit Jahren lebt Mary zurückgezogen auf ihrem großzügigen Anwesen oberhalb von Mill River. Nur Priester Michael besucht sie und erzählt ihr vom Leben in der quirligen Stadt: Von dem verwitweten Polizisten, der mit seiner kleinen Tochter aus der Großstadt...
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Produktinformationen zu „Sehnsucht nach Mill River (ePub)“
Seit Jahren lebt Mary zurückgezogen auf ihrem großzügigen Anwesen oberhalb von Mill River. Nur Priester Michael besucht sie und erzählt ihr vom Leben in der quirligen Stadt: Von dem verwitweten Polizisten, der mit seiner kleinen Tochter aus der Großstadt geflüchtet ist, von der Krankenschwester, die ihre Familie mühselig über Wasser hält, und von der ungewöhnlichen Daisy, die in ihrem Wohnwagen geheimnisvolle Kräutertees braut. Niemand ahnt, welches Leid Mary erlebt hat. Aber als sie tödlich erkrankt, beginnt sie mit der Suche nach ihrer Tochter.
Lese-Probe zu „Sehnsucht nach Mill River (ePub)“
Sehnsucht nach Mill River von Darcie Chan1
Mary McAllister schaute aus dem Erkerfenster ihres Schlafzimmers und wusste, dass diese Nacht ihre letzte sein würde.
Aus dem Ort drang diffuses Licht durch die Februardunkelheit herauf. Dicke Schneeflocken trieben am Fenster vorbei. Nur der Mill River, dem der kleine Ort in Vermont seinen Namen verdankte, war noch nicht mit Schnee bedeckt. Schwarz und eisfrei schlängelte er sich am Rande des schlafenden Ortes entlang.
Mit der linken Hand streichelte Mary den großen Siamkater, der neben ihr auf dem verstellbaren Krankenbett lag. Mit der Rechten strich sie sich ein paar feine weiße Haarsträhnen hinter das Ohr. Marys Augen, das eine klar und blau, das andere grau und trüb, waren auf den Schneesturm vor dem Fenster gerichtet.
Sie überlegte, was man wohl über sie denken würde, wenn man entdeckte, was sie getan hatte.
Das Schlafzimmer war dunkel, doch die wenigen Lichter im Ort reichten aus, um die Umrisse ihres Gesichts auf der Fensterscheibe zu erkennen. Mary betrachtete das Spiegelbild mit ihrem guten Auge, mit dem sie noch sehen konnte. Eine bleiche Totenmaske starrte ihr aus der Dunkelheit entgegen.
Sie döste ein, wurde jedoch alle paar Minuten von den entsetzlichen Schmerzen im Unterleib geweckt. Schließlich griff sie mit zitternder Hand nach den Tabletten und dem Wasserglas neben ihrem Bett.
Mary schüttete jeweils ein paar Tabletten auf ihre Hand und spülte sie mit Wasser hinunter, bis sie sie alle geschluckt hatte. Sie würde diese Welt in friedvoller Einsamkeit verlassen, bevor die Schmerzen zu stark wurden und ihre Geisteskräfte so geschwächt waren, dass sie nicht mehr selbst- bestimmt aus dem Leben scheiden konnte.
... mehr
Sie dachte an Michael. Der Priester war gegangen, wie er versprochen hatte, aber sie fragte sich, ob er dort unten im Pfarrhaus immer noch wach war. Er würde sie morgen fi n- den. Das würde nicht leicht für ihn sein, doch er war auf das Unvermeidliche vorbereitet. Sie beide waren es.
Trotzdem fürchtete sie sich vor dem, was der Tod bringen mochte.
Würde sie ihren Ehemann wiedersehen? Im schwach erleuchteten Schlafzimmer blieb Marys Blick an der kleinen Statue hängen, die auf der Kommode stand. Ein Pferd, kunstvoll aus schwarzem Marmor gemeißelt. Sie dachte an Patrick, an ihre erste Begegnung auf der Farm ihres Vaters und an die entsetzliche Zeit, die folgte.
Mary schauderte bei dem Gedanken und beschwor stattdessen Erinnerungen an ihren Vater herauf. Sie sah ihn vor sich, wie er auf dem Reitplatz stand, den Hut aus der Stirn geschoben, und den jungen Pferden sanft Manieren beibrachte. Sein dröhnendes Lachen klang ihr noch immer in den Ohren.
Obwohl sie seit mehr als sechzig Jahren Witwe war, hatte sie sogar jetzt noch Angst vor Patrick. Sie sehnte sich jedoch danach, ihren Vater wiederzusehen. Vielleicht war es bald so weit.
Mary tätschelte Shams seidigen Kopf, und der Kater rollte maunzend im Schlaf die Pfoten ein. Michael hatte versprochen, ein gutes Zuhause für Sham zu finden. Sie zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde, und das tröstete sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihrem treuen Kater ein zärtliches Lebewohl zuflüsterte. Lautlos wünschte sie ihm das glücklichste aller Leben, wie viele ihm auch bleiben mochten, und wartete darauf, vom endgültigen, schweren Schlaf eingehüllt zu werden.
In Mill River waren auch noch andere wach. Die Polizisten Kyle Hansen und Leroy Underwood fuhren seit über einer Stunde Streife. Der alte Jeep Cherokee des Polizeireviers kämpfte sich auf den Landstraßen durch den frisch gefallenen Schnee. Sie hatten nach liegengebliebenen Autofahrern Ausschau gehalten, aber die Straßen waren wie ausgestorben. Die meisten Menschen waren vernünftig genug, bei dem Wetter zu Hause zu bleiben. Trotz des Schneefalls war der Abend, wie die meisten Abende in Mill River, ereignislos verlaufen.
Leroy langweilte sich. Unruhig rutschte er auf dem Beifahrersitz herum und spähte aus dem Fenster. Sein Haar war sandbraun und glatt - und etwas zu lang für einen Mann in Uniform, wie Kyle fand. Leroys Mund stand immer ein wenig offen, was ihm einen erstaunten Ausdruck verlieh, und er hatte trotz seiner kräftigen Schultern eine gebeugte Körperhaltung. Zum Teufel, dachte Kyle, sollte jemand das Pech haben, Leroy aus dem Fenster des Jeeps glotzen zu sehen, könnte er ihn glatt für einen Orang-Utan halten.
Leroy wandte sich vom Fenster ab und hielt eine fast leere Schachtel mit Schokoladendonuts hoch.
»Was dagegen, wenn ich den Letzten esse?«
»Nee«, erwiderte Kyle. »Die sind sowieso nicht mehr frisch.«
Das interessierte Leroy nicht. »Meinst du, wir sollten noch mal durch die Stadt fahren?«, fragte er mit vollem Mund.
Kyle warf Leroy einen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
Leroy stopfte sich das letzte Stück Donut in den Mund und mühte sich, die Thermosflasche zu öffnen. Während sie den Hügel hinunter zum Ort fuhren, versuchte Leroy, den restlichen Kaffee in den Becher zu gießen, doch das meiste schwappte auf seinen Schoß.
»Ach, Scheiße. Pass doch besser auf bei den Schlaglöchern, ja?«, maulte er.
Kyle verdrehte die Augen. Was Leroy an Intelligenz fehlte, machte er durch einen gesunden Appetit wett.
Ihr Weg führte sie an der Auffahrt zur McAllister-Villa vorbei. Durch das Schneegestöber konnte Kyle gerade noch das schwache Schimmern des weißen Marmorhauses auf der Kuppe des Hügels ausmachen.
»Hast du sie je gesehen?«, fragte Leroy, der Kyles Blick gefolgt war.
»Wen?«
»Die Witwe McAllister.« Leroy flüsterte fast, als ginge es um einen bösen Geist.
»Nein.«
»Ich schon«, sagte Leroy. »Ein Mal. Als ich noch in der Highschool war, vor der Bäckerei. Sie war völlig verschrumpelt und krumm, hatte eine Klappe über dem Auge, wie ein Pirat.«
Kyle schaute starr geradeaus und konzentrierte sich auf das Fahren durch den Schneesturm.
»Manche im Ort sind überzeugt, dass sie eine Hexe ist, hab ich gehört«, fuhr Leroy fort. »Mich gruselt's, wenn ich daran denke, dass sie da oben sitzt und uns alle beobachtet.« Leroy warf Kyle ein provozierendes Grinsen zu. »Vielleicht sollte jemand dafür sorgen, dass sie über die Planke geht.«
Kyle biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Impuls, ihm zu antworten. Leroy wollte ihn reizen, das war ihm klar, doch diese Genugtuung würde er ihm nicht verschaffen.
Leroys Grobheiten hinzunehmen fiel ihm leichter, wenn er an die schwere Jugend des jungen Polizisten dachte. Laut dem Polizeichef, der fast jeden im Ort kannte, war Leroy das Produkt eines abwesenden Vaters und einer alkoholkranken Mutter. Er hatte eine ältere Schwester, die in Rutland lebte. Diese Schwester war anscheinend die Ausnahme der Underwood- Familie, da sie einen Collegeabschluss hatte und als Buchhalterin bei der Stadtverwaltung arbeitete.
Leroy lief so mit. Er hatte die Highschool beinahe abgebrochen, dann aber doch irgendwie seinen Abschluss geschafft und sich durch die Ausbildung an der Polizeiakademie gemogelt. Sein Ego war riesig, und Kyle hatte es bisher noch nicht erlebt, dass der junge Mann auch nur zu irgendwem nett gewesen wäre. Wieso man Leroy eingestellt hatte, war Kyle ein Rätsel. Vielleicht hatte der Ort dringend einen weiteren Polizisten gebraucht, doch nach Kyles Einschätzung war Leroy kaum für diese Arbeit geeignet.
Der alte Jeep pflügte sich durch den Schnee, hinein in den Ort. Kleine, ältere Häuser und Wohnwagen säumten die Straßen an diesem Ende von Mill River. Die meisten Fenster waren dunkel. Ein Wohnwagen jedoch war hell erleuchtet. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er glänzend und neu. Aus dem Schnee im Vorgarten ragten verschiedene Keramikfiguren - zwei Rehe, mehrere Kaninchen, einige Zwerge - sowie ein großes Vogelbad.
»Schätze, Crazy Daisy ist immer noch wach«, meinte Leroy. »Wahrscheinlich braut sie gerade wieder irgendetwas Geheimnisvolles.«
In dem Moment öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und eine pummelige Frau hüpfte hinaus in den Vorgarten. Kyle bremste den Jeep ab. Daisy drehte sich im Kreis, das Gesicht erhoben, die Zunge herausgestreckt.
Leroy krümmte sich vor Lachen. »Jetzt guck dir diese fette Kuh an!«, brüllte er, ohne auf Kyles missbilligendes Stirnrunzeln zu achten. »Wenn die so weitermacht, stolpert sie noch über eins von den Kaninchen und beißt sich die Zunge ab!«
»Halt die Klappe, Leroy«, sagte Kyle, obwohl ihm genau derselbe Gedanke durch den Kopf geschossen war. Er kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Hallo, Miss Delaine, es ist schon spät, fast ein Uhr nachts, und Sie sollten bei diesem Schneesturm nicht draußen sein«, rief er ihr zu.
Erhitzt und atemlos blieb Daisy stehen und schaute die beiden Polizisten an. Ein dunkles, portweinfarbenes Muttermal zog sich vom Kinn bis auf die Wange, graue Locken fielen ihr über die Augen. Sie schwankte unsicher und schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Sie sollten mal den Schnee probieren! Er schmeckt herrlich. Ich habe den ganzen Abend an einem Schneezauber gearbeitet«, rief sie. »Schnee ist ideal für mein Gebrautes. Aber ich bin schrecklich in Eile. Ich braue heute Nacht noch etwas Neues!« Lächelnd hob sie eine Handvoll Schnee auf, warf ihn in die Luft, dann winkte sie den beiden Polizisten zu und verschwand wieder in ihrem Wohnwagen.
Kyle saß schweigend da und schüttelte den Kopf, aber Leroy brüllte vor Lachen. Als er Kyles tadelnden Blick bemerkte, versuchte er vergeblich, sich zusammenzureißen.
»Ach, nun komm schon, Kyle. Du weißt doch, dass die spinnt. Wem schadet es schon, wenn man sich über sie lustig macht?«
»Sie kann nichts dafür, Leroy, und du solltest besser mal lernen, den Mund zu halten«, fuhr Kyle ihn an und schaute zur Tür des Wohnwagens, um sich zu vergewissern, dass Daisy drinnen blieb.
»Oooh, was sind wir empfindlich heute«, maulte Leroy. »Was soll's«, er kicherte wieder, »die Show allein war es wert, dass sie das Feuer damals überlebt hat. Als ich hörte, ihr Wohnwagen sei abgebrannt, dachte ich, wir wären die alte Schachtel endlich los.«
Kyle schwieg, weil jede Antwort sinnlos gewesen wäre.
Er war acht Jahre älter als Leroy, doch manchmal kam der Altersunterschied ihm vor wie achtzig Jahre. Während seiner Zeit bei der Bostoner Polizei waren ihm etliche junge Beamte wie Leroy begegnet. Sie alle waren arrogant, unreif und dumm gewesen und hatten die Macht genossen, die ihnen Uniform und Waffe verliehen. Die meisten dieser Burschen fielen ihrem Größenwahn zum Opfer, sie kamen um oder landeten selbst hinter Gittern.
In Mill River gab es vier Polizeibeamte - Kyle, Leroy, Ron Wykowski und Joe Fitzgerald, den Polizeichef. Allerdings hätten, da nie etwas passierte, drei gute Polizisten vollauf genügt. Da Leroy also kaum Gelegenheit haben würde, seine Laufbahn zu gefährden, konnte er sich seines Arbeitsplatzes ziemlich sicher sein.
Sie fuhren weiter entlang der Hauptstraße, durch das malerische Einkaufsviertel, vorbei an dem weißen Gebäude des Rathauses. Hinter einer Kurve tauchte die katholische Kirche St. John auf. Im Pfarrhaus brannte noch Licht.
»Der Betbruder ist noch auf«, quäkte Leroy. Dies war jedoch nicht ungewöhnlich, da bei Father O'Brien oft bis spät in die Nacht das Licht brannte.
Zwei Häuser weiter noch ein hell erleuchtetes Fenster.
»Unsere hübsche Lehrerin auch«, sagte Leroy in verändertem Ton. »Vielleicht sollten wir bei ihr vorbeischauen und ihr eine Gutenachtgeschichte vorlesen.« Er zog die Augenbrauen hoch und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe.
Die »hübsche Lehrerin« war Claudia Simon. Sie unterrichtete die vierte Klasse in der Grundschule von Mill River.
»Du kannst lesen? Das ist mir ja ganz neu.«
Leroy verzog das Gesicht, blieb aber stumm, bis Kyle vor dem Polizeirevier hielt. Als sie ausstiegen, schaute Leroy die Hauptstraße hinunter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Verdammt. Bei so viel Schnee sehen selbst die schäbigen Wohnwagen gut aus.«
Kyle sagte nichts. Er sehnte sich nur nach einer heißen Dusche und einem warmen Bett. Die Nacht war lang gewesen.
Claudia Simon las tatsächlich eine Art Gutenachtgeschichte. Ihre Schüler hatten einen kurzen Aufsatz zum Thema »Was ich werden will, wenn ich groß bin« geschrieben. Von den vierundzwanzig Viertklässlern wollten elf Präsident der Vereinigten Staaten werden, was Claudia darauf zurückführte, dass sie vor ein paar Wochen die Amtseinführung des Präsidenten gesehen hatten. Sechs wollten Filmstar oder Sängerin werden, vier Arzt oder Krankenschwester, einer Polizist, einer Feuerwehrmann. Und eine wollte Beraterin werden.
Rowen war die Tochter des Polizeibeamten Kyle Hansen. Claudia hatte vom Rektor der Schule erfahren, dass Kyle verwitwet war. Das kleine Mädchen hatte geschrieben, sie wolle Beraterin werden, wie ihre Mutter es gewesen sei, weil »ich gerne Leuten zuhöre und ihnen helfen möchte, ihre Probleme zu lösen«. So einfach. Von einer Viertklässlerin. Aber Rowen ist auch ein besonderes Kind, dachte Claudia. Sie hätte alles Mögliche als Berufswunsch angeben können, es wäre keine Überraschung gewesen.
Claudia stand auf und streckte sich. Es war schon nach eins. Doch heute war Samstag - nein, inzwischen Sonntagmorgen -, und wenn sie beim Benoten der Aufsätze die Zeit vergessen hatte, konnte sie immerhin ausschlafen. Im Jogginganzug und auf Socken tappte sie durch den Flur zum Badezimmer und putzte sich die Zähne. Dabei betrachtete sie sich in dem langen Spiegel an der Badezimmertür. Noch vor ein paar Monaten hätte sie nicht in diesen Spiegel gepasst.
Copyright © Ullstein TB Verlag
Sie dachte an Michael. Der Priester war gegangen, wie er versprochen hatte, aber sie fragte sich, ob er dort unten im Pfarrhaus immer noch wach war. Er würde sie morgen fi n- den. Das würde nicht leicht für ihn sein, doch er war auf das Unvermeidliche vorbereitet. Sie beide waren es.
Trotzdem fürchtete sie sich vor dem, was der Tod bringen mochte.
Würde sie ihren Ehemann wiedersehen? Im schwach erleuchteten Schlafzimmer blieb Marys Blick an der kleinen Statue hängen, die auf der Kommode stand. Ein Pferd, kunstvoll aus schwarzem Marmor gemeißelt. Sie dachte an Patrick, an ihre erste Begegnung auf der Farm ihres Vaters und an die entsetzliche Zeit, die folgte.
Mary schauderte bei dem Gedanken und beschwor stattdessen Erinnerungen an ihren Vater herauf. Sie sah ihn vor sich, wie er auf dem Reitplatz stand, den Hut aus der Stirn geschoben, und den jungen Pferden sanft Manieren beibrachte. Sein dröhnendes Lachen klang ihr noch immer in den Ohren.
Obwohl sie seit mehr als sechzig Jahren Witwe war, hatte sie sogar jetzt noch Angst vor Patrick. Sie sehnte sich jedoch danach, ihren Vater wiederzusehen. Vielleicht war es bald so weit.
Mary tätschelte Shams seidigen Kopf, und der Kater rollte maunzend im Schlaf die Pfoten ein. Michael hatte versprochen, ein gutes Zuhause für Sham zu finden. Sie zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde, und das tröstete sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihrem treuen Kater ein zärtliches Lebewohl zuflüsterte. Lautlos wünschte sie ihm das glücklichste aller Leben, wie viele ihm auch bleiben mochten, und wartete darauf, vom endgültigen, schweren Schlaf eingehüllt zu werden.
In Mill River waren auch noch andere wach. Die Polizisten Kyle Hansen und Leroy Underwood fuhren seit über einer Stunde Streife. Der alte Jeep Cherokee des Polizeireviers kämpfte sich auf den Landstraßen durch den frisch gefallenen Schnee. Sie hatten nach liegengebliebenen Autofahrern Ausschau gehalten, aber die Straßen waren wie ausgestorben. Die meisten Menschen waren vernünftig genug, bei dem Wetter zu Hause zu bleiben. Trotz des Schneefalls war der Abend, wie die meisten Abende in Mill River, ereignislos verlaufen.
Leroy langweilte sich. Unruhig rutschte er auf dem Beifahrersitz herum und spähte aus dem Fenster. Sein Haar war sandbraun und glatt - und etwas zu lang für einen Mann in Uniform, wie Kyle fand. Leroys Mund stand immer ein wenig offen, was ihm einen erstaunten Ausdruck verlieh, und er hatte trotz seiner kräftigen Schultern eine gebeugte Körperhaltung. Zum Teufel, dachte Kyle, sollte jemand das Pech haben, Leroy aus dem Fenster des Jeeps glotzen zu sehen, könnte er ihn glatt für einen Orang-Utan halten.
Leroy wandte sich vom Fenster ab und hielt eine fast leere Schachtel mit Schokoladendonuts hoch.
»Was dagegen, wenn ich den Letzten esse?«
»Nee«, erwiderte Kyle. »Die sind sowieso nicht mehr frisch.«
Das interessierte Leroy nicht. »Meinst du, wir sollten noch mal durch die Stadt fahren?«, fragte er mit vollem Mund.
Kyle warf Leroy einen Blick zu und zuckte mit den Schultern.
Leroy stopfte sich das letzte Stück Donut in den Mund und mühte sich, die Thermosflasche zu öffnen. Während sie den Hügel hinunter zum Ort fuhren, versuchte Leroy, den restlichen Kaffee in den Becher zu gießen, doch das meiste schwappte auf seinen Schoß.
»Ach, Scheiße. Pass doch besser auf bei den Schlaglöchern, ja?«, maulte er.
Kyle verdrehte die Augen. Was Leroy an Intelligenz fehlte, machte er durch einen gesunden Appetit wett.
Ihr Weg führte sie an der Auffahrt zur McAllister-Villa vorbei. Durch das Schneegestöber konnte Kyle gerade noch das schwache Schimmern des weißen Marmorhauses auf der Kuppe des Hügels ausmachen.
»Hast du sie je gesehen?«, fragte Leroy, der Kyles Blick gefolgt war.
»Wen?«
»Die Witwe McAllister.« Leroy flüsterte fast, als ginge es um einen bösen Geist.
»Nein.«
»Ich schon«, sagte Leroy. »Ein Mal. Als ich noch in der Highschool war, vor der Bäckerei. Sie war völlig verschrumpelt und krumm, hatte eine Klappe über dem Auge, wie ein Pirat.«
Kyle schaute starr geradeaus und konzentrierte sich auf das Fahren durch den Schneesturm.
»Manche im Ort sind überzeugt, dass sie eine Hexe ist, hab ich gehört«, fuhr Leroy fort. »Mich gruselt's, wenn ich daran denke, dass sie da oben sitzt und uns alle beobachtet.« Leroy warf Kyle ein provozierendes Grinsen zu. »Vielleicht sollte jemand dafür sorgen, dass sie über die Planke geht.«
Kyle biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Impuls, ihm zu antworten. Leroy wollte ihn reizen, das war ihm klar, doch diese Genugtuung würde er ihm nicht verschaffen.
Leroys Grobheiten hinzunehmen fiel ihm leichter, wenn er an die schwere Jugend des jungen Polizisten dachte. Laut dem Polizeichef, der fast jeden im Ort kannte, war Leroy das Produkt eines abwesenden Vaters und einer alkoholkranken Mutter. Er hatte eine ältere Schwester, die in Rutland lebte. Diese Schwester war anscheinend die Ausnahme der Underwood- Familie, da sie einen Collegeabschluss hatte und als Buchhalterin bei der Stadtverwaltung arbeitete.
Leroy lief so mit. Er hatte die Highschool beinahe abgebrochen, dann aber doch irgendwie seinen Abschluss geschafft und sich durch die Ausbildung an der Polizeiakademie gemogelt. Sein Ego war riesig, und Kyle hatte es bisher noch nicht erlebt, dass der junge Mann auch nur zu irgendwem nett gewesen wäre. Wieso man Leroy eingestellt hatte, war Kyle ein Rätsel. Vielleicht hatte der Ort dringend einen weiteren Polizisten gebraucht, doch nach Kyles Einschätzung war Leroy kaum für diese Arbeit geeignet.
Der alte Jeep pflügte sich durch den Schnee, hinein in den Ort. Kleine, ältere Häuser und Wohnwagen säumten die Straßen an diesem Ende von Mill River. Die meisten Fenster waren dunkel. Ein Wohnwagen jedoch war hell erleuchtet. Im Gegensatz zu den meisten anderen war er glänzend und neu. Aus dem Schnee im Vorgarten ragten verschiedene Keramikfiguren - zwei Rehe, mehrere Kaninchen, einige Zwerge - sowie ein großes Vogelbad.
»Schätze, Crazy Daisy ist immer noch wach«, meinte Leroy. »Wahrscheinlich braut sie gerade wieder irgendetwas Geheimnisvolles.«
In dem Moment öffnete sich die Tür des Wohnwagens, und eine pummelige Frau hüpfte hinaus in den Vorgarten. Kyle bremste den Jeep ab. Daisy drehte sich im Kreis, das Gesicht erhoben, die Zunge herausgestreckt.
Leroy krümmte sich vor Lachen. »Jetzt guck dir diese fette Kuh an!«, brüllte er, ohne auf Kyles missbilligendes Stirnrunzeln zu achten. »Wenn die so weitermacht, stolpert sie noch über eins von den Kaninchen und beißt sich die Zunge ab!«
»Halt die Klappe, Leroy«, sagte Kyle, obwohl ihm genau derselbe Gedanke durch den Kopf geschossen war. Er kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Hallo, Miss Delaine, es ist schon spät, fast ein Uhr nachts, und Sie sollten bei diesem Schneesturm nicht draußen sein«, rief er ihr zu.
Erhitzt und atemlos blieb Daisy stehen und schaute die beiden Polizisten an. Ein dunkles, portweinfarbenes Muttermal zog sich vom Kinn bis auf die Wange, graue Locken fielen ihr über die Augen. Sie schwankte unsicher und schob sich das Haar aus dem Gesicht. »Sie sollten mal den Schnee probieren! Er schmeckt herrlich. Ich habe den ganzen Abend an einem Schneezauber gearbeitet«, rief sie. »Schnee ist ideal für mein Gebrautes. Aber ich bin schrecklich in Eile. Ich braue heute Nacht noch etwas Neues!« Lächelnd hob sie eine Handvoll Schnee auf, warf ihn in die Luft, dann winkte sie den beiden Polizisten zu und verschwand wieder in ihrem Wohnwagen.
Kyle saß schweigend da und schüttelte den Kopf, aber Leroy brüllte vor Lachen. Als er Kyles tadelnden Blick bemerkte, versuchte er vergeblich, sich zusammenzureißen.
»Ach, nun komm schon, Kyle. Du weißt doch, dass die spinnt. Wem schadet es schon, wenn man sich über sie lustig macht?«
»Sie kann nichts dafür, Leroy, und du solltest besser mal lernen, den Mund zu halten«, fuhr Kyle ihn an und schaute zur Tür des Wohnwagens, um sich zu vergewissern, dass Daisy drinnen blieb.
»Oooh, was sind wir empfindlich heute«, maulte Leroy. »Was soll's«, er kicherte wieder, »die Show allein war es wert, dass sie das Feuer damals überlebt hat. Als ich hörte, ihr Wohnwagen sei abgebrannt, dachte ich, wir wären die alte Schachtel endlich los.«
Kyle schwieg, weil jede Antwort sinnlos gewesen wäre.
Er war acht Jahre älter als Leroy, doch manchmal kam der Altersunterschied ihm vor wie achtzig Jahre. Während seiner Zeit bei der Bostoner Polizei waren ihm etliche junge Beamte wie Leroy begegnet. Sie alle waren arrogant, unreif und dumm gewesen und hatten die Macht genossen, die ihnen Uniform und Waffe verliehen. Die meisten dieser Burschen fielen ihrem Größenwahn zum Opfer, sie kamen um oder landeten selbst hinter Gittern.
In Mill River gab es vier Polizeibeamte - Kyle, Leroy, Ron Wykowski und Joe Fitzgerald, den Polizeichef. Allerdings hätten, da nie etwas passierte, drei gute Polizisten vollauf genügt. Da Leroy also kaum Gelegenheit haben würde, seine Laufbahn zu gefährden, konnte er sich seines Arbeitsplatzes ziemlich sicher sein.
Sie fuhren weiter entlang der Hauptstraße, durch das malerische Einkaufsviertel, vorbei an dem weißen Gebäude des Rathauses. Hinter einer Kurve tauchte die katholische Kirche St. John auf. Im Pfarrhaus brannte noch Licht.
»Der Betbruder ist noch auf«, quäkte Leroy. Dies war jedoch nicht ungewöhnlich, da bei Father O'Brien oft bis spät in die Nacht das Licht brannte.
Zwei Häuser weiter noch ein hell erleuchtetes Fenster.
»Unsere hübsche Lehrerin auch«, sagte Leroy in verändertem Ton. »Vielleicht sollten wir bei ihr vorbeischauen und ihr eine Gutenachtgeschichte vorlesen.« Er zog die Augenbrauen hoch und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe.
Die »hübsche Lehrerin« war Claudia Simon. Sie unterrichtete die vierte Klasse in der Grundschule von Mill River.
»Du kannst lesen? Das ist mir ja ganz neu.«
Leroy verzog das Gesicht, blieb aber stumm, bis Kyle vor dem Polizeirevier hielt. Als sie ausstiegen, schaute Leroy die Hauptstraße hinunter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Verdammt. Bei so viel Schnee sehen selbst die schäbigen Wohnwagen gut aus.«
Kyle sagte nichts. Er sehnte sich nur nach einer heißen Dusche und einem warmen Bett. Die Nacht war lang gewesen.
Claudia Simon las tatsächlich eine Art Gutenachtgeschichte. Ihre Schüler hatten einen kurzen Aufsatz zum Thema »Was ich werden will, wenn ich groß bin« geschrieben. Von den vierundzwanzig Viertklässlern wollten elf Präsident der Vereinigten Staaten werden, was Claudia darauf zurückführte, dass sie vor ein paar Wochen die Amtseinführung des Präsidenten gesehen hatten. Sechs wollten Filmstar oder Sängerin werden, vier Arzt oder Krankenschwester, einer Polizist, einer Feuerwehrmann. Und eine wollte Beraterin werden.
Rowen war die Tochter des Polizeibeamten Kyle Hansen. Claudia hatte vom Rektor der Schule erfahren, dass Kyle verwitwet war. Das kleine Mädchen hatte geschrieben, sie wolle Beraterin werden, wie ihre Mutter es gewesen sei, weil »ich gerne Leuten zuhöre und ihnen helfen möchte, ihre Probleme zu lösen«. So einfach. Von einer Viertklässlerin. Aber Rowen ist auch ein besonderes Kind, dachte Claudia. Sie hätte alles Mögliche als Berufswunsch angeben können, es wäre keine Überraschung gewesen.
Claudia stand auf und streckte sich. Es war schon nach eins. Doch heute war Samstag - nein, inzwischen Sonntagmorgen -, und wenn sie beim Benoten der Aufsätze die Zeit vergessen hatte, konnte sie immerhin ausschlafen. Im Jogginganzug und auf Socken tappte sie durch den Flur zum Badezimmer und putzte sich die Zähne. Dabei betrachtete sie sich in dem langen Spiegel an der Badezimmertür. Noch vor ein paar Monaten hätte sie nicht in diesen Spiegel gepasst.
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Autoren-Porträt von Darcie Chan
Darcie Chan ist Anfang vierzig, Anwältin und Umweltschutzexpertin. Mit elf Jahren begann sie zu schreiben, gewann einen Schreibwettbewerb und träumte seitdem davon, eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Die E-Book-Ausgabe von <i>Sehnsucht nach Mill River</i> machte sie über Nacht in den USA berühmt. Schon in den ersten Wochen verkauften sich mehr als 650.000 Exemplare und sie bekam mehr als 1.000 begeisterte Amazon-Rezensionen. Darcie Chan lebt im US-Staat New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Darcie Chan
- 2013, 400 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol
- Verlag: Ullstein eBooks
- ISBN-10: 3843706093
- ISBN-13: 9783843706094
- Erscheinungsdatum: 27.09.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.44 MB
- Ohne Kopierschutz
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